Chopins einzelne Klavierwerke

  • Zitat

    Original von bubba
    Ich sage ja nicht, daß Chopin schlecht ist, noch, daß er nur Salonmusik komponierte. Aber die Kunst, die Struktur in den Hintergrund treten zu lassen, hat er entweder zur absoluten Perfektion getrieben (denn ich sehe keine großartige Struktur), oder sie war ihm fremd (dann hat seine Musik meist tatsächlich keine).
    Was mich ebenso wie SMOB stört, ist die Tonredundanz bei Chopin. Bei Bach z.B. wird man diese nicht antreffen bzw. sehr lange suchen müssen. (Komischerweise stört mich diese bei den extrem tonreduntanten ungarischen Rhapsodien von Liszt meist(also bis auf zu ausgedehnte Oktavtonleitern) nicht.)


    Musik ohne Struktur gibt es nicht, was sollte das denn sein, vielleicht einige experimentell-aleatorische Stücke von Cage oder so. Chopin komponierte überhaupt keine Salonmusik. Was soll denn "Tonredundanz" heißen? In praktisch jedem Stück der Wiener Klassik wird man mehr "Füllmaterial" (Skalen, Sequenzen, Standardmotive und Abschluß- oder Überleitungsphrasen) finden als in Stücken von Chopin. Das zeigt hauptsächlich, dass das überhaupt kein Qualitätskriterium ist (eine der redundantesten Musikformen ist BTW offensichtlich ein strenger Kanon). Entweder hast Du Dich nicht mit Chopin befaßt (wenn Dir eine Chopin-Ballade als eine beliebige Abfolge von Tönen erscheint oder wenn Du nicht hörst, dass das wesentlich konzentriertere und dichtere Musik ist als z.B. eine Liszt-Rhapsodie liegt das sehr nahe) oder Du magst die Musik einfach nicht besonders, beides sei Dir unbenommen. Falls Du eine gut sortierte Bibliothek in der Nähe hast, schau mal in die Chopin gewidmeten Kapitel (knapp 200 Seiten mit sehr viel Material und etlichen Analysen, cih kann das unmöglich zusammenfassen, zumal es an oder jenseits der Oberkante meines musiktheoretischen Wissens angesiedelt ist ) von Ch. Rosens "The Romantic Generation" (vielleicht inzwischen auch übersetzt).


    Wenn Chopin "unstrukturiert" ist (er ist m.E. neben Mendelssohn wohl derjenige seiner Zeit, der die am strengsten strukturierte Msuik geschrieben hat) was sollen dann Berlioz, Schumann, Liszt, R. Strauss, Rachmaninoff, Tschaikowsky usw. sein?


    Zitat


    "Struktur und Kunstfertigkeit im Satz werden dem Hörer nicht um die Ohren gehauen"


    Wo findet man denn sowas?


    Beethoven: Große Fuge, Hammerklaviersonate u.v.a., etliches von Brahms z.B. 4. Sinfonie, Bruckner 5. Sinfonie, Bach Musikalisches Opfer, praktisch alles von Reger :D, wenn man sich auf explizit kontrapunktische Demonstrationen beschränkt, natürlich ist Komplexität oder Struktur nicht gleich oder ungleich Polyphonie.


    Wenn Bachs Musik hauptsächlich deshalb so großartig wäre weil sie so schöne polyphon und strukturiert ist, müßte Reger der zweitgrößte Komponist der Musikgeschichte sein. Das scheint mir indes eher eine Mindermeinung zu sein...


    viele Grüße


    JR

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • hallo Smob,


    bachs WTK mit chopins walzer zu vergleichen, wäre ähnlich, 'ernste musik' mit jazz zu verleichen. man kann es nur bedingt, da alles seine eigene funktion inne hat. nun muss man tatsächlich davon ausgehen, dass chopin bachs WTK sehr gut kannte. die konzeption seiner preludes weisen daraufhin. überhaupt ist chopins musik, vor allem in seinen spätwerken, harmonisch ausgeklügelt und durchaus genial. es gibt durchaus sogar parallelen zwischen js bach und chopin. beide haben werke für das tasteninstrument komponiert, in denen sie folkloristische motive und rhythmen domestizierten und geniale klangwunder schufen: z.b. partiten und mazurken. die walzer übrigens sind immens schwer zu interpetieren, dass nämlich die lässige eleganz und sonorität dieser werke zum erklingen kommen. es sind intime aussagen, wo auch hier das fehlen einer note durchaus auffällt. es gibt nur wenige pianisten, die das konnten oder auch heute beherrschen: stefan askenase, arthur rubinstein, nikita magaloff, krystian zimerman.


