Vertonte Gedichte - Apotheose der Lyrik oder Verfälschung ?

  • Zahlreiche Gedichte sind einerm breiteren Publikum lediglich dadurch bekannt, daß sie vertont wurden, wobei die Auswahl der Dichter stets eine sehr eigenwillige, persönliche war, manche meinen es wäre viel Mittelmässiges dabei, das letzlich zu einem guten Kunstlied umgewidmet wurde.


    Von Goethe ist überliefert, daß er die ihm von Schubert übersandten Vertonungen einiger seiner Gedichte kommentarlos retourniert, während er andere Komponisten geradezu ermunterte, seine Versie in Noten zu setzen.



    Bringt also die Vertonung üblicherweise einen Vorteil für das Gedicht, oder wird nicht vielmehr, durch Abkehr vom Wesentlichen - und Fokussierung auf schönen Klang - oder aber auch auf Ausdruck - jedoch solchen den der Dichter nicht angestrebt hat, sondern der Komponist - die Dichtung zerstört ?


    Wie siehrt es mir den vielen - angeblich mittelmässigen - Gedichten romantischer Dichter aus, die durch Schumann, Schubert und Konsorten durch Vertonung "geadelt" wurden ?
    Waren sie zum Zeitpunkt ihres Entsteherns geschätzt ?


    Einige Ex-Forianer meinten ja hier in der Vergangenheit, sie hätten Mühe ein Schubertlied - ob seines schwültigen Textes zu geniessen ....


    Dies alles sei verstaubt - ein Standpunkt der zumindest fragwürdig ist.


    mfg aus Wien


    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Auwei!
    Da hast du, lieber Alfred, ein zwar höchst interessantes, aber auch zugleich ebenso schwieriges Thema angeschnitten.
    Eben habe ich gerade im Kapitel "Schumann op.39" darauf hingewiesen, dass Schubert mit einem Gedicht ganz anders umgeht als Schumann.
    Und genau da liegt das das Problem, um das es hier im Kern geht.


    Es ist nämlich die Frage, mit welcher Intention die Komponisten jeweils an den lyrischen Text herangegangen sind.
    Schubert wollte nicht "vertonen". Er fühlte sich dem Lyrischen Text in seiner spezifischen sprachlichen Struktur nicht ohne jede Einschränkung verpflichtet. Er ließ sich durch ihn musikalisch inspirieren und machte aus dem Gedicht ein genuines musikalisches Meisterwerk, das sich nicht als "Vertonung" verstand.


    Schumann - und mehr noch Hugo Wolf! - hingegen kannten diese Verpflichtung dem dicherischen Text gegenüber sehr wohl. Sie berücksichtigen die spezifische sprachliche Struktur der Gedichte weitaus stärker als Schubert, der mal locker die Vorlage verändert hat, wenn es ihm aus musikalischen(!) Gründen zwingend erschien. Goethe gefiel diese Haltung überhaupt nicht (was man ja irgendwie verstehen kann)!


    Es wäre zum Beispiel reizvoll, sich anzuschauen, wie verschiedene Komponisten mit Eichendorffs Lyrik umgegangen sind.
    Ich denke da in erster Linie an Schumann, Hugo Wolf und Hans Pfitzner. Letzterer hat faszinierende Eichendorff-Lieder geschaffen.
    Man könnte aber auch irgendeinen anderen Dichter nehmen, sich die verschiedenen Vertonungen anhören und vergleichen.
    Ist aber nur so eine Idee, aus dem Augenblick geboren.

  • Zunächst mal die Gegenfrage:
    Wer bestimmt eigentlich, was ein "mittelmäßiges" Gedicht ist?


    Viele Dichtungen wären wohl längst vergessen, wenn sie nicht vertont worden wären.
    Wer kennt noch Joseph Kenner?
    Schubert hat seine Ballade "Der Liedler" genial vertont, aus diesem Stück fast eine "Oper" gemacht. Nur so blieb der Name zumindest dem interessierten Musikpublikum erhalten.


    Ein weiteres Beispiel ist Wilhelm Müller. Zu seiner Zeit zwar sehr bekannt, wegen seiner Lieder zum Freiheitskampf der Griechen, aber heute wird der Name eigentlich nur noch mit den beiden Schubertzyklen in Verbindung gebracht.


    Und Goethes "Erlkönig"? Eigentlich nachvollziehbar, dass der Weimarer Meister nicht so entzückt war, aber geschadet hat die "Vertonung" dem Gedicht eigentlich nicht...

  • Zur Frage: "Wer bestimmt eigentlich, was ein mittelmäßiges Gedicht ist?"


    Niemand!
    Derjenige, der sich mit Lyrik befasst, immer wieder einmal eine Anthologie in die Hand nimmt und sich in Lyrik auskennt, weiß es.
    Aber es gibt natürlich Leute, die sich darüber Gedanken gemacht haben, was Kitsch ist. Denn um den geht es hier in erster Linie. Der Germanist Walter Killy hat das in mustergültiger Weise zusammengefasst.


    Kitsch erkennt man an der Häufung bestimmer stilistischer Elemente, an der Häufung von Adjektiven zum Beispiel. Alles, was schön klingt und liebliche Gefühle auszulösen vermag, wird im Übermaß eingesetzt. Alles, was die schöne Illusion stören könnte wird weggelassen.
    Schlechte Lyrik ist eine, die lügt. Es wird dort Unzucht mit lieblichen, zuckerüßen Metaphern getrieben, der Autor ergeht sich in der Kumulation von schmückenden Beiworten.


    Beispiel: (um mal endlich zum Thema hier zu kommen)
    Johann Mayrhofer: NACHTSTÜCK
    Ein schlechtes Gedicht. Es lügt. Luna kämpft mit Gewölken, grüne Bäume rauschen nicht nur, sie flüstern ein "schlaf süß", Gräser lispeln wankend fort, Vögel rufen einem etwas zu, und zwar, dass man doch bitte in Rasengruft ruhen möge. Kitsch, dass sich die Balken biegen.


    Und was macht Schubert daraus?
    Dieser sprachliche Kitsch stört ihn überaupt nicht. Hugo Wolf hätte einen solchen Text nicht einmal mit spitzen Fingern angefasst. Schubert macht ein wunderschönes Lied daraus.
    Es ist auf keinen Fall so, dass Schubert - wie man früher meinte - keinen geschulten literarischen Geschmack gehabt hätte. Er hat sogar, das ist belegt, Gedichte zurückgewiesen, die ihm zur Vertonung angeboten wurden.
    Ich möchte nicht so weit gehen wie Fischer-Dieskau, der meint, Schubert habe sich über die mindere Qualität seiner Texte sogar gefreut, weil sie ihm viel mehr Freiheit zur Entfaltung seiner kompositorischen Genialität gelassen hätte.


    "Nachtstück" ist wohl wieder ein Beleg für seine Intention als Liedkomponist. Er "vertont" die Texte nicht. Dieses schlechte Gedicht von Mayrhofer muss wohl eine Imagination in ihm ausgelöst haben, die er kompositorisch dann zum Ausdruck bringt.


    Ich möchte es so formulieren:
    Heraus kommt die musikalische Evokation eines uralten Menschheitstraumes: DerTod als Erlösung, als friedliches Eingehen in eine bergende Natur.


    Wenn man sich das Lied unter diesem Aspekt anhört, dann stimmt alles und nichts ist verlogen.
    Das polyphone, mehrere Molltonarten durchschreitende Vorspiel suggeriert Ruhe, aber auch Müdigkeit. Nur kurz erscheint ein Dur-Klang, dann setzt die Singstimme - wieder in Moll - mit weiten, ruhigen Bögen ein, weit gespannt über "Nebel".
    Bevor der Alte seine Harfe ergreift, hört man Schreittöne in der Klavierbegleitung. Bei "waldeinwärts" wieder dieser weit ausgreifende Bogen in der Singstimme.
    Und dann: Ein Lobpreis der Nacht, wie man ihn hymnischer gar nicht gestalten kann. Dem Zauber dieser Melodie kann man sich nicht entziehen.
    Bei "Die grünen Bäume rauschen" ändert sich die Atmosphäre in der Klavierbegleitung auffällig: Man hört förmlich dieses Bäumerauschen und das Lispeln der Gräser.
    Am Ende dann wieder ein langsames Absteigen in Moll-Lagen. Die Art, wie der Tod hier in ruhigen Schritten an den Menschen herantritt, erinnert sehr an "Der Tod und das Mädchen".


