Harmonik und Harmonie

  • Liebe Besucher des Forums,
    bisher bin ich eher unangenehm aufgefallen... was ich nicht wollte. So greife ich hier zur Entschädigung ein neues, bzw. bereits früher vorgeschlagenes auf: in einem anderen Thread ging es um einen ominösen verminderten Septakkord, der erklärt werden sollte. Darauf folgte der Vorschlag, eine Rubrik in der Art "Harmonielehre für Einsteiger" zu eröffnen. Wenn ich richtig gesehen habe, fand das bisher nicht statt. Also möchte ich das hiermit tun.
    Es soll aber nicht nur um Harmonielehre gehen, sondern auch um Harmonie an sich. Was ist das? Wie würde man das zu beschreiben versuchen? Wer kann hierzu etwas interessantes beisteuern?
    Schliesslich ist es auch ein philosophisches Thema, denn schon bei Heraklit finden wir den Satz: "Die verborgene Harmonie ist mächtiger als die offensichtliche."
    Aber vielleicht gibt es auch einige andere Fragen hierzu (Warum klingt denn diese Stelle bei jenem Komponisten in jenem Werk so toll? Welche Akkorde sind denn das?).
    Dies einige Beispiele. Vielleicht ist auch kein Interesse da, aber ich wollte mir erlauben, das Thema vorzuschlagen.


    Euer Dschuang-tse

  • Lieber dschuang-tse,


    das Thema gefällt mir sehr gut! Man fragt sich auch gleich, ob die Begriffe Harmonie und Harmonik etwas miteinander zu tun haben. Im allgemeinen Sprachgebrauch ist Harmonie ja eher etwas Sanftes, Gefälliges, Wohlbefinden etc. Bei der Harmonik kanns dagegen nervenzerfetzende Querstände geben.


    Aber vielleicht spielst du ja besonders auf die Harmonie an, die sich (nach Meinung einiger Philosophen) hinter allen Erscheinungen versteckt?


    Da gibts ein weites Feld für Diskussionen. Ich bin gespannt!


    Schöne Grüße
    Heinz

  • Lieber Heinz,
    danke für die erste Antwort! Ich bin ja mal gespannt, was sich da alles auftut... Wenn ich mich recht entsinne, bedeutete für die alten Griechen Harmonie auch "die Vereinigung von Gegensätzen". Es wäre vielleicht auch interessant, was das nun bedeuten könnte, auf ein musikalisches Werk.
    Aber es geht schon auch um Harmonik! Es sollte nicht ein rein philosophisches Thema sein. Schliesslich ist die Entwicklung der Harmonik ein weites Feld, in dem wir vieles Interessantes finden können.

  • Salut,


    es kann ja mal als sicher gelten, dass sich das Wort Harmonik von dem Wort Harmonie ableitet. Das Wort dürfte aus dem Griechischen harmódios = passend kommen. Wäre ja auch "passend".


    Liebe Grüße
    Ulli

    Die Kunst ist [...] vielleicht das Denken des Herzens.
    (Blaise Pascal, 1623-1662)

  • Zitat

    Original von dschuang-tse
    Schliesslich ist es auch ein philosophisches Thema, denn schon bei Heraklit finden wir den Satz: "Die verborgene Harmonie ist mächtiger als die offensichtliche."
    Aber vielleicht gibt es auch einige andere Fragen hierzu (Warum klingt denn diese Stelle bei jenem Komponisten in jenem Werk so toll? Welche Akkorde sind denn das?).
    Dies einige Beispiele. Vielleicht ist auch kein Interesse da, aber ich wollte mir erlauben, das Thema vorzuschlagen.


    Euer Dschuang-tse


    Wie wärs, wenn du konkrete Besispiele interessanter Harmonien bringst.


