Gustav Mahler: 6. Sinfonie a-Moll - die Tragische

  • Im letzten Symphoniekonzert des Gürzenich-Orchesters in der Kölner Philharmonie dirigierte Stenz die 6. in der folgenden Reihenfolge:


    Allegro
    Andante
    Scherzo
    Allegro


    Eine Tage vorher beim "Philharmonie Lunch" (einer öffentlichen Probe) wurde das Andante zweimal gespielt/geprobt, ich meine mich zu erinnern, daß Stenz die Probe mit ein paar Worten ankündigte ´daß man den 3. Satz spielen würde`. War zufällig noch jemand da, dem die "Verwechslung" aufgefallen ist? Das Thema (Umstellung der Sätze 2 und 3) wurde hier bereits behandelt. Im Programmheft des Konzertes schreibt Dr. Kerstin Schüssler-Bach dazu:


    "Aus dieser Rezension (Kritik der UA von L. Schmidt im Berliner Tageblatt) geht zugleich die Umstellung der Satzreihenfolge bei der Uraufführung hervor: Augenzeuge Schmidt nennt das Andante vor dem Scherzo, und diese Abfolge hat Mahler nicht nur in Essen, sondern auch bei späteren Aufführungen dirigiert. Allerdings hatte er sich erst nach der Generalprobe dazu entschlossen, während das Scherzo in der schon Monate vor der Uraufführung gedruckten Partitur noch vor dem Andante steht."


    Das Konzert hat - mit allen Hintergrundinformationen die ich über Mahler weiß - einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen. Auch wenn ich den 1. Satz in seinem Marschduktus viel zu hektisch interpretiert fand, eben habe ich überprüft, daß der Satz bei Stenz genauso lange dauert wie in der Einspielung mit Abbado und den Berliner Philharmonikern. Ein ähnliches `atmen der Musik` wie im Andante der 6. ist mir bis jetzt nur im Andante von Beethovens` 9. aufgefallen.


    Humorvoll liest sich im Programmheft die Beschreibung einer Karikatur zur 6. Sie soll auf die "Profanitäten" wie Herdenglocken und den Hammer (der in der Kölner Aufführung 3x schlug) anspielen. "Mahler steht zwischen Kuhglocken, Ratsche und Hammer und hält verzweifelt eine Hupe in der Hand: "Herrgott, dass ich die Hupe vergessen habe! Jetzt kann ich noch eine Sinfonie schreiben!""


    Sophia

  • Die Reihenfolge mit dem Scherzo an dritter Stelle gilt heute in der Mahler-Gesamtausgabe als die authentisch-letztgültige; nähere Informationen auf der Homepage der Internationalen Gustav Mahler Gesellschaft Wien (am besten den Link über Google suchen).

  • Hi , Forianer!


    Ich hätte eine Frage bezüglich der Mahlerschen 6. Sinfonie.


    Weiß jemand, in welcher stimmung sich mahler befand, als er dieses grandiose werk schrieb?
    Dass er nicht zu den glücklichsten menschen gehörte, ist ja bekannt. Aber gab es irgendeinen grund, irgendein ereignis, das ihn inspiriert haben könnte?


    Ich denke beim hören dieses werks immer an hoffnungslosigkeit und trauer.
    Bei mir kommt gleich zu beginn dieses "schicksalsschlaggefühl" auf, so als ob schon der anfang der symphonie tod und trauer verheißt.


    Kann natürlich auch absoluter blödsinn sein, was ich da gerade geschrieben hab.
    Aber ungefähr diese gefühle ruft mahler mit diesem werk bei mir wach.


    Jemand anderer ähnlicher meinung ?(


    @ ben cohrs: Danke für diesen interessanten hinweis:


    Zitat

    Original von ben cohrs


    Die Reihenfolge mit dem Scherzo an dritter Stelle gilt heute in der Mahler-Gesamtausgabe als die authentisch-letztgültige


    war mir noch nicht bekannt


    LG florian


    :hello:

    Gustav Mahler: "Das Wichtigste in der Musik steht nicht in den Noten."

  • Das ist leider wenigen bekannt -- obwohl Norman Del Mar 1980 schon darüber ein sehr kluges, ganzes Buch geschrieben hat (leider nie auf Deutsch erschienen).
    :jubel:


    Und wenn man bedenkt, wie lange es dauert, bis neuere Funde der Musikwissenschaft endlich mal bei Praktikern durchsickern...
    :D


  • Hallo Florian,


    mit diesem Eindruck stehst Du sicherlich nicht allein da. Der Grundcharakter von Mahlers Sechster ist tragisch, auch wenn sich immer wieder zeitweise (etwa im sog. Alma-Thema oder vor allem in der Coda des ersten Satzes) ein optimistisch-triumphierender Tonfall durchsetzt. Aber Tragik (unmittelbar durch die Hammerschläge = Schicksalsschläge im vierten Satz) und Tod stehen am Ende der Sinfonie.


    Mit der Beziehung zu Mahlers Biographie sollte man allerdings vorsichtig sein. Als Mahler die Sechste komponierte (1904/05), befand er sich eher in einer durchaus glücklichen Phase seines Lebens - beruflich auf dem Höhepunkt (wenn auch mit zunehmenden Schwierigkeiten), privat in einer noch (scheinbar) glücklichen Ehe mit Kindersegen. Trotzdem komponierte Mahler 1905 nicht nur die tragische Sechste, sondern auch die Kindertotenlieder.


    Die wirklichen Schicksalsschläge ereilten Mahler erst 1907: sein erzwungener Abschied vom Amt des Hofoperndirektors, der Tod einer seiner Töchter durch Diphterie und die Diagnose seiner lebensbedrohenden Herzkrankheit. Alma hat später die drei Hammerschläge der Sechsten als eine Art Prophetie dieser Unglücksfälle gedeutet; sie hat Mahler auch regelrecht zum Vorwurf gemacht, dass er mit der Komposition der "Kindertotenlieder" 1905 das Unglück regelrecht heraufbeschworen habe. Diese nachträgliche Konstruktion ist aber natürlich nicht zu halten.


    Man muss die Sechste wohl weniger in Mahlers Leben als in seinem Werk verorten - z.B. innerhalb der zusammengehörigen Gruppe der drei mittleren Instrumentalsinfonien als die tragische Variante (gegenüber den triumphierend endenden Finalsätzen der Fünften und Siebten).


