15 Jahre "Winterreise" und "Die schöne Müllerin"

  • Zitat

    Wir teilen nur unser Entzücken darüber mit


    Ich würde sagen: "Wir teilen 'nur' unser Entzücken darüber mit"


    Mit den Gänsefüßchen will ich unterstreichen, dass das Austauschen über den eigenen Geschmack und das Empfehlen von Aufnahmen (in Kombination: das "Entzücken" an der Musik) natürlich eine ersprießliche Tätigkeit ist, bzw. zumindest sein kann. Aber: Wechselseitiges Reden über dieses Entzücken ist - wie schon befunden wurde - definitiv etwas anderes als eine tiefgehende ("mit Theorie angereicherte") Diskussion über den eigentlichen Gehalt eines Werkes und seinen Interpretationen.


    Ich glaube dass der "Konflikt" zwischen diesen beiden Diskussionsarten durchaus ein zentrales Problem im Forum darstellt. Aber nicht in die Richtung in der Alfred sie auslegt, sondern (inzwischen) genau andersherum: Wenn man im Forum oberflächlich liest bekommt man leicht den Eindruck, dass es hier in erster Linie um den Austausch über das Entzücken an der Musik und das gegenseitige empfehlen von Aufnahmen geht (was ja auch nicht ganz falsch ist) - hingegen fundierte Beiträge reserviert aufgenommen werden. D.h., dass eben nicht die Nicht-Spezialisten sich nicht trauen auf gut fundierte (und meist lange) Beiträge zu antworten, sondern das gegenteilig die theoriereichen Beiträge nur noch sehr wohl überlegt platziert werden aus Sorge die allgemeine Diskussion zu überfordern (wie gerade hier an der entschuldigen Einleitung zu Helmuts Beitrag zu sehen).


    Man sollte aber denke ich nicht daraus auf das Niveau des Forums schließen wollen (was ja in letzter Zeit eher abwertend getan wird), sondern überlegen die man diese beiden Ansprüche des Austausches in diesem Forum besser unter einen Hut bringen kann. Denn momentan halten sich "beide Seiten" eher zurück - was in wenig Beiträgen und dann eventuell doch geringerem qualitativen Niveau mündet.


    Oder sehe ich da was falsch?


    -----------------


    Bei den beiden Themen "Wie viele Aufnahmen eines Werkes braucht man?" und "Sind Arrangements von Werken interessante "Alternativen" oder empörende "Entstellungen"" besteht immer die Gefahr sich im Kreis drehend nur je die eigene Meinung entgegenzuhalten.


    Ich meine dazu, dass man beide Punkte nach eigenem Gusto handhaben und Anderen in diesen Punkt kritiklos eigene Positionen zugestehen sollte. Wem nützt es die "Sammelwütigkeit" eines Liebhabers zu kritisieren? Und wem schadet es, wenn andere ein Werk in verschiedenen Arrangements hören?


    Soweit zu meinem persönlichen Geschmack. Dass man zum Thema der Arrangements aber auch eine fundierte Diskussion führen kann leuchtet ein. Nur: Wer will auch dort schlüssig "urteilen"? Bei Werken wie der Winterreise, die mit Bedacht und Sorgfalt des Komponisten genau so komponiert worden sind wie sie sind sollte man zumindest nicht leichtfertig aus purer "Gier nach Abwechslung" arrangieren, dem würde ich zustimmen. Er muss man wirklich auch einen ernsthaften, begründeten Versuch dieses Werk einmal anders zu interpretieren verurteilen?


    Ich denk nicht - zumal klingt ein moderner Flügel so anders als ein Hammerflügel, dass man dann genau genommen auch alle nicht-HIP Aufnahmen als Arrangement "abtun" müsste. Zugegeben, ein moderner Flügel ist immer noch ein Klavier - aber ich denke man versteht worauf ich hinaus will?

    :hello:


    Peter

  • Darf ich mir ein ganze persönliche Bemerkung erlauben?
    Die Reaktionen auf meinen Beitrag haben mir eine ganz außerordentliche Freude bereitet. Und zwar alle!


    Ich hoffe, ihr nehmt mir ab, dass ich weit davon entfernt bin, am "Niveau" dieses Forums herumzumäkeln. Erstens würde ich mir das gar nicht anmaßen, und zweitens steckte eine völlige Verkennung der "Funktion" eines solchen Forums dahinter.