    Mir fällt als Beispiel Bruckner ein:
    7. Symphonie Schluß des ersten Satzes - der Dominantorgelpunkt vor dem großen Schlußaufbau.
    oder die Nonenakkordkette in der e-Moll messe. Agnus Dei bei Buchstabe C
    oder in Bachs Orgelfantasie G-Dur der homophone Mittelteil - ebenfalls voller nonenakkorde, die für diese Zeit schon sehr gewagt klingen...


    aus dem 20. Jh gibt es eine Akkordbildung im 3. Modus von Messiaen, die mich immer wieder fasziniert:
    von unten nach oben: h cis e gis c - a c es g h - gis h cis f a - g a c e gis - usw.


    überhaupt sind die Modi Messiaens durch ihre streng logische und doch akustisch "falsche" Auflösung sehr faszinierend. IMO


    Liebe grüße,
    Wolfgang

    Im übrigen bin ich der Ansicht, dass gepostete Bilder Namen des Fotografen, der dargestellten Personen sowie eine genaue Angabe des Orts enthalten sollten.
    (frei nach Marcus Porcius Cato Censorius)

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  • Zitat

    Wie wärs, wenn du konkrete Besispiele interessanter Harmonien bringst.


    Salut,


    hier ist wohl der Wunsch der Vater des Gedanken... ;)


    Dschuang-tse dürfte mit dem goldenen Drachen der Weisheit [FuchurAirlines] unterwegs ins Reich der heimischen Harmonie sein...


    Liebe Grüße
    Ulli

    Die Kunst ist [...] vielleicht das Denken des Herzens.
    (Blaise Pascal, 1623-1662)

  • Heute beim Bücher ordnen bin ich auf dieses Buch gestossen:


    György Doczi:

    Die Kraft der Grenzen, Harmonische Proportionen in Natur, Kunst und Architektur, Capricorn Verlag, Glomn, 1987


    9783926689016-de.jpg


    György Doczi war Architekt. Im Vorwort schreibt er: "Dieses Buch will grundmusterbildende Prozesse untersuchen, durch welche innerhalb streng eingehaltener Grenzen eine schier unendliche Vielfalt von Formen entsteht."


    Die Skizzen der Beispiele und ihnen innewohnenden mathematischen Gesetzmässigkeiten sind in strengem Schwarz-Weiss gehalten. Es ist kein Zufall, das Buch die Verhältnisse des Goldenen Schnittes aufweist. So erstaunt es nicht, dass bereits zu Beginn im ersten Kapitel Bezüge von Musik und Natur hergestellt werden.


    Ich habe im Forum nachgeschaut, welche Threads es zum Thema Harmonie gibt und bin auf diesen Thread gestossen:

    Harmonik und Harmonie.


    Ich musste nachschlagen, was die Begriffe bedeuten und worin der Unterschied von Harmonik und Harmonie liegt. Harmonik ist ein Begriff der Musik:


    https://www.musik-verstehen-lernen.de/index.php/die-harmonik


    Was auffällt, Musik in ihrer klassischen Ausprägung strebt in der Harmonik der Harmonie zu, will die Spannung lösen.


    In der Beschäftigung mit der 1. Sinfonie Ludwig van Beethovens bin ich auf den Umstand gestossen, dass sie mit einem Dominantseptakkord beginnt, der zwingend zur Auflösung, zur Harmonie strebt.


    Harmonie ist ein Grundprinzip der Natur, deren Teil auch der Mensch ist. Nach dem Studium des Buches Doczis werden dem Leser und Betrachter die universellen, weltumspannenden Zusammenhänge bewusst.


    Ulli endete seinen letzten Beitrag im Thread vom 12. Juni 2005 mit einer ironischen Bemerkung.


    Vielleicht löst sie sich auf.

    .

    Vor Schuberts Musik stürzt die Träne aus dem Auge, ohne erst die Seele zu befragen:
    so unbildlich und real fällt sie in uns ein. Wir weinen, ohne zu wissen warum; Theodor W. Adorno - 1928




  • In der Beschäftigung mit der 1. Sinfonie Ludwig van Beethovens bin ich auf den Umstand gestossen, dass sie mit einem Dominantseptakkord beginnt, der zwingend zur Auflösung, zur Harmonie strebt.

    Ich bin immer wieder überrascht, wenn Leute, die so viel klassische Musik hören und kennen, die grundlegendsten Dinge nicht wissen.