    Viele Grüße


    Bernd

  • Hi , Bernd!


    Danke für deine informative antwort.


    Apropos alma mahler - werfel,


    bilde mir ein, einmal gehört zu haben, dass auch sie versuchsweise komponiert hat, es dann aber aufgrund des egozentrischen mahlers wieder aufgeben musste.


    Ist das wahr oder bloß eine anekdote ?(


    LG florian


    :hello:

    Gustav Mahler: "Das Wichtigste in der Musik steht nicht in den Noten."

  • @celloflo


    Alma Mahler-Werfel hat komponiert. Bei cpo ist z.B. eine CD mit Liedern von ihr erschienen.


    Jonathan Carr schreibt in seiner Mahler Biographie sinngemäß, dass Gustav Mahler ihr das Komponieren verboten habe.


    Beste Grüße
    Wolfgang

  • Zitat

    Original von celloflo


    Apropos alma mahler - werfel,


    bilde mir ein, einmal gehört zu haben, dass auch sie versuchsweise komponiert hat, es dann aber aufgrund des egozentrischen mahlers wieder aufgeben musste.


    Noch ein Nachtrag: Constantin Floros geht in seinem Buch "Gustav Mahler, Visionär und Despot" näher darauf ein. Er schreibt (S. 134 f)


    "Mahlers Beziehung zu Alma gestaltete sich im Dezember 1901 so, daß er an den Bund fürs Leben zu denken begann. Am 19. Dezember schrieb er ihr aus Dresden jenen langen, berühmt gewordenen Brief, in dem er seine Vorstellungen von einem gemeinsamen Leben entwickelte [der Brief soll 20 Seiten umfaßt haben], Bedingungen stellte und von ihr totale Hingabe forderte. Er hatte wohl begriffen, daß das Komponieren für Alma sehr viel bedeutete, und dennoch verlangte er von ihr, ihre Musik ganz aufzugeben, um die seine zu "besitzen". Die Vorstellung eines "komponierenden" Ehepaares bereitete ihm großes Unbehagen, und er ließ deutlich durchblicken, daß er befürchtete, ein solcher Zustand würde notgedrungen in ein "eigenthümliches Rivalitätsverhältnis" ausarten.
    Viele Formulierungen in diesem Brief müssen in unserer Zeit Anstoß erregen, sie wirken schockierend, so Mahlers Vorstellungen über die Rollenverteilung in der Ehe: "Und da fällt die Rolle des "Componisten", des "Arbeitens" mir zu und Dir die des liebenden Gefährten, des verstehenden Kameraden!" [...] "Aber Du hast von nun an nur einen Beruf: mich glücklich zu machen!" "Du mußt Dich mir bedingungslos zu Eigen geben - die Gestaltung Deines zukünftigen Lebens in allen Einzelheiten innerlich von meinen Bedürfnissen abhängig machen und nichts dafür wünschen, als meine Liebe!"


    Der Brief findet auch Beachtung in der in der Monographie über Alma Mahler Werfel, erschienen bei rororo.


    Vor längerer Zeit positiv in der Presse besprochen wurde diese Aufnahme, ich kenne sie aber nicht:



    Sophia

  • Hallo,


    wie bereits im "Was hört ihr gerade" erwähnt, habe ich die Sechste zuerst mit Abbado kennengelernt, was für mich im Nachhinein gesehen, nicht schlecht war.
    Danach hörte ich mir dann Vergleichseinspielungen von Solti, Kubelik und Kondrashin an, die ja hier im Thread auch schon alle besprochen wurden. Daher möchte ich da gar nicht weiter drauf eingehen, da ich mich im Grunde dem Gesagten anschließe. Einige persönliche Hörwahrnehmungen will ich aber doch schildern.


    Zuerst hatte ich mir also den Kondrashin angehört. Und das mit Abbados Aufnahme im Gehör. Und da dachte ich, größer kann doch ein Interpretationsunterschied nicht sein. Kondrashin wirbelt das Stück nur so auf, es entstehen überall Ecken und Kanten, man fühlt sich nie richtig wohl, man kommt nie richtig zur Ruhe.
    Mir hat das nicht so sehr zugesagt. Ein großer Minuspunkt in der Aufnahme mit den Leningrader Philharmonikern ist zudem, dass Kondrashin im ersten Satz die Exposition nicht wiederholt. Das hat bei mir diesen Eindruck des Vorwärtseilenden und -schreitenden mächtig verstärkt.


    Nachdem ich also die beiden Seiten Abbado und Kondrashin kannte, machte ich mit Kubelik und Solti weiter. Und die siedelten sich dann dazwischen an, wobei Kubelik eher in Richtung Abbado und Solti in Richtung Kondrashin geht. Beide Aufnahmen haben mir aber ziemlich gut gefallen. Die Vermutung, dass Solti zu blechig für mich wird, hat sich nicht bestätigt. Kein Wunder, nachdem man Kondrashin im Ohr hat.


    Jedenfalls habe ich nach dem Hören der drei Vergleichsaufnahmen erst gemerkt, wie glatt und sauber Abbado klingt. Insofern kann ich auch die oben genannten Aspekte nachvollziehen, als dass man sich so gut in die Musik fallen lassen kann, bzw. durch das Eintauchen einen völlig anderen Aspekt auf das Werk bekommt.


    Jetzt noch kurz meine Meinung zum Werk an sich: Meine Lieblingssätze sind ganz klar der Kopfsatz (und da speziell die grandiose Coda) und das unerbittliche, groteske Scherzo.
    Da hier ja auch um die Satzreihenfolge diskutiert wurde, will ich noch sagen, dass es für mich angenehmer war, das Scherzo an dritter Stelle zu hören (wie bei Abbado), da man dann mit dem Andante ein Ruhepol nach dem aufwühlenden ersten Satz bekommt, bevor man dann vom Scherzo auf das Finale vorbereitet wird.


    Fazit: Eine perfekte Aufnahme war für mich noch nicht dabei, aber da ich die Sechste jetzt gerade mal gut 2 Wochen kenne, mache ich mir da auch gar keine Sorgen und schaue mal, was die Zeit so mit sich bringt. Es sind ja noch viele andere interessante Aufnahmen genannt worden. Jansons z.B. interessiert mich sehr, aber auch Iván Fischer soll eine tolle Aufnahme hingelegt haben.



