Kindertotenlieder

  • Mahler hat die Kindertotenlieder für eine Alt- oder Baritonstimme geschrieben, sie sind 1905 veröffentlicht worden. Der Ursprung des Textes führt auf Friedrich Rückert zurück, der die Texte nach dem Tode seiner Kinder schrieb. Sie geben dem Selbsterlebten tiefen Schmerz wieder. Mahler, der dieses Erlebnis zuvor nie hatte sagte dazu: "Ich habe mich in die Lage versetzt, mir wäre ein Kind gestorben". Diese Aussprache lässt auf eine fast unvorstellbare Leidensbereitschaft schließen, wenn man nicht an eine Vorahnung glauben will, die tatsächlich später zur Wahrheit wurde.
    Hätte er zur Zeit des Komponierens schon eigene Erfahrungen durch den Tod seines Kindes gehabt, wie anders wäre dann die Musik geworden?


    Es ist mir immer sehr schwer gefallen diese Lieder zu singen, es führte mich an meine Grenzen, obwohl ich gottseidank keine eigenen Erfahrungen machen musste.

  • Hallo, Musica,


    ich glaube nicht, dass Mahlers Musik wesentlich anders ausgefallen wäre, wenn er sie nach dem Tod seines Kindes geschrieben hätte. Ich kenne kaum einen Komponisten, der Schmerz unmittelbarer ausdrücken könnte als Mahler. Ich habe die Kindertotenlieder vor -zig Jahren zufällig kennengelernt, als ich im Radio das vierte Lied hörte, das m.E. auch am leichtesten zugänglich ist, und habe mich dann nach und nach an den restlichen Zyklus herangearbeitet. Und auch wenn die Thematik schrecklich ist, so hat doch jedes dieser Lieder einen versöhnlichen oder sogar tröstlichen Schluss, der das Hören dann doch etwas erträglicher macht.


    Was deine in einem anderen Thread gestellte Frage, ob die Lieder lieber von einm Mann oder einer Frau gesungen werden sollten - vom Text her trauert der Vater - ich habe die Lieder einmal mit Thomas Hampson und einmal mit Christa Ludwig - ich weiß nicht, welche Aufnahme ich bevorzugen sollte.


    Viele Grüße


    Mme. Cortese

    Gott achtet mich, wenn ich arbeite, aber er liebt mich, wenn ich singe (Tagore)

  • Hallo Mme. Cortese,


    ja, das stimmt, die Lieder gehen an die Seele vor Trauer, aber sie haben auch Tröstliches. Der Dichter tröstet sich selber mit den Worten: "Jawohl, sie sind nur ausgegangen und werden sie wieder nach Hause gelangen..." und zum Schluß scheint er wirklich seinen Trost gefunden zu haben im letzten ruhigen Teil, er weiß, dass seine Kinder auch den Frieden gefunden haben und sanft , wie in der Mutter Haus, es klingt wie das Ave Maria von Schubert.


    1. Nun will die Sonn' so hell aufgehn
    Als sei kein Unglück die Nacht geschehn!
    Das Unglück geschah nur mir allein!
    Die Sonne, sie scheinet allgemein!


    Du musst nicht die Nacht in dir verschränken,
    Musst sie ins ew'ge Licht versenken!
    Ein Lämplein verlosch in meinem Zelt!
    Heil sei dem Freudenlicht der Welt!


    2. Nun seh' ich wohl, warum so dunkle Flammen
    Ihr sprühtet mir in machem Augenblicke.
    O Augen! O Augen!
    Gleichsam, um voll in einem Blicke
    Zu drängen eure ganze Macht zusammen.


    Doch ahnt' ich nicht, weil Nebel mich umschwammen,
    Gewoben, vom verblendenden Geschicke,
    Daß sich der Strahl bereits zur Heimkehr schicke,
    Dorthin, von wannen alle Strahlen stammen.


    Ihr wolltet mir mit eurem Leuchten sagen:
    Wir möchten nah dir bleiben gerne!
    Doch ist uns das vom Schicksal abgeschlagen.
    Sieh' uns nur an, denn bald sind wir dir ferne!


    Was dir nur Augen sind in diesen Tagen:
    In künft'gen Nächten sind es dir nur Sterne.



    3. Wenn dein Mütterlein tritt zur Tür herein
    Und den Kopf ich drehe, ihr entgegen sehe,
    Fällt auf ihr Gesicht erst der Blick mir nicht,
    Sondern auf die Stelle, näher nach der Schwelle,
    Dort, wo würde dein lieb Gesichten sein,
    Wenn due freudenhelle trätest mit herein,
    Wie sonst, mein Töchterlein.


    Wenn dein Mütterlein tritt zur Tür herein,
    Mit der Kerze Schimmer, ist es mir, als immer
    Kämst due mit herein, huschtest hinterdrein,
    Als wie sonst ins Zimmer!
    O du, des Vaters Zelle,
    Ach, zu schnell erloschner Freudenschein!


    4. Oft denk' ich, sie sind nur ausgegangen
    Bald werden sie wieder nach Hause gelangen!
    Der Tag ist schön! O sei nicht bang!
    Sie machen nur einen weiten Gang!


    Jawohl, sie sind nur ausgegangen
    Und werden jetzt nach Hause gelangen!
    O, sei nicht bang, der Tag is schön!
    Sie machen nur den Gang zu jenen Höh'n!


    Sie sind uns nur vorausgegangen
    Und werden nicht wieder nach Hause gelangen!
    Wir holen sie ein auf jenen Höh'n
    Im Sonnenschein!
    Der Tag is schön auf jenen Höh'n!


    5. In diesem Wetter, in diesem Braus
    Nie hätt' ich gesendet die Kinder hinaus!
    Man hat sie getragen hinaus,
    Ich durfte nichts dazu sagen!


    In diesem Wetter, in diesem Saus,
    Nie hätt' ich gelassen die Kinder hinaus,
    Ich fürchtete sie erkranken;
    Das sind nun eitle Gedanken,


    In diesem Wetter, in diesem Graus,
    Nie hätt' ich gelassen die Kinder hinaus,
    Ich sorgte, sie stürben morgen;
    Das ist nun nicht zu besorgen.


    In diesem Wetter, in diesem Graus,
    Nie hätt' ich gesendet die Kinder hinaus,
    Man hat sie hinaus getragen,
    Ich durfte nichts dazu sagen!


    In diesem Wetter, in diesem Saus,
    In diesem Braus,
    Sie ruh'n als wie in der Mutter Haus,
    Von keinem Sturm erschrecket,
    Von Gottes Hand bedecket,
    Sie ruh'n wie in der Mutter Haus.

  • Mahler's Biografie zeigt, dass der Tod ein ständiger Begleiter im Leben des Komponisten
    und der Familie Mahler war. Hohe Kindersterblichkeit war im 19. Jahrhundert
    ganz normal.
    1907 erkranke Mahler's Tochter Anna in Maiernigg an Diphterie und stirbt.
    Kurz darauf wird bei Mahler ein doppelseitiger Herzklappenfehler diagnostiziert.
    Solche Schicksalsschläge parallel zu einer Ehekrise - nicht gerade ein
    easy-going Leben.


    In der Musik verarbeitet Gustav Mahler diese Schicksalsschläge.