    Als ich - zufällig! - im Internet auf diese Einrichtung stieß, war ich hell entzückt und habe mich auf der Stelle um eine Aufnahme bemüht. Ich habe das Forum von vornherein als das verstanden, was es schon seinem Namen nach ist:
    Ein Ort der Begegnung von Menschen, die ein gemeinsames Interesse haben, die untereinander durch die Liebe zum Kunstlied verbunden sind und darüber ihre Meinung austauschen.


    Dazu gehört Freiheit. Es ist die elementare Bedingung wahrer Kommunikation. Man würde sie zerstören, wenn man Bedingungen stellte und Ansprüche erhöbe.
    Ich will´s mal banal formulieren: Auf einem Forum muss auch geschwatzt werden dürfen. Das macht das Leben dort eigentlich erst schön und sinnerfüllt.


    Hinter meinem Beitrag steckt eigentlich etwas, das, auch wenn es zunächst gar nicht so erscheinen mag, mit dem Wesen eines Gesprächs ganz unmittelbar zu tun hat.
    Es ist der Wunsch, im Meinungsaustausch mit dem anderen möglichst viele Ansatzpunkte für die Entfaltung dessen zu bekommen, was man als "Miteinander-Sprechen" bezeichnet.


    Ein Grundproblem der Kommunikation ist doch, dass man über Emotionen nicht wirklich sprechen kann. Man kann sie nur mitteilen und darauf hoffen, dass der andere darauf auf der emotionalen Ebene reagiert. Mehr ist nicht drin. (Ist allerdings auch schon was!)


    Also, um es noch einmal ganz klar zu formulieren:
    Mir ging es nicht um das "Niveau" des Forums. Den Austausch von sprachlich wenig elaborierten Meinungen über diese oder jene Liedinterpretation halte ich für überaus sinnvoll. Er ist darüberhinaus ja auch vergnüglich.
    Aber hie und da ein paar mehr Ansatzpunkte für ein wirkliches "Gespräch über Musik", das wünschte ich mir manchmal. Ansatzpunkte! Keine tiefgründigen Analysen und Reflexionen!
    Das Forum ist doch der ideale Ort dafür!



  • >>an die Winterreise mit Görne/Schneider denke<<


    Dann gibt es eben nunmal neben Görne, Gerhaher und Co
    Noch 100 andere Geschenke desselben Stückes
    Und Helmut, Peter, hart und Glockenton
    Weisen in ganz andere Richtungen schon


    Nehmen wir dann Bernward, Titan und Alfred gar dazu
    Ist über fast allen Gipfeln UNruh
    Und DAS spiegelt die Momente wahren Glückes
    Schubert's Lieder hier und da, Glaube, Hoffnung, Liebe
    Auch ohne Mainacht geht es viel um die Triebe


    Aber auch um Trockne Blumen und Gesang der Nonne
    Dass Niemand auf der Strecke bliebe oder gar in der Tonne
    Verzagen möge nicht an der Treue der Liebe, wenn im Rückblick
    Das Abendrot den Morgenkuß gar auf die Wetterfahne schriebe


    Wenn Schwanengesang im Grünen zaubern muß
    Karl Erb, mein Wiesensänger und Evangelist
    Für Andere erst das Wienerische seiner Kunst ausradieren muß
    Doch Helmut, wie soll der Erb DAS machen?
    Schlusnus, Hüsch, Anders, Hotter und den jungen Dieskau
    Hat er längst schon im Nacken


    Dann trällern die Lehmann und die Schwarzkopf noch an den Mond dazu
    Und nun kommst Du................mit nur EINEM Interpreten
    Da stehst Du seit 1828 unaufhaltsam im Regen
    Manche wollen Dir mit Lachen und Weinen gar in den Allerwertesten treten


    Oh holde Nuß, wir singen mit Erna Berger das Ave Maria
    Doch Franz Schubert war ein heuriger Wiener
    WIR Taminoeaner/innen können weder auf dem Wasser singen
    Dem Franz, noch dem Alfred entrinnen, im Freien wären wir gerne