    Gruß, Peter.

  • Zur Frage der Satz-Reihenfolge interessehalber folgende Information, zu finden auf der Homepage der Internationalen Gustav Mahler Gesellschaft
    (gustav-mahler.org)
    :yes:
    Ein weiteres trauriges Beispiel dafür, wie wenig in unseren angeblich von der "Werktreue" dominierten Zeiten das Wort des Komponisten selbst gilt ...
    :stumm:


    *******************************************


    "Die Reihenfolge der Sätze in der 6. Symphonie von Gustav Mahler wird folgendermaßen bestimmt:
    I. Allegro energico, ma non troppo (22 min.)
    Heftig, aber markig
    II. Andante moderato (14 min.)
    (in der kleinen Partitur als dritter Satz bezeichnet)
    III. Scherzo (11 min.)
    (in der kleinen Partitur als zweiter Satz bezeichnet)
    IV. Einleitung und Finale (30 min.)
    C. F. Kahnt Nachfolger."


    Diese Mitteilung ließ Gustav Mahler in das Programm der Uraufführung des Werkes (27. Mai 1906 in Essen) einfügen. Entgegen allen anderslautenden Angaben hat Mahler das Werk niemals in einer anderen Gestalt aufgeführt und diese Änderung niemals zurückgenommen.


    Dr. Reinhold Kubik
    Vize-Präsident
    Editionsleiter der Kritischen Gesamtausgabe
    Oktober 2003

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  • Hallo Peter,


    ein Ohr lohnt auch unbedingt die packende Aufnahme von Boulez mit den Wienern.



    Für mich eine der ganz großen Aufnahmen, überflügelt nur noch von zwei Liveeindrücken in Berlin unter Abbado, einmal Mitte der Neunziger Jahre und dann vor einigen Jahren, wo der Mitschnitt auch bei DGG veröffentlicht wurde.


    Gruß
    Sascha


  • Diese Empfehlung kann ich nur unterstreichen. Denn einerseits arbeitet Boulez die Nebenstimmen deutlicher als Solti heraus (was man gemäß dem immer noch gern kolportierten Klischee über den "analytischen" Interpreten Boulez ja auch erwartet), andrerseits dient diese Klarheit dem dramatisch Treibenden dieser Musik.
    Und die leise tremolierende Melodie der Geigen, die im ersten Satz die Bläserchoral-Stellen begleitet, ist (wieder im Gegensatz zu Solti) deutlich zu vernehmen, so dass auch der Aspekt des mystisch Entrückten nicht zu kurz kommt.


    Viele Grüße


    :hello:

  • Im Thread zu Debussys Klavierwerken ging es um verschiedene, vom Komponisten autorisierte Werkgestalten - und um die Frage, für welche man sich entscheiden soll. In diesem Zusammenhang schrieb Holger folgendes zu Mahlers Sechster:


    Zitat

    Original von Dr. Holger Kaletha
    Wie problematisch dieser Denkansatz ist, zeigt Janssons Aufnahme der 6. Symphonie von Mahler mit vertauschter Reihenfolge von Scherzo und langsamem Satz. Ein Musikwissenschaftler hat da behauptet, nicht die letztveröffentlichte, sondern die vorherigen Ausgaben mit zum Teil umgekehrter Anordnung seien die >richtigen< und dem sind die Amsterdamer gefolgt! Mahler selbst hat geschwankt, das ist eine Tatsache, aber sich zum Schluß für diese Reihenfolge entschieden! Das Resultat dieser Richtigstellung aus Amsterdam ist für meinen Geschmack eine einzige dramaturgische Katastrophe! Was zeigt: Letztlich entscheidet allein die Interpretation über Sinn oder Unsinn einer solchen Maßnahme - und auch wenn Mahler selbst mit sich nicht völlig im Klaren war, kann ich im Kontext der anderen Symphonien und auch was die Dramatrugie der Satzfolge angeht nur gute Argumente für die >alte<, übliche Reihenfolge finden!



    Lieber Holger,


    das ist jetzt aber eine etwas verzerrte Darstellung des Tatbestandes. Das Thema ist hier schon gelegentlich diskutiert worden - hier nur noch mal einige Fakten:


    1) Alle von Mahler selbst geleiteten Aufführungen, einschließlich der Essener Uraufführung, haben die Mittelsätze in der Reihenfolge Andante-Scherzo angeordnet. Ebenso alle anderen Aufführungen zu Mahlers Lebzeiten und bis zu zehn Jahren nach seinem Tod.


    2) Die vor der Uraufführung erschienene Druckfassung hatte in der Tat noch die Reihenfolge Scherzo-Andante. Mahler entschied sich aber noch vor der Uraufführung für die andere Reihenfolge und ließ dem Programmheft folgenden Hinweis beifügen:


    "Die Reihenfolge der Sätze in der 6. Symphonie von Gustav Mahler wird folgendermaßen bestimmt:
    I. Allegro energico, ma non troppo (22 min.)
    Heftig, aber markig
    II. Andante moderato (14 min.)
    (in der kleinen Partitur als dritter Satz bezeichnet)
    III. Scherzo (11 min.)
    (in der kleinen Partitur als zweiter Satz bezeichnet)
    IV. Einleitung und Finale (30 min.)
    C. F. Kahnt Nachfolger."



    3) Entgegen allen anderslautenden Gerüchten hat Mahler diese Entscheidung nie revidiert, auch nicht ansatzweise. Im Gegenteil hat er sogar die erste Druckauflage mit der Scherzo-Andante-Reihenfolge korrigieren lassen.


    4) Infolgedessen haben sich die Herausgeber der neuen Mahler-Gesamtausgabe im entsprechenden, 1998 erschienenen Band für die Reihenfolge Andante-Scherzo entschieden. Viele Dirigenten folgen inzwischen dieser Ausgabe, Jansons war nicht der erste (Abbado war z.B. noch früher dran).


    5) Es hat übrigens schon immer Verfechter der Andante-Scherzo-Reihenfolge gegeben: Zu diesen zählten etwa Berthold Goldschmidt und Jonathan DelMar. Ebenso haben in der Zeit vor der von Erwin Ratz 1963 verantworteten Ausgabe immer wieder Dirigenten Aufführungen und Aufnahmen mit der Reihenfolge Andante-Scherzo geleitet: u.a. Charles Adler, Eduard Flipse, Eduard van Beinum, Dimitri Mitropoulos und Hermann Scherchen.