    übrigens, w.a. mozarts klavierwerk und das chopins haben viele gemeinsamkeiten, auch klaviertechnisch. die erfahrung zeigt: sehr gute mozart-spieler sind auch ebenso gute chopin-interpreten und vice versa.


    gruß, siamak

    Siamak

  • Hallo AcomA


    Zitat

    die erfahrung zeigt: sehr gute mozart-spieler sind auch ebenso gute chopin-interpreten und vice versa.


    Das ist eine interessante Aussage. In der ersten Richtung mag das gelten, aber die meisten Chopin-Spezialisten, die mir ad hoc einfallen, sind kaum nennenswert als Mozart-Spieler in Erscheinung getreten...

    Ciao


    Von Herzen - Möge es wieder - Zu Herzen gehn!


  • hallo Theophilus,


    einige beispiele:


    arthur rubinstein, stefan askenase, maurizio pollini, vladimir ashkenazy, ivo pogorelich.


    gruß, siamak

    Siamak

  • Hallo Siamak,


    das waren eigentlich meine Beispiele! :D


    Askenase mag ein gutes Beispiel sein, aber bei den anderen Herren ist/war Mozart in ihren Solo-Programmen nur sehr spärlich vertreten. Als bekannte Mozart-Interpreten würde ich sie eigentlich nicht bezeichnen. Und das gilt für viele andere PianistInnen, die auch reine Chopin-Programme hatten (was heutzutage generell etwas aus der Mode zu sein scheint).

    Ciao


    Von Herzen - Möge es wieder - Zu Herzen gehn!


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  • Zitat

    Original von Johannes Roehl


    Musik ohne Struktur gibt es nicht, was sollte das denn sein, vielleicht einige experimentell-aleatorische Stücke von Cage oder so.



    Letztlich wird es wohl um die Frage gehen, ob man solche Musik bevorzugt, deren spezifische motivische Idee sich aus allgemeinen Strukturmerkmalen herleiten läßt, oder eben solche Musik, deren Idee nach einem zuvor individuell vorherbestimmten Plan angepasst wird. Hierüber kann man freilich trefflich streiten und entweder die Position des Strukturalisten oder diejenige des Empiristen einnehmen, also desjenigen, der seine persönlichen Erfahrungen als Erkenntnisquelle für den musikalischen Produktionsprozeß nutzt. Ich denke, daß Chopin zur letzen Gruppe gehört, JS Bach zur ersten.

  • Zitat

    Original von Theophilus
    das waren eigentlich meine Beispiele! :D


    Askenase mag ein gutes Beispiel sein, aber bei den anderen Herren ist/war Mozart in ihren Solo-Programmen nur sehr spärlich vertreten. Als bekannte Mozart-Interpreten würde ich sie eigentlich nicht bezeichnen. Und das gilt für viele andere PianistInnen, die auch reine Chopin-Programme hatten (was heutzutage generell etwas aus der Mode zu sein scheint).


    Das liegt vielleicht einfach daran, dass Mozarts Sonaten in der "romantischen Schule" eher eine Randstellung einnehmen, jedenfalls was öffentliche Recitals betrifft und auch von den Konzerten nur ein paar wirklich populär waren.