    Aber die Grenzen der Menschheit kommen im Geistertanz wieder
    Singen WIR des Schäfers Klagelied, gleichzeitig das Lied an den Flieder
    Willkommen und Abschied, sind Doppelgänger in der Ferne
    Alinde, Wanderes Nachtlied, der Blumenbrief oder
    Der Unbekannte gar, da rauft sich mancher Schubertkenner gar das Haar
    und wenn ich so weitermache, höre ich die Seufzer von Pears und Britten


    Waldesnacht umringt Souzays der Blumen Sprache,
    Gerhahers Allmacht scheint nirgendwo umstritten
    Da kommt der Kipnis mit dem Erlkönig daher
    Der Köinig in Thule weicht Hotters Tritten, denn er bewacht Tristan
    Wie Gretchen am Spinnrad die Frühlingsabendämmerung nicht mehr


    Aber in unserer Mitten glänzt eine Schäferin, mit Vornamen Christine
    Mit der Winterreise wie eine Wanderin als Biene, mit Honig
    Und wonnigem Gemüte gar, schlägt sie ab das Klischee
    alter Schubertscher Hüte.



    Gruß.................“Titan“

  • titan, ich bin sprachlos.


    Goethe und Schiller hätten an dem Gedicht ihre wahre Freude gehabt. Ich auch.


    LG, Bernward


    "Nicht weinen, dass es vorüber ist
    sondern lächeln, dass es gewesen ist"


    Waldemar Kmentt (1929-2015)


  • Zitat

    Original von Bernward Gerlach
    titan, ich bin sprachlos.


    Goethe und Schiller hätten an dem Gedicht ihre wahre Freude gehabt. Ich auch.


    LG, Bernward


    Danke, lieber Bernward, .......Taminoeaner/innen


    Es überkommt mich halt manchmal mit dem REIMEN
    Das ist inbesondere bei mir nahestehenden Themen so, dann klingt es auch (hoffentlich) weniger konstruiert.


    Es freut mich, daß Dir das "Gedicht" :.) gefällt


    P.S. Ich hoffe, Helmut nicht zu Nahe getreten zu sein



    Gruß...................."Titan"

  • Nein, lieber Titan! Bist du nicht!
    Ich bin sogar dankbar für Tritte in den Hintern ,- wenn ich sie hier auf dem Forum erfahre.
    Deine Poesie ist von umwerfender Originalität. Umwerfend deshalb, weil da jemand in der Lage ist, locker die ganze Geschichte des Liedgesangs aus dem Ärmel zu schütteln.
    Respekt!


    Ich antworte auf einige wichtige Aspekte unserer Diskussion mit einem Beitrag im Kapitel "Hugo Wolf".
    Allerdings kann ich´s nicht poetisch, sondern nur auf meine (nun ja schon bekannte!) Weise.
    Hoffentlich reagiert nicht einer von euch einmal frei nach Goethes Faust: "Ich bin des trockenen Tons nun satt!" - und tritt wirklich!

  • Hallo, liebe Forianer,
    für mich sind die besten Winterreisen der letzten 15 Jahre die von Christian Gerhaher und Gerold Huber, 2001, ebenso Matthias Goerne und Alfred Brendel aus 2004 sowie der Altmeister, Dietrich Fischer-Dieskau selber, aus dem Jahre 1985, zusammen mit Alfred Brendel.
    Von der Schönen Müllerin habe ich nur eine Aufnahme aus den letzten 15 Jahren, das ist die von Christoph Prégardien aus 1991, begleitet von Andreas Staier, ansonsten höre ich diesen großartigen Zyklus nur von Fritz Wunderlich.


    Liebe Grüße


    Willi

    1. "Das Notwendigste, das Härteste und die Hauptsache in der Musik ist das Tempo". (Wolfgang Amadeus Mozart).
    2. "Es gibt nur ein Tempo, und das ist das richtige". (Wilhelm Furtwängler).

  • Es ist auffällig: Der Thread ist überschrieben "15 Jahre Winterreise und Die Schöne Müllerin", und wir reden hier fast nur über die Winterreise.
    Warum? Woher dieses "Übergewicht" der Winterreise, das doch schon allein an den Aufnahmen und an den zum Teil wunderlichen Adaptionen abzulesen ist.
    Liegt das an der Thematik?
    Ich meine: Nein! Es liegt auch daran, dass die Winterreise das in seiner musikalischen Struktur anspruchsvollere Werk ist, eines, das deutlich mehr als die Müllerin in die musikgeschichtliche Zukunft weist und an vielen Stellen verblüffend modern wirkt.


