Beethoven ist der sprödeste und irritierendste Komponist, den ich kenne

  • Hallo!


    Zitat

    Original von Johannes Roehl
    Ich müßte die 8. Sinfonie mal wieder anhören ...


    Ja, und zwar mit Järvi am Steuer! ;)



    Zitat

    Frage ist eben, was die angemessene Reaktion wäre? Wir werden es kaum schaffen, die Sensibilität von 1810 wiederzugewinnen. Man kann nur versuchen die Aufmerksamkeit zu steigern, die Noten mitverfolgen, um vielleicht dort zu entdecken, was man nicht unmittelbar hört und dann darauf zu achten. Bei einigen späten Haydn-Sinfonien, die ich recht gut zu kennen glaubte, war ich überrascht, was ich letzten Sommer dort noch alles entdeckten konnte.


    Scheint so, als bräuchten wir ein Beethoven-Projekt, die Kapazitäten sind ja bald frei dafür... :D:untertauch:


    Mich irritiert Beethoven häufig, das hat er von Anfang an getan und tut es bis heute. Das Irritierende am harmonischen Verlauf nehme ich zumeist höchstens unterbewusst wahr, für vieles ist da die Sensibilität nicht mehr da, wie Johannes schon gesagt hat. Ich kann mich aber daran erinnern, dass ich als Kind den Kopfsatz der Waldsteinsonate sehr irritierend, dämonisch fand (und deswegen nicht hören wollte).
    Später waren es dann die störrischen bis bizarren Rhythmen vieler seiner Scherzi, die mich irritiert haben, auch die äußere Formgebung (z.B. Satzanordnung und -proportionen) einiger Werke, wie zum Beispiel der späten Klaviersonaten oder Quartette. Das Finale der siebten und auch vieles in der achten Symphonie irritieren mich bis heute, auch diverse Sätze in den Streichquartetten, beispielsweise der Kopfsatz von 59,2, die Variationssätze in opp. 127 und 131 und die ersten beiden Sätze aus op. 132.
    Es gab also immer Werke von Beethoven, an denen ich mich gerieben habe; und fast immer hatten gerade diese Werke eine immense Anziehungskraft auf mich, sie hatten immer etwas, das mich zum Wiederhören gezwungen hat, zum Versuch, das, was sich meinem Verstand bisher entzogen hatte, zu verstehen. Das hat Beethoven übrigens mit Mahler gemein, dessen Musik mich auch andauernd irritiert und zu der mich trotzdem wie magisch ein Sog hinzieht.



    Gruß,
    Frank.

  • Zitat

    Original von Spradow
    Scheint so, als bräuchten wir ein Beethoven-Projekt, die Kapazitäten sind ja bald frei dafür...


    Vielleicht etwas weniger systematisch-monumental in der Konzeption ...

  • Zitat

    Original von Spradow


    Ja, und zwar mit Järvi am Steuer! ;)


    Ich hatte es vorgestern oder so geplant, dann drängte sich eine andere CD vor... Es ist auch nicht so, daß ich das Stück nicht präsent hätte, ich könnte es größtenteils vorbrummen, aber eben nicht harmoniesicher, so daß ein Seitenthema in zunächst irregulärer Tonart nicht auffiele...


    Zitat


    Scheint so, als bräuchten wir ein Beethoven-Projekt, die Kapazitäten sind ja bald frei dafür...


    Es gibt ja schon zu fast allen wichtigen Werken threads, die gerne aufgegriffen werden können...


    Zitat


    Mich irritiert Beethoven häufig, das hat er von Anfang an getan und tut es bis heute. Das Irritierende am harmonischen Verlauf nehme ich zumeist höchstens unterbewusst wahr, für vieles ist da die Sensibilität nicht mehr da, wie Johannes schon gesagt hat. Ich kann mich aber daran erinnern, dass ich als Kind den Kopfsatz der Waldsteinsonate sehr irritierend, dämonisch fand (und deswegen nicht hören wollte).