    Das ist Schubert! Dieses Genie bringt es fertig, aus einem Text, der sich vor lyrischem Kitsch biegt, ein musikalisches Meisterwerk zu machen!

  • Lieber Helmut Hofman,
    die Erschöpfende Antwort beruhigt mich. Ich muss da nicht widersprechen, auch mich hätte dieses Gedicht vermutlich nicht berührt... aber, da saß ich hier in Schwetzingen im Konzertsaal, es war 1966, Liederabend Fritz Wunderlich, da hörte ich dieses NACHTSTÜCK zum ersten Mal in meinem Leben und war hin und weg, aber es war die Begeisterung für die Musik Schuberts und die überwältigende Interpretation Wunderlichs - wer hätte gedacht, dass sich nur wenige Wochen später der Tod zu ihm neigt...

  • @ Helmut Hofmann


    Ich finde, Deine Beiträge zählen zum Besten was im Internet zum Thema Kunstlied je geschrieben wurde. Das ist kein Kompliment sondern eine Feststellung.


    Dennoch stimme ich nicht in allen Punkten zum Thema "Kitsch" überein.
    Die Definition ist aus heutiger Sicht ganz gewiss korrekt.
    Die Romantik, jedoch, hatte ein ganz anderes Lebensgefühl, heute würde man Zeitgeist dazu sagen.
    Was wir heute als Kitsch empfinden, jener Überschwang der Gefühle, jene sensible Wesensart, jene Negung zum Süsslichen, Behübschenden, Symbolhaften - das wurde damals sicher nicht als Kitsch empfunden.
    Man beachte einmal die Verabschiedungsformeln in Briefen - oder die Widmungen von musikalischen Werken...


    In diesem Forum wurde schon irgendwann und irgendwo über das Theme diskutiert, ob Liedertexte für "Menschen von heute" überhaupt "erträglich" seien...


    Ich persönlich habe damit keine Probleme, weil ich diese Texte aus der zeitlichen Sicht betrachte, quasi als "Museumsstücke"




    mfg aus Wien


    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Zitat

    Original von hart
    Lieber Helmut Hofman,
    die Erschöpfende Antwort beruhigt mich. Ich muss da nicht widersprechen, auch mich hätte dieses Gedicht vermutlich nicht berührt... aber, da saß ich hier in Schwetzingen im Konzertsaal, es war 1966, Liederabend Fritz Wunderlich, da hörte ich dieses NACHTSTÜCK zum ersten Mal in meinem Leben und war hin und weg, aber es war die Begeisterung für die Musik Schuberts und die überwältigende Interpretation Wunderlichs - wer hätte gedacht, dass sich nur wenige Wochen später der Tod zu ihm neigt...


    Lieber "hart", lieber Helmut Hofman und Taminoeaner/innen


    Ich finde Eure Diskussion sehr interssant und für mich auch im positiven Sinne aufklärerisch und bereichernd.


    Ich gehörte jahrelang einem "Dichterkreis" an, das war unsere HYBRIS in Studententagen


    ......inzwischen bin ich altersgemäß abgeflacht und manchmal dem Reim verfallen, was ich damals absolut verpönt habe, in den 60zigern,....... das Spielen mit Worten durch die Reimform reizt mich heute manchmal, sicherlich nervt es wohl auch manche Taminoeaner/innen,......sorry


    Ich bin davon abgekommen ein Gedicht genau unter die Lupe zunehmen. Ich nehme an, es hat in erster Linie etwas mit meinem Bedürfnis zu tun, dem Fluss und dem Charakter der Melodie bei der Umsetzung eines Textes zu folgen.
    Wahrscheinlich bin ich deswegen Schubert öfter verfallen als Schumann.
    Ich lasse mich gerne durch Musik betören, wenn sie in Kurzfassung mich poesievoll ergreift...............
    für anschließende Textanalyse (z.B. in Bezug auf "Kitsch") habe ich keine Muße.


    Durch meine berufliche Tätigkeit habe ich viel mit Phantasien, Assoziationen und Träumen zu tun............Ich halte diese Dinge mit für die wertvollsten menschlichen Regungen, weil sie noch nicht durch unsere Zensur (ÜBER-ICH) gefiltert sind.


    Ein bißchen ähnlich erlebe ich Schuberts Lieder....nicht die Qualität der lyrischen Vorgabe steht im Vordergrund ...sondern sein Bedürfnis anhand dieser "Bilder" eine Art musikalischen Film zu kreieren.


    Auch schubert gestattet vielleicht seinem ÜBER-ICH nicht eine zu kritische Textanalyse, damit er seinen kompositorischen Einfällen und Bedürfnissen genug freien Lauf gewähren kann.


    DAS ist ein Weg, der mich beglückt, weil sehr sehr viel kritischer Geist in die Gefahr kommen kann die Emotionen in der Freiheit der Melodiefindung zu beschneiden.


    Bei dieser subjektiven Argumentation sollte ich ein Beispiel bringen, auch wenn vielleicht nicht alle Taminoeaner/innen die Melodie (von Richard Strauss) dazu im Kopf haben. ABER : ich meine es lohnt sich dieses Lied zu hören unter dem besagten Aspekt, DASS geniale Vertonung eines "mittelmäßigen" ( ??? ) Textes ein Juwel erschaffen kann.


    Traum durch die Dämmerung op.29,1 (Richard Strauss)


    Weite Wiesen im Dämmergrau;
    die Sonne verglomm, die Sterne ziehn,
    nun geh' ich hin zu der schönsten Frau,
    weit über Wiesen im Dämmergrau,
    tief in den Busch von Jasmin.


    Durch Dämmergrau in der Liebe Land;
    ich gehe nicht schnell, ich eile nicht;
    mich zieht ein weiches samtenes Band
    durch Dämmergrau in der Liebe Land,
    in ein blaues mildes Licht.


    Gruß................"Titan"

  • Ja, lieber Titan,
    da ist man ja schon wieder beim Thema...


    Auch über die Strauss-Lieder hat man ja schon oft das Bedauern gelesen, dass er nicht erstklassige Dichter vertont hat.
    Klar, Thomas Mann hielt wohl nicht so viel von Bierbaum, der ja ein recht umtriebiger Mensch war, aber er erahnte bereits 1910: "Es könnte sein, dass manch sangbares Lied seines Mundes noch lebt, wenn vieles, was heute gewichtiger dünkt, vergessen ist."


    Wie recht er doch hatte, der Großmeister deutscher Literatur!

  • Eigentlich hatte ich mir ja einige Tage Abstinenz hier verordnet. Aber Tamino will mich nicht loslassen (Ist ja auch gut so, - naja, für mich jedenfalls!).


    Zunächst einmal: Ich höre Lieder ganz genauso, wie "Titan" oder "hart" und all die anderen Forianer das tun. Das Analytische an meinen Beiträgen kommt allein dadurch zustande, dass ich meine, ich müsse hier im Forum Ansatzpunkte für das von mir so geschätzte "Gespräch über Musik" liefern. Reine Gefühlsäußerungen taugen dazu nicht so gut!


    Dass man von einem Liederabend oder von einem einzelnen Lied, das man vor seinen Lautsprechern hört, tief angerührt werden kann, ist mir eine nur allzu bekannte Erfahrung. In meinem Beitrag zu dem Mignon-Lied von Hugo Wolf schrieb ich, dass ich dieses Lied tagelang nicht mehr "losgeworden" bin.
    Eben hat sich die Klaviersonate E-Dur op.109 von Beethoven in mir eingenistet und will nicht weichen. Grund: Die kleine Novelle von Hartmut Lange: "Das Konzert". Lesenswert für Musikfreunde!


    Du hast völlig recht, lieber Titan, mit Deinem Hinweis auf die tiefgreifende Wirkung, die ein unmittelbares, also nicht durch Reflexion gebrochenes Hören eines Liedes auf den Menschen haben kann. Mir hat einmal, nach einem harten Schicksalsschlag, Gustav Mahlers "Urlicht" eine regelrecht existentielle Hilfe geleistet (sentimental, ich weiß!).
    Übrigens auch wieder so ein Fall von "schlechter Lyrik" und großartiger Musik!