    An zwei Liedern, die thematisch miteinander verwandt sind, möchte ich das konkretisieren:
    TROCKENE BLUMEN (Lied 18 der Müllerin) und
    LETZTE HOFNNUNG (Lied 16 der Winterreise).


    Meine These:
    "Trockene Blumen", - das ist klassischer Schubert, der Schubert des Primats der Melodie. "Letzte Hoffnung" hingegen ist in seiner musikalischen Komplexität ein Schubert, der den Primat der Melodie hinter sich gelassen hat und über sich hinaus in die musikalische Zukunft verweist.


    Eine Probe auf diese These.
    Man versuche einmal, die beiden Lieder ohne Klavierbegleitung leise vor sich hin zu singen. Und?
    Bei "Trockene Blumen" geht das, ohne dass man dabei das Gefühl hat, dass Wesentliches verlorengegangen ist.
    Bei "Letzte Hoffnung" geht es nicht! Die Singstimme wirkt eigentümlich leer, ohne musikalische Aussagekraft. Das Unternehmen ist sinnlos!


    Hört man sich die beiden Lieder einmal ganz genau an und wirft dabei einen Blick in die Noten, dann wird schnell klar, woran das liegt.
    Bei "Trockene Blumen" sind Singstimme und Klavier harmonisch eng miteinander verschmolzen und verwoben. Der Klavierpart hat sozusagen wenig Eigenleben, so dass die Singstimme nur etwas "magerer" wird, wenn man sie ohne Begleitung hört.


    Bei "Letzte Hiffnung" ist das ganz anders. Vordergründig gehört, laufen Singstimme und Klavier auf eine lange Strecke selbständig nebeneinander her. Erst bei "Wein auf meiner Hoffnung Grab" verschmelzen sie harmonisch miteinander.
    Das Verblüffende dabei ist aber, dass sie thematisch bis zur Echohaftigkeit miteinander verwandt sind. Sie sind also einerseits aufeinander bezogen und aufeinander angewiesen, andererseits aber fast kontrapunktisch voneinander abgesetzt.


    Bei "Trockene Blumen" begleitet das Klavier zunächst in einfachen Akkorden, die marsch- oder schrittmäßig taktiert sind, die Singstimme. Von "Und wenn sie wandelt ..." an lösen sich diese Akkorde in Klangfiguren auf, die die Singstimme spiegeln. Und erst am Schluss des Liedes tritt das Klavier voll in Erscheinung, um die Singstimme sogar in der Höhenlage strahlend zu übertreffen.


    Wie anders bei "Letzte Hoffnung". Bevor noch der Hörer durch das "Hie und da" der Singstimme verunsichert werden könnte, ist er es längst.
    Die hingetupften Klaviertöne des "Vorspiels" (der Begriff ist hier unangebracht!) suggerieren, dass es keinen Halt gibt, keine feste Orientierung.
    Das wird verstärkt dadurch, dass die Singstimme mit denselben Tönen um ein ganzes Achtel zu spät(!) einsetzt. Und im sechsten Takt tut sich sogar ein regelrechtes "Loch" in der Tonfolge auf.
    Spätestens hier hat sich im Hörer das Gefühl eingenistet, dass es nichts Festes in diesem Lied gibt, und dieses Gefühl wird intensiviert und dadurch bis zur Angst gesteigert, dass Klavier und Singstimme sich weiter in diesen Tonschritten sperrig umeinander herum bewegen und erst am Ende zusammenkommen: In einer ganz großen Wehklage freilich!


    Dieses Lied macht Hoffnungslosigkeit allein schon in seiner musikalischen Struktur sinnlich erfahrbar. Die Worte dazu empfindet man wie eine Bestätigung für diese Erfahrung. Darin liegt seine Größe als musikalisches Kunstwerk!


    Nicht ohne Grund hat Alban Berg 1923 im Wiener Rundfunk bei der Frage "Was ist atonal?" unter anderem auf dieses Lied Bezug genommen.