    Über die dramaturgische Schlüssigkeit der beiden Lösungen kann man unterschiedlicher Meinung sein. Viele Verfechter der Scherzo-Andante-Reihenfolge haben ja darauf hingewiesen, dass das Scherzo das rhythmische "Stampfen" des ersten Satzes wieder aufnimmt und gewissermaßen als eine Variation des ersten Satzes gelesen werden könne. Ihrer Meinung nach sei die Umstellung eine vorauseilende Konzession Mahlers an den Publikumsgeschmack gewesen, die heute wieder rückgängig gemacht werden müsse. Allerdings kann man auch anders argumentieren: Mit dem (schein-)triumphalen Ende des ersten Satzes wird ein "Plateau" erreicht, auf dem sich das friedvolle Andante ausbreiten kann. Der Rückschlag erfolgt mit dem Scherzo mit seinem tragisch-grotesken Ende, an das schlüssig das Finale anknüpft.


    Mahler hat offenbar zu unterschiedlichen Zeiten beide Reihenfolgen für möglich gehalten. Im Gegensatz zu Ben Cohrs (vgl. seine Beiträge weiter oben) halte ich eine radikale Verdammung einer der beiden Varianten nicht für sinnvoll und bin dafür, dass beide Lösungen "im Angebot bleiben".


    Musikphilologisch spricht allerdings fast alles für die Andante-Scherzo-Reihenfolge. Sehr ausführlich plädiert der folgende, online zugängliche Aufsatz (aus dem ich mich bei meinem Posting bedient habe) für diese Lösung:


    Jerry Bruck, Undoing a "Tragic" Mistake, in: Gilbert Kaplan (Hg.), The Correct Movement Order in Mahler's Sixth Symphony, New York 2004, S. 13-34.


    "http://www.posthorn.com/Mahler/Correct_Movement_Order_III.pdf"



    Viele Grüße


    Bernd

  • Hallo Bernd,


    meine Quelle ist Hans-Peter Jülg "Gustav Mahlers VI. Symphonie". Jülg hat dort diese Problematik und die Rezeptiongeschichte ausführlich dargestellt. Die erste Fassung enthält die Reihenfolge Scherzo-Andante, die zweite die umgekehrte Andante-Scherzo. Bei der Uraufführung hat Mahler die Reihenfolge der ersten Fassung dirigiert, also erst Scherzo, dann Andante!!!


    Jülg: "Ob die ursprüngliche Satzfolge Mahlers die endgültige war, ist mit letzter Sicherheit nicht zu beweisen. Doch sprechen einige Indizien dafür, daß Mahler die Satzfolge der ersten Ausgabe als die endgültige ansah." Das betont auch Paul Stefan, der ein persönlicher Vertrauter Mahlers war: "Die von Mahler endgültig bestimmte Reihenfolge der Mittelsätze ist: Scherzo vor dem Andante." In der Wiener Aufführung von 1907 - der letzten, die er dirigiert hat - ließ er diese ursprüngliche Reihenfolge der Mittelsätze spielen!


    Das grundsätzliche Problem der Reihenfolge der Mittelsätze hat sehr treffend Carl Dahlhaus analysiert, daß mit der Verlagerung des Gewichts auf das Finale die Mittelsätze zu im Prinzip vertauschbaren Episoden werden. Mahlers Schwanken hat also seine guten Gründe! Autoren wie Erwin Ratz und Hans-Heinrich Eggebrecht halten die Reihenfolge Scherzo-Andante für die dramaturgisch schlüssigere. Das ist auch meine Meinung. Das Scherzo nimmt (wie in der 1.!) den Schwung aus dem Allgero mit - der Sturz in das Weltgetümmel. Dann folgt der selbstbesinnliche Gang ins Innere mit dem Einschlafen und dann das Erwachen im Traum (Beginn des Finales der 6., die Traumepisode!) Das ist doch eine völlig schlüssige Dramaturgie!


    Mit den besten mahlerischen Grüßen
    Holger

  • Zwei Aufnahmen möchte ich empfehlen:


    Einmal Bernsteins Aufnahme mit dein Wiener Philharmonikern, halte ich für seine beste Mahler-Einspielung. Und dann die wirklich ganz vorzügliche Aufnahme von Vaclav Neumann mit der wunderbaren Tschechischen Philharmonie! In Frankreich und den Beneluxländern wird Neumann hoch geschätzt, in Deutschland und Österreich ist er leider viel zu wenig bekannt. Die Mahler-Symphonien von Neumann gibt es als Supraphon-Box, kurz vor seinem Tod hat er noch einmal die Symphonien 1,2,4,5 aufgenommen. Label: Canyon-Classics.


    Beste Grüße
    Holger

  • Wir hatten das oben ja schon einmal. Ich bin ebenfalls entgegen des anscheinend eindeutigen philologischen Befundes für die Scherzo-Andante-Reihenfolge, hauptsächlich aufgrund der Idee, daß wie in Beethovens 9. (und op.106), das Scherzo eine Art Parodie auf den Kopfsatz ist. Und aus Symmetriegründen. Hauptsatz+Scherzo sind etwa so lang wie das Finale, das andante stünde als lyrisches Intermezzo genau in der Mitte.


    Andererseits ist die von Mahler bevorzugte Reihenfolge gewiß nicht absurd (was m.E. bei einer Vertauschung der Mittelsätze in Beethovens 9. oder Bruckners 8. der Fall wäre)


    :hello:


    JR

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Zitat

    Original von Dr. Holger Kaletha
    Hallo Bernd,


    meine Quelle ist Hans-Peter Jülg "Gustav Mahlers VI. Symphonie". Jülg hat dort diese Problematik und die Rezeptiongeschichte ausführlich dargestellt. Die erste Fassung enthält die Reihenfolge Scherzo-Andante, die zweite die umgekehrte Andante-Scherzo. Bei der Uraufführung hat Mahler die Reihenfolge der ersten Fassung dirigiert, also erst Scherzo, dann Andante!!!


    Jülg: "Ob die ursprüngliche Satzfolge Mahlers die endgültige war, ist mit letzter Sicherheit nicht zu beweisen. Doch sprechen einige Indizien dafür, daß Mahler die Satzfolge der ersten Ausgabe als die endgültige ansah." Das betont auch Paul Stefan, der ein persönlicher Vertrauter Mahlers war: "Die von Mahler endgültig bestimmte Reihenfolge der Mittelsätze ist: Scherzo vor dem Andante." In der Wiener Aufführung von 1907 - der letzten, die er dirigiert hat - ließ er diese ursprüngliche Reihenfolge der Mittelsätze spielen!