    Der "Traum durch die Dämmerung", den Du zitierst, ist auch von exemplarischer Bedeutung. O. Julius Bierbaum wäre als Lyriker in der Versenkung verschwunden, hätte ihn Richard Strauss nicht vertont (daneben auch noch Max Reger, Julius Weismann, Alban Berg, Erich J. Wolff u.a.), und zwar großartig!
    Die Vertonung von "Traum durch die Dämmerung" von Max Reger ist übrigens durchaus hörenswert (z.B. in der Aufnahme von Fischer-Dieskau und G. Weissenborn, Lp DG, 1966).
    Regers Vertonung ist wesentlich "trockener" und auch zeitlich straffer. Sie konzentriert sich stärker auf den "Vorgang", um den es hier geht, den Gang zur Geliebten, und weniger auf das Atmosphärische, die Naturschilderung. Erst am Schluss, beim "milden, blauen Licht", leistet sich Reger ein höheres Maß an Pathos.


    Und jetzt noch etwas, dies an Alfred gerichtet.
    Auch dieses Gedicht von Bierbaum enthält Elemente dessen, was ich als "lyrischen Kitsch" bezeichnet habe. Einfaches Indiz: Man kann es heutzutage nur schwer lesen.
    Es ist richtig, dass man sich über das Thema "Kitsch" streiten kann. Im Zuge der Rezeption der 68er Bewegung geschah das auch in der Literaturwissenschaft.
    Die Thesen von Walter Killy konnte man damals nicht mehr laut vertreten, ohne Hohnlachen zu ernten und als elitärer Bourgeois angepöbelt zu werden.
    In der Romantik (wie auch im Biedermeier der Schubertianer) hatte man andere Vorstellungen von literarischer Qualität. Das hast Du völlig recht!
    Aber erstaunlich ist doch, dass man so viele Gedichte aus der Zeit der Romantik auch heute noch lesen kann, - im Gegensatz zu dem viel jüngeren Bierbaum!


    Wenn man sein Stichwort "Dämmerung" aufgreift, dann kann einem "Zwielicht" von Eichendorff einfallen. Das ist große Lyrik, weit entfernt von jedem Kitschverdacht.
    Oder Stichwort Nächtlicher Gang zur Geliebten: Goethes "Willkommen und Abschied". Kommentar überflüssig!
    Was hat die Vertonung dieses Gedichts durch Schubert im Museum zu suchen? Die ist viel zu großartig, herzerfrischend und lebendig dafür!



    (((Ganz persönliches PS: Von meinen Beiträgen halte ich nicht so viel wie Du, Alfred. Das sind doch recht dilettantische Versuche. Wenn der von mir so hochgeschätzte Joachim Kaiser die sähe, - er würde vornehm leicht lächeln und zur Seite schauen und ich mich schämen!. )))

  • Eigentlich kann er einem leid tun, dieser unglückliche Johann Baptist Mayrhofer, der sich so gerne aus seinem Zensurkäfig heraus hoch in die freie Luft der Poesie erhoben hätte und erleben musste, dass seine Flügel nicht genug trugen.


    Man braucht nur all die Gedichte, die Schubert in Lieder verwandelt hat, hintereinander durchzulesen (z.B. im Beiheft zur CD "Schubert, Mayrhofer- Lieder" von Chr. Prégardien und A. Staier, Teldec), dann stößt man auf seine Schwächen:
    Entweder gerät er bei seiner Naturlyrik in übertriebene Schwärmerei, oder er wird von seiner Leidenschaft für griechische Mythologie überwältigt und produziert trockene Gedankenlyrik.


    Ich werde den Verdacht nicht los, dass Schubert, wäre Mayrhofer nicht sein Freund und Zimmergeselle gewesen, nicht so viele Gedichte von ihm vertont hätte. Es ist jedenfalls auffällig, dass ihm die Texte, die Naturpoesie enthalten, als Lieder besser gelungen sind als die Gedankenlyrik.
    Sie sind jedenfalls eingängiger und in ihrer Melodik in sich runder und geschlossener. Musterbeispiele: Nachtviolen, Auflösung, Auf der Donau.


    Die Komposition "FAHRT ZUM HADES" würde ich zu den Liedern zählen, die Schubert nicht so gut gelungen sind.
    Fischer-Dieskau meint zwar, dieses Lied verdiene wegen seiner "düsteren Großartigkeit" größere Aufmerksamkeit, ich kann das aber nicht nachempfinden.
    Gewiss, das "geheimnisvolle Abwärtssteigen der Bässe" ist reizvoll, aber die ganze Komposition ist stark rezitativisch geprägt, und das stört für mich ihren Liedcharakter ganz erheblich.


    Melodiöse Elemente gibt es zwar auch (z.B. jeweils im letzten Vers der ersten und der zweiten Strophe), aber die wirken ein wenig aufgesetzt, nicht gut in das musikalische Gebilde integriert.
    Bei "Schon schau ich ..." nimmt die melodische Linie einen fast opernhaften Gestus an (typisch dafür die vielen Wiederholungen in diesem Lied!), und bei der vierten Strophe ("Vergessen nenn ich zwiefach Sterben") verfällt Schubert in ein reines Rezitativ.
    Das geschieht nicht zufällig. Hier schlägt die abstrakte Gedankenlyrik Mayrhofers voll durch und drängt den Komponisten förmlich in diesen rezitativischen Gestus.


    Alles in allem: Das ist für mich kein großes Schubertlied!
    Natürlich ist das ein sehr subjektives Urteil, obwohl ich versucht habe, es zu begründen. Ich hoffe auf Zustimmung oder Widerspruch.


    Jetzt höre ich aber erst einmal weiter in dieser CD.
    Christoph Prégardien interpretiert diese Lieder ganz vorzüglich, denn er findet die richtige Mitte zwischen den Ansprüchen der melodiösen Linie und der Berücksichtung der sprachlichen Struktur.
    Ein wenig stört mich der Ton des Hammerklaviers. Ich kann mich bei Schubert damit einfach nicht anfreunden, er klingt zu hart, zu grob, zu wenig differenziert. Andererseits beherrscht Andreas Staier dieses Instrument perfekt.
    Ich überspringe solche Lieder wie "Der entsühnte Orest" und "Der zürnenden Diana" und fahre mit "Lied eines Schiffers an die Dioskuren" fort.
    Das ist wieder großartiger, im Lied-Ton sich frei entfaltender Schubert!

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  • Zitat

    Original von Helmut Hofmann
    Der "Traum durch die Dämmerung", den Du zitierst, ist auch von exemplarischer Bedeutung. O. Julius Bierbaum wäre als Lyriker in der Versenkung verschwunden, hätte ihn Richard Strauss nicht vertont [...]


    Auch dieses Gedicht von Bierbaum enthält Elemente dessen, was ich als "lyrischen Kitsch" bezeichnet habe. Einfaches Indiz: Man kann es heutzutage nur schwer lesen.


    Traum durch die Dämmerung


    Weite Wiesen im Dämmergrau;
    Die Sonne verglomm, die Sterne ziehn;
    Nun geh' ich zu der schönsten Frau,
    Weit über Wiesen im Dämmergrau,
    Tief in den Busch von Jasmin.


    Durch Dämmergrau in der Liebe Land;
    Ich gehe nicht schnell, ich eile nicht;
    Mich zieht ein weiches, sammtenes Band
    Durch Dämmergrau in der Liebe Land,
    In ein blaues, mildes Licht.



    Ich habe von Bierbaum den Roman Stilpe und einige Gedichte gelesen (nicht, weil irgendjemand Bierbaum vertont hat, sondern weil ich viele Autoren des ausgehenden 19. Jahrhunderts und frühen 20. Jahrhunderts gelesen habe).
    "Traum durch die Dämmerung" ist sehr zeittypisch und auch heute noch problemlos lesbar. Verglichen mit Rilke, Hofmannsthal und George natürlich schwach und zu Recht "in der Versenkung". Aber eben weder Kitsch noch unlesbar. Durchaus gute Lyrik ...

  • Zu den Einwänden von Kurzstueckmeister:


    Zunächst ein Eingeständnis:
    Ich hätte nicht sagen dürfen: "Man(!) kann es heutzutage nur schwer lesen", sondern: "Ich(!) kann es ..."
    Denn es ist so! Mich stören solche sprachliche Gebilde wie: "Wiesen im Dämmergrau", "Tief in den Busch von Jasmin", "Mich zieht ein weiches samtenes Band". Sie sind mir einfach zu sehr auf "süßlichen Effekt" hin sprachlich konstruiert.
    Aber ich gebe zu: Das ist ein subjektives Urteil!