    :):):)

  • Zitat

    Rückert schrieb über 400 „Kindertotenlieder" im Gedenken an seine „beiden liebsten und schönsten Kinder", von denen nur wenige zu seinen Lebzeiten gedruckt und eine winzige Auswahl später von Gustav Mahler vertont wurden. Die Gedichte sind sehr variabel in Länge (von vier bis zu über 30 Versen), Reimschema und Metrum. Häufig sind orientalisch inspirierte Wiederholungen von Reimen.



    Luise Rückert (gestorben am 31. Dezember 1833)

    Ernst Rückert (gestorben am 16. Januar 1834)
    Ich kann die Trauer meines Namensvetters nur zu gut verstehen, wenn man sich die Bildnisse der beiden Kinder ansieht. Und ich bewundere das Einfühlungsvermögen Gustav Mahlers in diese Tragödie und die Umsetzung in Töne.


    LG

    .


    MUSIKWANDERER

  • ich glaube nicht, dass Mahlers Musik wesentlich anders ausgefallen wäre, wenn er sie nach dem Tod seines Kindes geschrieben hätte


    Hallo,


    dem kann ich allerdings überhaupt nicht zustimmen und bin davon restlos überzeugt - u. a.
    Rückert hat 428 Kindertotenlieder verfasst, nach dem Tod von 2 seiner 6 Kinder,


    Mahler hat 5 Rückert'sche Lieder ausgewählt (nach seinem Gusto und Anspruch) und in keinerlei zeitlichem Zusammenhang, lange vor dem Tod seiner Tochter Maria-Anna, vertont.


    Dazu habe ich einige grundsätzliche Anmerkungen:


    Mahlers Kinder- und Jugendzeit war durch äußerst chaotische Verhältnisse des Elternhauses geprägt, in dem er aufwachsen musste. Sein Vater muss ein Ausbund an Brutalität gewesen sein; er hat seine Ehefrau/Mahlers Mutter so geprügelt, dass sie zeitlebens eine Gehbehinderung davon trug. Es ist davon auszugehen, dass Mahler dies nicht nur mitbekommne hat, sondern bei solchen Gewaltexzessen z. T. körperlich anwesend war; Mahler hatte zeitlebens eine enge Verbindung zu seiner Mutter und älteren Schwester.


    Mahler hatte 11 Geschwister, wovon 6 frühzeitig verstorben sind. Mahler hat in frühen und späteren Kinder- und Jugendjahren den Tod von Geschwister"kindern" miterlebt.


    Inwieweit sich diese väterliche Gewalt auch auf den Tod der 6 Geschwister ausgewirkt hat ist unbekannt. Aus heutiger Sicht - und unter Berücksichtigung neuester Erkenntnisse über familiäre Gewalt und sexueller Gewalt im Besonderen und deren Aufklärung, kann aber davon ausgegangen werden, dass damals die Aufklärungsquote nicht hoch, geschweige denn das Bewusstsein dafür besonders ausgeprägt war - ohne hieraus direkte Rückschlüsse ziehen zu wollen/können.


    Mahler war ein sehr egozentrischer Mensch, wohl auch kindheitsbedingt. In 1907, dem Todesjahr seiner Tochter Maria-Anna, war auch seine Herzkrankheit, neben dem Umzug nach New -York, ein Thema. Dass sich der Tod seiner Tochter in seinem Liedschaffen nicht gezeigt hat?


    Daher ist meine Vermutung nicht allzu abwegig, dass Mahler mit seinen Kindertotenliedern seine eigenen Kindheitserlebnisse aufgearbeitet hat - seine Auswahl aus den Rückert'schen Kindertotenliedern und die von ihm gewählte Reihenfolge kann dies u. U. nachvollziehbar machen.


    Ich zitiere Helmut Hofmann: "Vielleicht sollte man diesem Aspekt der personalen Betroffenheit (in diesem Thread) noch mehr Aufmerksamkeit schenken."
    Beitrag vom22.11.2010 in dem Thread "Sprache und Musik im Lied"


    Es ist also denkbar, sich Mahlers textbestimmter Musik auch unter diesem Gesichtspunkt zu nähern; damit soll und kann Nichts über die unbestreitbar hohe musikalische Qualität seiner Lieder ausgesagt werden. Zu Mahlers Vertonung der Kindertotenlieder nehme ich gesondert Stellung.


    Herzliche Grüße
    zweiterbass

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

  • Hallo zweiterbass!


    Deine Ansicht, dass Mahler mit den Kindertotenliedern seine Kindheitserlebnisse aufgerarbeitet haben könnte, erscheint mir sehr plausibel. Sie würde auch erklären, wieso Mahler diese Lieder vor dem Tod seines Kindes komponiert hat, was ja einige Menschen seiner Umgebung ziemlich schockiert hat - u.a., wenn ich mich recht erinnere, auch seine Frau.


    Meine These, dass die Lieder nach dem Tod des Kindes nicht viel anders ausgefallen wären, sehe ich dadurch aber noch nicht widerlegt. Wieso hat denn Mahler nach dem Tod des Kindes nicht noch weitere Kindertotenlieder komponiert.Bei Rückert stand ja noch eine beträchtliche Auswahl zur Verfügung
    oder er hätte eine Neufassung der vorhandenen Lieder vornehmen können. Ich kann mir eigentlich nur zwei Antworten denken: Entweder war er emotional einfach nicht in der Lage dazu oder er meinte, mit den vorhandenen Liedern sei bereits alles gesagt.


    Herzliche Grüße


    Mme. Cortese

    Gott achtet mich, wenn ich arbeite, aber er liebt mich, wenn ich singe (Tagore)

  • Mahler musste mit ansehen, wie der Vater die Mutter derart schlug, dass sie eine Gehbehinderung erlitt. Für Mahler war dies ein Trauma, das er nur spät mit Freuds Hilfe bewältigen konnte. Von den vierzehn Kindern starben sechs früh. Gustav war das zweitälteste; sein Bruder Isidor war bei Gustavs Geburt jedoch schon gestorben. Besonders der Tod seines Bruders Ernst mit dreizehn Jahren, als Gustav selbst erst fünfzehn war, machte ihm sehr zu schaffen. Beide Eltern starben, als Mahler noch keine dreißig Jahre alt war. Danach fühlte er sich verpflichtet, für seine jüngeren Geschwister zu sorgen. Er half seinen Brüdern, bis sie selbstständig waren.


    Was bewog Mahler dazu, als der den Text von Rückert las, dies in Musik umzusetzen, kamen Erinnerungen seiner Kindheit wieder hoch? Noch hatte er kein eigenes Kinder verloren. Ich glaube nicht, dass die Musik anders ausgefallen wäre, wenn er zu dieser Zeit schon mit dem Tod seines Kindes konfrotiert gewesen wäre.


    Mahlers Liedschaffen wird von zwei peotischen Quellen gespeist. Die eine ist die Volksdichtung, welche die Romantik wiederentdeckt und in der Sammlung "Des Knaben Wunderhorn" vereinigt hatten. Die Naivität, mit der hier einfache, immer wiederkehrende Grunderlebnisse, Liebesglück und Liebestrauer, Trennungsweh und Sehnsucht, Naturfreude und gespenstiches Grauen, Todesangst, zog den Mahler an wie ein verlorenes Paradies.
    Er schrieb auch Lieder die er selber gedichtet hat, vielleicht auch die Erinnerung an ein frühes Erlebnis "Hans und Grete, ein lustiges Lied, das aber von der Gestaltung, Interpretation unbedingt lebt. Ich habe es selber oft gerne gesungen.

  • Meine These, dass die Lieder nach dem Tod des Kindes nicht viel anders ausgefallen wären, sehe ich dadurch aber noch nicht widerlegt.


