Hier möchte ich einmal nicht gleich mit allzu penibler Einzelkritik einsteigen. Ich sage es einfach frei heraus: Ihr Schumann gefällt mir! Das ist Schumann gespielt mit viel Poesie, mit Zügen kreislerianischer Phantastik in der Horowitz-Tradition und mit viel virtuoser Bravour! Technisch hat sie wirklich (fast) unbegrenzte Möglichkeiten, bewältigt alle pianistischen Gemeinheiten Schumanns, als wäre es die leichteste Sache der Welt. Sicher, die gewisse „Russifizierung“ deutscher Romantik spürt man gleich zu Beginn. Lisitsa spürt vor allem den Melodiezügen nach, wunderbar ausgesungen, aber auch etwas sehr breit (Rachmaninow ante portas) und streng betrachtet zu wenig prägnant für ein Variationsthema. Schumann als Komponist hat zwei Gesichter: Da ist einmal der von E.T.A. Hoffmann geprägte Romantiker mit seiner virtuosen Phantastik und musikalischen Exzentrik. Dafür steht exemplarisch eine Komposition wie die „Kreisleriana“. Die andere Seite ist der deutsch-ernste, intellektuelle Grübler, wozu auch Humor und Ironie gehören, das Spiel mit Formen und Masken. Dieses kommt vor allem im „Carnaval“ zum Vorschein. In den Symphonischen Etüden sind beide Seiten vereinigt, und je nach Interpretation kann die Gewichtung nach der einen oder anderen Seite hin ausfallen. Bei Lisitsa ist es die „intuitive“, phantastische Seite. So vermisst man manches Mal ein wenig die Innerlichkeit, den grüblerischen Ernst, die Gedankenversunkenheit und auch formale Strenge. Aus dem Finale macht sie ganz ungeniert ein Bravourstück – die gewisse orchestrale Fülle, die Würde einer gotischen Kathedrale, die hier aus Schumann spricht, lässt sie als verstaubte Romantik einfach hinter sich. Aber sie macht das eben mit Bravour, mit einer gewissen jugendlichen Frechheit, womit sie auch den kritischen Hörer letztlich gefangen nimmt. Da meldet sich ein musikalischer Freigeist ohne große Skrupel, mit erfrischender emotionaler Ehrlichkeit, aber einer, der Gefühl und Einfühlungsvermögen hat, bei aller bravourösen Virtuosität Fingerfertigkeit nie zum Selbstzweck macht, zur selbstgefälligen Zurschaustellung pianistischer Potenz werden lässt. Es ist erfrischend und erfreut das Herz, diesen Lisitsa-Schumann zu hören!
Schöne Grüße
Holger