  • Lieber kurzstueckmeister


    Wissen muss man erworben haben. Man kann nicht bei jeder Person voraussetzen, dass sie alles weiss. Die eigene Person schliesse ich davon nicht aus.


    Wikipedia klärt uns auf:


    "Der Dominantseptakkord (D7) ist ein auf der Dominante, also der fünften Stufe einer diatonischen Tonleiter, gebildeter Septakkord.


    Beispiel: In C-Dur ist die fünfte Stufe G. Die Töne des zugehörigen Dominantseptakkords – aus der entsprechenden mixolydischen Skala – sind G-H-d-f.


    Die kleine Septime G-f und die verminderte Quinte (das Umkehrintervall des Tritonus) H-f sind Dissonanzen, die nach Auflösung streben.


    Der Dominantseptakkord wurde historisch, wie auch andere Septakkorde, zuerst von Komponisten des Hochbarock verwendet.

    (Wenngleich es bereits zuvor harmonische Bildungen gab, etwa 1529 bei Pierre Attaignant, die sich – bei der Renaissancelaute durch Weiterklingen von leeren Saiten oder Basstönen – wie ein Dominantseptakkord anhören können).


    Da die Dominante bevorzugt als Dur-Akkord auftritt (auch bei einer Moll-Tonart, obwohl die erste Terz dann nicht Bestandteil der Tonleiter ist, siehe bei Dominante), unterscheiden sich die Dominantseptakkorde von C-Dur und c-Moll nicht voneinander."


    Halten wir es mit Faust. Mit Musik scheint er sich nicht beschäftigt zu haben...


    "Habe nun, ach! Philosophie, // Juristerei und Medizin, // Und leider auch Theologie! // Durchaus studiert, mit heißem Bemühn. // Da steh ich nun, ich armer Tor! // Und bin so klug als wie zuvor."


    Vers 354 ff. / Faust - Anfangsverse Faust I-Tragödie

    Vor Schuberts Musik stürzt die Träne aus dem Auge, ohne erst die Seele zu befragen:
    so unbildlich und real fällt sie in uns ein. Wir weinen, ohne zu wissen warum; Theodor W. Adorno - 1928




  • Ich bin immer wieder überrascht, wenn Leute, die so viel klassische Musik hören und kennen, die grundlegendsten Dinge nicht wissen.

    Ich bin mittlerweile fest davon überzeugt, dass Musik genießen und Musik-wissen, nur locker korreliert sind. Nicht einmal bei großem Interesse für Musik, was selbstverständlich mit dem Wissen korreliert ist, bin ich mir mittlerweile über das Genießen sicher. ;)

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  • Vorsicht bei dieser Seite. Unter

    https://www.musik-verstehen-le…/neue-stile-ideen-impulse

    findet man eines der wenigen Stücke, die das, was man unter musikalischem Expressionismus versteht, beispielgebend erfüllen, nämlich Weberns op. 6, als "Neue Sachlichkeit" angeführt (mit falscher Jahreszahl).

    Außerdem wird der Eindruck erweckt, als sei der Bruitismus musikgeschichtlich besonders bedeutsam, der Neoklassizismus aber nicht, was auch sehr ... kreativ ... ist.

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  • Die Skizzen der Beispiele und ihnen innewohnenden mathematischen Gesetzmässigkeiten sind in strengem Schwarz-Weiss gehalten. Es ist kein Zufall, das Buch die Verhältnisse des Goldenen Schnittes aufweist. So erstaunt es nicht, dass bereits zu Beginn im ersten Kapitel Bezüge von Musik und Natur hergestellt werden.

    Der goldene Schnitt hat natürlich etwas mit Natur zu tun. Da kommt er ja her. Aber letztendlich wie so viele Wachstumsthemen ist es Mathematik.


