Das Liedwerk von Richard Strauss weist eine große Bandbreite auf. Ein Thread wie dieser sollte dies bewusst machen und sich nicht auf die Vorstellung jener Liedern beschränken, die man ohnehin kennt und mit dem Namen Strauss verbindet.
Insbesondere scheint mir die liedkompositorische Haltung von Richard Strauss ein Aspekt zu sein, der noch größere Aufmerksamkeit verdient. Um das, was ich in meinen Beiträgen hierzu ausführte (Beiträge Nr.39 und 42), ein wenig zu konkretisieren, möchte ich kurz auf eine der Dehmel-Vertonungen eingehen, die ich oben erwähnte. Es handelt sich um das Lied „Der Arbeitsmann“, op.39, Nr.3.
Strauss vertont diese Verse Richard Dehmels keineswegs in einem agitatorisch-propagandistischen Grundton. Er lässt sich ganz von der lyrischen Aussage der einzelnen Verse leiten. Gleichwohl wird aber dieses Lied aus einer musikalischen Grundidee kompositorisch entwickelt, die mit der Klaviereinleitung wie eine Art musikalisches Programm vorgegeben ist. Auch hier gibt es also wieder diesen Primat des Musikalischen, der für Straussens Liedkomposition so typisch ist.
Wir haben ein Bett, wir haben ein Kind, mein Weib!
Wir haben auch Arbeit, und gar zu zweit,
und haben die Sonne und Regen und Wind,
uns fehlt nur eine Kleinigkeit,
um so frei zu sein, wie die Vögel sind:
Nur Zeit.
Wenn wir sonntags durch die Felder gehn, mein Kind,
und über den Ähren weit und breit
das blaue Schwalbenvolk blitzen sehn,
oh, dann fehlt uns nicht das bißchen Kleid,
um so schön zu sein, wie die Vögel sind:
Nur Zeit.
Nur Zeit! Wir wittern Gewitterwind, wir Volk.
Nur eine kleine Ewigkeit;
Uns fehlt ja nichts, mein Weib, mein Kind,
als all das, was durch uns gedeiht,
um so froh zu sein, wie die Vögel sind:
Nur Zeit.
Das Lied wird in seinem klanglichen Charakter ganz durch die Klaviereinleitung geprägt: Ein schwerer Vierviertel-Rhythmus, ein Harmoniewechsel von f-Moll nach ges-Moll und eine rollende Bassfigur von C hin zur verminderten Quinte Ges. Das wirkt finster, ja eigentlich trostlos!
Die Singstimme setzt schwer deklamierend ein: Vier mal auf einem „f“ mit einem kleinen Sekundschritt hin zu „ges“. Und dann das Ganze noch einmal, dann aber mit einem Sprung nach „a“ hin. Bei „Weib“ landet dann die melodische Linie auf einem hohen „d“. Schrill klingt das, und das wiederholt sich bei den Worten „zu zweit“.
Wenn es um „Sonne und Regen und Wind“ geht, kommt für wenige Takte ein lyrischer Ton ins Lied. Aber der wird vom Klavier mit ironischen Trillern kommentiert. Er mündet in das auf einer Quart deklamierte „Nur Zeit“. Und als genügte dieser Bruch in der melodischen Linie der Singstimme noch nicht, werden diese beiden Worte noch einmal auf einem fallenden Tritonus wiederholt. Melodisch und harmonisch ein Schock!
Lyrischer Ton kling noch einmal auf, und zwar bei den ersten Versen der zweiten Strophe: Es geht um Felder, Ähren weit und Schwalbenvolk. Aber auch hier bricht wieder dieser melodische Schock in den lyrischen ein: Der fallende Tritonus auf „Nur Zeit“.
Dramatisch wird es dann bei dem lyrischen Bild vom „Gewittersturm“. Chromatik fällt mit Macht in das Lied ein. Die Verse „uns fehlt ja nichts…“ werden in expressiver Form auf hoher Stimmlage deklamiert. Beim letzten „Nur Zeit“ schwingt sich die Singstimme zu strahlenden Höhen auf. Das Klaviernachspiel greift diesen hohen Ton in triumphierendem Gestus auf und verklingt dann.
Ist das eine musikalische Zukunftsvision? Auf jeden Fall ist es aber ein großartiges Lied. Und solche Lieder konnte Strauss auch komponieren, - nicht nur "Morgen!", "Befreit", "Heimliche Aufforderung" usw. usw.