    Lieber Holger,


    es ist definitiv falsch, dass Mahler jemals die Reihenfolge Scherzo-Andante dirigiert hätte. Bei allen drei von Mahler selbst geleiteten Aufführungen stand das Andante vor dem Scherzo: bei der Essener Uraufführung am 27.5.1906, bei der Münchner Aufführung am 8.11.1906 und bei der Wiener Aufführung am 4.1.1907.


    Das Buch von Jülg (1986) repräsentiert einen veralteten Forschungsstand. Jülg standen zahlreiche Quellen nicht zur Verfügung bzw. er hat sich nicht um sie bemüht, manche hat er auch falsch interpretiert (z.B. zur Wiener Aufführung). Das ist von den Herausgebern der neuen Mahler-Ausgabe korrigiert worden. Ich kann nur nochmal die Lektüre des oben von mir verlinkten Beitrags von Jerry Bruck empfehlen - hier werden erdrückende Belege für die Reihenfolge Andante-Scherzo dargeboten.


    Wie es dazu kam, dass sich nach ca. 1920 immer mehr die Reihenfolge Scherzo-Andante durchsetzte, hat Bruck ebenfalls ausführlich dargelegt (hier spielt erwartungsgemäß Alma Mahler eine große Rolle). Der von Dir zitierte Paul Stefan hat übrigens noch 1913 die Andante-Scherzo-Reihenfolge befolgt und sich erst 1920 in der zweiten Auflage seines Mahler-Buchs anders besonnen (ähnliches gilt für Mengelberg). Andere Vertraute Mahlers haben darauf bestanden, dass Mahler die Reihenfolge Andante-Scherzo niemals revidiert hat - z.B. Bruno Walter (Bruck, S. 32).



    Zitat

    Das grundsätzliche Problem der Reihenfolge der Mittelsätze hat sehr treffend Carl Dahlhaus analysiert, daß mit der Verlagerung des Gewichts auf das Finale die Mittelsätze zu im Prinzip vertauschbaren Episoden werden. Mahlers Schwanken hat also seine guten Gründe! Autoren wie Erwin Ratz und Hans-Heinrich Eggebrecht halten die Reihenfolge Scherzo-Andante für die dramaturgisch schlüssigere. Das ist auch meine Meinung. Das Scherzo nimmt (wie in der 1.!) den Schwung aus dem Allgero mit - der Sturz in das Weltgetümmel. Dann folgt der selbstbesinnliche Gang ins Innere mit dem Einschlafen und dann das Erwachen im Traum (Beginn des Finales der 6., die Traumepisode!) Das ist doch eine völlig schlüssige Dramaturgie!


    Mit den besten mahlerischen Grüßen
    Holger


    Ich stimme wie Du Dahlhaus zu, dass die Mittelsätze zu im Prinzip austauschbaren Episoden werden. Nicht umsonst hat Mahler zu verschiedenen Zeitpunkten beide Lösungen für möglich gehalten. Sowohl bei Andante-Scherzo wie bei Scherzo-Andante entsteht eine schlüssige Dramaturgie - nur dass es sich um zwei verschiedene Dramaturgien handelt, die auch Auswirkungen auf die Interpretation haben sollte: m.E. ist die Lesart mit dem Andante als zweitem Satz am schönsten von Claudio Abbado in seinen Berliner und Luzerner Aufnahmen verdeutlicht worden - eher eine "klassizistische" Interpretation, bei der die Sprengkräfte von innen wirken, und nicht die exaltierte Horrorfratze wie bei Bernstein oder Kondrashin.


    Dass es viele Fürsprecher der Reihenfolge Scherzo-Andante gibt, ist mir klar (zu ihnen zählt auch Michael Gielen). Genausogut kann man aber zahlreiche Befürworter der Reihenfolge Andante-Scherzo aufführen: von Richard Specht über Alexander Zemlinsky und Sjatoslav Richter bis zu Claudio Abbado und Mariss Jansons.


    Wie gesagt: Musikphilologisch dürfte die Frage entschieden sein. In der Musizierpraxis plädiere ich nicht für eine endgültige Festlegung, sondern für ein Nebeneinander beider Fassungen.



    Viele (ebenfalls mahlerische) Grüße


    Bernd

  • Zitat

    Original von Zwielicht


    Da Qualität der Arbeit von Jülg ist, daß sie klar macht, daß die Frage der Reihenfolge der Sätze nicht nur ein philologisches Problem ist und die verschiedenen Aspekte auch rezeptionsgeschichtlich sehr gut beleuchtet. Wer welche einzelnen Quellen richtig deutet, das sollen die Philologen unter sich ausmachen! Die Schwäche eines solchen musikologisch-positivistischen Denkansatzes ist für meinen Geschmack, daß er sich von vornherein nicht auf die hermeneutische Sinnebene begibt! Nur dort ist letztlich eine Entscheidung zu treffen! Eggebrecht, Ratz, Andraschke argumentieren letztlich nicht >musikphilologisch<, sondern versuchen sich von dieser von mir bezeichnenden anderen Ebene dem Problem zu nähern!


    Beste Grüße
    Holger

  • Zitat

    Original von Zwielicht


    Hallo Bernd,


    ich habe im Moment leider ausführlich nicht die Zeit, mich mit dieser Problematik ausführlich zu beschäftigen, habe deshalb nur noch einmal in das Buch von Jülg geschaut. Daß Stefan diese Bemerkung über die >endgültige< Satzfolge erst in der Ausgabe von 1920 macht, in seiner früheren Analyse aber die Reihenfolge Andante-Scherzo zugrundelegt, wird von Jülg ausdrücklich vermerkt - ohne Kommentar, als Faktum! Auch korrigiert er Ratz, daß bei der Uraufführung Mahler abweichend von ausgedruckten Programm die Reihenfolge Andante-Scherzo dirigiert hat! Mit den Quellen - das vermittelt mir jedenfalls das Buch - geht er eigentlich sehr sorgsam und gewissenhaft um!