  • Zitat

    Original von William B.A.
    Hallo, liebe Forianer,
    für mich sind die besten Winterreisen der letzten 15 Jahre die von Christian Gerhaher und Gerold Huber, 2001, ebenso Matthias Goerne und Alfred Brendel aus 2004 sowie der Altmeister, Dietrich Fischer-Dieskau selber, aus dem Jahre 1985, zusammen mit Alfred Brendel.
    Von der Schönen Müllerin habe ich nur eine Aufnahme aus den letzten 15 Jahren, das ist die von Christoph Prégardien aus 1991, begleitet von Andreas Staier, ansonsten höre ich diesen großartigen Zyklus nur von Fritz Wunderlich.
    ...


    Offenbar lebt da noch jemand in der Vergangenheit...


    :D

    Ciao


    Von Herzen - Möge es wieder - Zu Herzen gehn!


  • Hallo,


    Freunde der Schönen Müllerin und der Winterreise


    Habe mir inzwischen die Aufnahmen mit Güra zugelegt und bin hochzufrieden. Der kann es auch.


    LG, Bernward


    "Nicht weinen, dass es vorüber ist
    sondern lächeln, dass es gewesen ist"


    Waldemar Kmentt (1929-2015)


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  • Ich wundere mich, dass niemand hier Aufnahmen einer Winterreise, die von einer Sängerin gesungen worden sind, besitzt ?


    Es gibt doch m.E. Aufnahmen von Christine Schäfer, Brigitte Fassbänder und Christa Ludwig - mich interessiert es, mal zu hören, wie den großen Liedsammlern hier im Forum die Damen gefallen ?

  • Zwar weigere ich mich schon seit langem, mir die immer wieder anfallenden Neuaufnahmen der Winterreise anzuhören (vor allem, weil man dieses Werk ja nun wirklich auswendig kennt), aber Alfreds Anmerkungen zu der Aufnahme von Christian Gerhaher hat mich zu einem kleinen Beitrag animiert. Und zwar durch ein einziges Wort: "traurig". Da liegt nämlich der kritische Punkt jeder Interpretation dieses Zyklus. Man darf die Winterreise interpretatorisch nicht mit zu viel Gefühl - oder gar Sentimentalität! - aufladen.


    Gerhahers "Lindenbaum" ist ein gutes Beispiel dafür. Schuberts Tempoangabe lautet "Mässig", und die Taktart ist ein Dreivierteltakt. Das alles hat seinen guten Grund. Der Schubertkenner Georgiades hat zu der Stelle "Der Hut flog mir vom Kopfe" angemerkt: "Nur als vorgestelltes Sagen, jenseits jeder Musik, eröffnet uns diese Stelle ihren Sinngehalt. Und umgekehrt: Nur indem man sie als reine, nicht durch Ausdruck belastete Musik vorträgt, entgeht man dem pathetischen Deklamieren."


    Diese Aussage kann man nach meiner Meinung auf die ganze Winterreise übertragen. Je nüchterner sie gesungen wird, unter sorgfältiger Beachtung des Notentextes, desto tiefgreifender ist ihre Wirkung auf den Hörer. Gerhaher beachtet dies in seinem "Lindenbaum" (und vielleicht sogar generell) zu wenig. Er artikuliert überaus sorgfältig, beachtet alle noch noch winzigen Pausen in der melodischen Linie, überdehnt sie also nicht, - und dennoch singt er dieses Lied zu langsam und vor allem zu gefühlsbeladen.


    Interessant wäre übrigens bei der Beurteilung solcher Neuaufnahmen, welche zusätzlichen Aussage-Dimensionen sie der Winterreise abgewinnen können, - im Vergleich etwa mit der Aufnahme Fischer-Dieskau/ Alfred Brendel als Referenzaufnahme.

  • Lieber Gunter, Du fragst: Warum keine Damen?


    Darf ich mal zurückfragen? Warum möchtest Du die Winterreise von einer Dame gesungen hören. Das lyrische Ich, um das es in diesem Liederzyklus geht, ist ein Mann. Die seelischen Leiden, die er durchzustehen hat, sind spezifisch männliche. So hat das Wilhelm Müller jedenfalls lyrisch gestalten wollen, und Schubert hat das auch so gesehen.


    Warum also von einer Frau gesungen? Was würde das bringen? Verstößt dergleichen nicht gegen die Intention des Komponisten und seines Textautors? Kein Bariton oder Tenor kam je auf die Idee, Gretchen am Spinnrad, die Lieder der Mignon oder Suleika zu singen. Warum macht man dies aber bei der Winterreise?


    Ich wäre sehr interssiert daran, von Dir Argumente hier zu lesen.