    Immerhin einer, der die Sensibilität bewahrt hat... ;)
    In dem Alter (15-17), als ich Beethoven Musik kennenlernte, konnte es gar nicht "dämonisch" genug sein, auch wenn ich die Waldstein nie so empfunden habe, sondern eher als zu "trocken" oder "neutral" (s.o., daß Alfred sie für ein melodisch besonders eingängiges Stück hält, finde ich allerdings, abgesehen vom Rondothema nach wie vor befremdlich)


    In meinem Erststudium wurde öfters mal ein Spruch über Theoretische Physik zitiert: "Zuerst versteht man gar nichts, aber irgendwann gewöhnt man sich dran." Ich vermute mal, daß absichtlich im Unklaren gelassen wird, ob man sich nicht hauptsächlich an das Nichtverstehen gewöhnt. Aber man lernt eben, gewisse Verfahren einigermaßen erfolgreich anzuwenden und durchzurechnen, so daß ein tieferes Verständnis gar nicht groß zu Diskussion steht. Eine gewisse Form des Verstehens ergibt sich durch die Gewöhnung und zum Bestehen reicht das aus. (Ich vermute mal, daß es nicht reicht, um ein wirklich guter innovativer Wissenschaftler zu werden, aber von denen gibt es eh nicht viele).


    So ähnlich geht es häufig auch mit der Musik. Beethoven hatte eine derartige Autorität, daß ich mit 15, 16 lange Passagen durchgestanden habe, weil zum einen irgendwann wieder "schöne Stellen" kamen, zum anderen, weil eben allgemeine Ansicht war, daß es sich um großartige Werke handelte und es natürlich an mir liegen mußte, wenn ich irgendwas "spröde" fand. Und irgendwann gewöhnt man sich dran und nimmt vieles hin, egal, ob man es in einem tieferen Sinne verstanden hat, und daher die Sperrigkeit nicht mehr wahr.


    :hello:


    JR

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Zitat

    Original von KurzstückmeisterVielleicht etwas weniger systematisch-monumental in der Konzeption ...


    Hmm, 32 Sonaten, 16 Quartette, 15 Symphonien und Konzerte, 1 Oper, vielleicht 32 weitere wichtige Werke. Das macht jede dritte Woche ein Quartett, in den beiden Wochen dazwischen jeweils eine Sonate, außerdem jede dritte Woche eine Symphonie/Konzert/Oper und in den Wochen dazwischen eins der restlichen Werke => zwei Werke pro Woche, 48 Wochen! :D



    Zitat

    Original von Johannes RoehlEs gibt ja schon zu fast allen wichtigen Werken threads, die gerne aufgegriffen werden können...


    ...wobei aber sowohl die Legitimation dafür entfällt, einen vorhandenen Einführungsbeitrag durch einen eigenen, ausführlicheren aufs Abstellgleis zu schieben, als auch der Druck, einen solchen verfassen zu müssen... ;)



    Zitat

    In meinem Erststudium wurde öfters mal ein Spruch über Theoretische Physik zitiert: "Zuerst versteht man gar nichts, aber irgendwann gewöhnt man sich dran." [...]
    So ähnlich geht es häufig auch mit der Musik. Beethoven hatte eine derartige Autorität, daß ich mit 15, 16 lange Passagen durchgestanden habe, weil zum einen irgendwann wieder "schöne Stellen" kamen, zum anderen, weil eben allgemeine Ansicht war, daß es sich um großartige Werke handelte und es natürlich an mir liegen mußte, wenn ich irgendwas "spröde" fand. Und irgendwann gewöhnt man sich dran und nimmt vieles hin, egal, ob man es in einem tieferen Sinne verstanden hat, und daher die Sperrigkeit nicht mehr wahr.


    Auch wenn man sich nicht darüber klar ist, was diese Stellen technisch besonders macht, denke ich, dass zu dem Gewöhnen auch ein unterbewusstes Verstehen gehört - warum sonst kommt vielen von uns die Musik von Haydn trivial und einfach vor, als dadurch, dass kompliziertere Harmonik, Melodik, etc. durch spätere Kompositionen unsere Richtschnur geworden sind?



    Gruß,
    Frank.

  • Zitat

    Original von Spradow
    Auch wenn man sich nicht darüber klar ist, was diese Stellen technisch besonders macht, denke ich, dass zu dem Gewöhnen auch ein unterbewusstes Verstehen gehört - warum sonst kommt vielen von uns die Musik von Haydn trivial und einfach vor, als dadurch, dass kompliziertere Harmonik, Melodik, etc. durch spätere Kompositionen unsere Richtschnur geworden sind?