    Das Verhältnis von Mathematik und Musik ist nun tatsächlich schon ein recht altes. Die ersten mathematischen Untersuchungen von Harmonien gehen wohl auf Pythagoras oder zuminest die Schule der Pythagoräer zurück. Es gibt eine schon vor 2500 Jahren bekannte Abhängigkeit von Intervallen und Frequenzverhälnissen der Töne, die sich mathematisch in der eleganten Formulierung auszudrücken vermag:


    es gibt einen Homomorphismus der additiven Gruppe von Intervallen in die multiplikative der Frequenzverhältnisse. Pythagoras hatte das damals sicher etwas anders formuliert ;)(nachzulesen in Tonstruktur ) .


    Ich hatte an anderer Stelle schon auf mathematische Musiktheorien hingewiesen. Der dort erwähnte Autor Guerino Mazzola hatte bei Gabriel in Zürich algebraische Geometrie studiert, aber schon zu dieser Zeit bei Wergo eine Platte mit affinen Tranformationen auf der Hammerklaviersonate eingespielt. Eine recht reizvolle Geschichte, die ich mir sofort besorgt hatte


    R-2937086-1424538115-8815.jpeg.jpg



    Diese Platte scheinl nie als CD erschienen zu sein.


    Auch Fugen weisen natürlich elementare mathematische Operationen auf, die besondere Anforderungen an den Künstler stellen. Ich hatte letztens für unseren Thread mit Künstlererinnerungen das Buch von Xenakis in der Hand "Formalized music", wo er Aleatorik über stochastische Prozesse in die Musik bringen möchte. Allerdings hatte mich der Text dann so herausgefordert, dass ich nicht genügend Zeit hatte für ein besseres Verständnis.


    Aber die Bedeutung von Proportionen, welcher Art auch immer, in Musik und Architektur ist ziemlich offensichtlich.


    Xenakis, der ja auch als Architekt tätig war, hatte seinerzeit den Philips Pavillon für die Weltaustellung 1958 entworfen. Das Dach ist reine Mathematik....


    2560px-Expo58_building_Philips.jpg


    Ob nun bestimmte Harmonien natürlich sind und andere nicht.... wer weiß das schon. Auch die Meinung darüber scheint ein wenig der zeitlichen Entwicklung zu unterliegen. Die Griechen hätten einen solchen Pavillon sicher nicht gebaut. :hello:


  • Lieber Moderato,


    natürlich kann eine Dissonanz eine Disharmonie bedeuten, die dann in eine Konsonanz harmonisierend aufgelöst werden kann. Nur "strebt" sie auch "zwingend" nach einer solchen Auflösung als Harmonie? Das ist durchaus nicht ausgemacht. Der Komponist Leos Janacek, der auch - weniger bekannt - Musiktheoretiker war, bestreitet das jedenfalls in seiner Harmonielehre. Auch bei Beethoven ist eben die Frage, ob die Auflösung der Dissonanz nicht vielmehr durch den Satzverlauf motiviert ist - also zur Harmonie noch andere Dinge dazukommen müssen, damit das Bedürfnis entsteht, eine solche Dissonanz in eine Konsonanz aufzulösen. Es gibt ja auch Musikstücke, die mit einer unaufgelösten Dissonanz enden.


    Harmonie ist ein Grundprinzip der Natur, deren Teil auch der Mensch ist. Nach dem Studium des Buches Doczis werden dem Leser und Betrachter die universellen, weltumspannenden Zusammenhänge bewusst.

    Das ist auch eine interessante Problematik. Nur besteht Musik nicht nur aus Harmonie und auch die Spannung wird durchaus nicht immer nur durch die Auflösung einer Dissonanz in eine Konsonanz gelöst. Beispiel: Das letzte Chopin-Prelude op. 28 Nr. 24. Das Stück ist spannungsgeladen wie eine Gewitterwolke. Die Spannung löst sich aber am Schluss nicht durch die Rückkehr zur Tonika, sondern sehr energetisch-energisch damit, dass nach dem Absturz eines Klavierlaufs in den tiefen Bass derselbe Basston dreimal Fortissimo in die Tasten gehämmert wird. Selbst bei einer ganz normalen Kadenz resultiert die Schlusswirkung nicht allein schon aus der Auflösung in die Tonika. Die Musiktheorie spricht nicht zufällig von "Schlussbekräftigungen", d.h. die Musik bedarf zusätzlicher rhetorischer Kunstmittel, weil die harmonische Lösungswirkung alleine nicht ausreicht, eine Schlusswirkung zu erzielen. :hello:


    Zum Genießen nicht, um z.B. über "Harmonik und Harmonie" sinnvoll zu reden, leider schon.