    Ich persönlich bleibe skeptisch, ob es in dieser Frage rein philologisch und historisch jemals eine eindeutige Klärung geben wird! Wie kommen Mengelberg oder Ratz zu ihrer Bevorzugung der Folge Scherzo-Andante? Durch Mahler selbst, vermittelt über Dritte? Wer will das frei von Spekulationen jemals mit Sicherheit klären? Auch wenn Mahler selber nie die Reihenfolge Scherzo-Andante selbst dirigiert hat, ist es durchaus denkbar, daß er später (nach 1907), als er die Symphonie selbst nicht mehr dirigierte, seine Meinung sehr wohl geändert haben kann. Fragen über Fragen! Außerdem: Warum hat er denn geschwankt? Was waren seine genauen Gründe? Auch da haben wir wohl nicht mehr als Vermutungen zur Verfügung!


    Ich selbst plädiere deswegen für einen hermeneutischen und weniger historisch-philologischen Zugang!


    Beste Grüße
    Holger

  • Zitat

    Original von Dr. Holger Kaletha
    Ich persönlich bleibe skeptisch, ob es in dieser Frage rein philologisch und historisch jemals eine eindeutige Klärung geben wird! Wie kommen Mengelberg oder Ratz zu ihrer Bevorzugung der Folge Scherzo-Andante? Durch Mahler selbst, vermittelt über Dritte? Wer will das frei von Spekulationen jemals mit Sicherheit klären? Auch wenn Mahler selber nie die Reihenfolge Scherzo-Andante selbst dirigiert hat, ist es durchaus denkbar, daß er später (nach 1907), als er die Symphonie selbst nicht mehr dirigierte, seine Meinung sehr wohl geändert haben kann. Fragen über Fragen! Außerdem: Warum hat er denn geschwankt? Was waren seine genauen Gründe? Auch da haben wir wohl nicht mehr als Vermutungen zur Verfügung!


    Lieber Holger,


    die meisten dieser Fragen werden in dem oben von mir verlinkten Beitrag sehr ausführlich erörtert und können zumindest teilweise einer Klärung zugeführt werden. Ich setze den Link hier nochmals herein:


    Jerry Bruck, Undoing a "Tragic" Mistake, in: Gilbert Kaplan (Hg.), The Correct Movement Order in Mahler's Sixth Symphony, New York 2004, S. 13-34.


    "http://www.posthorn.com/Mahler/Correct_Movement_Order_III.pdf"



    Zitat

    Ich selbst plädiere deswegen für einen hermeneutischen und weniger historisch-philologischen Zugang!


    Ich bin selbst alles andere als ein gusseiserner Positivist. Aber ein historisch-philologischer und ein hermeneutischer Zugang müssen sich ja nun keineswegs ausschließen. Zudem plädiere ich doch dafür, die Argumente der "anderen Seite" erstmal in aller Komplexität zur Kenntnis zu nehmen, bevor man sie ablehnt. Ich selbst habe ja trotz der philologisch gegebenen Situation für ein Nebeneinander beider Möglichkeiten plädiert.


    Auch unabhängig von der rein philologisch motivierten Position haben sich Musiker und Musikwissenschaftler für die Andante-Scherzo-Reihenfolge ausgesprochen - teilweise intuitiv, teilweise aber auch aus einem hermeneutischen Zugang heraus (wenn man das überhaupt trennen kann - Belege finden sich in der oben angegebenen Quelle). Es ist kaum so, dass vom Gesichtspunkt der musikalischen Dramaturgie her argumentiert alles für das Scherzo als zweiten Satz sprechen würde.



    Viele Grüße


    Bernd

  • Tamino Beethoven_Moedling Banner
  • Zitat

    Original von Dr. Holger Kaletha
    Zwei Aufnahmen möchte ich empfehlen:


    Einmal Bernsteins Aufnahme mit dein Wiener Philharmonikern, halte ich für seine beste Mahler-Einspielung. Und dann die wirklich ganz vorzügliche Aufnahme von Vaclav Neumann mit der wunderbaren Tschechischen Philharmonie! In Frankreich und den Beneluxländern wird Neumann hoch geschätzt, in Deutschland und Österreich ist er leider viel zu wenig bekannt.


    Ich persönlich halte die Aufnahmen Neumanns mit dem Leipziger Gewandhausorchester (BerlinClassics, teils auch Brillinat) - leider wegen der Besetzung Prags durch die Russen und Neumanns rascher Heimkehr nur bis zu den Sinfoniene 5,6,7&9 gediehen - für überzeugender als die Aufnahmen mit der Tschechischen Philharmonie.
    Ich kann nur bestätigen: Ganz hervorragend! (...sofern man nicht Gewaltdramatik und Expresivität à la Solti sucht..)
    :hello:

    Gruß ab


    ---
    Und ich meine, man kann häufig mehr aus den unerwarteten Fragen eines Kindes lernen als aus Gesprächen mit Männern, die drauflosreden nach Begriffen, die sie geborgt haben, und nach den Vorurteilen ihrer Erziehung.
    J. Locke

  • Zitat

    Original von a.b.


    Die Tschechische Philharmonie ist für mich eins der drei besten Mahler Orchester überhaupt! Mit einem Klang, den es nicht noch einmal gibt. Vor allem die Bläser sind singulär! Die Aufnahme der 6. besticht durch unglaubliche Präzision und fabelhaft >deutlich< ausgearbeitete Marschcharaktäre! Das erinnert an die verblüffende Selbstverständlichkeit, wie die Tschechische Philh. unter Ancerl Strawinskys Sacre bewältigt! Bei den Tschechen muß man wissen, daß nach der Wende 89 viele aus dem Orchester in den Westen abgewandert sind, vor allem aus den hinteren Reihen (bei einem Privinzorcherster in der BRD verdiente man halt deutlich mehr als in Prag!) und das Orchester sich erst neu formieren mußte. Die Supraphon-Aufnahmen sind aber alle vor 89, da waren sie in Topform! In ihren besten Tagen machte ihnen was Virtuosität angeht kein Orchester auf der Welt etwas vor! (Ich sammle Aufnahmen der Tschech. Philharmonie!)


    Von Neumanns Aufnahmen aus Leipzig kenne ich nicht alle, die sind zwiefellos auch ganz hervorragend! Auf Deine eindringliche Empfehlung hin werde ich mir die Brillant-Box auch noch mal anschaffen!