    Was hat denn das mit "Verstehen" zu tun?
    Ich hab es ja nicht so mit dem "Verstehen" von Musik.
    Und wenn man Haydn trivial findet, hätte man ihn ja erst recht nicht verstanden.
    Versteht man deshalb Brahms besser?
    :untertauch:

  • Gute Frage - verstehe ich z.B. eine harmonische Wendung, wenn ich ihr - nicht analytisch, sondern rein "unbefangen" hörend - ästhetischen Wert beimesse? Da sind wir prinzipiell natürlich wieder bei Deiner Frage, wie Beethovens Musik rezipiert werden sollte, aber grundsätzlich ist solches Hören doch zumindest eine wichtige der intendierten Ebenen der Rezeption seiner Musik - und deswegen denke ich, dass dies ein Schritt des Verstehens ist.
    (In Praxis z.B.: Wenn ich z.B. Schönberg höre, ist mir häufig nicht klar, welche Emotionen gerade durch die Musik transportiert werden, bei Beethoven habe ich hingegen meist einen ganz guten Eindruck davon (nehme ich zumindest an) - sind das denn nicht zwei unterschiedliche Stufen des Verständnisses?)


    Gruß,
    Frank.

  • Für mich gibt es auch einige andere Komponisten die ich eher als spröde empfinden würde (Spröde als Ausdruck von zB unzugänglich oder langweilig oder uninspiriert,...) Gerade Beethoven schätze ich dafür das er meist sehr originell, spannend und ausdrucksstark ist.
    Es gibt aber dennoch ein paar Werke die sich mir nicht erschliessen können wie zB die noch etwas unausgegorenen Frühwerke bis ca.1800 und vor allem die Hammerklaviersonate, da hilft auch nicht das sie teilweise nur ein paar Gehminuten von mir entstanden ist.
    Sicher von ihrer teils polyphonen Struktur her interessant und man könnte sicher seitenlange Analysen über sie schreiben.
    Aber ich empfinde beim hören großteils eine exzessive Kraftanstrengung (sowohl kompositorisch wie auch vom Spieler :) ) als müßte jemand irgendwas niederringen. Ich persönlich mag das weniger und bevorzuge lieber Musik die zwar kompositorisch auch interessant, weniger aber nach mühevoll errungen als eher lockerer, von selbst dahinfliessend, einem inspirierten Moment entsprungen klingt. Von daher habe ich hier sicher auch das Gefühl von spröder Musik.
    Ansonsten mag ich zB gerade seine 3 letzten Klaviersonaten besonders gerne, kann man also sicher nicht sagen das ich sein Spätwerk als spröder empfinden würde auch wenn er da schon eine andere Tonsprache und Stilmittel verwendet, die aber für sich gesehn auch ihre gewissen Vorzüge hat.
    lg
    Thomas

    „Eine Erkenntnis von heute kann die Tochter eines Irrtums von gestern sein.” (Marie von Ebner-Eschenbach)

  • Zitat

    Original von Spradow


    ...wobei aber sowohl die Legitimation dafür entfällt, einen vorhandenen Einführungsbeitrag durch einen eigenen, ausführlicheren aufs Abstellgleis zu schieben, als auch der Druck, einen solchen verfassen zu müssen... ;)


    Ist doch gut, dann hat man alle Freiheiten ohne Verpflichtungen. Man kann eine besserwisserische Analyse als Neueinstieg verfassen, oder man kann es bleiben lassen usw.
    Hängt, was ihr wollt an bestehende threads, aber ich bin hier gegen Verdopplungen..


    Zitat

    Auch wenn man sich nicht darüber klar ist, was diese Stellen technisch besonders macht, denke ich, dass zu dem Gewöhnen auch ein unterbewusstes Verstehen gehört - warum sonst kommt vielen von uns die Musik von Haydn trivial und einfach vor, als dadurch, dass kompliziertere Harmonik, Melodik, etc. durch spätere Kompositionen unsere Richtschnur geworden sind?


    Ich wollte hier Verstehen nicht so eng verstehen. Ich stimme dem KSM natürlich zu, daß wer Haydn als trivial wahrnimmt, nicht recht zuhört. Ich meine, glaube ich, wirklich einen banalen Gewöhnungseffekt, der beinahe durch bloße Wiederholung zu erzielen ist (vermutlich reicht es nicht ganz, aber was weiß ich, wie diese Art Lernen funktioniert). Ich meinte auch keineswegs das Erkennen von "technischen" Besonderheiten. Sondern nur, daß man als Anfänger einfach auf "schöne Stellen" hin hört und den Rest dazwischen mit deutlich geringerem Interesse absitzt. Irgendwann merkt man eben, daß es sich nicht nur im ein paar schöne Stellen handelt usw. Das ist noch ziemlich voranalytisch. Das, was KSM störte, ist ja etwas, was nur derjenige hören könnte, der ziemlich konkrete Erwartungen hat, wie eben bestimmte Modulationen an Schlüsselstellen, eine Form, die von der Harmonik geprägt ist. Jemand der dagegen auf melodische Gestalten achtete, würde von der 8. eher weniger verwirrt, aber von der Eroica, wo es mindestens drei "Zwischenthemen" gibt, die teils prägnanter sind als das Seitenthema. Jemand der noch weniger erwartet, kann diese Art von getäuschter Erwartung gar nicht erleben. Ein Anfänger wird daher wohl etwas anderes als "spröde" empfinden.


    Es ist sicher alles auch eine Frage der allgemeinen Musikalität, Erfahrung und Konzentrationsfähigkeit. Als ich mit 18 oder so zum ersten Mal Mahlers 9. hörte, konnte ich da im Kopfsatz nur mit allergrößter Mühe überhaupt thematische Gestalten erkennen. Das fing mit einem bizarr klingenden Horngequäke an, Melodie habe ich da ebensowenig gehört wie einige Zeit vorher am Anfang der Waldsteinsonate. Aber dazu kam eben noch ein "zerrissen" wirkendes Orchester, ein nicht gerade schmeichlerischer Klang usw. Wenn man Stücke einigermaßen kennt, kann man das kaum mehr nachvollziehen, sich eben nur noch erinnern, wie es gewesen ist.


    Zitat

    âme: ...die Hammerklaviersonate, da hilft auch nicht das sie teilweise nur ein paar Gehminuten von mir entstanden ist.
    Sicher von ihrer teils polyphonen Struktur her interessant und man könnte sicher seitenlange Analysen über sie schreiben.
    Aber ich empfinde beim hören großteils eine exzessive Kraftanstrengung (sowohl kompositorisch wie auch vom Spieler smile ) als müßte jemand irgendwas niederringen.


    Auch wenn man den Beginn sicher auch "triumphal" hören kann und ich die Binnensätze (und auch einiges in den Ecksätzen) emotional ziemlich zugänglich finde, ist das gewiß kein ganz verkehrter Eindruck; Du hörst also das Richtige :D


    :hello:


    JR

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  • Zitat

    Original von Johannes Roehl
    Ich wollte hier Verstehen nicht so eng verstehen. Ich meine, glaube ich, wirklich einen banalen Gewöhnungseffekt, der beinahe durch bloße Wiederholung zu erzielen ist (vermutlich reicht es nicht ganz, aber was weiß ich, wie diese Art Lernen funktioniert).


    Ich verstehe "verstehen" doch gar nicht eng, ganz im Gegenteil sehe ich ja schon das völlig unanalytische, aber emotional "richtig" empfindende Hören als Stufe des Verstehens. Und wenn diese Stufe auch durch alleinige "Gewöhnung" durch Wiederholung (und dabei wahrscheinlich unterbewusste Schwerstarbeit des Gehirns) zu erreichen ist, warum soll es sich nicht um eine Form von Verständnis handeln?
    Das gibt es ja nicht nur in der Musik, selbst sich erst nicht erschließen wollende mathematische Konzepte kann man durch bloßes Mehrfachlesen verstehen (Und bestimmt auch die Konzepte der theoretischen Physik, und so verstehe ich auch den oben von Dir genannten augenzwinkernden Spruch; in der Informatik haben sie uns am Anfang ähnliches erzählt, und es war absolut wahr: Alleine das Beschäftigen damit und mit noch Avancierterem ließ zunächst kompliziert erscheinende Konzepte irgendwann ziemlich trivial wirken...).



    Zitat

    Ist doch gut, dann hat man alle Freiheiten ohne Verpflichtungen. Man kann eine besserwisserische Analyse als Neueinstieg verfassen, oder man kann es bleiben lassen usw. Hängt, was ihr wollt an bestehende threads, aber ich bin hier gegen Verdopplungen..


    Ja, genau das wollen glaube ich die wenigsten, außer es ist legitimiert durch den Usus eines Projektes. ;)



    Gruß,
    Frank.

  • Zitat

    Original von Spradow


    Ich verstehe "verstehen" doch gar nicht eng, ganz im Gegenteil sehe ich ja schon das völlig unanalytische, aber emotional "richtig" empfindende Hören als Stufe des Verstehens. Und wenn diese Stufe auch durch alleinige "Gewöhnung" durch Wiederholung (und dabei wahrscheinlich unterbewusste Schwerstarbeit des Gehirns) zu erreichen ist, warum soll es sich nicht um eine Form von Verständnis handeln?


    Um eine Form gewiß. Aber es kann, glaube ich, auch eine Art eingeschliffenes mangelhaftes oder gar Mißverständnis durch Gewöhnung geben. Ich würde das keineswegs pauschal unterstellen. Aber die Tatsache, daß KSMs Eindruck von Beethoven eher vereinzelt auftritt (außer bei Dir), deutet auf solch einen eher ambivalenten Gewöhnungseffekt. Und daß wir Stücke emotional oft recht unterschiedlich wahrnehmen, ist noch eine andere Sache.


    Zitat

    Ja, genau das wollen glaube ich die wenigsten, außer es ist legitimiert durch den Usus eines Projektes. ;)


    Wir haben ja im Haydn-Jahr erstmal noch einiges zu tun. Bei Klaviersonaten, Trios, Quartetten oder Messen wurde bisher ja kaum an der Oberfläche gekratzt...


    :hello:


    JR

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  • Hallo Johannes!


    Zitat

    Original von Johannes Roehl
    Um eine Form gewiß. Aber es kann, glaube ich, auch eine Art eingeschliffenes mangelhaftes oder gar Mißverständnis durch Gewöhnung geben. Ich würde das keineswegs pauschal unterstellen. Aber die Tatsache, daß KSMs Eindruck von Beethoven eher vereinzelt auftritt (außer bei Dir), deutet auf solch einen eher ambivalenten Gewöhnungseffekt.


    Es kann sich häufig schon um eine ziemlich gute Form des Verständnisses handeln: Versteht denn zum Beispiel ein Schüler der vierten Klasse, der das Addieren, Subtrahieren, Multiplizieren, Dividieren von natürlichen Zahlen einfach nur vielfach geübt hat, diese Rechenarten nicht? Versteht ein Schüler im Mathe-LK, der seit der vierten Klasse eigentlich nichts grundsätzlich neues darüber gelernt hat, sie nicht? Sondern erst der Erstsemesterstudent, dem plötzlich die Peano-Axiome vor die Füße geworden werden? Und der in Algebra lernt, dass man sich irgendwelche Trägermengen mit irgendwelchen Rechenoperationen definieren kann, und dass das möglicherweise trotzdem völlig analog zum Rechnen in den natürlichen Zahlen ist?


    Ich behaupte nicht, dass "halbes Verstehen" (analog zu Halbwissen ;) ) nicht dazu führen kann, dass man an einer anderen Stelle mit seiner Einschätzung völlig danebenhaut - zum Beispiel bei der Einschätzung von Haydns Musik, wenn man Beethovens auf die o.g. grundlegende Weise "halb versteht". Es ist aber sicherlich mehr als völliges Unverständnis.



    Zitat

    Und daß wir Stücke emotional oft recht unterschiedlich wahrnehmen, ist noch eine andere Sache.


    Immerhin weiß ich von niemandem, der den Kopfsatz von Beethovens Fünfter heiter fände; einen Grundkonsens scheint es also zu geben. Auch wenn man trotz zweifelsohne vorhandenem tiefem Sachverstand Mozarts g-moll-Symphonie als heitere griechische Grazie sehen kann und Mendelssohns italienischer Symphonie schottischen Charakter zubilligen... ;)



    Zitat

    Wir haben ja im Haydn-Jahr erstmal noch einiges zu tun. Bei Klaviersonaten, Trios, Quartetten oder Messen wurde bisher ja kaum an der Oberfläche gekratzt...


    H.H. Gossen hat mir gerade eingeflüstert, es sei bald Zeit für Beethoven. ;)



    Viele Grüße,
    Frank.