    Den Aspekt "Versenkung" habe ich mal überprüft, indem ich in gängige Anthologien geschaut habe. Das ist ja nun wirklich ein guter Indikator!
    Der Klassiker "Der ewige Brunnen" führt in seiner Ausgabe von 1955 noch sechs(!) Gedichte von Bierbaum an.
    Der zwei Jahre später erschienene (und mehr auf Modernität der Auswahl hin angelegte) "Echtermeyer. Deutsche Gedichte" enthält kein Gedicht mehr von ihm. Und so ist das auch bei den in der nachfolgenden Zeit erschienenen Gedichtsammlungen, - so weit ich das hier jetzt überblicken kann.
    Lediglich die "Epochen der deutschen Lyrik" bei DTV (1974) führen Bierbaum an. Aber das ist ein wissenschaftliches Werk und kein "Hausbuch".


    Im übrigen:
    Das "Auwei", mit dem ich ganz spontan auf Alfreds neuen Thread reagierte, scheint mir aus jetziger Sicht völlig angebracht gewesen zu sein.
    Ich plage mich seitdem mit einer ganzen Reihe von Fragen herum. Mit dieser zum Beispiel:
    Was sind die Motive, die einen Komponisten zu einem ganz bestimmten lyrischen Text greifen lassen?
    Warum vertont er gerade diesen, obwohl er keine große literarische Qualität aufweist, und verwirft einen anderen, der dichterisch doch viel gelungener ist?


    Richard Strauss hätte zum Beispiel, wenn er schon nach einem Gedicht mit dem Thema "Liebe" gesucht hat, zu diesem greifen können. Es ist ungleich bessere Lyrik als die Bierbaums, und es lag 1910 vor:


    Else Lasker-Schüler
    SIEHST DU MICH -


    Zwischen Erde und Himmel?
    Nie ging einer über meinen Pfad


    Aber dein Antlitz wämt meine Welt
    Von dir geht alles Blühen aus.


    Wenn du mich ansiehst,
    Wird mein Herz süß.


    Ich liege unter deinem Lächeln
    Und lerne Tag und Nacht bereiten


    Dich hinzaubern und vergehen lassen,
    Immer spiele ich das eine Spiel.


    Warum sind so viele bedeutende lyrische Dichter nur sehr vereinzelt vertont worden: Hölderlin, Brentano, Keller oder Rilke (um nur ein paar zu nennen)?
    Auf Keller zum Beispiel hat sich nur Othmar Schoeck ernsthaft eingelassen. Bei Brentano ist höchst verwunderlich, dass er so wenig vertont wurde, denn seine Lyrik zeichnet sich durch einen faszinierend hohen Grad an Musikalität aus. (Strauss hat übrigens "An die Nacht" von ihm vertont).
    Warum?
    Vielleicht gerade, weil diese Lyrik schon beinahe die reine Musik ist: "Singet leise, leise, leise, / Singt ein flüsternd Wiegenlied ..."? Ich weiß keine Antwort sonst.


    Und noch eine Frage plagt mich:
    Wenn man in einer Anthologie einmal einfach nur so blättert, dann drängen sich bei bestimmten Gedichten die Vertonungen regelrecht auf. Man kann gar nicht lesen, ohne mit jedem Wort, mit jedem Vers zugleich die Vertonung zu hören.
    So geht mir das z.B. bei Mörike und Hugo Wolf.
    Bei anderen Gedichten kenne ich zwar die Vertonung, ich kann aber den Text auch lesen, ohne dass sie sich mir wie automatisch aufdrängt.
    Woran liegt das?
    Könnte es sein, dass in den ersten Fällen der Komponist mit seiner Vertonung so genau die Sprachmelodie getroffen hat, dass eine symbiotische Verbindung, eine vollkommene Einheit entstanden ist?


    Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass Alfred mit seinem Thread bei mir eine Menge angerichtet hat. Aber bedauern tue ich das nicht!

  • Lieber Helmut


    Zitat

    Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass Alfred mit seinem Thread bei mir eine Menge angerichtet hat.


    Kein Wunder.


    Er war auf Dich gezielt. ich hatte relativ spät - aber doch - erkannt - was Dich bewegt - was Dir in bezug auf das Lied wichtig ist.
    Und somit war mir klar, welche Überlegungen mein Threadtitel bei Dir gradezu auslösen MUSSTE. Aber sei getröstet: Du bist nicht nur "Opfer" sondern auch "Täter" Und einige "Mittäter" gibt es auch. Es wurde hier schon längere Zeit nicht so viel übers Kunstlied geschrieben (und nachgedacht!!) wie grade derzeit.


    Üblicherweise geht man ja das Thema - DU hast mich implizit drauf hingewiesen - von der anderen Seite an:


    (Heute) berühmter Komponist adelt ansonsten in Vergessenheit geratene Gedicht durch seine Vertonung. Das Lied wird berühmt - aber nur wenige interessieren sich für den emotionalen Kern des Textes, seine Bedeutung, seine angestrebte (und erzielte - oder NICHT erzielte Wirkung)VOR der Vertonung.


    Es entsteht ein Thread, dessen Inhalt man in etwa so umschreiben könnte:
    "Wer singt die "Winterreise" am SCHÖNSTEN ?" ein Schritt näher wäre bereits "Wer singt die Winterreise am BEEINDRUCKENDSTEN ? - aber - dessen bin ich mir sicher - noch weit von dem entfernt, was DICH im Grunde Deines Herzens wirklich interessiert.


    Ich habe schon einen weiteren Thread in petto, der nur SCHEINBAR diesem ähnelt, der sich mit Schubert-Liedern befasst, die als weinselige Rührstücke für Männerchor "missbraucht" werden - durchaus "schön"- aber eigentlich weg vom eigentlichen Sinn. - Ich möchte hier nicht vorgreifen.


    Zitat

    Was sind die Motive, die einen Komponisten zu einem ganz bestimmten lyrischen Text greifen lassen?


    Es ist so wie Du selbst es beschrieben hast:


    Zitat

    Wenn man in einer Anthologie einmal einfach nur so blättert, dann drängen sich bei bestimmten Gedichten die Vertonungen regelrecht auf. Man kann gar nicht lesen, ohne mit jedem Wort, mit jedem Vers zugleich die Vertonung zu hören.


    Es ist interessant , daß DU SELBST zwar etliche Antworten auf Deine Fragen gibst - sie aber selbst nicht erkennts - Wahrscheinlich bist Du zu nah am Thema dran.


    Die Antwort ist - meiner Auffassung nach - jene , daß sich DIR bei bestimmten Gedichten die Vertonungen regelrecht aufdrängen.
    So erging es vermutlich ebenso den Komponisten, welche hochwertige und weniger hochwertige Lyrik nicht auseinanderhalten konnten - und WOLLTEN. Einfach weil sie in die Texte "VERLIEBT" waren, bzw, weil sie etwas in ihnen persönlich zum Klingen brachten,was bei anderen Gedichten NICHT der Fall war. Wer in jemanden verliebt ist, der schaut ja auch nicht ob sein Liebesobjekt eine schiefe Nase hat. Ähnlich wie übrigens Kritiker für ihre Lieblingsinterpreten stets eine Ausrede bei deren temporärem Versagen finden.- Vermutlich ganz unbewusst.


    Ich hoffe, Du kannst einiges bejahen, was ich hier geschrieben habe - In letzter Konsequenz ist es aber nur eine sehr persönliche Sicht der Dinge, die nicht als Dogma gesehen werden soll - wenngleich mein Schreibstil die leider mitunter suggeriert....


    Zitat

    Aber bedauern tue ich das nicht!


    Auch das war mir klar ;)


    mfg aus Wien


    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Zitat

    Original von Helmut Hofmann
    Den Aspekt "Versenkung" habe ich mal überprüft, indem ich in gängige Anthologien geschaut habe. Das ist ja nun wirklich ein guter Indikator!
    Der Klassiker "Der ewige Brunnen" führt in seiner Ausgabe von 1955 noch sechs(!) Gedichte von Bierbaum an.
    Der zwei Jahre später erschienene (und mehr auf Modernität der Auswahl hin angelegte) "Echtermeyer. Deutsche Gedichte" enthält kein Gedicht mehr von ihm. Und so ist das auch bei den in der nachfolgenden Zeit erschienenen Gedichtsammlungen, - so weit ich das hier jetzt überblicken kann.
    Lediglich die "Epochen der deutschen Lyrik" bei DTV (1974) führen Bierbaum an. Aber das ist ein wissenschaftliches Werk und kein "Hausbuch".