    Beste Grüße
    Holger

  • Lieber Bernd, Du schreibst:


    "Im Gegensatz zu Ben Cohrs (vgl. seine Beiträge weiter oben) halte ich eine radikale Verdammung einer der beiden Varianten nicht für sinnvoll und bin dafür, dass beide Lösungen "im Angebot bleiben"."


    ich finde das, ehrlich gesagt, unverschämt! Wenn Du meine Beiträge nochmals genau liest, wirst Du sehen, daß ich keinesfalls "eine der beiden Varianten" verdammt habe. Ich habe auf die Resultate der jüngsten Mahler-Forschung und den Willen des Komponisten hingewiesen, aber mit keinem Wort irgendwo geschrieben, man dürfe die Sechste nur so und nicht anders aufführen. Schon die Existenz der vielen Aufnahmen, in denen es nicht so ist (Scherzo-Andante), schafft schließlich vollendete Tatsachen.


    Jeder Dirigent ist primär für seine eigene Aufführung verantwortlich; eine entsprechende Entscheidung gehört dazu. Hält er sich nicht an Mahlers eigenen Wunsch, muß er sich allerdings fragen lassen, warum ...

  • Lieber Ben,


    die Formulierung "radikale Verdammung" war zweifellos unglücklich gewählt - dafür entschuldige ich mich. Ich hatte Deinen Postings entnommen, dass Du energisch für die Andante-Scherzo-Reihenfolge plädierst, wofür es ja auch gute Gründe gibt. Mein Umkehrschluss, dass Du die traditionelle Variante scharf ablehnst, ist sicher unzulässig gewesen. Ich nehme gerne zur Kenntnis, dass Du nur auf den Stand der Forschung hinweisen wolltest.



    Viele Grüße


    Bernd

  • Zitat

    Original von Dr. Holger Kaletha
    Von Neumanns Aufnahmen aus Leipzig kenne ich nicht alle, die sind zwiefellos auch ganz hervorragend! Auf Deine eindringliche Empfehlung hin werde ich mir die Brillant-Box auch noch mal anschaffen!


    Achtung! In der Box bei Brilliant

    befindet sich leider, leider bloß die 5. und 9. der leipziger Neumann-Mahler-Sinfonien! Die 5. gibts auch bei Brilliant neuerdings einzeln für etwa 3 EUR am Markt, da in fester Box (!) statt in Pappe wie bei Berlin Classics zum fast gleichen Preis. Die Nr. 6 und 7 gibts leider nur bei Berlin Classics. (Was die Box am ehesten empfehlenswert macht, dürfte vor allem die Mahler 3 mit Horenstein sein, 6 mit haenchen, 7 mit Masur und 8 mit Järvi kommt alles nicht annähenrd an Neumann heran. Leider findet sich dort nicht als Nr. 1 die großartige - mein Geheimtipp - mit der Süddeutschen Philharmonie unter Denis Zsoltay.)
    By the way: die 6. mit Neumann aus Leipzig finde ich die am wenigesten überzeugendste, am besten die 9. vor der 7. und 5.

    Gruß ab


    ---
    Und ich meine, man kann häufig mehr aus den unerwarteten Fragen eines Kindes lernen als aus Gesprächen mit Männern, die drauflosreden nach Begriffen, die sie geborgt haben, und nach den Vorurteilen ihrer Erziehung.
    J. Locke

  • Ich habe in der erwähnten Homepage über die von Gustav Mahler so angegebenen Reihenfolge gelesen.
    Beim Studium diverser Literatur kommen mir doch Zweifel. Zum einen habe ich im Konzert selbst erlebt, dass die Musiker nach dem ersten Satz alle emsig vorblättern und danach wieder zurück.


    In der Mahler-Biographie von Karl-Josef Müller (Piper-Schott) steht:


    "Er arbeitet Tag und Nacht, überlegt, ob er nicht besser den zweiten und dritten Satz in der Reihenfolge vertauschen sollte (was er nach der Uraufführung auf Anraten von Freunden tatsächlich tut, dann aber doch wieder verwirft),..."


    Im Konzertführer von Csampai steht:


    "Deutlicher denn je wird in der Sechsten die autonome symphonische Tradition, das viersätzige klassische Modell mit Kopfsatz, Scherzo, langsamem Satz und Finale..."


    Im in der DDR erschienenen Konzertbuch schreibt Schäfer:


    "Übrigens hat Mahler nach der Uraufführung die Reihenfolge der Sätze geändert und auch einige Umarbeitungen vorgenommen. Unsere Analyse folgt der in der Kritischen Gesamtausgabe von 1963 gewählten Fassung" ( Scherzo vor dem langsamen Satz).


    So ist es auch in der mir vorliegenden Aufnahme mit dem Cleveland Orchestra und von Dohnanyi.


    Dennoch - dagegen gibt es auch die zitierten anderen Aussagen. Aber warum sind denn die Orchesternoten nach über einem Jahrhundert nicht geändert?


    Ich persönlich bin für das Scherzo an zweiter Stelle, analog wie Beethovens "Neunter", um damit ein Atemholen und Verschnaufen vor dem grandiosen Finale zu schaffen. Und ich glaube, wie es Mahler wirklich wollte, bleibt im Verborgenen.

    Wenn schon nicht HIP, dann wenigstens TOP

  • Zitat

    Original von timmiju
    Aber warum sind denn die Orchesternoten nach über einem Jahrhundert nicht geändert?


    Nicht "nach über einem Jahrhundert". Die kritische Edition mit der Reihenfolge Andante-Scherzo ist von 1998, es sind also nur zehn Jahre. Bei den meisten Orchestern dürfte das Notenmaterial noch auf der Ausgabe von Erwin Ratz von 1963 basieren, mit der bekanntlich für lange Zeit die Reihenfolge Scherzo-Andante durchgesetzt wurde.