    Umgekehrt scheint mir die These aber erst recht schwer zu stützen: die großen (oder überhaupt irgendwelche) Chopin-Interpretationen von Schnabel, Fischer, Gulda, Brendel, Badura-Skoda, Schiff usw. sind irgendwie an mir vorbeigegangen :D


    viele Grüße


    JR

    Struck by the sounds before the sun,
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  • "In praktisch jedem Stück der Wiener Klassik wird man mehr "Füllmaterial" (Skalen, Sequenzen, Standardmotive und Abschluß- oder Überleitungsphrasen) finden als in Stücken von Chopin. Das zeigt hauptsächlich, dass das überhaupt kein Qualitätskriterium ist "


    Ich rede, wie anscheinend noch nicht bemerkt, nicht von (objektiver) "Qualität", sondern von meinem Geschmack, deshalb wählte ich auch den Gegensatz zum tatsächlich oft recht redundanten Liszt, dessen ungarische Rhapsodien (+h-moll Sonate und Funerailles) mir trotzdem gefallen. Das Phrasenreiche in der Wiener KLassik könnte auch ein Grund sein, warum mir einiges echt nicht gefällt.


    "Entweder hast Du Dich nicht mit Chopin befaßt (wenn Dir eine Chopin-Ballade als eine beliebige Abfolge von Tönen erscheint oder wenn Du nicht hörst, dass das wesentlich konzentriertere und dichtere Musik ist als z.B. eine Liszt-Rhapsodie liegt das sehr nahe) oder Du magst die Musik einfach nicht besonders, beides sei Dir unbenommen."


    Es ist sehr gnädig von Dir, mir meine ignorante Inkompetenz zu verzeihen, doch habe ich weder behauptet, daß es "eine beliebige Abfolge von Tönen" sei, noch sehe ich ein, weshalb ein Vergleich von "das" (eine Ballade? eine Etude? ein Prelude?) mit einer ungarischen Rhapsodie von dem her,was mir gefällt, als Ignoranz ausgelegt wird (ich habe eine Menge Chopin gehört).
    Zu Deiner Beruhigung, eine transcendente Etüde auf die KDF mit Sokolov erregt auch eine gewisse "Erheiterung" meinerseits.


    "Wenn Bachs Musik hauptsächlich deshalb so großartig wäre weil sie so schöne polyphon und strukturiert ist, müßte Reger der zweitgrößte Komponist der Musikgeschichte sein. Das scheint mir indes eher eine Mindermeinung zu sein..."


    Im ersten Punkt stimme ich Dir zu, Bach ist nicht allein wegen seiner Formbeherrschung der Meister (für mich). Aber der Formulierung, Reger müsste der zweitgrößte sein, wenn... und dann noch "Mindermeinung", kann ich nichts abgewinnen: Der "zweitgrößte" heißt, es gäbe eine objektive "Rangliste", was meines Erachtens völliger Schwachsinn ist. Und daß dies eine "Mindermeinung" ist, setzt vorraus, daß es eine solche Meinung zur Qualität gäbe (glaube ich nicht) und gleichzeitig hieße das, über die "Qualität" von Musik stimme man ab und die Mehrheit habe Recht.
    Dazu sage ich nichts, denn bei Bedarf nach solchen Methoden kann man sich gerne Sendungen wie "Unsere Besten" ansehen.


    Viele Grüße

    Das Frühstück ist ihm viel zuviel Zeremonie. Die ganze Lächerlichkeit kommt zum Ausdruck, wenn ich den Löffel in die Hand nehme. Die ganze Sinnlosigkeit. Das Zuckerstück ist ja ein Anschlag gegen mich. Das Brot. Die Milch. Eine Katastrophe. So fängt der Tag mit hinterhältiger Süßigkeit an.

  • Zugespitzt könnte man natürlich auch sagen, daß sich JS Bach zu sehr mit den Strukturmerkmalen seiner Musik befasst hat, um sich zu einem Chopin seiner Zeit zu entwickeln.

  • Zitat

    Original von tom
    Zugespitzt könnte man natürlich auch sagen, daß sich JS Bach zu sehr mit den Strukturmerkmalen seiner Musik befasst hat, um sich zu einem Chopin seiner Zeit zu entwickeln.


    Und nun könnte man fragen, was Du damit meinst: "ein Chopin seiner Zeit".


    Viele Grüße

    Das Frühstück ist ihm viel zuviel Zeremonie. Die ganze Lächerlichkeit kommt zum Ausdruck, wenn ich den Löffel in die Hand nehme. Die ganze Sinnlosigkeit. Das Zuckerstück ist ja ein Anschlag gegen mich. Das Brot. Die Milch. Eine Katastrophe. So fängt der Tag mit hinterhältiger Süßigkeit an.