    Ich beziehe meine Bierbaum-Lyrik :D als Reclam-Sammler aus dem Reclam-Bändchen "Lyrik des Jugendstils", Copyright 1964, meine Ausgabe 1977, schon länger nicht mehr nachgedruckt. Auf 58 Seiten sind einige Autoren versammelt, auch George und Trakl, von Bierbaum sind immerhin 6 Gedichte aufgenommen, somit ist er einer der stärker Vertretenen (und es sind ein paar deutlich weniger bekannte Autoren auch drin).


    Zur Jahrhundertwende war er wohl einer der Stars, dass er vertont wurde ist keineswegs überraschend. Auch passt das zitierte Gedicht mit seiner wonnig-schwülstigen Bildwelt doch wunderbar zu Strauss. Ich glaube kaum, dass Strauss das Gedicht der Lasker-Schüler für qualitativ hochwertiger gehalten hätte (Du musst bedenken, dass wir es aus dem historischen Rückblick viel leichter haben, die Schwächen zu merken. Der gegenwärtigen Produktion stehen wir doch auch recht hilflos gegenüber ...)

  • Als ich meinen letzten Beitrag hier schrieb, wurde mir schon während des Schreibens klar, dass ich mit einem ganz bestimmten Denkansatz vermutlich schief liege:
    Ein Komponist, der in sich den Drang verspürt, Lieder zu schreiben, orientiert sich dabei primär an der literarischen Qualität der Texte, die ihm zur Auswahl zur Verfügung stehen.
    Das ist Unsinn.
    Ich habe dabei mit dem Kopf eines Germanisten gedacht und nicht mit dem eines Musikers.

    Nach der Lektüre dessen, was ihr beide, Alfred und Kurzstueckmeister, hierzu angemerkt habt, ist mir das jetzt endgültig klar.
    Vielen Dank dafür! Es zeigt sich wieder einmal: Dieses Forum ist wahrlich ein Segen für den Liebhaber des Kunstlieds!


    Im Grunde sind es ja nur Robert Schumann und mehr noch Hugo Wolf, für die die literarische Qualität der Texte ein wesentliches Kriterium war. Und das hat natürlich seinen Grund.
    Martin Geck, der gerade eine neue Schumann-Biographie vorgelegt hat (erschienen im Siedler-Verlag München), weist darauf hin, dass Schumann der "Vater einer reflexiv-gebrochenen und damit modernen Musik" sei. Hugo Wolf hat, zumindest was das Lied betrifft, diesen kompositorischen Ansatz fortgeführt.


    Richard Strauss hätte, von seinen musikalischen Leitbildern und Klangidealen her, gar nicht von dem Gedicht der Lasker-Schüler inspiriert werden können. Dazu ist es viel zu trocken.
    Bierbaums Lyrik hingegen musste eine ganze Flut von Klängen in ihm auslösen. Dass dies durch eine stark vom Geist der Zeit angehauchte und aus heutiger Sicht etwas problematische Lyrrik geschah, ist aus musikalischer Sicht sekundär.
    Da habt ihr beide vollkommen recht!

  • Zitat

    Original von Helmut Hofmann
    Im Grunde sind es ja nur Robert Schumann und mehr noch Hugo Wolf, für die die literarische Qualität der Texte ein wesentliches Kriterium war. Und das hat natürlich seinen Grund.


    und ich sage gerne wieder: hanns eisler!

  • Nehmen wir mal ein bekanntes Gedicht von Eichendorff, in Schumanns Vertonung.


    Der Text verteilt sich auf drei vollkommen symmetrische Vierzeiler abab, gelegentlich mit charakteristischen Halbreimen (z.B. Himmel/ -schimmer).


    Str. 1 entfaltet ein erotisch psychologisiertes Naturbild, eine Art Schöpfungsmythos (Hochzeit von Himmel und Erde)


    Str. 2 gibt eine an Knappheit und Treffsicherheit unüberbietbare Naturschilderung, bar aller Metaphorik und Symbolik


    Str. 3 liefert eine emphatische, konventionell metaphorisierte Innenschau des Subjekts, der Objektivität von Str. 2 diametral entgegengesetzt (religiös angehauchter Seelenflug)



    Schumann behandelt das Gedicht, indem er Str. 1 und 2 m.o.w. gleich behandelt, als große Vorbereitung zu 3 als der Erfüllung. Str. 1 und 2 erhalten eine sparsame, lineare Textur; Str. 2 wird dadurch zu einem retardierenden Moment herabgewürdigt (aller Tonmalerei sich streng enthaltend). Die textliche Konkretion in Strophe 2, die literarisch die Kostbarkeit des Gedichts ausmacht, geht verloren - alles atmet Erwartung von etwas (dem diastolischen Ausbreiten des Seelengefieders), während bei Eichendorff das Natürliche, Alltägliche zum Geschehen überhöht wird, ohne daß die Ingredenzien (Wind in den Feldern und den Wäldern, sternklare Nacht) überschritten würden.


    Erst in Str. 3 erreicht die Stimme durch Schumanns Klavierbegleitung (durch akkordische und thematisch engführende Verdichtung) ihre Erfüllung (bei Eichendorff aber in der Str. 2 durch das Unirdisch-Irdische). Paradoxer Weise komponiert Schumann das Symbolische konkreter und malerischer aus als das Gegenständliche.


    Oder was meint ihr?


    :hello:

    Zerging in Dunst das heilge römsche Reich


    - uns bliebe gleich die heilge deutsche Kunst!

  • Gut, dass Maexl auf Hanns Eisler aufmerksam gemacht hat. Dieser Mann ist ein im Rahmen dieses Threads höchst interessanter Fall.


    Schon von seinem Selbstverständnis her, dem eines politisch engagierten Komponisten, muss er die Texte, die er vertont, ganz bewusst auswählen. Anders als etwa Richard Strauss, lässt er sich dabei nicht vom Stimmungsgehalt eines Gedichts musikalisch inspirieren, sondern nahezu ausschließlich von seinem Inhalt.


    Dass er bei seinen Vertonungen zu den Texten Brechts greift, bei denen die politische Botschaft explizit ist, verwundert nicht. Interessanter wird es schon, wenn er Texte wählt, in denen weniger der politische Agitator, als vielmehr der Lyriker Brecht in Erscheinung tritt. Denn das war er ja, - einer der großen deutschen Lyriker.
    Bei Gedichten wie "In den Weiden", "Frühling", aber auch bei "An den kleinen Radioapparat" bekommen die Vertonungen Eislers einen deutlich hörbaren liedhaften Ton, der natürlich durch die Zwölftontechnik ganz bewusst wieder verfremdet wird.


    Mir scheint, dass sich in diesem Fall der Musiker in Eisler nach vorne drängt, sich sozusagen über den politischen Intellektuellen hinwegsetzt, ohne diesen freilich völlig verdrängen zu können.
    Warum sonst sollte Eisler sonst auch zu Gedichten von Anakreon, Hölderlin, Mörike, Heine, ja sogar von Eichendorff gegriffen haben?
    Zwar interessiert ihn auch hier in erster Linie das Thema, weniger die sprachlich-lyrische Struktur. Er greift ja sogar ohne Bedenken in diese ein. Aber irgendwie müssen sie doch den Musiker in ihm angesprochen haben.


    Ich habe mich gefragt, warum er die erste Strophe von Eichendorffs "In der Fremde" ("Aus der Heimat hinter den Blitzen rot ...") vertont hat. Er hat das Lied mit dem Titel versehen "ERINNERUNG AN EICHENDORFF UND SCHUMANN".
    Der Verfasser des Beihefts zur CD "Hanns Eisler, Lieder und Songs" (Fischer-Dieskau/Aribert Reimann, Teldec) reiht dieses Lied unter "parodistische Liedformen" ein.
    Ich kann das nicht nachvollziehen. Dafür ist in diesem Lied viel zu viel Trauer zu hören.


    Über einer Art klopfenden Klavierakkorden bewegt sich die Gesangslinie wie in mühsamen Schritten von oben nach unten. Das klingt entfernt nach Schumann, nur stark durch das Zwölftonprinzip verfremdet.
    Schwerpunkt des Liedes ist eindeutig der letzte Vers: "Es kennt mich dort niemand (!) mehr". Der wird auch prompt wiederholt, wobei dann die melodische Linie ganz unvermittelt und völlig überraschend abbricht.


    Die Welt, die da zitiert wird, gibt es nicht mehr. Das Lied kann nicht zu Ende gesungen werden.
    Ich höre Schmerz und Trauer. Von Parodie hingegen überhaupt nichts!