  • Lieber Helmut,


    es ist keinesfalls so, daß ich dafür plädiere, Frauen die "Winterreise" singen zu lassen. Es war nur eine Frage, die ich aufwerfen wollte, was die anderen Teilnehmer darüber denken. Die Aufnahmen der Sängerinnen, die sich diesem Werk gewidmet haben wurden ja doch teilweise sehr gut beurteilt. Ich persönlich würde mir auch keine Aufnahme mit einer Frau kaufen, im Konzert würde es mich schon mal interessieren, eine weibliche Interpretation zu hören.


    Ansonsten finde ich auch, dass es halt ausgesprochene Männerlieder sind. Es käme ja auch keiner Frau in den Sinn die "Müllerin" zu singen, oder keinem Mann , die "Frauenliebe und Leben". Interessant finde ich z.B. auch, dass bisher kein Mann die "vier letzten Lieder" von Strauss gesungen hat (meines Wissens), obwohl ich glaube, dass auch ein Tenor die Lieder bewältigen könnte. Aber sie sind halt von Anfang an für eine Frauenstimme geschrieben worden.

  • Lieber Gunter! Es ist einigen Frauen doch in den Sinn gekommen, die "Müllerin" zu singen. Bei jpc habe ich Aufnahmen von Barbara Hendricks und Nathalie Stutzmann gefunden, und laut Kesting hat auch Lotte Lehmann die "Müllerin" eingespielt. Das soll nicht heißen, dass ich das gut finde, ich wollte es nur der Vollständigkeit halber erwähnen. Ich meine auch, dass der Text ausweist, dass es sich um Männerlieder handelt.


    Die "Winterreise" habe ich allerdings in der Interpretation von Mitsuko Shirai, einfach aus dem Grund, dass ich diese Sängerin sehr schätze und finde, dass sie viel zu wenig bekannt ist. Sie singt den Zyklus sehr ausdrucksvoll - das finde nicht nur ich. Lies mal nach, was Kesting darüber schreibt. Auch vom Text her kann ich mich mit einer Interpretin hier eher anfreunden, denn bis auf ein oder zwei Stellen ist der Text ja hier neutraler, und Liebesschmerz und Verzweiflung sind ja nun keine ausschließliche Männerdomäne.


    Viele Grüße


    Mme. Cortese

    Gott achtet mich, wenn ich arbeite, aber er liebt mich, wenn ich singe (Tagore)

  • Mich hast Du zwar nicht angesprochen, liebe Mme. Cortese, ich erlaube mir dennoch, auf Deinen Beitrag zu reagieren und hoffe, damit nicht Deinen Unwillen zu erregen.


    Ich kenne die Interpretation der Winterreise mit Mitsuko Shirai von der Doppelkassette "2X Winterreise", die 1991 bei Capriccio erschienen ist. Wie Du schätze ich diese Sängerin sehr, teile allerdings nicht Deine Auffassung, dass sie wenig bekannt sei. Ich kenne hervorragende Liedinterpretationen von ihr. Sie besitzt großes Einfühlungsvermögen in das Lied und sie hat als Mezzosopran eine volle, überaus angenehme und warm klingende Stimme.


    Ich kann verstehen, dass man die Winterreise von einer Sängerin interpretiert hören möchte, weil man sie schätzt. Ich bleibe allerdings bei meiner Auffassung, dass es unangebracht ist - und für mich sogar störend! - den Zyklus mit einer Frauenstimme zu interpretieren. Aber vor allem ist es auch unnötig! Ich hatte die Frage gestellt: Was bringt es?, und warte auf eine Antwort.


    Du sagst: "Liebesschmerz und Verzweiflung sind .. keine ausschließliche Männerdomäne". Völlig richtig! Du übersiehst dabei aber einen wichtigen Sachverhalt, nämlich das Wie des Durchleidens. Ich mag nicht auf dem allerneuesten Stand der Gender-Philosophie sein, aber ich behaupte: Es gibt einen geschlechtsspezifischen Unterschied im Durchleiden und in der Verarbeitung von Liebesschmerz und daraus resultierender Verzweiflung. Aber selbst wenn es den heute nicht mehr in so eindeutiger Aussprägung geben sollte, - zu Zeiten Wilhelm Müllers und Schuberts war dieser Unterschied unübersehbar. Die Literatur dieser Zeit und alle uns heute zur Verfügung stehenden Quellen sind diesbezüglich eindeutig.