    Ich glaube nicht, dass die Musik anders ausgefallen wäre, wenn er zu dieser Zeit schon mit dem Tod seines Kindes konfrotiert gewesen wäre.


    Hallo,


    es ist meine ganz persönliche Meinung: Ich bin felsenfest überzeugt davon, dass ein tiefes Nachempfinden einer schwierigen Lebenssituation nur dann möglich ist, wenn man diese - oder eine doch sehr ähnliche - Lebenssituation selbst durchlitten hat. (Beispiel: Kann ein/e Nicht-Krebskanke(r) tatsächlich nach-empfinden, was ein/e Krebskranke(r) durchleidet? Kann Mann/Frau erahnen, was die von einem Selbstmord -die umgangssprachliche Bezeichnung der Selbstötung - betroffenen Hinterbliebenen durchmachen - von den Reaktionen der "Umwelt" ganz abgesehen?)


    Es wird etwas dauern, bis ich meine Stellungnahme zur Vertonung hier einstellen kann.


    Herzliche Grüße
    zweiterbass

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

  • hier in diesem Falle Mahler, glaube ich es nicht. Er ist in seiner Kindheit oft mit dem Tod seiner Geschwister konfrontiert worden und hat es hautnah miterlebt. Ich glaube, die Vertonung der Kindertotenlieder war ein Ausbruch seiner erlebten Gefühle, die er in diesen Liedern verarbeitet hat.


    Ein Sänger z.B. muss sehr feinfühlig, emotional sein, empfinden können, um diese Lieder dem Publikum glaubwürdig rüberzubringen, doch er muss es nicht selber erlebt haben.

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  • Hallo Musica,

    hier in diesem Falle Mahler, glaube ich es nicht. Er ist in seiner Kindheit oft mit dem Tod seiner Geschwister konfrontiert worden und hat es hautnah miterlebt. Ich glaube, die Vertonung der Kindertotenlieder war ein Ausbruch seiner erlebten Gefühle, die er in diesen Liedern verarbeitet hat.


    Ich stimme Dir zu, nur: Es ist ein Unterschied ob Eltern den Tod eines/mehrerer ihrer Kinder verarbeiten oder Geschwister den Tod eines Mit-Geschwisters. Mahler hat also, meinThese, den Tod von Geschwistern verarbeitet, nicht den Tod eigener Kinder, wie das bei Rückert der Fall ist.

    Ein Sänger z.B. muss sehr feinfühlig, emotional sein, empfinden können, um diese Lieder dem Publikum glaubwürdig rüberzubringen, doch er muss es nicht selber erlebt haben.


    Auch hier stimme ich Dir zu, nur: Der/die Sänger/in muß "nur" die im Gedicht/in der Musik erfassten/ausgedrückten Gefühle/Erlebnisse "rüberbringen"(das Selbsterlebnis hat ihm ja der Dichter/Komponist voraus/also schon abgenommen). Jenes ist aber in der Regel nur ein "Abklatsch" des tatsächlich erlebten Chaos -Rückert hat dazu 428 Gedichte gebraucht!


    Herzliche Grüße
    zweiterbass

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

  • Hallo zweiterbass,


    Zitat

    Auch hier stimme ich Dir zu, nur: Der/die Sänger/in muß "nur" die im Gedicht/in der Musik erfassten/ausgedrückten Gefühle/Erlebnisse "rüberbringen"(das Selbsterlebnis hat ihm ja der Dichter/Komponist voraus/also schon abgenommen). Jenes ist aber in der Regel nur ein "Abklatsch" des tatsächlich erlebten Chaos -Rückert hat dazu 428 Gedichte gebraucht!


    Was du als "Abklatsch" bezeichnest, ist für mich "Mitgefühl, Nachempfinden", wenn ich das nicht kann was der Dichter mir vorgibt, kann ich das nicht umsetzen. Natürlich ist es etwas Anderes, wenn ein Sänger selber das Erlebnis hatte ein Kind zu verlieren, doch der Schmerz lässt es erst nach langer Zeit zu, dieses in Musik, im Lied, wiederzugeben. Erst wenn er gelernt hat den Tod zu verarbeiten, damit fertig zu werden, wagt er sich an diese Art von Literatur.

  • Hallo musica,


    ich habe unter "Abklatsch" verstanden und ausgedrückt (Jenes!), was der Dichter/Komponist in seinem Werk "rübergebracht" hat. Ich meine damit nicht das unweigerlich notwendige Einfühlungsvermögen des/der Interpreten/in. Deinem letzten Satz kann ich nur voll zustimmen: Ob er/sie es jemals zeitlebens schafft?


    Herzliche Grüße
    zweiterbass

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

  • "Es ist Faschings-, Karnevalzeit, als Kontrastprogramm der geeignete Zeitpunkt, mich, wie im Nov. 2010 angekündigt, dem Thema zu widmen und meine Stellungnahme in den Thread einzustellen."



    Unter Hinweis auf die vorangegangenen Beiträge, um Missverständnissen vorzubeugen, von Anfang an Klarheit zu haben:


    Erlebnisse eines Menschen, die so tiefgreifend sind, dass sie sein darauf folgendes Leben (sehr) verändern, können von anderen Menschen in der Tat nur dann nachempfunden werden, wenn sie das Gleiche oder doch sehr Ähnliches durchlebt haben. (Nicht umsonst gibt es die unterschiedlichsten Selbsthilfegruppen, z. B. für ganz genau umschriebene schwere Krankheiten , oder die "AA", oder "Die verwaisten Eltern" oder im weitesten Sinn die "WeightWachters". In solchen Gruppen kann, ohne dass unter den Mitgliedern Verständigungsprobleme entstehen, gemeinsam geredet und bei der Problembewältigung gegenseitig geholfen werden; die Beteiligten wissen nämlich, aus eigenem Erleben, genau "was Sache ist"!)


    Dass Rückert über 400 Gedichte geschrieben hat, dem Andenken des Todes von zwei seiner Kinder gewidmet (und dem eigenen Verarbeiten geschuldet) - das erübrigt jeden weiteren Kommentar!


    Dass Mahler, lange vor dem Tod einer seiner Töchter, aus den über 400 Rückert-Gedichten 5 ausgewählt und vertont hat ist nur so erklärbar, dass er damit andere Probleme (siehe diesen Thread, bzw. seine Lebensgeschichte: Mahler, als ältester - sein erstgeborener Bruder starb vor seiner Geburt - von 14 Geschwistern, hat zwar 6 seiner Geschwister im Kindesalter verloren, aber eben Geschwister!) verarbeitet hat, aber nicht den Tod eines eigenen Kindes. Dass er nur "Lust" verspürte, diese Gedichte zu vertonen, davon gehe ich nicht aus. (Wie sich das in seiner Tonsprache zeigt, darauf komme ich unten.) Inwieweit sich der Tod einer Tochter im Juli 1907 auf seine danach entstandenen oder umgearbeiteten Werke ausgewirkt hat, kann nicht beurteilt werden.
    Ein speziell auf diesen Schicksalsschlag bezogenes Werk gibt es nicht---??? (Und das Argument, er habe ja bereits einen solchen Vorgang - nicht eigenes Erleben! - betreffendes Werk geschrieben und damit die Verarbeitung des Todes eines eigenen Kindes quasi vorweg genommen, liegt neben der Sache.)



    Zur Reihenfolge der Vertonungen:
    Nachfolgend eine für "verwaiste" Eltern (gilt natürlich auch für "verwaiste"Väter!) plausible (aus dem Zeitablauf der einstürmenden Eindrücke nachvollziehbare) Liedreihenfolge:
    1. Bei diesem Wetter …(zuerst steht die Frage nach der Verantwortung und die letzte Strophe beruhigt die Selbstvorwürfe; Rückert kennt das!)---------------------------------------------------------Mahler 5.
    2. Wenn dein Mütterlein…(der Kindstod ist emotional noch nicht angekommen)-----Mahler 3.
    3. Oft denk' ich…(die verstandesmäßige Entschuldigung fürs Verhalten gemäß 2.)--Mahler 4.
    4. Nun will die Sonn'…(nun wird erkannt, dass der über das eigene Leben gefallene graue Schleier die Umwelt nicht tangiert; Rückert fühlt sich allein gelassen, abgesondert; gab es damals schon Selbsthilfegruppen? - Nein!)-------------------------------------------------------------------------------------------------------------------Mahler 1.
    5. Nun seh' ich wohl…(eine philosophische Betrachtung, über/für die Verarbeitung) Mahler 2.


    Die von Mahler gewählte Liedreihenfolge ist für mich der 1. Anhaltspunkt, dass Mahler zum Zeitpunkt der Vertonung seiner Auswahl aus den Rückert'schen Kindertotenliedern eine andere emotionale Herangehensweise hatte, als wenn er die Lieder nach dem Tod eigener Kinder vertont hätte.



    Mir liegen 2 Einspielungen vor:
    1. Thomas Hampson, Bariton, mit den Wiener Philharmonikern unter Bernstein, 1990, DG
    2. Stephan Genz, Bariton, Roger Vignoles, Klavier, 2003, Hyperion



    1. Zur Orchesterfassung:


    Ich habe mir zusätzlich - oftmals - angehört:
    Aus dem "Klagenden Lied" (vertont 1878 - 80, 1893 - 98, revidierte Fassung 1898 ) - Teil 2 "Der Spielmann"
    Aus den "Liedern eines fahrenden Gesellen (vertont 1884/85) - "Wenn mein Schatz…" und "Die zwei blauen Augen…"
    Aus den Rückert-Liedern "(vertont 1901) - "Ich bin der Welt abhanden gekommen" und "Um Mitternacht"


    Die Lieder 1, 3 und 4 der Kindertotenlieder wurden 1901, das Lied 2 1904 und das Lied 5 1905 (das ist die Mahler'sche Reihenfolge) vertont.


    Die Orchesterbesetzung ist, was die Art der Instrumente betrifft, bei allen diesen Werken fast identisch, bei den Kindertotenliedern fehlen Trompeten, Posaunen und Teile der Perkussion.
    Dabei ist die Orchestrierung der Kindertotenlieder aus früheren Werken übernommen. Dies gilt auch für die musikalische Umsetzung von ähnlichen Textinhalten, sprich: Im Wortausdruck gleiche Eindrücke, Gefühle werden auch musikalisch gleich oder sehr ähnlich in (Orchester-) Musik transponiert und das, obwohl Trauer oder "Leid" (ein häufig vorkommender Begriff bei Mahler!) im Anlass begründet sehr unterschiedlich sind. Ich höre, dass Mahler in den Kindertotenlieder "Musikbausteine" aus früheren eigenen Werken verwendet (das geht soweit, dass bei "Nun seh' ich wohl…" fremde Tristanmotive anklingen?), was so nicht geschehen wäre, wenn die Vertonung nach dem Tod eines eigenen Kindes erfolgt wäre, weil dann die Gefühlslage eine völlig andere gewesen wäre.




    2. Zur Klavierfassung:


    Durch den Wegfall der aus früheren Werken übernommen Orchestrierung/Orchestersprache (Pathos, Außendarstellung) stelle ich für mich fest: Ohne die "Musik/Klangbausteine" ist eine völlig andere, dem Anlass angemessener, weil individuelle, intime Klangwelt entstanden und die Musikzitate treten akustisch weniger hervor.
    Mein Einwand wegen der Liedreihenfolge bleibt aber bestehen.



    Mein Fazit: Aus den über 400 Rückert'schen Gedichten "über/nach den/m Tod eigener Kinder" hat Mahler 5 ausgewählt und als Nichtbetroffener vertont mit jenem Einfühlungsvermögen, wie es gute Interpreten beim adäquaten Vortrag dieses Werkes auch benötigen. Dass ihm frühe Kindheits- und Jugenderlebnisse, seine Ehesituation und die daraus erwachsenen Verlustängste diese Empathie erleichtert haben, kann angenommen werden.


    Viele Grüße
    zweiterbass


    Nachsatz: Es tut mir leid, aber die Vorschau zeigt nicht die Formatierung nach "Absenden" (Liederreihenfolge von Mahler).

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

  • Ein speziell auf diesen Schicksalsschlag bezogenes Werk gibt es nicht---??? (Und das Argument, er habe ja bereits einen solchen Vorgang - nicht eigenes Erleben! - betreffendes Werk geschrieben und damit die Verarbeitung des Todes eines eigenen Kindes quasi vorweg genommen, liegt neben der Sache.)


    Wenn ich mich recht entsinne, stammt dieser Vorwurf ja nicht zuletzt von Alma Mahler-Schindler und muss daher ohnehin etwas relativiert werden.


    Interessant, dass Du ausschließlich Bariton-Aufnahmen hast. Das ist vielleicht eine persönliche Sache, aber mich rühren diese Lieder von einer Frau gesungen noch mehr an (obwohl einige Gedichte deutlich aus der Perspektive des Vaters geschrieben sind).


    Ich habe mich den Liedern mit dieser Aufnahme genähert:


    Meine, zumindest hier im Forum ungewöhnliche, Vorliebe für das Team Mahler/Chailly und die Frauenstimme haben mich zu dieser Aufnahme geführt.


    Ich habe über das IMSLP die Partituren mitgelesen - und es sind Tränen geflossen.

  • Interessant, dass Du ausschließlich Bariton-Aufnahmen hast. Das ist vielleicht eine persönliche Sache, aber mich rühren diese Lieder von einer Frau gesungen noch mehr an (obwohl einige Gedichte deutlich aus der Perspektive des Vaters geschrieben sind).


    Hallo Travinius,


    die Gedichte stammen von einem Mann, die Vertonung stammt von einem Mann - warum soll eine Frau singen? Aber natürlich ist es eine persönliche Entscheidung, was besser "im Ohr" klingt.


    Klärst Du mich bitte auf, was IMLSP ist?
    Danke und


    viele Grüße
    zweiterbass

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

  • Damit wir nicht off-topic geraten nur ganz kurz: International Music Score Library Project (IMSLP) - eine Sammlung von Noten, Partituren etc., deren Copyright inzwischen erloschen ist. Schau am besten selbst: http://imslp.org/


    Ich habe eine Neigung zu Frauen-, insbesondere Altstimmen, das ist in der Tat eine persönliche Disposition. Das Lied von der Erde mag ich auch nur in der Alt/Tenor-Fassung - mit der Bariton-Version des 'Abschieds' komme ich nicht klar.


    Deine Argumentation für den Bariton ist natürlich logisch absolut folgerichtig.

  • Zitat

    Zitat von zweiterbass:


    die Gedichte stammen von einem Mann, die Vertonung stammt von einem Mann, also warum soll eine Frau singen?

    Lieber zweterbass,


    hast dur dir die Inhalte der Lieder schon einmal durchgelesen? Kannst dur dir vorstellen, dass folgende Zeilen von einem Vater stammen könnten:


    "Nr. 5: In diesem Wetter, in diesem Braus


    In diesem Wetter, in diesem Braus,
    nie hätt' ich gesendet die Kinder hinaus!
    Man hat sie getragen hinaus,
    ich durfte nichts dazu sagen!
    In diesem Wetter, in diesem Saus,
    nie hätt' ich die Kinder gelassen hinaus,
    ich fürchtete, sie erkranken;
    das sind nur eitle Gedanken,
    in diesem Wetter, in diesem Graus,
    nie hätt' ich die Kinder gelassen hinaus,
    ich sorgte, sie stürben morgen,
    das ist nun nicht zu besorgen.
    In diesem Wetter, in diesem Graus,
    nie hätt' ich die Kinder gesendet hinaus,
    man hat sie hinaus getragen,
    ich durfte nichts dazu sagen!
    In disem Wetter, in diesem Saus,
    in diesem Braus,
    sie ruh'n als wie in der Mutter Haus,
    von keinem Sturm erschrecket,
    von Gottes Hand bedecket,
    sie ruh'n wie in der Mutter Haus.


    Sind das nicht durch und durch die Worte einer Mutter? Und können sie besser gesungen werden als von einer Frau? Für alle, die da noch Zweifel haben, kann ich nur die Überreferenz der Kindertotenlieder empfehlen:



    Liebe Grüße


    Willi :rolleyes: :rolleyes:

    1. "Das Notwendigste, das Härteste und die Hauptsache in der Musik ist das Tempo". (Wolfgang Amadeus Mozart).
    2. "Es gibt nur ein Tempo, und das ist das richtige". (Wilhelm Furtwängler).

  • Lieber William B.A.,
    hast Du bedacht, wer das Gedicht vefasst hat und glaubst Du wirklich, ich hätte mir die Gedichte nicht durchgelesen? Ein Blick in das Kunstliedforum hätte Dir diese rhetorische Frage erspart.
    Könnte es sein, dass Rückert schon damals nicht mehr in überholten Strukturen gedacht hat - ganz abgesehen davon, dass die praktische Kindererziehung meist schon gleich gar nicht in männlichen Händen lag und es abgegrenzte Zuständigkeitsbereiche gab.


    Viele Grüße
    zweiterbass

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

  • Hallo Travinius,


    ganz besonders herzlichen Dank für Deine "Aufklärung".


    Viele Grüße
    zweiterbass

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

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  • Zitat

    Zitat von zweiterbass:


    Lieber William B.A., hast du bedacht, wer das Gedicht verfasst hat, und glaubst du wirklich, ich hätte mir die Gedichte nicht durchgelesen?

    Natürlich, lieber zweiterbass, glaube ich das nicht. Aber es scheint mir nun einmal ausgeschlossen, dass sich Rückert in diesem Gedicht nicht in die Denkweise einer Mutter versetzt hat, und welcher Dichter im Range eines Rückert wäre dazu nicht in der Lage gewesen.
    Das führt natürlich zu der Schlussfolgerung, dass gerade eine Frau in besonderer Weise in der Lage ist, solche Lieder zu singen, wenn gleich die literarische Vorlage von einem Mann stammt und die Musik sowieso. So viele weibliche Komponisten aht es ja in der Tat nicht gegeben.


    Liebe Grüße


    Willi :rolleyes: :rolleyes:

    1. "Das Notwendigste, das Härteste und die Hauptsache in der Musik ist das Tempo". (Wolfgang Amadeus Mozart).
    2. "Es gibt nur ein Tempo, und das ist das richtige". (Wilhelm Furtwängler).

  • Interessant, dass Du ausschließlich Bariton-Aufnahmen hast. Das ist vielleicht eine persönliche Sache, aber mich rühren diese Lieder von einer Frau gesungen noch mehr an


    Dem kann ich mich anschließen. Ich habe diese Lieder erstmals gehört, als Klaus Tennstedt sie Ende der 70er Jahre in der Hamburger Musikhalle mit dem Sinfonieorchester des NDR und Brigitte Fassbaender als Solistin aufführte. Und war völlig fertig. Als ich danach FiDi mit diesen Werken im Radio hörte,

    konnte ich das zwar als sängerisch gelungene Leistung begreifen, aber es berührte mich nicht. Berührt haben mich nur die Interpretationen von Sängerinnen, insbesondere von Kathleen Ferrier mit Bruno Walter

    oder von Janet Baker mit Sir John Barbirolli

    Willi hat schon recht mit seiner Referenzaufnahme...

  • Rückert hat den Tod seiner beiden Kinder hautnah miterlebt, wer sagt denn dass die letzte Strophe nicht eine Aussage der Mutter ist, die damals die Erziehung der Kinder hatte und verantwortlich war? Es ist die typische Aussage einer Mutter die ihre Kinder täglich versorgt und sie umhegt.


    Der Vater, Professor in Erlangen, war in seinem Beruf ausgefüllt, dass die Hauptaufgabe der Kindererziehung in den Händen der Mutter lag, was bei 10 Kindern nicht so einfach war. Die letzte Strophe klingt nach Selbstvorwürfen und Überlastung der Mutter, die es bereut hat ihre Kinder in dem Wetter nach draußen gelassen zu haben.

  • Aber es scheint mir nun einmal ausgeschlossen, dass sich Rückert in diesem Gedicht nicht in die Denkweise einer Mutter versetzt hat, und welcher Dichter im Range eines Rückert wäre dazu nicht in der Lage gewesen.


    Lieber William B.A.


    ich will Dir in keiner Weise zu nahe treten, aber:
    Jeder Mensch, der in seinem Leben einen schweren Schicksalsschlag hinter sich bringen mußte und jede/r Fachmann/frau, der/die sich mit posttraumatischen Belastungsstörungen befasst, wird über Deinen Beitrag, so er gelesen wird, nur ungläubig den Kopf schütteln (oder im Stillen in sich hinein lächeln und dabei denken...).
    Dabei muß es sich gar nicht um ein negatives Erlebnis handeln; glaubst Du wirklich, Du kannst Dich in die Erlebnisse und Gefühle während der Schwangerschaft und bei der normalen Geburt einer Frau hinein denken/versetzten?--Na, also!
    Deshalb wär es keine vergeudete Zeit, wenn Du nachstehendes Zitat nochmals liest und Dir dann ernsthaft Gedanken darüber machst, warum Selbsthilfegruppen oft der einzig hilfreiche Weg sind, über schwere, seelische Erschütterungen hinweg zu kommen. Dabei gehen Männer und Frauen meist sehr unterschiedlich damit um.

    Erlebnisse eines Menschen, die so tiefgreifend sind, dass sie sein darauf folgendes Leben (sehr) verändern, können von anderen Menschen in der Tat nur dann nachempfunden werden, wenn sie das Gleiche oder doch sehr Ähnliches durchlebt haben. (Nicht umsonst gibt es die unterschiedlichsten Selbsthilfegruppen, z. B. für ganz genau umschriebene schwere Krankheiten , oder die "AA", oder "Die verwaisten Eltern" oder im weitesten Sinn die "WeightWachters". In solchen Gruppen kann, ohne dass unter den Mitgliedern Verständigungsprobleme entstehen, gemeinsam geredet und bei der Problembewältigung gegenseitig geholfen werden; die Beteiligten wissen nämlich, aus eigenem Erleben, genau "was Sache ist"!)


    Und nachstehendes Zitat hatte ich natürlich geschlechtsneutral gemeint, aber (leider) nicht so exakt ausgedrückt; selbstverständlich können Interpreten, also Sängerinnen die gleiche Emphatie aufbringen wie Sänger und ihre Klavierbegleiter/innen bzw. Orchester mit ihren Dirigenten/innen.

    Mein Fazit: Aus den über 400 Rückert'schen Gedichten "über/nach den/m Tod eigener Kinder" hat Mahler 5 ausgewählt und als Nichtbetroffener vertont mit jenem Einfühlungsvermögen, wie es gute Interpreten beim adäquaten Vortrag dieses Werkes auch benötigen.


    Herzliche Grüße
    zweiterbass

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

  • Liebe Musica,
    Liebe Freunde,


    dieser Thread berührt für mich ein sehr persönliches Thema, nämlich Gustav Mahlers Verhältnis zum Tod. Wenn ich die thematisch einschlägigen Wunderhornlieder ganz beiseite lasse, bietet bereis ein kursorischer Gang durch das sinfonische Werk eine Fülle von Aspekten. In der Ersten heißt ein Satz "Des Jägers Leichenbegängnis" und begründet einen fortgesetzten Schub von Trauermärschen und Totentänzen mit einer eingemischten Farbe des Grotesken und Banalen, dem ab der zweiten Sinfonie ein heroischer und tragischer Entwurf tödlichen Scheiterns einerseits, ein eschatologischer und tröstlicher Gegenentwurf von Jenseitshoffnung und Erlösung andererseits sich hinzugesellen.


    Aus diesen Grundbausteinen, wenn ich vereinfachend so sagen darf, entwickeln sich in mannigfachen Verästelungen die spezifisch Mahlerschen Satztypen, als Totentänze etwa die Scherzi der 4., 6. und 7. Sinfonie, die Trauermarschanklänge im Kopfsatz der 5., im Finale der 6., im Orchesterzwischenspiel des "Abschieds" im Lied von der Erde, gegen Ende des ersten Satzes der 9. oder in der Einleitung zum zweiten Teil der Achten. Die heroische Auflehnung, wie sie im zweiten Satz der 5., in den Ecksätzen der 6., im dritten Satz der 9. entfaltet wird, blickt am Ende versöhnt in die tröstlichen Gefilde der Ruhe, im Finale der 3., der 4. mit ihrem vielsagenden Diminuendo auf "erwacht", der 8. natürlich und vor allem der 9.


    Ich persönlich würde es so formulieren, daß Mahler zunächst vorgegebene Muster wie den Marsch, den Trauermarsch, den Totentanz mehr als Genre gestaltet und später in seiner Stilistik diese Muster einschmilzt. Für mich bezeichnet daher die 6. Sinfonie die Schwelle, auf der Mahlers Satztechnik innerhalb der vorgegebenen Formen ihren Höhepunkt erreicht; während die 9. Sinfonie von einer aus der sinfonischen Konvention nicht herzuleitenden Freiheit Gebrauch macht. Erst im Kopfsatz der 9., so meine These, findet Mahler wirklich Töne der Auseinandersetzung mit dem Todesthema, das in den vorangehenden Sinfonien, zumal der 6., bloß imposant inszeniert, aber nicht wirklich existenziell und persönlich durchlitten wird.


    Zum Thema der Kindertotenlieder muß zunächst gesagt sein, daß auch diese Stücke thematisch in die Sinfonik verflochten sind - der resignative, quasi sanft erzwungene Trost in der ausschwingenden Phrase des ersten Liedes ("als sei die Nacht kein Unglück geschehn") etwa klingt im langsamen Satz der 6. und im "Abschied" im Lied von der Erde beziehungsreich-wörtlich an.


    Was bei der Auswahl der Lieder und ihrer Vertonung auffällt, ist, daß hier ausschließlich intime, innige Bekenntnisse zur Sprache kommen; die Evokation des Verlorenen, die Reue, der durchsichtige Versuch, bei religiösen Vorstellungen Trost zu finden (Mahler und Rückert verhehlen nicht die innere Distanz zum Christentum, die an Brahms erinnert).


    Um es ganz deutlich zu sagen: Eine Gestaltung des Gräßlichsten, des Todeskampfes eines schwerkranken jungen Menschen, wie Berg sie in seinem Violinkonzert unternimmt, wird man bei Rückert wie Mahler vergeblich suchen. Der gewiß todtraurige Ton, den das erste Lied anschlägt, ist doch wie eine Glocke aus Glas, die vor allzu schmerzlichen Details abschirmt. Es ist die Apathie eines lange nach dem Verlust mühsam nach Worten ringenden Trauerns, Trauerarbeit sozusagen; die Haltung ist eher noch die der Abwehr - eine fast erzwungene Hinwendung auf tröstliche Aspekte, das Unglück im Konjunktiv, die lieben Augen verstirnt, die von der Erinnerung gefüllte zarte Lücke im Blickfeld, der Gang zu jenen Höhen als mystischer Selbstbetrug, das Unglück als euphemistisches Unwetter, dem die Leichen in ihren kleinen Särgen ausgesetzt sind und bei dem man sie lebendig nie hätte hinausgelassen, das aber wie alle Unwetter vorbeizieht und dem Frieden des Grabhügels Raum gibt.


    Was hier gestaltet wird, ist, in anderen Worten, die subjektive Seite einer bestimmten Phase eines Verlustprozesses, nicht das Aufwühlen der schlimmsten Aspekte dieses Verlustes selbst. Diese Diskretion der Texte wird auch von Mahler bewundernswert feinfühlig gewahrt und macht den Gehalt der Gedichte überhaupt erst objektivierbar.
    :hello:

    Zerging in Dunst das heilge römsche Reich


    - uns bliebe gleich die heilge deutsche Kunst!

  • Lieber farinelli,


    ich habe Deinen Beitrag sehr aufmerksam gelesen, insbesondere Dein persönliches Thema (zum Verhältnis Mahlers zumTod).


    Ich kenne Bergs Violinkonzert nicht; bei Wikipedia steht zu lesen, dass er dieses (Auftrags-)Werk zu komponieren begann, nachdem er vom Tod eines 18-jährigen Mädchens (ob er es zu dessen Lebzeiten kannte, ist hier zweitrangig) erfahren hatte (und ein eigener solcher Schicksalsschlag wird nicht erwähnt).


    Und damit bin ich wieder beim Thema (wie bei Mahler):
    Rückert thematisiert in seinen Gedichten nicht den Tod seiner Kinder, sondern seine durch deren Tod ausgelöste Betroffenheit; Mahler versucht dies zu Vertonen, obwohl ihm die eigene Betroffenheit fehlt.
    Berg will sogar den Todeskampf (so schreibst Du) eines jungen Mädchens vertonen, fern jeder eigenen Erfahrung; seine Betroffenheit über den Tod einer Person kann er vertonen, wie sehr er dieser Person emotional verbunden war, würde sich (hoffentlich!) in der Vertonung ausdrücken.

    Seiner Vertonung in dem Violinkonzert fehlt die eigene Erfahrung und Betroffenheit. Wie kann er sich in den Todeskampf einer 18-jährigen hineinfühlen, wenn ihm eine solche Erfahrung aufgrund eigenen Miterlebens (selbst,hautnah!) fehlt?
    Außerdem: Wenn ein Außenstehender (also nicht Eltern oder emotinal sehr ähnlich Verbundene) dies durchgemacht hat, wird dieser Mensch auch den Todeskampf thematisieren können - auf welche Art, ist seine Sache - für den (Personenkreis) ???
    Für alle Übrigen ist es nur eine Frage der eigenen Sensibilität und der eigenen Selbsteinschätzung.


    Herzliche Grüße
    zweiterbass


    Nachsatz: Siehe Thread Morten Lauridsen und "Lux aeterna".


    (Ich weiß nicht, was Grieg bei "Ases Tod" vertonen wollte: Die Betroffenheit von Peer Gynt oder tatsächlich Ases (eines alten Menschen) Tod; wäre Letzteres der Fall, verstehe ich zum Ende des Satzes weder Griegs Tonsprache, noch die Interpretationen, welche diesen m. E. Mangel z. T. heilen könnten.)

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

  • Lieber Secondo,


    ich habe auf das schöne Violinkonzert "Dem Andenken eines Engels" bloß rekurriert, um die thematische "Schonung", die gleichsam indirekte Beleuchtung des sujets bei Rückert/Mahler zu unterstreichen.


    Zu einen möchte ich anfügen, daß Berg, der Manon Gropius um gerade acht Monate überlebte, gewiß in diesem Werk auch über seine eigene Sterblichkeit reflektiert hat. Die terzen- und sextenselige Ländlerweise des Allegretto etwa geht in "glücklichen Kindheitseindrücken" der Manon kaum auf.


    Zum anderen muß ich gestehen, daß ein Todeskampf für einen (emotional) nahen Beobachter (und das ist ein dem Sterbenden nahestehender Mensch allemal), ja sogar für einen Unbeteiligten eine große physische Präsenz entfaltet, der man sich gar nicht entziehen kann. Und die Dir und Helmut so teure Kategorie der Betroffenheit ist wohl kaum je so am Platz wie angesichts der Unfaßbarkeit des Sterbens und des Todes. Wenn Dich das nicht betroffen macht, dann weiß ich nicht.


    Wir können ja übrigens niemals wirklich nachfühlen, was in anderen gerade vorgeht. Der Tod, den jeder für sich selbst durchleidet, ist da nur ein extremes Beispiel für die Verlockung und das Scheitern aller Empathie, die die Voraussetzung bilden aller großen künstlerischen Imagination. Ob Mozarts Requiem, die Traviata, Chopins "Marche funèbre" aus der b-Moll-Sonate, "Julias Tod" aus Prokoffjevs großartigem Ballett oder das Andante comodo aus Mahlers IX. - keines dieser Musikstücke entbindet uns von der Notwendigkeit, die Erfahrung der Sterblichkeit auf eigene Faust zu unternehmen; und dennoch entfalten diese Werke eine visionäre Kraft, die unser Dasein in seiner Unbedachtheit um eine Dimension erweitert.
    :hello:

    Zerging in Dunst das heilge römsche Reich


    - uns bliebe gleich die heilge deutsche Kunst!

  • Lieber farinelli,


    jeder muss sich mit der eigenen Sterblichkeit befassen- je früher, desto hilfreicher später.


    Mir geht es um die Unterscheidung des emotionalen künstlerischen Ausdrucks (hier nur verbal und tonal), der je zutreffender m. E. Voraussetzungen hat, zum Beispiel:


    Rückert hat als Dichter den Tod eigener Kinder durchlitten und mit seinen Gedichten seiner erlebten Betroffenheit Ausdruck verliehen.


    Morten Laudridsen hat in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Tod einer Mutter "Lux aeterna" geschaffen und damit zweifelsohne auch seine Betroffenheit ausgedrückt.


    Mahler hat ohne eigene Betroffenheit Gedichte von Rückert über den Tod von Kindern vertont.


    Berg hat einen Todeskampf vertont ohne...


    Viele Komponisten haben Werke zum Gedenken an die Sterblichkeit vertont.


    Viele Komponisten haben durch die Vertonung eines sprachlichen Werkes, das auch den Tod eines Menschen beinhaltet, die vom Werk dafür geforderte Betroffenheit in Musik ausgedrückt, ohne eigenen persönlichen oder zeitlichen Bezug dazu zu haben.



    Dies zu unterscheiden ist, meine ich, wichtig.


    Viele Grüße
    zweiterbass

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

  • Erlebnisse eines Menschen, die so tiefgreifend sind, dass sie sein darauf folgendes Leben (sehr) verändern, können von anderen Menschen in der Tat nur dann nachempfunden werden, wenn sie das Gleiche oder doch sehr Ähnliches durchlebt haben.


    Das ist ein in vielerlei Hinsicht problematischer Satz, lieber Horst. (Als Antwort auf die Diskussion im Thread "Das innere Bild")


    1. Wenn dies stimmen würde, dann wäre sowohl der poetische Ausdruck solcher Erlebnisse als auch deren Vertonung sinnlos und überflüssig. Gedichte werden geschrieben für einen Leser und Musik für einen Hörer. Leser und Hörer, die ein vergleichbares Erlebnis gehabt haben, sind aber eine verschwindende Minderheit. (Im 19. Jhd. waren es sicher noch mehr Menschen, die eine vergleichbare Erfahrung vorweisen konnten.) Dem zufolge wäre es ihnen unmöglich, sich in die Aussage der Texte oder die Musik einzufühlen. Somit wäre diese Dichtung bzw. Musik, selbst wenn sie authentisch wäre, nicht für die Allgemeinheit, also jeden Menschen, bestimmt, sondern allerhöchstens einen kleinen Kreis von Betroffenen, die ein ähnliches tragisches Erlebnis gehabt haben. Für wen führt man eine solche Musik also auf?


    2. Eine Vertonung hält sich zuerst einmal an den Text. Nicht alle der von Mahler vertonten Texte Rückerts sprechen aus der Ich-Perspektive der Betroffenheit. "Wenn dein Mütterlein..." ist die Einfühlung in die Gefühle der Mutter angesichts des Verlustes ihrer Kinder. Nach Deiner These ist so etwas aber gar nicht möglich - kein Vater kann fühlen wie eine Mutter. Da gibt es keine Gleichheit des Erlebnisses.


    3. Farinelli hat es völlig richtig hervorgehoben: Die Kindertotenlieder verarbeiten den Kindstod, versuchen das Unbegreifliche begreiflich zu machen - in seiner Vergeblichkeit hat das etwas ungemein Rührendes. Da kommen ganz menschliche Dinge zur Sprache wie die verzweifelte Selbstanklage: Habe ich vielleicht etwas versäumt, hätte ich die Kinder nicht besser schützen müssen? Es gibt die verzweifelte Hoffnung, daß der unfaßbare Tod vielleicht doch nicht real ist, die Gestorbenen wieder zurückkehren. Und es gibt eine theologische und eine philosophische Ebene - den Versuch, Trost zu finden, wo es eigentlich keinen Trost gibt.


    4. Die psychologische These schließlich stimmt einfach nicht. Dahinter steht nämlich die sogenannte Projektionstheorie der Einfühlung. Sie besagt, daß Einfühlung angeblich so funktioniert, daß man ein eigenes Erlebnis nach außen projiziert - das Fremde, Andere stets in Analogie zum Eigenen, Selbsterlebten deutet. Das ist aber in der Diskussion seit 100 Jahren heftig kritisiert worden. Dagegen sagt z.B. Max Scheler: Das junge Mädchen, das keinerlei eigene Erfahrungen von Liebe hat, lernt die Liebe überhaupt zunächst erst aus Büchern kennen, z.B. Romeo und Julia. Wenn es dann tatsächlich das erste eigene Erlebnis von Liebe hat, dann erlebt diese junge Frau ihre eigene Liebe von dieser literarischen Erfahrung von Liebe her, die sie geprägt hat. Sie projiziert diese "Büchererlebnisse" in das Selbsterlebnis hinein - also genau umgekehrt, wie die Projektionstheorie behauptet ist nicht das Selbsterlebte das Primäre, vielmehr das Sekundäre. (Ein Kind betrachtet sich erst einmal mit den Augen der Mutter, bevor es die Fähigkeit autonomer Selbstbetrachtung gewinnt.) Ganz ähnlich ist es mit den Kindertotenliedern - einer durch Kunst (Musik) vermittelten Erfahrung. Rückerts Texte und Mahlers Vertonung sind so stark, weil sie uns, obwohl kaum jemand von uns eine solche Erfahrung aus dem Selbsterleben kennt, eine solche radikale Erfahrung des Schmerzes und der Trauer authentisch vermitteln können - die Dimensionen dieses Erlebnisses in all ihrer Tragik fühlbar und nachfühlbar machen, weit mehr, als wenn wir z.B. in der Zeitung über ein solches Unglück lesen oder nur von einem Bekannten oder von einem Nachbarn davon erfahren. Solchen "Informationen" kann man sich durch Gleichgültigkeit mehr oder weniger entziehen, der Dichtung und Musik in ihrer elementaren Ausdrucksgewalt aber nicht. Sie läßt einen einfach nicht los in ihrer Unmittelbarkeit.


    5. Die Erfahrung des Verlustes von Geschwistern und Kindern ist als Erlebnis sehr wohl vergleichbar. Was Mahler besonders beschäftigt hat, ist nicht zuletzt die theologisch-metaphysische Dimension. Das Kind steht für die Unschuld. Wenn das Unschuldigste, das Kind, stirbt, dann ist das ein Angriff auf die Verfassung der Welt. Es beschwört die berühmte Theodizee-Frage heraus - die Rechtfertigung Gottes angesichts ungerechten Leidens. Bei Mahler erklärt in der humoristischen 4. Symphonie das Kind, wie es mit der Welt beschaffen ist. Damit ist es seit den Kindertotenliedern vorbei. Mahler kann die Welt nicht mehr humoristisch unschuldig betrachten - aus dem Humor wird giftige Ironie.


    6. Deine These provoziert eine Argumentation ad hominem: Wie kannst Du Mahler unterstellen, daß seine Musik die Erlebnisse angesichts des Kindstods nicht authentisch wiedergeben kann, wenn Du selber auch kein solch vergleichbares tragisches Erlebnis (ich hoffe es doch) hast erleiden müssen? Woher kommt die Evidenz Deines Gefühls und Deiner Einfühlung, die hier behauptet, zwischen "echt" und "unecht" eindeutig unterscheiden zu können?


    Herzliche Grüße
    Holger

  • Zitat von »zweiterbass« Erlebnisse eines Menschen, die so tiefgreifend sind, dass sie sein darauf folgendes Leben (sehr) verändern, können von anderen Menschen in der Tat nur dann nachempfunden werden, wenn sie das Gleiche oder doch sehr Ähnliches durchlebt haben.
    Das ist ein in vielerlei Hinsicht problematischer Satz, lieber Horst. (Als Antwort auf die Diskussion im Thread "Das innere Bild")


    Lieber Holger,


    ich gebe zu, mich hier nicht exakt genug ausgedrückt zu haben. Mit den „anderen Menschen“ meine ich Künstler, Werkschaffende (Bild/Skulptur, Text, Musik), die tiefgreifende Vorgänge im menschlichen Leben (= Vorgänge, die außerhalb normaler, üblicher Lebensabläufe liegen – ich weiß das ist sehr dehnbar, möchte es aber auf tatsächliche Extremsituationen beschränkt sehen, also z. B. Kindstod) in der ihnen möglichen Kunst darzustellen versuchen. Rückert – als Betroffener – hat für seine überzeugende, authentische Realisierung über 400 Gedichte gebraucht! Es gibt eine Grafik von E. Munch und eine daraus von ihm selbst handkolorierte Grafikserie „Das kranke Kind“ (ich meine nicht die gemalten Bilder), die er lange nach dem Tod seiner Schwester geschaffen hat – da wird der tödliche Krankheitsverlauf (und das hoffnungsfrohe Ende) - allein durch die Kolorierung - so was von überzeugend dargestellt, es ist unfassbar (ich konnte/durfte die Serie auf einer Sonderausstellung 2012 in Edinburgh sehen)!
    Ich meine also nicht die Menschen, die diese Kunstwerke betrachten, lesen, hören – ich meine den Künstler, der eigenes Erleben braucht, um solche Extremsituationen stimmig ausdrücken zu können - was bei Mahler nicht der Fall ist. (Ich darf dazu auch auf Beispiele aus dem normalen Leben verweisen, die ich in diesem Thread gebracht habe.)


    Zu 1. Mit Vorstehendem ist, meine ich, Dein Einwand geklärt – es lag an meiner unvollständigen Darstellung! Wie das Werk des Künstlers beim Empfänger ankommt, ist??? – ich meine aber, es kann umso besser ankommen und aufgenommen werden, je näher der Künstler am dargestellten Lebensvorgang (Erlebten) „dran war“.


    Zu 2. Ich verstehe den Text anders, m. E. richtig (?): Der Vater spricht darüber (egal ob real oder als Fiktion), auf was er als 1. sieht, wenn das „Mütterlein“ seines verstorbenen „Töchterleins“ (also seine Frau) „zur Tür herein kommt“ – nicht auf das Gesicht seiner Frau, sondern er sieht „auf die Stelle, näher an der Schwelle“, wo sein verstorbenes „Töchterlein“ sonst mit herein gekommen wäre (ein Bild aus einer noch sehr präsenten Vergangenheit). Der (Ehe-)Mann sieht also gar nicht mehr, oder mit welcher zeitlichen Verschiebung, seine (Ehe-)Frau.


    Zu 3. Da hat farinelli völlig Recht, bezogen auf die Rückertgedichte.


    Zu 4. Dein Beispiel mit der Liebe und dem jungen Mädchen gilt aber dann nicht mehr, wenn die Extremsituation zuvor nicht erlebt werden konnte (egal auf welche Weise), was ja in der Natur der Sache liegt. Und wer als Nichtbetroffener in der Lage ist, sich durch über 400 Rückertgedichte durchzuarbeiten, wird u. U. ein Gefühl dafür bekommen, was es bedeutet, 2 Kinder zugleich zu verlieren (noch dazu es sich dabei für Rückert um ein Lieblingskind handelt – Eltern wissen, dass es nahezu unmöglich ist, die Liebe zu den eigenen Kindern völlig gleichmäßig zu verteilen; Eltern müssen, sollten sich darum bemühen – es wird meist beim Bemühen bleiben, was weniger am Bemühen liegen mag, als an den feinen Antennen von Kindern bis zum Alter von??? Jahren).


    5. So viel mir bekannt ist, empfinden Kinder den Tod von Geschwistern ganz anders als Eltern den Tod von Kindern. Ansonsten stimme ich Dir zu, bis auf: Hat das Geschöpf gegenüber seinem Schöpfer eine Gerechtigkeitsfrage zu stellen?


    6. Dazu verweise ich auf meine Argumentation in diesem Thread.


    Herzliche Grüße
    zweiterbass

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

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