  • Zitat

    Original von Helmut Hofmann
    Im Grunde sind es ja nur Robert Schumann und mehr noch Hugo Wolf, für die die literarische Qualität der Texte ein wesentliches Kriterium war. Und das hat natürlich seinen Grund.



    Richard Strauss hätte, von seinen musikalischen Leitbildern und Klangidealen her, gar nicht von dem Gedicht der Lasker-Schüler inspiriert werden können. Dazu ist es viel zu trocken.


    Sorry, aber das stimmt alles nicht. Brahms z.B. ist der wohl intelligenteste Wortauskoster überhaupt (so leicht gelingt der Rösslsprung von Schumann zu Wolf denn doch nicht).


    Das Lasker-Schüler-Gedicht ist alles andere als trocken.


    Zwischen Erde und Himmel ...
    dein Antlitz wärmt ...
    Von dir geht alles Blühen aus.
    Wenn du mich ansiehst,
    Wird mein Herz süß.
    Ich liege unter deinem Lächeln ...
    Hinzaubern und vergehen ...


    Ich finde hier eine Menge lyrischer Signale, die dem Jugendstil nicht so ferne stehen. Klimt ist auch anders als Vogler. Dein Strauss-Bild ist schief, und Deine Einschätzung seiner literarischen Kompetenz und Unbedarftheit unterschätzt Richard Strauss bei weitem.


    Brahms und Strauss haben sich, ganz im Gegenteil, nicht auf die kanonisierten Klassiker verlassen, sondern hochintelligent unterschiedlichste lyrische Stimmen ausgewählt und für ihre musikalischen Zwecke zu nutzen vermocht.


    Zitat HH: "Anders als etwa Richard Strauss, lässt er sich dabei nicht vom Stimmungsgehalt eines Gedichts musikalisch inspirieren, sondern nahezu ausschließlich von seinem Inhalt."


    Die Lanze für Eisler in Ehren, aber der Satz macht der These wenig Ehre.


    Es wäre belanglos, wovon ein Komponist sich inspirieren läßt, solange seine Kompositionen gültig sind. Daß aber eine Komposition eine lyrische Stimmung allererst erzeugt und darin den Textvorwurf, ihn sich aneignend, frei gestaltet, erhebt auch eine Liedfassung aus der Feder von Richard Strauss unendlich über so ein Dilettieren im Stimmungshaften, wie Du es beschreibst. Zuletzt nämlich sind das Stimmungshafte und der Gehalt im Gedicht ein und dasselbe, und man muß in der Tat zuvor den Lyrikbegriff eigens versachlichen, um die Kunst des Richard Strauss derart abzukanzeln, wie Du es tust.


    Ich ziehe, mit Novalis, die musicalischen Seelenverhältnisse vor - gestimmtseyn ohne bestimmt zu seyn


    :hello:

    Zerging in Dunst das heilge römsche Reich


    - uns bliebe gleich die heilge deutsche Kunst!

  • Farinelli fragt in seinem Beitrag zu Eichendorffs/Schumanns Mondnacht: "Oder was meint ihr?"
    Ich versuche zu meinen.


    Die Diskrepanz, bzw. die Akzentverschiebung, die farinelli zwischen dem Gedicht Eichendorffs und der Vertonung durch Schumann sieht, kann ich nicht erkennen.
    Ich glaube, da ist bei der Interpretation des Eichendorff-Gedichts, wie farinelli sie vorlegt, eine kleine, aber überaus wichtige Sache übersehen worden:
    Die beiden präteritalen Konjunktive in der ersten Strophe.


    Die Konjunktive gehören zu dem sprachlich strukturellen Grundmerkmal des Gedichts (siehe letzter Vers!). Es ist durchweg im Präteritum gehalten, und darin gründet seine innere sprachliche Einheit.
    Das lyrische Ich tritt explizit erst in der dritten Strophe in Erscheinung, es ist aber auch in der ersten und der zweiten gegenwärtig.


    Diese beiden Strophen bilden eine Einheit, und zwar deshalb, weil sie beide zu der Vision gehören, die beim lyrischen Ich durch das "Es war, als hätt´..." ausgelöst wird. Es ist die Vison einer scheinbaren(!) Einheit all dessen, was in der realen Welt an sich voneinander getrennt und aus der usprünglichen Einheit herausgerissen ist.
    Eine Unterscheidung der beiden Stropen, wie farinelli sie bei seiner Interpretation vorgenommen hat (falls ihn ihn da richtig verstanden habe), ist vom Text her nicht gedeckt.


    Hier rührt Eichendorff an das romantische Ur-Trauma:
    Die Erfahrung der Individuation, die das romantische Lebensgefühl in fundamentaler Weise prägte. Die ursprüngliche Einheit allen Lebens in einer allumfassenden Natur ist verlorengegangen und kann nur noch sehnsüchtig beschworen werden. Dies ist nach Auffassung der Romantiker die Aufgabe der Kunst.


    Diese Beschwörung geschieht in den beiden ersten Stropen, und zwar in Form von visionären Bildern, die allerdings - und das ist wichtig! - sprachlich unter dem Vorbehalt des Konjunktivs stehen.
    Die Seele des lyrischen Ichs partizipiert an dieser Vision einer universellen Einheit.
    Die leise Bewegung, die überall spürbar ist, - in der Luft, in den Ähren, in den Wäldern - , empfindet es als Anzeichen für den Vollzug dieser Einheit. Es ist ihm, als würde es einbezogen und fände auf diese Weise nach Hause, in die verlorengegangene Einheit der All-Natur.


    Schumanns Vertonung folgt dem "Geschehen" in diesem Gedicht in nahtloser Übereinstimmung.
    In der dritten Strophe liegt der Kern der lyrischen Aussage. Und es ist nur konsequent, dass die Vertonung ebenfalls in dieser dritten Strophe kulminiert. Das muss aber nicht eigens aufgezeigt werden.


    Wie gesagt: Ich kann nicht erkennen, dass zwischen Gedicht und Vertonung eine Diskrepanz bestünde. Ich sehe und höre nur eine faszinierend harmonische Einheit.


    Nachtrag:
    Es ist übrigens interessant, dass selbst ein so wortmächtiger Mensch wie Adorno einmal ein wenig resignativ festgestellt hat:
    "Von der Mondacht läßt so schwer sich reden, wie, nach Goethes Diktum, von allem, was eine große Wirkung getan hat."

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  • Lieber Helmut Hofmann,


    die Interpreationsgeschichte gibt Dir recht (ich habe ein wenig gestöbert); man erblickt im Wind, der durch die Felder weht, eine zarte Kronkretisierung der "Kuß"-Berührung von Himmel und Erde (ob nun konjunktivisch oder symbolisch).


    Ich persönlich wehre mich etwas gegen diese erotisierende Deutung der 2. Strophe.


    Mon cœur s'ouvre à ta voix,
    comme s'ouvrent les fleurs
    Aux baiser de l'aurore!
    (...)
    Ainsi qu'on voit des blés
    les épis onduler
    Sous la brise légère,
    Ainsi frémit mon coeur,



    kurz; in dieser Art hat Eichendorff das nicht formuliert. Sonst stünde da:


    Der Wind strich durch die Felder,
    Die Ähren bebten sacht,
    Es sträubten sich die Wälder usw.


    (ich übertreibe ein wenig). Ich bleibe dabei, für mich ist die seltsam zeremonielle Vertonung von Strophe 1 sehr passend angesichts der etwas verschämten Art von Kleinmädchenromantik ("still geküßt", "Blütenschimmer"); die 2. Strophe, die für mich den lyrischen Höhepunkt ausmacht, fügt sich nicht ganz so in dieses Schema ein (obwohl man in einer absteigenden Vorhalt-Mittelstimme sogar den durchgehenden Wind angedeutet sehen könnte).


    Die Art der Spannung, die in den Naturschilderungen der 2. Strophe aufgebaut wird, um sich im weitausschwingenden Seelenflug zu lösen, verhält sich spiegelverkehrt zur ersten Strophe (Himmel-Erde-träumen vs. Felder-Wälder-sternklare Nacht) - insofern könnte man Schumanns Vertonung recht geben. Der Duktus der Melodie aber, der gezeichnet ist durch Stocken, Innehalten, Zerdehnung, Versiegen (quasi eine "unanswered question" in mehrmaligem Anlauf formulierend) sticht für mich gegen den lyrischen Duktus der Verse ab, der ruhevoll ist und fließend, ohne Fragezeichen (selbst wenn man bloß flüstert).


