Das Kunstlied im Laufe der Jahrhunderte

  • Eigentlich sollte der Titel des Threads ja viel länger sein:
    Das Kunstlied im Lauf der Jahrhunderte - Bedeutung und Bewertung einst und jetzt.


    Eigenartigerweise wird heutzutage, wenn das Wort "Kunstlied" fällt, an Franz Schubert gedacht. In der Tat, das ist nicht unbedingt ein Fehler, aber es stellt sich die Frage, warum die Lieder der anderen Wiener Klassiker eigentlich derzeit wenig Beachtung finden, bzw unterschätzt werden ?


    Aber auch das ist nur die halbe Miete. Schon lange vor der Wiener Klassik gab es das Lied, denken wir zunaächst einmal an die englischen Lautenlieder.


    Ebenso interessant wie ausdrucksstark sind auch die Lieder des Mittelalters, die teils anonym überliefert sind, teils komplett mit Namen des Komponisten erhalten sind.


    Und zuletzt gibt es ja Lieder bis in unsere Zeit. Sind die Chansons der Gegenwart beispielsweis moderne Nachfahren des klassischen Kunstlieds oder eine Stilrichtung die mit Klassik schon lange nichts mehr zu tun hat?


    Wie lege ich nun den Thread an, strukturiert oder frei reflektierend ?
    Probieren wir zur Abwechslung mal das zweitere.


    Neben allgemeinen Bemerkungen zur Kunstform des Liedes - allenfalls auch mit Bezügen zum (klassischen ) Volkslied können Lieder genannt werden, die Euch besonders beeindruckt haben - Lieder aus allen Zeitaltern. Vielleicht entwickeln sich daraus ja wieder Spezialthreads....


    mfg aus Wien


    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Lieber Alfred,


    habe dieser Tage ein wunderschönes Kunstlied von Johann Herrmann Schein auf YouTube entdeckt, "Der kühle Maien", das die Tölzer Knaben bei einer öffentlichen Veranstaltung gesungen haben.
    Es ist also ohnehin schon in sämliche Wohnzimmer ausgestrahlt worden. - Ob ich es deshalb verlinken darf oder noch immer nicht?? -


    Ich wage es, weil es sooooooooo schön (vorgetragen) ist:


    http://www.youtube.com/watch?v…K85c&feature=channel_page


    Freundliche Grüße,


    Melisma :hello:

  • Zitat

    Original von Alfred_Schmidt
    Eigenartigerweise wird heutzutage, wenn das Wort "Kunstlied" fällt, an Franz Schubert gedacht. In der Tat, das ist nicht unbedingt ein Fehler, aber es stellt sich die Frage, warum die Lieder der anderen Wiener Klassiker eigentlich derzeit wenig Beachtung finden, bzw unterschätzt werden ?


    weil zelter, reichardt und co. wesentlich schlichter komponiert haben als schubert und folgende. kunstlied grenzt sich ja vom lied wie etwa einfachen 'volkslied' ab. das ästhetische liedideal hat sich von goethe bis heute (zum glück) verändert. außerdem empfinde ich die frühen liedschulen schon eher als in der forschung überrepräsentiert - anfänge finden immer viel beachtung.


    Zitat

    Aber auch das ist nur die halbe Miete. Schon lange vor der Wiener Klassik gab es das Lied, denken wir zunaächst einmal an die englischen Lautenlieder.


    Ebenso interessant wie ausdrucksstark sind auch die Lieder des Mittelalters, die teils anonym überliefert sind, teils komplett mit Namen des Komponisten erhalten sind.


    naja lied im hochklassischen minnesang meint ja etwas völlig anderes als in der neuzeit. und warum neuhochdeutsche vertonungen eingängiger sind als wîsen mittelhochdeutscher oder altfranzösischer kanzonen dürfte auch einleuchten.
    viele der erhältlichen aufnahmen genügen außerdem nicht den mindesten wissenschaftlichen voraussetzungen der mediävistik - sind also neuzeitliche schöpfungen wie die meisten mittelaltermärkte, -feste usw.


    Zitat

    Und zuletzt gibt es ja Lieder bis in unsere Zeit. Sind die Chansons der Gegenwart beispielsweis moderne Nachfahren des klassischen Kunstlieds oder eine Stilrichtung die mit Klassik schon lange nichts mehr zu tun hat?


    na und was ist mit den kunstliedern der moderne? die sind viel mehr noch zu unrecht unbeachtet! sie sind die modernen nachfahren des klassischen kunstlieds! einer der größten kunstlieddichter etwa, hanns eisler ist (auch in diesem forum) völlig unbeachtet.
    (beweis: die annahme, chansons seien die modernen nachfahren des klassischen kunstlieds (die meisten kunst(!)lieder stammen dabei aus der Romantik))


    Maxi

  • Wenn ich so über meine Liedersammlung schaue fällt mir auf, dass sich bei Brahms die Grenzen von Kunstlied und Volkslied vermischen, zumindest ist das mein Eindruck - was meinen Fachleute dazu?

