Aber wollten die Herren Richter, Ramin, Thomas, Klemperer und Mauersberger damit provozieren, indem sie riesige Chöre einsetzten? Ich glaube, ehrlich gesagt, nicht. Vielmehr wollten sie wohl den Bach auf eine höhere Ebene heben und ihn noch gewaltiger erscheinen lassen als er schon war. Ob Bach das nötig hatte, ist eine andere Frage. Daß hier etwas "verunstaltet" wurde, meine ich aber verneinen zu können.
Na ja, dass sie ihn noch gewaltiger erscheinen lassen wollte, sei mal dahin gestellt.
Sie haben ihre Riesenchöre genommen, weil sie keine anderen hatten und weil diese Chöre genau ihrem Klangideal entsprachen. Bach wurde mit den Mitteln, den Idealen und den Gehirnen der Spätromantik aufgeführt. Das konnte immer noch zu überzeugenden, ja überwältigenden Ergebnissen führen! Es bleibt aber eine Verfremdung, wenn nicht gar Entstellung des Werkes.
Der Unterschied zum modernen Regietheater besteht m. M. n. darin, daß alle Vorgenannten versuchten, die Musik zu "verbessern", zu verschönern, in ihrer Wirkung noch zu steigern, sich also in den Dienst des Werkes zu stellen. Sie waren nicht bestrebt, irgendjemanden zu schocken oder zu vergraulen. Das Regietheater nunmehr versucht (zumindest in Teilen) aber genau das. Es provoziert unabläßig, kennt keine Tabus, hat keineswegs die Schönheit der Werke im Sinn. Nein, vielmehr wird gerade das Häßliche betont.
Was soll das Gerede um "schön" und "hässlich"? Hat Beethoven seine Appassionata komponiert, um "schöne" Musik zu schreiben? Mozart die Höllenfahrt de Don Giovanni? Beethoven die Schreckensfanfare? Lies doch mal die zeitgenössischen Rezensionen zu Beethovens 1. Sinfonie - ich muss meine Erinnerung bemühen, aber es wird dort das Chaotische, Ungeordnete, Wirre hervorgehoben. Ich meine nicht, dass Beethoven - auch nicht mit der 1. Sinfonie - schönes, gefällige Musik schreiben wollte (Ausnahmen bestätigen die Regel - Beethoven war stinksauer, weil alle Welt sein [vergleichsweise schlichtes] Septett liebte ... er wollte doch, dass seine dramatischen "wirren" Werke geliebt werden ... ). - Dito Schubert StrQuartett Nr. 15 u. v. a. m.
Du bist aber nah an dem, was ich meine, wenn Du davon sprichst, dass sich die Interpreten in den Dienst des Werkes (oder dessen, was sie darunter verstanden) stellen wollten. Also eine gewisse Demutshaltung. Diese vermisse ich auch bei manchen möchte-gern-genialen Regisseur unserer Tage!