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  • In diese Richtung hat er sich ja gerade nicht entwickelt ("Und das ist auch gut so!" nach Klaus Wowereit, Reg. BüMei von Berlin), weil ...


    Zitat

    Original von mir


    Letztlich wird es wohl um die Frage gehen, ob man solche Musik bevorzugt, deren spezifische motivische Idee sich aus allgemeinen Strukturmerkmalen herleiten läßt, oder eben solche Musik, deren Idee nach einem zuvor individuell vorherbestimmten Plan angepasst wird. Hierüber kann man freilich trefflich streiten und entweder die Position des Strukturalisten oder diejenige des Empiristen einnehmen, also desjenigen, der seine persönlichen Erfahrungen als Erkenntnisquelle für den musikalischen Produktionsprozeß nutzt. Ich denke, daß Chopin zur letzen Gruppe gehört, JS Bach zur ersten.

  • Hallo tom!


    Meinst du, Bach würde sich in deiner Einteilung wiedererkennen?
    JSB, der pflichtbewusste Kantantenablieferer, der gläubige Christ, der Dienende.....
    Hat nicht auch er wie jeder andere "seine persönlichen Erfahrungen als Erkenntnisquellen für den musikalischen Produktionsprozess genutzt"?


    Wer - mit Verlaub - täte das nicht?
    M.E. gibt es das abstrakte Genie nicht.

    "Muss es sein? - Es muss sein!" Grave man non troppo tratto.

  • Ich denke mal, dass Tom mit seiner Aussage zum Ausdruck bringen möchte, dass er davon ausgeht, dass Bach sich mehr auf die seinerzeit aktuellen Stilformen und Strukturen konzentriert hat, während sich Chopin zu seiner Zeit eher auf seine Persönlichkeit fokussiert hat. Aber es ist recht komisch sich Bach als "Chopin seiner Zeit" vorzustellen. Außerdem hatte Chopin ja auch seine Einflüsse und hat sich nicht als Autodidakt beiigebracht, seine Gefühle in Klassik zu verpacken.


    Danke für die lange Antwort AcomA. Soviel Bach konnte ich bis jetzt nicht in Chopins Musik finden, aber ich bin noch längst kein Chopin Experte und habe mich vielleicht zu früh abschrecken lassen von seiner Musik. Bei Bachs komplexen Werken dauerte das schließlich auch seine Zeit. Aber extreme Verehrung kann eben auch zur Bildung von Scheuklappen führen. Ich werde versuchen mit größerem Sichtfeld :D die von dir angeführte Genialität von Chopin zu entdecken.

    "Das Beste in der Musik steht nicht in den Noten" Gustav Mahler

  • Hallo SMOB,


    von Bach kommend solltest du dir wahrscheinlich am ehesten die Etüden und Präludien vornehmen. Da bist du einerseits auf vertrautem Boden und kannst dich andererseits mit der Klangwelt Chopins auseinandersetzen...

    Ciao


    Von Herzen - Möge es wieder - Zu Herzen gehn!


  • Hallo CRC,


    ich gebe Dir völlig Recht, wenn wir über die Vokalwerke Bachs - auch die Kammermusik und die Orchesterwerke lasse einmal außen vor - reden.


    Ausgangsmunkt meiner Bermerkungen war eine Äußerung von SMOB, die ich für richtig halte.


    Zitat

    Original von SMOB


    zu a) Ich denke, dass Bachs Musik theoretisch auf jedem Instrument spielbar ist. Die Goldbergvariationen gibt es auch von Bläsern eingespielt. Und die Kunst der Fuge hat ja gar keine Angaben bezüglich der Instrumentenwahl von
    Bach mitbekommen. Bei Bach geht es in erster Linie um Harmonik als um das Instrument. Somit hat Bach auch für das Klavier komponiert.


    Und Chopin hat für das Klavier komponiert.


    Wenn wir über die Werke für Tastensinstrumente reden, denke ich schon, daß es nicht abwegig ist zu behaupten, daß er, nämlich Bach, sehr indifferent, ich hatte das auch schon an anderer Stelle in diesem Forum behauptet, komponiert hat. Herausgekommen sind hochabstrakte Werke, wie die Kunst der Fuge oder auch die Goldbergvariationen, um nur zwei Beispiele zu nennen. Untermauert wird diese These dadurch, daß eine Vielzahl von Instrumentierungen z.B. für die vorgenannten Werke denkbar aber auch umgesetzt worden sind, wie durch die Geschichte der Einspielungen der Bachschen Werke für Tasteninstrumente eindrücklich bewiesen wird.


    Gerade dies stellt sich bei den Werken Chopins eben als unmöglich dar, wollte man nicht ein Klangresultat erzielen, das, freundlich formuliert, doch recht jämmerlich wäre.


    Insoweit kann man Bach entgegen Deiner Auffassung durchaus als "abstraktes Genie" bezeichnen.


    Beste Grüße

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  • Ich verstehe

    Zitat

    von Tom
    Letztlich wird es wohl um die Frage gehen, ob man solche Musik bevorzugt, deren spezifische motivische Idee sich aus allgemeinen Strukturmerkmalen herleiten läßt, oder eben solche Musik, deren Idee nach einem zuvor individuell vorherbestimmten Plan angepasst wird. Hierüber kann man freilich trefflich streiten und entweder die Position des Strukturalisten oder diejenige des Empiristen einnehmen, also desjenigen, der seine persönlichen Erfahrungen als Erkenntnisquelle für den musikalischen Produktionsprozeß nutzt. Ich denke, daß Chopin zur letzen Gruppe gehört, JS Bach zur ersten.


    ehrlich gesagt, noch immer nicht. (Chopin hat sich soweit ich weiß mehrfach entschieden gegen die Deutung seiner Musik als Spiegel von persönlicher Erfahrung gewehrt)
    Was soll heißen, dass eine "motivische Idee sich aus allgemeinen Strukturmerkmalen herleiten läßt" und welche "Idee" soll einen vorher individuell bestimmten Plan angepaßt werden? Ist im zweiten Ausdruck "Idee" auch im Sinne eines musikalischen Motivs gemeint? Ist der Plan ein musikalischer Plan?
    Ich kann nur nochmal auf den oben angegeben Text von Rosen verweisen: die Stücke Chopins sind ebenso minutiös geplant wie die von Bach oder Beethoven. Rosen schreibt (und er kann das im Gegensatz zu mir an zig Beispielen auch belegen):
    "Chopins poetisches Genie basierte auf einer professionellen Beherrschung des Technischen, die in seiner Generation ohne Vergleich war. Seine Kunstfertigkeit ("craftsmanship") übertraf sogar Mendelssohns. Nachdem er ein Alter von 20 Jahren erreicht hatte, gibt es selbst in seinen ambitioniertesten Stücken kaum noch Fehleinschätzungen ("miscalculations"), wie man sie recht häufig in der Musik seiner großartigsten Zeitgenossen Schumann und Berlioz antrifft. Selbst wenn er den Effekt des Improvisatorischen erzielen wollte, sind seine Formen straff organisiert, niemals bis zur Auflösung locker, wie man es oft bei Liszt findet. [...] Er beherrschte die Formen der italienischen Oper; es gibt viele Beispiele für vollkommen geformte Melodien im italienischen Stil in seinen Werken und sogar im f-moll-Konzert eine vollständige "scena" [der Mittelsatz]. In der Tat ist es diese konstruktive Verwendung der technischen Mittel ("technique") italienischer Opern, die Kritiker verunsichert, von denen die meisten ihre Analysewerkzeuge aus deutscher Instrumentalmusik ableiten.
    Vor allem aber war Chopin der größte Meister des Kontrapunkts seit Mozart. Das wird nur dann paradox erscheinen, wenn man Kontrapunkt mit strengem Fugenstil gleichsetzt, und Chopin formale Fugen nur als akademische Übung schrieb. Seine hauptsächliche Ausbildung, sowohl in Komposition wie im Klavierspiel stammte aus dem Studium Bachs, mit dem er sich sein Leben lang befaßte und das er seinen Schülern nahelegte. [...] Es ist die Flüssigkeit ("facility") von Chopins Stimmführung, die so verblüffend ist.[...] Chopins Musik leitet sich größtenteils von seiner frühen Erfahrung der Oper, den Rhythmen und Harmonien der heimischen polnischen Tänze und von Bach ab. Die Kunst, die all dies zusammenhielt kam vor allem von letzteren, besonders dem Wohltemperierten Klavier." (C. Rosen: The Romantic Generation, Cambridge, MA 1995, S. 284 f.)