    Lieber Kurzstückmeiser,


    im Musikunterricht lernt man, was ein Dominantseptimakkord ist und es gibt auch eine Gehörsschulung. Aber braucht man solches Wissen tatsächlich, um den Anfang der 1. Beethoven-Symphonie zu verstehen? Meine Antwort wäre: Nein! Es reicht wahrzunehmen, dass da eine Dissonanz exponiert wird. Um welche es sich handelt, ist zwar für den Analytiker interessant, für die ästhetische Wahrnehmung aber gar nicht erforderlich.


    Schöne Grüße

    Holger

  • Das sehe ich nicht so, schließlich ist ein Dominantseptakkord etwas anderes als "irgendeine" Dissonanz.

    Dann musst Du aber allen Hörern, die nicht wissen, was ein D7-Akkord ist, unterstellen, sie könnten diese Beethoven-Symphonie nicht verstehen. Letztlich ist das auch eine musikgeschichtliche Frage. Im 18. Jhd. z.B. bei J.S. Bach werden harmonische Kenntnisse bei den Hörern durchaus unterstellt vom Komponisten, weil die Harmonie strukturbildend ist. Das schwindet aber zunehmend. Die Romantiker (Schumann z.B.) haben die Auffassung, dass der Komponist die harmonische Konstruktion "verstecken", also unkenntlich machen muss. Der Hörer soll nicht merken, wie das Stück "technisch", musikalisch-grammatisch, gemacht ist, sondern die Musik intuitiv aufnehmen. Sonst ist die Musik prosaisch und nicht poetisch. Das geht einher mit einer Entwicklung, wo die Harmonik ihre strukturbildende Rolle verliert und zunehmend nur noch als Ausdrucksträger wahrgenommen wird. Es kommt also bei einem D7-Akkord darauf an, was er ausdrückt und nicht, dass er ein D7-Akkord ist. Den Ausdrucksgehalt einer solchen Disharmonie erfasst der Hörer auf jeden Fall auch ohne Kenntnis der Harmonielehre. Ich muss ja auch nicht, wenn ich höre, dass ein Sänger einen schönen oder unschönen Ton hervorbringt, wissen, wie er seine Stimmbänder bewegt! ^^


    Schöne Grüße

    Holger

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  • Einige Hörer werden schon mehr wahrnehmen als nur "dass da eine Dissonanz exponiert wird", eben weil sie den Dominantseptakkord kennen, auch wenn sie ihn nicht benennen können. Allerdings ist das natürlich spekulativ. Und das sinnvolle darüber Reden stößt dann allzu schnell an Grenzen. Du hast ja auch eben versucht, es möglichst zu vereinfachen, nämlich nur "dass da eine Dissonanz exponiert wird".

  • Es kommt also bei einem D7-Akkord darauf an, was er ausdrückt und nicht, dass er ein D7-Akkord ist. Den Ausdrucksgehalt einer solchen Disharmonie erfasst der Hörer auf jeden Fall auch ohne Kenntnis der Harmonielehre.

    Ich glaube kaum, dass alle Hörer, die keinen Tau von Harmonielehre haben, im ersten Akkord der 1. Beethoven eine Disharmonie wahrnehmen.

  • Ich glaube kaum, dass alle Hörer, die keinen Tau von Harmonielehre haben, im ersten Akkord der 1. Beethoven eine Disharmonie wahrnehmen.