  • Zitat

    Original von Spradow


    Es kann sich häufig schon um eine ziemlich gute Form des Verständnisses handeln: Versteht denn zum Beispiel ein Schüler der vierten Klasse, der das Addieren, Subtrahieren, Multiplizieren, Dividieren von natürlichen Zahlen einfach nur vielfach geübt hat, diese Rechenarten nicht? Versteht ein Schüler im Mathe-LK, der seit der vierten Klasse eigentlich nichts grundsätzlich neues darüber gelernt hat, sie nicht? Sondern erst der Erstsemesterstudent, dem plötzlich die Peano-Axiome vor die Füße geworden werden?


    Nein. Der fortgeschrittene Grundschüler versteht es meistens wohl schon; da kein Mensch genau die Grundlagen der Mathematik wirklich versteht ;) ist es hier sicher besser, eine erfolgreiche Anwendung als Verständnis der Regeln als ausreichendes Verständnis zu sehen. Vielleicht noch ein paar zusätzliche Dinge wie Assoziativgesetze usw. und die Tatsache, daß es keine größte natürliche Zahl gibt und man immer weiteraddieren kann usw.


    Ich habe bei der Musik selbst ein intuitives Verständnis verteidigt. Aber die Details sind mir unklar und KSMs These hier (die Du ja aus eigener Erfahrung besser nachvollziehen konntest als viele andere Mitdiskutanten), macht mich weiter unsicher. Mein Beispiel war ja oft so etwas, daß man als aufmerksamer Hörer z.B. den Repriseneinsatz in der Eroica (oder in den meisten Sonatensätzen) als etwas "Besonderes", "Entscheidendes" erfährt, auch wenn man noch nie etwas von dem Formaufbau gehört hat. Vielleicht geht es auch mit noch weniger Verständnis. Es gibt gewiß Musik, die mir gefallen hat, die ich gerne hörte, ohne daß ich zuverlässig ähnliche Ereignisse herausgehört hätte (mir fallen jetzt keine Beispiele ein). Es ist immer etwas überheblich, jemandem Verständnis abzusprechen. Dennoch würde ich sagen, daß jemand, der einen Sinfoniesatz als eine Handvoll schöne Stellen mit Durststrecken dazwischen wahrnimmt, noch ziemlich viel verpaßt.
    Und wie kommt es, daß KSMs Behauptung eher auf Unverständnis stößt? Ist es nicht so, daß viele so oberflächlich hören, daß sie überhaupt nicht wahrnehmen, was ihn irritiert, und hat das nicht auch mit Gewöhnung zu tun?


    Ich weiß es nicht. Ich habe neulich die 8. mit Järvi mal angehört. Ich höre die zunächst falsche Tonart (D-Dur statt C-Dur) im Seitenthema nicht heraus, schon gar nicht als verstörendes Ereignis. Das mag aber auch daran liegen, das Järvi hier vielleicht wirklich zu schnell ist. Es ist die schnellste Interpretation des Kopfsatzes, die ich je gehört habe (Gielen, Scherchen, Norrington sind ca. 30-40 sec. langsamer, Scherchen ist im Finale allerdings noch einen Tick zügiger...); grundsätzlich o.k. und klingt in vielen Passagen für mich auch ganz richtig (wobei der Unterschied zu Aufnahmen, die nun 8:45 benötigen statt 8:05 natürlich nicht groß ist), aber das Seitenthema huscht einfach vorüber, ohne wirklich einen Eindruck zu hinterlassen. Da hätte man etwas flexibler sein müssen, hängt vielleicht nicht nur am Tempo.
    Das Finale ist allerdings ein total verwirrendes Stück, damit müßte man sich wirklich mal befassen.


    Zitat

    H.H. Gossen hat mir gerade eingeflüstert, es sei bald Zeit für Beethoven. ;)


    240. Geburtstag ist ziemlich unrund, 175. Todestag wäre erst 2012... ;)


    :hello:


    JR

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    (Bob Dylan)

  • Hallo Johannes!


    Zitat

    Nein. Der fortgeschrittene Grundschüler versteht es meistens wohl schon; da kein Mensch genau die Grundlagen der Mathematik wirklich versteht ;) ist es hier sicher besser, eine erfolgreiche Anwendung als Verständnis der Regeln als ausreichendes Verständnis zu sehen. Vielleicht noch ein paar zusätzliche Dinge wie Assoziativgesetze usw. und die Tatsache, daß es keine größte natürliche Zahl gibt und man immer weiteraddieren kann usw.