  • Das ist nicht nur bei Brahms so.


    Die heutige Definition eines "Volksliedes" ist ja am eheseten die, daß man das Lied durch Überlieferung - oft nur durch mündliche - in die Gegenwart hinübergerettet hat, ohne den oder die eigentlichen Schöpfer namentlich zu kennen.


    Ein wunderbares Beispiel ist hier das "Volkslied" Ännchen von Tharau", das auf eine reale Person des 17. Jahrhunders Bezug nimmt, etlichen Komponisten zugeschrieben wurde, textlich aus dem Plattdeutschen ins Hochdeutsche übersetzt wurde (Herder) und im Laufe der Zeit zahlreichen Dichtern und Komponisten zugeschrieben worden. Lange Zeit galt Simon Dach als Textautor - wobei dies das einzige Werk aus seiner Feder wäre - welches bei der Nachwelt auf Interesse stieß. Heute gilt jedoch seine Autorenschaft nicht nur als zweifelhaft, sondern sogar eher als unwahrscheinlich.
    Die DERZEIT bekannte Melodie stammt von Friedrich Silcher (1789-1860) somit ist das Lied - entgegen seinem Ruf KEIN Volkslie mehr, sondern eine Neukomposition eines alten Textes im "volkstümlichen Stil"


    Auch Schuberts Lied "Der Lindenbaum" wurde von Silcher zum "Volkslied" umgearbeitet, wobei er sich weitgehend an Schuberts Original orientierte, jedoch einen "volkstümlichen", verharmlosenden Liedsatz schrieb. Der ursprüngliche Titel musste dem poplären "Am Brunnen vor dem Tore" weichen, und in Sichers Fassung wurde das "Volkslied" populär.


    Ähnliches ist von "Das Wandern ist des Müllers Lust" von Wilhelm Müller zu berichten. In der Vertonung von Carl Friedrich Zöllner, den heute kaum mehr jemand kennt - wurde das Stück zum "Volkslied" (was es NICHT ist) unfunktioniert. Schuberts Fassung ist nahe dran, aber melancholischer und hintergründiger.


    Im 19. Jahrhundert war man nicht allzu heikel
    Brahms "Volkslieder" sind allenfalls von solchen inspiriert - oder aber lediglich Bearbeitungen für Singstimme und Klavier, heute würde man sagen: Arrangements....


    Letztlich eine Modesache, die allerdings in der Geschichte des Kunstlieds ach eine Rolle spielte....


    mfg aus Wien


    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Zitat

    Original von Alfred_Schmidt
    Lange Zeit galt Simon Dach als Textautor - wobei dies das einzige Werk aus seiner Feder wäre - welches bei der Nachwelt auf Interesse stieß.


    Das ist zwar jetzt OT, aber Dach ist hinter Gryphius, Fleming, Hofmannswaldau und ein paar anderen einer der auch heute noch hochgeschätztesten und gelesendsten Barocklyriker des deutschen Sprachraums. Er hat auch einen durchaus eigenwilligen Stil, der durch Einbeziehung von Alltäglichem und Persönlichem heute einen Zugang leichter macht als vieles seiner Zeitgenossen. Das "Ännchen von Tharau", das ich für Albert zugeschrieben gehalten habe, passt da wirklich schlecht dazu. Da Albert aber einer der wichtigsten Liedkomponisten des Barock ist, tut sich nun die Möglichkeit auf, zum Threadthema elegant zurückzuleiten.

  • Zitat

    naja lied im hochklassischen minnesang meint ja etwas völlig anderes als in der neuzeit.


    Das ist unbestritten.


    Aber man sollte es nicht so eng sehen , zumal in einer Gattung, die so an den Rand der Musikgeschichte gedrängt wird, wie jene des Liedes.
    Es wird ja auch heute noch immer wieder derselbe Bereich abgedeckt:
    Franz Schubert, Robert Schumann. Hugo Wolf, Gustav Mahler, Richard Strauß. Sogar Mozart, Haydn und Beethoven werden nur am Rande erwähnt, Zelter uns Silcher sind mehr oder weniger vergessen. Und das alles ist nur die Spitze des Eisberges. Ich meine, daß wir alle davon profitieren könnten, würden wir uns auch mit "Raritäten" auf diesem Gebiet befassen.


    mfg aus Wien


    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Zitat

    Original von Alfred_Schmidt
    Aber man sollte es nicht so eng sehen , zumal in einer Gattung, die so an den Rand der Musikgeschichte gedrängt wird, wie jene des Liedes.


    Das barocke Lied kommt mir wirklich allzu "an den Rand gedrängt" vor.
    Gerade Heinrich Albert und Adam Krieger sollten wirklich zumindest mit je einer Portrait-CD im Angebot sein.
    :boese2: