KIENZL, Wilhelm: DER EVANGELIMANN

  • Wilhelm Kienzl (1857-1941):

    DER EVANGELIMANN
    Musikalisches Schauspiel in zwei Akten nach einer Erzählung
    aus Leopold Florian Meißners „Papieren eines Polizeikommisärs“


    Uraufführung am 4. Mai 1895 in Berlin


    DIE PERSONEN DER HANDLUNG


    Friedrich Engel, Pfleger im Kloster St. Othmar (Baß)
    Martha, sein Mündel und seine Nichte (Sopran)
    Magdalena, ihre Freundin (Alt)
    Johannes Freudhofer, Schullehrer zu St. Othmar (Bariton)
    Mathias Freudhofer, sein jüngerer Bruder, Amtsschreiber im Kloster (Tenor)
    Xaver Zitterbart, Schneider (Tenor)
    Anton Schnappauf, Büchsenmacher (Bariton)
    Friedrich Aibler, ein älterer Bürger (Bariton)
    Seine Frau (Mezzosopran)
    Frau Huber (Sopran)
    Hans, ein jüngerer Bauernbursche (Tenor)
    Die Stimme des Kegelbuben (Sopran)
    Die Stimme des Nachtwächters (Baß)
    Eine Lumpensammlerin (Mezzosopran)
    Ein Knabe (Sopran)
    Sechs Knechte (vier Tenöre, zwei Bässe)
    Der Abt, Ein alter Leierkastenmann (stumme Rollen)
    Benediktiner, Bürger, Bauern, Kinder


    Ort und Zeit der Handlung: Benediktinerkloster St. Othmar in Niederösterreich um 1820, und Wien um 1850.


    INHALTSANGABE


    ERSTER AKT
    Das Benediktinerkloster St. Othmar.


    Nach der kurzen Ouvertüre ist bei geschlossenem Vorhang aus der Klosterkirche das „Ad te suspiramus“ zu hören; es folgt ein ebenso kurzes Orchesterzwischenspiel, wonach dann bei geöffnetem Vorhang das „Salve regina“ folgt.


    Der Nachmittagsgottesdienst in St. Othmar ist beendet und die Gläubigen stehen in Gruppen vor der Kirche, darunter auch Martha und Mathias. Die beiden jungen Leute sind ineinander verliebt und hoffen auf die Zustimmung von Marthas Onkel, der auch ihr Vormund ist, zur erwünschten Heirat. Johannes, der Bruder von Mathias, ist ebenfalls in Martha verliebt, hat aber keine Chance bei ihr. Er steht etwas abseits und beobachtet neidisch das geheime Einverständnis von Martha und Mathias.


    Nachdem sein Bruder und Martha verschwunden sind, geht Johannes auf den Pfleger (Justiziär) von St. Othmar, Friedrich Engel, zu und klärt ihn über die seiner Meinung nach unzumutbare Beziehung seines Bruders zur Nichte des Pflegers auf. Die Information entfaltet sofort die beabsichtigte Wirkung: Engel wird wütend und er weist Johannes mit einer unwirschen Handbewegung hinweg.


    Als Mathias mit Martha zurückkommen, stellt Engel die beiden zur Rede; obwohl Mathias seine grundehrlichen Absichten beteuert und Martha ihrem Liebsten mutig zur Seite tritt, spricht Engel seinem Amtsschreiber die sofortige Kündigung aus und jagt ihn davon. Dann begibt er sich, zufrieden mit sich selbst, in sein Haus.


    Johannes hat aus sicherer Entfernung das Geschehen beobachtet und geht auf die völlig verzweifelt zurückgebliebene Martha zu. Seine Avancen weist Martha entrüstet zurück und geht dann eilig davon. Johannes, ihr nachsehend, schwört Rache.


    Es ist dunkel geworden und die bisher in Unterhaltung vertieft gewesenen Bürger begeben sich in die Klostergaststätte. Mathias, der unerkannt beiseite gestanden hat und jetzt auf die Szene zurückkommt, bittet Marthas Freundin Magdalena, sie möge Martha bestellen, daß sie eine Stunde vor Mitternacht in die Laube beim Wirtshaus kommen solle. Magdalena sagt ihre Hilfe zu.


    Verwandlung: Kegelbahn der Klostergaststätte.


    Hier wird in die Handlung eine komische Kontrastszene eingebaut: Der Büchsenmacher Schnappauf schlägt vor, eine Kegelpartie zu spielen. Friedrich Aibler lehnt das ab, weil es ihm zu heiß ist, der Bauernbursche Hans und Schneider Zitterbart sind jedoch dafür. Mathias, der hinzugeschlichen ist, bittet Marthas Freundin Magdalena, Martha einen Termin für ein Stelldichein „eine Stunde vor Mitternacht an der Laube“ zu übermitteln, damit er sich von ihr verabschieden könne. Magdalena sagt zu, ihrer Freundin den Wunsch von Mathias weiterzugeben.


    Es beginnt die Kegelpartie und Zitterbart wirft mehrere Pudel, worauf er von allen Zuschauern verspottet wird. Schließlich gelingt dem Schneider tatsächlich der Wurf „Alle Neune“ und in einem großen Walzerensemble wird der glückliche Kegler von allen als der „große Kegeltod“ gefeiert. Inzwischen ist es vollständig dunkel geworden und alle Bürger verlassen die Szene.


    Nach einem Orchesterzwischenspiel, das vom Komponisten mit „Notturno“ bezeichnet wurde, schleicht sich Johann heran und versteckt sich. Der Nachtwächter betritt die Szene, singt sein Lied und warnt dabei vor „Feuer und Licht“.


    Verwandlung: Eine Laube bei der Klostergaststätte.


    Martha und Mathias kommen kurz nacheinander von verschiedenen Seiten zur Laube. Sie wollen Abschied nehmen und sich noch einmal das Gelöbnis ewiger Treue geben. Mathias verspricht, daß er zurückkommen werde, wenn er es zu Geld und Ansehen gebracht habe. Dann gehen sie beide ab. Johannes, der die beiden beobachtet und belauscht hat, stürmt davon.


    Kurze Zeit später steigt vom Klosterhof her dicker Rauch auf; der Nachtwächter bläst daraufhin seinen Feueralarm. Zu den herbeilaufenden Menschen, die sich an den Löscharbeiten beteiligen wollen, kommt auch Mathias; er wird von den Bürgern als Brandstifter bezichtigt. Der hinzugekommene Friedrich Engels läßt, trotz aller gegenteiligen Beteuerungen von Mathias, diesen sofort festnehmen. Für ihn steht einwandfrei fest, daß der gewesene Amtsschreiber aus Rache gahndelt hat.


    ZWEITER AKT
    30 Jahre später in Wien.


    Magdalena ist die Pflegerin des schwerkranken Johannes geworden. Sie sitzt in einem Hof auf einer Bank und denkt mit Wehmut an ihre schöne Jugendzeit. Spielende Kinder, Leierkastenklänge und der „Hadern“ruf der Lumpensammlerin zeichnen dabei ein Wiener Hofidyll. Für Magdalena steht fest, daß Mathias, von dem sie seit Jahren keinerlei Nachricht hat, an dem damaligen Unglück schuldlos ist.


    In diesem Moment tritt ein Evangelimann, ein Erzähler von Bibelgeschichten gegen Almosen, auf die Szene: Es ist Mathias, inzwischen sehr gealtert. Die Kinder sind ganz still geworden und lauschen dem „Selig sind, die Verfolgung leiden“; später versuchen sie, das Lied nachzusingen und machen dabei einige Fehler, die der Evangelimann korrigiert. Als der Mann Magdalena um ein Glas Wasser bittet, erkennt sie in ihm sofort Mathias wieder. Mathias erzählt seiner Jugendfreundin die Geschichte seiner Leiden, eine schuldlos erlittene zwanzigjährige Kerkerhaft und die völlig veränderte Welt, die er nach dieser langen Zeit vorgefunden hat. Er berichtet, daß er Bettler wurde, weil er als Brandstifter keine Arbeit gefunden habe. Er weiß auch von Marthas verzweifeltem Selbstmord in der Donau und leidet auch noch immer unter dem Schein der Schuld. Magdalena bittet ihn, in den kommenden Tagen noch einmal wiederzukommen, um dem Schwerkranken im Hause durch sein Lied Trost zu geben. Daß dieser Kranke sein Bruder Johannes ist, sagt sie ihm allerdings nicht.