    viele Grüße


    JR

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    (Bob Dylan)

  • hallo Theophilus, herr Roehl,


    IMO waren badura-skoda, brendel und gulda in jungen jahren versierte chopininterpreten. den mozart eines andras schiff finde ich nicht so überzeugend.


    zu den schönsten einspielungen der mozart-konzerte gehören diejenigen a. rubinsteins und vladimir ashkenazys (gesamteinspielung incl. dirigat).


    artur schnabels und edwin fischers mozart finde ich manual-technisch unzureichend. daher verwundert es nicht, dass diese herren chopin erst gar nicht in ihre programme aufnahmen.


    gruß, siamak

    Siamak

  • Als Randbemerkung und Ergänzung zu meinem posting auf der ersten Seite dieses Threads möchte noch einmal auf die wunderschöne Chopin-CD von Perahia hinweisen, die es jetzt in einer sehr preiswerten Neuveröffentlichung gibt:



    Er spielt volltönend, warm, innig, an den passenden Stellen höchst virtuos und immer mit einem wunderbaren Gefühl für dynamische und agogische Schattierungen.


    Der Klang ist exzellent: saftig und sonor - also völlig anders als die eher hell und metallisch klingenden Aufnahmen von Pollini, Zimerman, Argerich und Co.


    Wie gesagt: ein Chopin zum Schwelgen und Träumen - und dabei niemals oberflächlich oder gar kitschig.


    Ich habe noch keine schönere Barcarole und keine schönere f-moll-Fantasie gehört!
    Große Klasse!

    "Muss es sein? - Es muss sein!" Grave man non troppo tratto.

  • Zitat

    Kennst du besonders gute Aufnahmen der 1.Ballade? Wenn ich nicht bald eine finde, muss ich wohl noch selber eine Aufnahme machen... )
    P.S.: Was ist als Chopin-"Fan" dein Lieblingsstück?
    Spielst du auch selber Chopin (falls Klavierspieler)



    Hallo Dux,


    wenn mich nicht alles täuscht, gibt es zu den Balladen noch keinen Thread, wirklich eine Lücke. Zur ersten Ballade kommen mir spontan zwei Pianisten in den Sinn: Arthur Rubinstein und Krystian Zimerman, falls Du die nicht schon kennst, ansonsten noch Francois Rene Duchable. Zum Chopin-Spielen hat es bei mir selber leider nicht gereicht- um so lieber höre ich Chopin aber. Mein Lieblingsstück wechselt immer wieder. Im Augenblick ist es die f-moll Ballade.


    Herzliche Grüße,:hello::hello:



    Christian

    Beherrsche die Sache, die Worte werden folgen! (Cato der Ältere)

  • Lieber Christian,


    zweifellos ist die f-moll Ballade die umfangreichste und subtilste aller balladen. Momentan schwärme ich für die 3.Ballade (unerreichte Variationskunst) und eben die 4. Ballade.
    Davon besitze ich die Einspielungen von Nikolay Lugansky und Piotr Anderszewski... beide spielen sehr ähnlich - auf jeden Fall sehr überlegt und verhalten(4.Ballade). Insgesamt bevorzuge ich Anderszewski; noch eine Spur ausgeglichener und interessanter. kennst du zufällig diese Aufnahmen?

    Gruß und K...
    Der Dux

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  • Lieber Christian,


    Lugansky kenne ich (noch) nicht. Anderzewski´s Einspielung ist für miich eine der besten Chopin-Platten der letzten Jahre. Wenn ich einen Vergleich suchen würde, käme mir das Chopin-Recital von ABM in den Sinn.


    Herzliche Grüße,:hello: :hello:


    Chrisitian

    Beherrsche die Sache, die Worte werden folgen! (Cato der Ältere)

  • [quote]Original von Johannes Roehl


    Vor allem aber war Chopin der größte Meister des Kontrapunkts seit Mozart.