    Mahler selbst hat dafür gesorgt, dass 1906 die Partitur mit der Reihenfolge Andante-Scherzo gedruckt wurde. Ich vermute mal, dass viele Orchester bis 1963 noch aus Notenmaterial gespielt haben, in denen das Andante zuerst kam. Damals wurde also wahrscheinlich noch emsig vor- und zurückgeblättert, wenn sich der Dirigent im Fahrwasser Mengelbergs für die Reihenfolge Scherzo-Andante entschied. Allerdings: sehr viele Orchester waren's eh nicht, die vor 1963 Mahlers Sechste gespielt haben. Auch muss man auch hier nochmal darauf verweisen, dass sowohl in den 20er wie auch in den 50er Jahren einige Aufführungen (vielleicht sogar: die Mehrzahl der Aufführungen) von Mahlers Sechster mit der Reihenfolge Andante-Scherzo stattgefunden haben! Zu den verantwortlichen Dirigenten gehörten u.a. Alexander Zemlinsky, F. Charles Adler, Eduard Flipse, Eduard van Beinum, Dimitri Mitropoulos (vor 1957) und Hermann Scherchen (mit Ausnahme von Zemlinsky alle auf Tonträgern festgehalten).


    Der Autorität einer "kritischen Edition" sind dann nach 1963 fast alle Dirigenten für 35 Jahre (und länger) gefolgt. Die Entscheidung des ansonsten sehr verdienstvollen Erwin Ratz für die Reihenfolge Scherzo-Andante wurde allerdings nach Maßstäben getroffen, die den Ansprüchen an eine kritische Ausgabe nicht im mindesten gerecht wurden. Das lässt sich alles - gerne verweise ich nochmals darauf - in dem oben von mir verlinkten, äußerst gründlichen Aufsatz von Jerry Bruck nachlesen.


    Die von Dir zitierte Literatur (zwei Konzertführer und eine Mahler-Biographie aus den 80er Jahren) hat ebenfalls der Ratz-Edition und den Behauptungen in ihrem Umfeld, Mahler habe die Änderung zurückgenommen, vertraut. Heute ist die Materie einfach viel besser und unter Verwendung vorher unbekannter oder verdrängter Quellen aufgearbeitet.



    Viele Grüße


    Bernd

  • Liebe Forianer,


    Valery Gergiev hat mit dem LSO eine stürmisch-packende Neuaufnahme der sechsten Sinfonie vorgelegt. Besonders beeindruckt mich, dass trotz der ungestümen Tempi die Details nicht untergehen, die Partituren wirkt sogar regelrecht "aufgerauht", jedenfalls lange nicht so glatt wie bei Solti (der ja auch schnelle Tempi gewählt hat). Nach Abbados immer wieder abbremsender, innehaltende Aufnahme also endlich mal wieder ein tragisches Feuerwerk! Neben der etwas kühler wirkenden Boulez-Aufnahme (die freilich auch grandios ist) für mich die beste Aufnahme der letzten Jahre. Gergiev scheint einen kompletten Zyklus zu planen, da darf man gespannt sein.



    Viele Grüße,
    Christian

  • Ich habe dieses Werk gestern und heute in 2 unterschiedlichen Aufnahmen gehört. Einmal Gergiev und einem Bernstein, DGG (80er-Jahre).


    Ich habe mir dabei Gedanken darüber gemacht was an diesem Werk "tragisch ist".
    Den Kopfsatz und das Scherzo würde ich mit "dämonisch" oder "manisch" titulieren und das Finale wird dem Titel auch nur ganz am Ende gerecht. Ich empfinde es so, als ob der letzte Satz dem Hörer zeigen will was er nicht alles hätte haben können um ihn dann in den letzten 2 Minuten mit der brutalen (oder eben tragischen) Wirklichkeit zu konfrontieren. Die ominösen Hammerschläge sind IMO die Momente wo die Realität bereits durchkommt.


    Habe ich Mahler jetzt entweiht oder bin ich nur zu blöd die tiefere Bedeutung der Symphonie zu begreifen. Ist es möglich, dass mir seine Symphonien wahnsinnig gut gefallen OBWOHL ich mit den vielfach kolportieren Interpretationsansätzen wenig anfangen kann? :untertauch:


    Um Aufklärung für eine Mahler-Dummie wird gebeten.


    LG
    Georg

    Früher rasierte man sich wenn man Beethoven hören wollte. Heute hört man Beethoven wenn man sich rasiert. (Peter Bamm)

  • Hallo georgius,


    Zitat

    Original von georgius1988
    Ich habe mir dabei Gedanken darüber gemacht was an diesem Werk "tragisch ist".
    Den Kopfsatz und das Scherzo würde ich mit "dämonisch" oder "manisch" titulieren und das Finale wird dem Titel auch nur ganz am Ende gerecht. Ich empfinde es so, als ob der letzte Satz dem Hörer zeigen will was er nicht alles hätte haben können um ihn dann in den letzten 2 Minuten mit der brutalen (oder eben tragischen) Wirklichkeit zu konfrontieren. Die ominösen Hammerschläge sind IMO die Momente wo die Realität bereits durchkommt.


    Habe ich Mahler jetzt entweiht oder bin ich nur zu blöd die tiefere Bedeutung der Symphonie zu begreifen.


    zwar bin ich auch kein sattelfester Mahler-Exeget, aber Deine Gedanken erscheinen mir gar nicht flach. Eine tiefere Bedeutung, so vorhanden, sollte sich schon an konkreten Beobachtungen festmachen lassen (frei nach Hegel: das "Wesen" einer Sache muss auch mal irgendwann erscheinen, sonst hat es mit der Sache offenbar nicht allzuviel zu tun).
    "Dämonisch" und "manisch" als Charakterisierung von Kopfsatz, Scherzo und auch des letzten Satzes finde ich ganz einleuchtend und steht zum Tragischen auch gar nicht in Widerspruch, kommt in der Tragödie das traurige Ende ja auch nach Bedrohungen und Bemühungen sie zu bewältigen, einhergehend mit Selbstüberschätzung und trügenden Hoffnungen.


    Mir scheint die Realität allerdings schon zu Beginn des letzten Satzes mal durchzugucken: als ob dieses Harfen-Glissando mit düsterer Akkordbegleitung (wenn ich mich richtig entsinne) sagen wollte: "Nein, eigentlich ist es bereits vorbei". Denn dann folgt ja eine wilde, kämpfende Musik mit triumphierenden Höhepunkten und ruhigeren Passagen bis dieses Harfenglissando am Schluss wiederkehrt und dann ja wirklich alles zuende ist.


    Zitat

    Ist es möglich, dass mir seine Symphonien wahnsinnig gut gefallen OBWOHL ich mit den vielfach kolportieren Interpretationsansätzen wenig anfangen kann?


    Vielleicht kommst Du ja dafür noch auf eine bessere Interpretation.


    Viele Grüße


    :hello:

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