    Verwandlung: Krankenzimmer im Hause von Johannes.


    Einen Tag nach den Ereignissen liegt Johannes schlafend in seinem Bett. Von Schmerzen gepeinigt wacht er plötzlich auf. „Noch immer will die Qual nicht enden“ - so beginnt sein Monolog, in dem er mit Gott hadert und in dem er fragt, was die körperlichen Schmerzen gegen die Qualen des Gewissens sind. Er ist entschlossen, sein finsteres Geheimnis mit ins Grab zu nehmen, wenngleich er einsieht, gegen seinen Bruder falsch gehandelt zu haben. Aber, so wird am Ende seines Monologs deutlich, sein Glaube an Gott, an eine höhere Gerechtigkeit, ist ihm abhanden gekommen.


    Vom Hof her ist die Stimme des Evangelimanns zu hören: „Herr, erbarme dich meiner!“ Johannes bittet die sich sträubende Magdalena den frommen Mann heraufzuholen. Nach einem kurzen Orchesterzwischenspiel betritt Mathias das Krankenzimmer und Johannes faßt Vertrauen zu dem Sänger. Er bittet ihn, sich seine Geschichte anzuhören: Da ist nicht nur die Untat der Brandstiftung, da ist auch seine Schuld am Selbstmord von Martha, weil er durch sein Handeln ihr Glück zerstört hat. Mathias gibt sich zu erkennen und will seinen Bruder verzeihend umarmen, aber Johannes weist ihn zurück, mit der Bemerkung, er sei nicht wert Bruder genannt zu werden. Diese ablehnende Haltung verursacht bei Mathias einen inneren Kampf: Soll ich verzeihen? Soll ich vergeben? Eingedenk der Worte Jesu in der Bergpredigt ist Mathias jedoch entschlossen, seinem sterbenden Bruder zu vergeben. Als Johannes um Vergebung fleht, sagt Mathias: „Johannes, ich vergebe Dir!“ Mit einem Wort des Dankes stirbt Johannes; Magdalena murmelt ein Gebet und vom Hof her hört man die Kinder singen: „Selig sind, die Verfolgung leiden, um der Gerechtigkeit willen, denn ihrer ist das Himmelreich.“


    INFORMATIONEN ZUM WERK


    Hinsichtlich des Lebensweges von Wilhelm Kienzl sei der interessierte Opernfreund nicht nur auf die Inhaltsangabe zu Kienzls Oper DER KUHREIGEN verwiesen, sondern auch auf den Thread von Harald Kral Die Lebenswanderung des Wilhelm Kienzl.


    War Kienzls „Evangelimann“ nach seiner Uraufführung bis in die vierziger Jahre des 20. Jahrhunderts eine der erfolgreichsten volkstümlichen Opern, ist es nach 1945 um dieses Werk recht still geworden. Wo man aber eine Wiederbelebung versucht hat, gab es durchaus freundliche bis enthusiastische Zustimmung.


    Die Kritik richtet sich, damals wie heute, an Kienzls „Wagner-Epigonentum“, und es wäre falsch, diesen Teil von Kienzls musikalischem Stil leugnen zu wollen. Bezüglich des hier vorgestellten „Musikalischen Schauspiels“ sind aber ebenso italienische Verismus-Einflüsse, deutsch-biedermeierliche Töne im Stile Lortzings und sogar Szenen des Wiener Volksstücks, das ja manchmal zur Sentimentalität neigt, auszumachen. Arthur Scherle schrieb 1981:


    In musikalischer Hinsicht ist „Der Evangelimann“ die erste Oper, in dem Kienzl Abstand zu seinem Bildungserlebnis, dem gewaltigen Koloß von Wagners Musikdrama, gewonnen hat. Von gewissen Tristan-Anklängen abgesehen, geht er (…) kaum über „Tannhäuser“ hinaus. Wagner-Remioniszenzen findet man z. B. in Liebesduett (…) an Schluß des ersten Aktes (…) sowie im großen Monolog des ersten Bildes im zweiten Akt (…).