    Würdest Du mir bitte einen Gefallen tun und Dir mal das Lied "Die Wetterfahne" aufmerksam unter diesem Aspekt anhören? Dieser Blick auf das Haus, in dem die Geliebte wohnt, von der man verstoßen wurde, ist eindeutig der eines Mannes. Keine Frau - eine damalige ganz bestimmt nicht! - hätte beim Blick auf ein Haus, in dem der ehemalige Geliebte zu Hause ist, einen seelischen Prozess durchlitten, wie er hier geschildert wird. Sie hätte mindestens genauso große Qualen ausgestanden, aber nicht die Assoziation von Wetterfahne mit weiblicher Wetterwendischkeit erlebt. Von der Art, wie die Rolle des Mannes im Haus verstanden wird, einmal abgesehen.


    Und noch etwas: Kannst Du Dir vorstellen, dass eine Frau aus Liebesschmerz und seelischem Kummer durch Eis und Schnee läuft, Krähen zu ihren Gesellen erklärt, eine Herberge auf einem Friedhof sucht und am Ende sich in die Vision hineinsteigert, mit einem irren Leiermann durch die winterliche Einsamkeit zu ziehen?


    Mit Verlaub, ich kann das nicht! --------- Aber sei mir darob nicht böse!

  • Lieber Gunter, da habe ich Dich offensichtlich missverstanden, und das tut mir leid.


    Dass diese Sängerinnen, die Du erwähnt hast, so gut beurteilt wurden, wundert mich nicht. Die sind allesamt ganz hervorragende Liedinterpretinnen. Ich vermute mal, dass man sie ganz speziell in dieser ihrer sängerischen Leistung beurteilt hat, und eben nicht unter dem von mir als Frage aufgeworfenen Aspekt.


    Interessant ist Dein Hinweis auf die "Vier letzten Lieder" von Strauss. Natürlich könnte die auch ein Tenor singen, denn hier geht es um existentielle Erfahrungen, die allgemeinmenschlich sind. Hier schient man einfach den Willen des Komponisten zu respektieren. Warum aber? Rein von der Sache her gesehen, dem Gehalt und der musikalischen Struktur der Lieder also, besteht für mich kein zwingender Grund, - im Gegensatz zur Winterreise!


    Übrigens: (und das ist auch an Mme. Cortese gerichtet) Ich freue mich über unser Gespräch hier im Forum!

  • ...
    Ich kenne die Interpretation der Winterreise mit Mitsuko Shirai von der Doppelkassette "2X Winterreise", die 1991 bei Capriccio erschienen ist. Wie Du schätze ich diese Sängerin sehr, teile allerdings nicht Deine Auffassung, dass sie wenig bekannt sei. Ich kenne hervorragende Liedinterpretationen von ihr. Sie besitzt großes Einfühlungsvermögen in das Lied und sie hat als Mezzosopran eine volle, überaus angenehme und warm klingende Stimme.


    Sie ist definitiv kein Star unter den LiedsängerInnen und medial wesentlich weniger bekannt als es ihr gebührte. Sie ist ja Schülerin von Elisabeth Schwartzkopf, und jene bezeichnete sie in einem Interview vor 15 oder gar schon 20 Jahren als wohl beste lebende Liedsängerin!




    Zitat

    ... Ich hatte die Frage gestellt: Was bringt es?, und warte auf eine Antwort.


    Im günstigen Fall sehr schönen und guten Gesang und die praktische Erkenntnis, was nicht funktioniert und was vielleicht doch...




    Zitat

    Und noch etwas: Kannst Du Dir vorstellen, dass eine Frau aus Liebesschmerz und seelischem Kummer durch Eis und Schnee läuft, Krähen zu ihren Gesellen erklärt, eine Herberge auf einem Friedhof sucht und am Ende sich in die Vision hineinsteigert, mit einem irren Leiermann durch die winterliche Einsamkeit zu ziehen?


    Mit Verlaub, ich kann das nicht! --------- Aber sei mir darob nicht böse!


    Nun ja, eigentlich nicht. Aber Gegenfrage: könntest du dir das ganz unvoreingenommen von einem Mann vorstellen?


    ;)

    Ciao


    Von Herzen - Möge es wieder - Zu Herzen gehn!