    Was war dann mit Mendelssohn oder Schumann?
    Mendelssohn war doch derjenige, der den kontrapunkt wieder neu aufleben ließ.

    Gruß und K...
    Der Dux

  • Zitat

    Original von Dux
    [quote]Original von Johannes Roehl


    Vor allem aber war Chopin der größte Meister des Kontrapunkts seit Mozart.


    Was war dann mit Mendelssohn oder Schumann?
    Mendelssohn war doch derjenige, der den kontrapunkt wieder neu aufleben ließ.


    Die Aussage stammt nicht von mir, sondern von Charles Rosen (und ist auch klar als solche gekennzeichnet). Sie ist gewiß absichtlich überspitzt (was ist denn mit Beethoven z.B.?), vermutlich weil das bei Chopin nicht so ohne weiteres hörbar ist. Ich weiß nicht genau wie er das Verhältnis zu Mendelssohn oder Schumann sieht (leih Dir das Buch aus, es ist leider ziemlich lang und nicht ganz einfach)
    Aber Mendelssohn mußte nichts neu aufleben lassen. Mozart (und auch Haydn und Beethoven) beherrschten die polyphone Schreibweise souverän. Besonders Beethoven hatte jedoch sehr wenig Interesse an Barock-Imitaten, daher klingen sein Fugen etc. höchst individuell und teils widerborstig, was manche dazu brachte zu glauben, er habe hier Schiwerigkeiten gehabt. Ich glaube das nicht (man sehe sich mal die Fuge in op.106, komplette Durchführung der Krebsgestalt, Originalthema und Vergrößerung gleichzeitig usw.), die Widerborstigkeit ist volle Absicht und für den Ausdruck wichtig.


    viele Grüße


    JR

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  • Liebe Klavierfreunde,


    da ich gerade auf der Suche nach einer bestimmten Aufnahme war, habe ich mich gerade noch einmal durch diesen Thread gearbeitet und finde: er enthält einige sehr lesenwerte Beobachtungen zu Chopins Musik, zu seiner Ästhetik usw. Dabei ist aber das eigentliche Thema des Threads sukzessive aus dem Focus geraten.


    Das lautete ursprünglich so:


    Zitat

    Liebe Taminoaner


    Wir haben nur einen einzigen Chopin Thread gefunden! Gerne würden wir Chopin etwas mehr Raum verschaffen.
    Um eine übersichtliche Struktur zu erhalten, sollen in diesem Thread nur seine "Einzelstücke" besprochen werden, wir denken an die Berceuse, Barcarolle oder Fantasie.
    Seine Zyklen oder Sammlungen der Polonaisen, Mazurken, Walzer, Nocturnes und andere sollen jeweils separate Threads erhalten.


    Dazu sollte jeder Teilnehmer seine zwei favorisierten Aufnahmen der Einzelwerke nennen. Es wäre schön, wieder an diesen Ausgangspunkt anzuknüpfen, zumal ja eigene Threads zu diesen Einzelwerken bis heute völlig fehlen, ich denke da insbesondere an die Preludes.


    Außerdem hat sich die "Klavierfraktion" seit dem Start dieses Threads doch ziemlich verändert- ein Grund mehr, sich wieder diesem Thread zu widmen.:D


    Also auf geht´s!


    Herzliche Grüße,:hello::hello:


    Christian

    Beherrsche die Sache, die Worte werden folgen! (Cato der Ältere)

  • Liebe Klavierfreunde,



    Ich bekam kürzlich die 8-CD-Box von Arturo Benedetti Michelangeli geschenkt. In dieser Box befindet sich eine CD mit Werken von Chopin. Auf dieser befinden sich 10 Mazurken, die Prélude Nr. 25, die Ballade Nr. 1 und das Scherzo Nr. 2 op 31.


    Ich kenne diese Werke von verschiedenen Pianisten (Ashkenazy, Eva Kupiec, Kissin etc.) aber so habe ich sie noch nie gehört. Eine wahre Sternstunde. Eine Vielfalt von Nuancen und Farben wie ich sie selten gehört habe.


    In wenigen Tagen erhalte ich die Chopin-Box mit Rubinstein, von der ich mir sehr viel verspreche, und dann gespannt mit ABM vergleichen werde.


    gruß
    roman

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