    Das Libretto zu „Der Evangelimann“ schrieb der Komponist selbst - nach den „Papieren eines Polizeikommissärs“ von Dr. Leopold Florian Meißner, einem ehemaligen Polizeibeamten, der die „wahre Begebenheit“ in einem Reclam Bändchen mitgeteilt hatte. Abgespielt hatte sich das Geschehen im Benediktinerstift Göttweig, für die Opernhandlung verlegte es Kienzl in das Kloster St. Othmar. Für das Sujet ließ Kienzl den Plan einer „Münchhausen“-Oper fallen; der musikalische Part entstand innerhalb kürzester Zeit, hauptsächlich im oberösterreichischen Vöcklabruck und in Graz.


    Nachdem Kienzl dem Berliner Generalintendanten Graf Hochberg und Hofkapellmeister Karl Muck Teile des Werkes vorgespielt hatte, sicherten die sich sofort die Uraufführungsrechte und die Premiere am 4. Mai 1895 war ein sensationeller Erfolg. Die Oper kam in den folgenden Jahren in allen Theatern des deutschsprachigen Raumes auf den Spielplan und wurde in dreizehn Sprachen übersetzt. Nicht nur die großen Dirigenten Felix Mottl, Gustav Mahler, Franz Schalk und Richard Strauß, um nur einige zu nennen, haben sich immer wieder für Kienzls Oper eingesetzt, auch für Tenöre ist die Rolle des „Evangelimann“ eine dankbare Partie.


    Der Komponist erklärte sich den Erfolg seines Werkes aus der ethischen Grundhaltung des Librettos: Die Handlung sei „(…) weder katholisch noch protestantisch, sondern ethisch.“
    Diese Meinung muß man nicht unbedingt teilen, eher ließe sich argumentieren, Kienzl habe einen effektvollen Text mit einer einfallsreichen und die Handlung genau erfassenden Musik versehen.


    © Manfred Rückert für TAMINO-Opernführer 2010
    unter Hinzuziehung von
    Reclam Opernführer 1951
    Libretto der EMI-Einspielung von 1981

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    MUSIKWANDERER

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  • Eine hörenswerte GA erschien beim Label EMI:



    Einen Querschnitt durch das musikalische Geschehen bietet die Einspielung der deutschen Grammophon Gesellschaft:



    Eine DVD von dieser Oper (Label Capriccio) bietet amazon (mit Walter Fink, Alexandra Reinprecht, Janina Baechle, Wolfgang Koch, Jürgen Müller, Wolfgang Gratschmaier, Josef Luftensteiner, Daniel Behle, Josef Forstner, Sulie Girardi, Lidia Peski und Markus Raab; Kinderchor, Komparserie und Kinderkomparserie der Volksoper Wien; Bühnenorchester der Wiener Staatsoper, Chor und Orchester der Volksoper Wien; Leitung Walter Eschwé):


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    MUSIKWANDERER

  • Habe verschiedene Aufnahmen schon gehört. Die für mich mit Abstand beste Interpretation als Evangelimann " Sandor KONYA ". Einmalig herrlich seine warme, gefühlvolle Stimme wenn er mit dem Kinderchor singt " Selig sind die Verfolgung leiden ".
    Mich würde dazu sehr die Meinung anderer Forumianer interessieren.
    CHRISSY


    Jegliches hat seine Zeit...

  • Wir haben über dieses Thema schon ausfühlich diskutiert - das ist garnicht so lange her - leider sind die gesamten Beiträge dank mangelnder Datensicherung verlorengegangen.
    Einen Beitrag habe ich zwar rekonstruiert, hatte keine Lust, alleine alles nochmal zu schreiben. Wenn aber noch mehr mitmachen würden....


    Die Lebenswanderung des Wilhelm Kienzl


    LG


    :(

    Harald


    Freundschaft schließt man nicht, einen Freund erkennt man.
    (Vinícius de Moraes)