    Ok, also immerhin ein Beispiel, dass durch bloße wiederholende Tätigkeit durchaus gutes Verständnis gewonnen werden kann - inwieweit auch immer das auf Musik übertragbar ist.



    Zitat

    Ich habe bei der Musik selbst ein intuitives Verständnis verteidigt. Aber die Details sind mir unklar und KSMs These hier (die Du ja aus eigener Erfahrung besser nachvollziehen konntest als viele andere Mitdiskutanten), macht mich weiter unsicher. Mein Beispiel war ja oft so etwas, daß man als aufmerksamer Hörer z.B. den Repriseneinsatz in der Eroica (oder in den meisten Sonatensätzen) als etwas "Besonderes", "Entscheidendes" erfährt, auch wenn man noch nie etwas von dem Formaufbau gehört hat. Vielleicht geht es auch mit noch weniger Verständnis. Es gibt gewiß Musik, die mir gefallen hat, die ich gerne hörte, ohne daß ich zuverlässig ähnliche Ereignisse herausgehört hätte (mir fallen jetzt keine Beispiele ein). Es ist immer etwas überheblich, jemandem Verständnis abzusprechen. Dennoch würde ich sagen, daß jemand, der einen Sinfoniesatz als eine Handvoll schöne Stellen mit Durststrecken dazwischen wahrnimmt, noch ziemlich viel verpaßt.
    Und wie kommt es, daß KSMs Behauptung eher auf Unverständnis stößt? Ist es nicht so, daß viele so oberflächlich hören, daß sie überhaupt nicht wahrnehmen, was ihn irritiert, und hat das nicht auch mit Gewöhnung zu tun?


    Ich habe KSMs These ja durchaus gestützt, aber auch eingeschränkt, dass ich nicht glaube, völlig an der Musik vorbeizuhören, wenn ich z.B. an einer "Stelle einfachster Lieblichkeit" eben diese höre, auch wenn "'im Untergrund' unbemerkt verbogen wird, was das Zeug hält".
    In dieser Hinsicht ist Beethoven ja durchaus ambivalent in seinem Oeuvre: Die Symphonien sind als "Volksansprachen" konzipiert und sollen dementsprechend auch eingängig sein (auch wenn das viele Zeitgenossen nicht so gesehen haben); ähnliches gilt für die Konzerte. Das bloße emotionale Hören ist hier m.E. durchaus intendiert und geht überhaupt nicht am Werk vorbei - auch, wenn man als mehr oder weniger geübter analytischer Hörer unzweifelhaft noch eine Menge mehr aus den Werken ziehen kann! Und gerade diese Werke sind es, denen Beethoven seine breite Popularität verdankt.
    Auf der anderen Seite der Medaille - mit vielen Zwischenstufen - stehen die Streichquartette, denen man sich anscheinend wirklich auch analytisch nähern muss, um Gewinn daraus zu ziehen. Möglicherweise geht bloßes emotionales Hören an diesen Werken eher vorbei, und möglicherweise ist dies ein Grund für ihre wesentlich geringere Popularität.


    Auf der anderen Seite wollte ich mit meinem ersten Beitrag zu diesem Thema herausstellen, dass es nicht zuletzt das Irritierende ist, was mich an Beethoven fasziniert. Dass selbst KSM sich noch kräftig irritieren lässt, lässt mich hoffen, dass Beethoven mich in diesem Sinne noch lange beschäftigen wird. :)


    Zur Achten äußere ich mich noch im entsprechenden Thread. Das Finale (auch den Kopfsatz) finde ich auch einer Diskussion sehr wert.



    Zitat

    240. Geburtstag ist ziemlich unrund, 175. Todestag wäre erst 2012... ;)


    Hmm, vielleicht ist das mit den Grundrechenarten doch nicht so einfach? :D
    Jedenfalls ist 239 eine Primzahl - das ist doch schonmal was! Und nächstes Jahr feiern wir Beethovens 200sten Geburtstag (im 12er-System)! 8)



    Gruß,
    Frank.

  • ja, weitgehend richtig - von den besseren Komponisten ist Beethoven der sprödeste und ich mag ihn am wenigsten. Allerdings ist man zumindest weniger suizid-gefährdet als bei Trauerkloß Brahms.