    Schumann vertont gewiß kongenial ein zwischen den Zeilen liegendes ungreifbares Geschehen (z.B. die tieflotende Baßführung im jeweils 2. und 4. Vers). Die völlige Kongruenz von Symbolik und Naturhaftigkeit der 2. Strophe bei Eichenorff erreicht er m.E. nicht ganz.


    Das sind aber wahrscheinlich bloß Spitzfindigkeiten, für die ich mich hier vorab in aller Form entschuldigen möchte.


    :hello:

    Zerging in Dunst das heilge römsche Reich


    - uns bliebe gleich die heilge deutsche Kunst!

  • Ein gesungenes Lied einfach nur schön zu empfinden, ganz schlicht nur schön zu empfinden - das hat auch was...

  • Ich höre in Deiner kurzen Feststellung einen Unterton von Klage (oder sogar leichtem Aufstöhnen?), lieber hart, und verpüre ein schlechtes Gewissen.
    Deshalb werde ich jetzt eine ziemlich alte Schallplatte auflegen:
    Hans Pfitzner, Eichendorff-Lieder, gesungen von Wolfgang Anheisser, am Flügel Julius Severin, (cornet, erste vollständige Aufnahme), - und nichts anderes tun als hören und genießen.
    Neugierig bin ich, denn ich habe völlig vergessen, wie die klingt.

  • Das Strophenlied und seine Derivate waren ja vor allem eine Domäne Franz Schuberts, und es ist für den Hörer immer wieder verblüffend, wie gut sich die musikalischen Symmetrien den formalen Anforderungen des Gedichts und den wechselnden Inhalten der Verse anpassen.


    Für mich eine ganz großartige Vertonung schuf er für Heines "Am Meer". Die beiden Strophenabschnitte


    Der Nebel stieg, das Wasser schwoll,
    Die Möwe flog hin und wieder


    bzw.


    Seit jener Stunde verzehrt sich mein Leib,
    Die Seele stirbt vor Sehnen


    sind gewiß bereits im Gedicht aufeinander bezogen (Aufruhr der Elemente/ Ansturm der Gefühle). Aber beim bloßen Lesen dürfte das von Heine skizzierte Naturbild kaum annähernd jene imaginative Wirkung entfalten, die Schubert durch sein Tongemälde erreicht, die crsecendierenden Tremoli, die expressive Gesangslinie, die pathetische Fatalität, mit der die Möwe ziellos umherschweift.


    In der Wiederholung aber erweist sich das bereits gehörte musikalische Material als ebenso tragfähig für den Beginn der Schlußstrophe, und man hat nicht den Eindruck der Wiederholung, sondern vielmehr ereignet sich die gleiche Musik abermals wie von neuem; in den veränderten und gesteigerten textlichen Bezügen wirkt nun das Pathos der Musik selbst gesteigert (eine Art imaginativer enharmonischer Effekt).


    Erst nachträglich erweist sich die Großeinstellung auf die Möwe am grauen Himmel als Symbol für die unstillbare Sehnsucht; Schuberts Musik aber ist auf knappsten Raum der Tiefe des Gedichts, den Bezügen von Innen und Außen sowie der Natur und Atmosphäre der Schauplätze nichts schuldig geblieben.


    Für mich ein kleines Wunder.


    :hello:

    Zerging in Dunst das heilge römsche Reich


    - uns bliebe gleich die heilge deutsche Kunst!

  • Zunächst eine Entschuldigung. Ich habe, nachdem ich diesen Beitrag schon geschrieben hatte, festgestellt, dass ich in den falschen Thread geraten war. Ich weiß leider nicht, wie ich meinen Text rüber in den richtigen bringen kann.


    Ich dachte, schlimmer als die "Mondnacht" mit Kammermusikbegleitung, worüber ich mich so erregt hatte, könne es nicht kommen. Irrtum!
    Zwei Tage später (am 24. Mai) sangen bei den Schwetzinger Festspielen Christoph Prégardien und sein Sohn Julian, begleitet von Michael Gees Schuberts "Der Zwerg" und "Erlkönig" im Duett.
    Ich war fassungslos!


    Bis zu diesem Knüller wurde bei den vorausgegangenen Liedern (Mozart, Beethoven, Schubert) hemmungslos auf Effekt hin gesungen. Michael Gees spielte den Klavierpart so exzessiv auf Wirkung aus, dass manchmal bestimmte Klangfiguren über Gebühr laut in den Vordergrund traten, Tempi verzögert wurden, Schlüsse in die Länge gezogen und so fort.
    Das konnte man noch als schlechten Glenn Gould durchgehen lassen, obwohl es manchmal schon ziemlich komisch wirkte, wenn man sich beim Musensohn gute zehn Sekunden lang am Busen endlich wieder ausruhte.
    Bei "Der Einsame" wurde der Seelenschmerz so exzessiv ausgekostet, dass an einer Stelle das Publikum in leises Gelächter ausbrach.


    Und da dämmerte es mir.
    Das konnte alles gar nicht ernst gemeint sein. Das war eine Juxveranstaltung.
    Da ich das trotzdem gar nicht glauben mochte, spielte ich die Aufnahme, die ich von der Übertragung dieses "Liederabends" in SWR II gemacht hatte, meiner Frau vor.
    Schon beim "Zwerg", zweistimmig vorgetragen, trat ein ungläubiges Staunen in ihr Gesicht und ich sah, wie sie mit dem Lachen kämpfte.
    Beim Erkönig platzte sie heraus. Das erinnere sie fatal an gemeinsames zweistimmiges Singen bei einer Busfahrt. Schön mit der Terz oben drüber. Nein, das könne nicht ernst gemeint sein, das sei eine Veralberung des "Erlkönigs" wie man das ja kenne.
    Ich müsse doch die Verse Schumanns kennen: "Was raspelt es dort in den Spänen / Vater, mir ist so schwül... Sey ruhig, mein Kind, in den Spänen/ Naget wohl eine Maus..."


    Ich kann das alles nicht begreifen.
    Christop Prégardien sang den Vater im "Erlkönig", Julian den Sohn, und wenn der Erlkönig selbst auftrat, sagen sie beide, Julian in Flötentönen zwischen Terz und Quinte über dem Vater. Derweilen ließ Michael Gees in den Klavierbässen ein Donnergrollen hören und dann wieder eine Art Zirpen in den Höhenlagen seines Flügels, dass man seinen Ohren nicht trauen wollte.


    Wo, um Himmels willen, sind wir gelandet?
    Wenn das alles ernst gemeint sein sollte, dann wirkte es unfreiwillig komisch.
    Wenn es nicht ernst gemeint war, dann wäre es doch besser, wenn man gleich in den Zirkus ginge oder in eine Kabarett-Veranstaltung. Die Profis dort können Komik besser!


    Anmerkung:
    Mir ist die These bekannt, die dahinter steht, lautend: "Wir verwalten kein musikalisches Museum."
    Hier ist die Frage zu stellen, ob die Gleichsetzung der musikalischen Überlieferung mit einem Museum nicht auf einem gewaltigen Missverständnis beruhen könnte.

  • Lieber Helmut Hofmann,
    frei nach Goethe kann ich sagen, ich bin dabei gewesen... erste Reihe rechts...


    Leider habe ich jedoch die Rundfunkübertragung nicht gehört, vielleicht wurde dort die Ansage von Michael Gees weggelassen, dass man auch etwas ungewohnte Interpretationen der Stücke zu Gehör bringen werde.
    Vor einigen Jahren wurde auch die Ansage von Thomas Quasthoff, "jetzt geht die Post ab", nicht gesendet...


    Der erste Absatz der Zeitungskritik sei hier zitiert:
    "Es gibt Momente, in denen große Bewunderung in seltsame Verwunderung umschlägt. Wenn Christoph Prégardien, ein Sänger, der immer mehr ins Format von Fischer-Dieskau hineinschlüpft, und der junge Julian Prégardien, ambitionierter Nachwuchstenor mit schon beachtenswerter Karriere, als letzte Zugabe "Weißt du, wie viel Sternlein stehen" in hübsch angerichteter Duettfassung zum Besten geben, dann bleibt Irritation. Da fehlt nur noch "O sole mio", doch dafür wurden ja bekanntlich drei Tenöre verbraucht.
    Aber frei nach Shakespeare: Erlaubt ist, was gefällt, und das Publikum war überwiegend enthusiastisch, gerade bei diesem so schönen Abendlied, das der angenehmen Witterung kurz vor Vollmond angemessen war."


    Aber es heißt auch weiter:
    "Nun denn, von dieser eher geschmäcklerischen Anmerkung abgesehen, war es ein Liederabend mit stellenweise exemplarischen Aspekten. Vor allem dann, wenn Christoph Prégardien seine meisterliche Stimmkultur, eher ins baritonale Timbre changierend, dem deutschen Kunstlied zur Verfügung stellt."


    Schon immer hatte ich klar zum Ausdruck gebracht, dass es die Stimmkultur ist, die ich so sehr schätze.
    So gesehen, war das ein ein sehr hörenswerter Abend - mit Irritationen, was soll´s, sie waren ja angesagt und wurden von Könnern ihres Fachs dargeboten.
    Nach meinem ganz persönlichen Geschmack ist mir "Der Zwerg" und "Erlkönig" in der bisher gewohnten Darbietung auch lieber.
    Was nach dem offiziellen Programm geschieht, ist oft von der allgemeinen Stimmung abhängig und wird eigentlich nie auf die Goldwaage gelegt.


    Unmittelbar nach dem Konzert habe ich unter dem 26.05.2010 hier im Forum:
    Christoph Prégardien - Die berühmte Stimme - Sängerportrait, einen kurzen persönlichen Eindruck gepostet.

  • Gut, dass Du dabeigewesen bist, lieber hart. Ich wäre es auch gerne, aber es ging nicht.
    Das wird jetzt auf Verwunderung stoßen, nach dem, was ich hier an Schimpfkanonade von mir gegeben habe. Wahrscheinlich wäre ich spätestens beim Erlkönig rausgelaufen, - das wäre aber ein gewaltiger Fehler gewesen.
    Denn:
    Die "Feldeinsamkeit" von Brahms, die dann später kam, habe ich noch nie so "ans Herz gehend" gehört.


    Prégardien ist ein großartiger Liedinterpret und- sänger. Es ist ohne jede Einschränkung angebracht, bei ihm von "hoher Stimmkultur" zu spechen.
    Aber anlässlich dieser beiden Abende in Schwetzingen ist mir ein grundsätzliches Problem bewusst geworden.
    Muss noch drüber nachdenken. Aber nicht in diesem Thread, denn ich wäre damit hier fehl am Platz.

  • Zitat

    Original von hart
    Ein gesungenes Lied einfach nur schön zu empfinden, ganz schlicht nur schön zu empfinden - das hat auch was...


    Herrlich, oh Hart, beim Zeus, und sehr annehmlich hast Du gesprochen.


    Und ich will Dir beantworten, was das Schöne ist, und Du sollst gewiß nichts dagegen haben: Wisse nämlich, wenn ich es Dir recht sagen soll, schlichtweg schön ist ein schönes Mädchen.


    (frei nach Hippias mj. 287e)


    :hello:

    Zerging in Dunst das heilge römsche Reich


    - uns bliebe gleich die heilge deutsche Kunst!

  • Darf ich den Denkvorgang begleiten? Ich tu es einfach einmal...


    Beim Aufräumen habe ich gerade das April-Heft CONCERTI - DAS BERLINER MUSIKLEBEN in die Hände bekommen. In dieser Broschüre ist u.a. auch ein Beitrag:


    "Schumanns Fassung der Bachschen Johannes-Passion"


    Da ist u.a. folgendes zu lesen:
    "Wie im 19. Jahrhundert üblich verwendete er für die Begleitung der Rezitative statt eines Cembalos ein Klavier. Barockinstrumente wie die Oboe da caccia und die Viola da gamba wurden durch Klarinetten und Bratschen ersetzt.
    Auch die Bassocontinuo-Gruppe wurde mit Klarinetten aufgefüllt, die zu Bachs Zeit noch unbekannt waren."


    Das war also die Situation am 13. April 1851 - panta rhei


    Gleich mit jedem Regengusse
    Ändert sich dein holdes Tal,
    Ach, und in dem selben Flusse
    Schwimmst du nicht zum zweitenmal.

  • Warum fühlt sich ein Komponist zu einem bestimmten lyrischen Text hingezogen und macht ein Lied daraus, während er einen anderen ignoriert?


    Diese Frage hat mich immer schon interessiert.
    Meistens findet man keine hinreichende Antwort darauf. Im Falle Schumann - Heine ist das freilich anders, hier kann man sogar gleich mehrere Gründe erkennen.
    Zum einen musste Schumanns Begeisterung für Jean Paul ihn mit einer gewissen Zwangsläufigkeit zu Heine führen, denn die Dichter des "Jungen Deutschland" sahen in Jean Paul ihr großes Vorbild.
    Es gibt aber auch, so glaube ich, eine tiefe innere Verwandtschaft zwischen der Lyrik Heines und den frühen Klavierkompositionen Schumanns: Beide sind geprägt von tiefreichenden inneren Rissen, Brüchen und Spannungen.
    Der französische Philosoph Roland Barthes sah in der "Kreisleriana" sogar ein Beispiel für die von ihm vertretene Theorie der Dekomposition, und sein Landsmann Beaufils war der Meinung, das literarische Motiv des Karnevals habe Schumanns Klavierschaffen ganz entscheidend beeinflusst.


    Eine alte und oft wiederholte These lautet: Schumann sei es nicht gelungen, die Heinesche Ironie in seinen Heine-Vertonungen kompositorisch voll zu berücksichtigen und musikalisch darzustellen.
    Diese These gilt heute als widerlegt.


    Ein schönes Beispiel, an dem man zeigen kann, wie Schumann kompositorisch mit Heines Lyrik umging, ist das Lied ALLNÄCHTLICH IM TRAUME aus der "Dichterliebe".
    In Heines Sammlung folgt es auf "Ich hab im Traum geweinet", und Schumann hat diese Reihenfolge aus gutem Grund beibehalten. Kann man dieses Gedicht, wie so oft bei Heine, als lyrischen Ausdruck eines nicht durch Ironie gebrochenen Gefühls lesen, so gilt das für "Allnächtlich im Traume" nicht mehr.
    Hier sind die Heineschen "Effekte" voll vertreten, vor allem jener, den der italienische Literaturwissenschaftler Alberto Destro als "attesa contradetta" bezeichnet hat: Eine vom Autor bewusst zerbrochene Erwartungshaltung des Lesers.
    Das passiert in diesem Gedicht in jeder der drei Strophen, jeweils nach den ersten beiden Versen. Da wird der Leser unerwartet mit "süßen Füßen", "Perlentränentröpfchen" und der lapidaren Feststellung konfrontiert: "Und´s Wort hab ich vergessen".


    Und was macht Schumann mit diesem Sachverhalt, den man als "sentimental-maliziös-ironische Struktur" bezeichnet hat?
    Er komponiert eine ihr voll entsprechende musikalische Struktur, die in der Lage ist, eine Symbiose mit ihr einzugehen. In beiden Liedern wird die Singstimme durch Pausen zerklüftet, im ersten Lied sogar vom Klavier alleine gelassen und nur phasenweise mit Stakkatoakkorden unterstützt.
    Bei "Allnächtlich im Traume" werden jeweils die beiden Anfangsverse der Strophen auf acht Takte verteilt, die beiden letzten aber nur auf drei. Das bringt diese lapidare Kürze in die melodische Linie, die ganz genau dem desillusionierenden Effelt der lyrischen Sprache entspricht.
    Der Bruch zwischen den jeweiligen Strophenhälften wird noch dadurch verstärkt, dass Schumann vom 2/4- ind den 3/4-Takt überwechselt. Die Tatsache, dass beim letzten Vers der beiden ersten Strophen die Singstimme in ganz tiefe Lagen hinabsteigt, verstärkt den ironischen Effekt, den Heine haben wollte.


    Die dritte Strophe legt Schumann ganz bewusst anders an. Weil er den Heine-Effekt des Schlussverses auch in musikalische Struktur umsetzen wollte, verzichtet er jetzt auf den Taktwechsel, lässt die Singstimme langsam ansteigen, um dann den Schlussvers in schnellen Sechzehnteln enden zu lassen. Die Singstimme verharrt auf einem dissonanten Akkord im Klavier, der sich erst danach auflöst.


    Das alles ist, wie ich finde, ein glänzender Beleg dafür, wie bewusst und genial Schumann als Komponist mit der spezifischen sprachlichen Struktur der Lyrik Heines umzugehen verstand.

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