    Es ist sehr die Frage, ob dieser Akkord nach Beethoven überhaupt in seiner funktionsharmonischen Bedeutung erfasst werden soll. Die funktionsharmonische Bedeutung ist eindeutig, die ausdrucksästhetische Individualisierung tendiert zur Mehrdeutigkeit. Deswegen liegt es dann in der Natur der Sache, dass ein solcher Akkord nicht von jedem Hörer genau gleich wahrgenommen wird. Der Interpret kann natürlich die Aufmerksamkeit in gewisse Bahnen lenken, indem er den dissonanten Charakter mehr oder weniger hervorhebt.

  • Du schriebst: "Den Ausdrucksgehalt einer solchen Disharmonie erfasst der Hörer auf jeden Fall"

    Ich schrieb: "Ich glaube kaum, dass alle Hörer, die keinen Tau von Harmonielehre haben, im ersten Akkord der 1. Beethoven eine Disharmonie wahrnehmen"


    Du schreibst: "Es ist sehr die Frage, ob dieser Akkord nach Beethoven überhaupt in seiner funktionsharmonischen Bedeutung erfasst werden soll"


    Dass Du nicht liest, was ich schreibe, kenne ich ja sowieso. Das ist aber für die Kommunikation frustrierend, daher lasse ich Dir jetzt allein Deine permanent hakenschlagende Überlegungen, diesmal zu dem, was der Hörer "auf jeden Fall" erfasst, oder gar nicht erfassen muss.

  • Ich würde sogar so weit gehen, zu behaupten, dass fast alle Hörer, die nicht wissen, was ein Dominantseptakkord ist, im ersten Akkord von Beethovens 1. Sinfonie keine Disharmonie wahrnehmen, sondern diesen Akkord als "schön", "klassisch", "harmonisch" wahrnehmen.

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  • Ich hatte mich antwortend auf die Äußerungen von Moderato bezogen, für den klar war, dass es sich hier um eine Dissonanz handelt, die auch wahrgenommen wird. Und daran anschließend stellte sich die Frage, ob - vorausgesetzt, die Dissonanz wird wahrgenommen - es dazu erforderlich ist, die funktionsharmonische Bedeutung wahrzunehmen oder nicht. Jetzt kommst Du und sagst, da werde überhaupt keine Dissonanz wahrgenommen. Da können sich vielleicht die Hörer der Symphonie dazu mal äußern, wie sie das erleben. ^^

    Ich würde sogar so weit gehen, zu behaupten, dass fast alle Hörer, die nicht wissen, was ein Dominantseptakkord ist, im ersten Akkord von Beethovens 1. Sinfonie keine Disharmonie wahrnehmen, sondern diesen Akkord als "schön", "klassisch", "harmonisch" wahrnehmen.

    Der D7-Akkord - so lernt man es in der Musikschule - verstärkt die Funktion der Kadenzierung, sprich erleichtert die Über- und Rückleitung zur Tonika. Zu Beginn einer Symphonie, zur Verdeutlichung des Einleitungs-Charakters (die Einleitung führt schließlich zu etwas hin, nämlich der Exposition) - macht das also zunächst einmal Sinn. Das wäre dann die strukturelle Bedeutung. Klar kann man jeden Akkord auch prinzipiell für sich wahrnehmen und das ästhetisch werten. Hier ist letztlich die Analyse gefragt - sowohl die der musikalischen Struktur als auch der Hörwahrnehmung.


    Das Thema des Threads ist aber eigentlich die Harmonie und die Harmonik. Hier wäre die Frage: Achtet man bei einer musikalischen Einleitung auf die "Architektur" (Harmonie ist etwas Architektonisches), oder folgt man vielleicht doch eher der Bewegungsrichtung der Musik mit dem Sinn, zu etwas hinzuführen?


    Schöne Grüße

    Holger

  • Mein Schulunterricht war offensichtlich nicht so schlecht. Wir hatten den Dominantseptakkord in der Schule und wenn ich mich noch richtig erinnere (sicher bin ich leider nicht mehr) sogar noch den Tristan-Akkord ziemlich direkt danach.....


    Ich würde sogar so weit gehen, zu behaupten, dass fast alle Hörer, die nicht wissen, was ein Dominantseptakkord ist, im ersten Akkord von Beethovens 1. Sinfonie keine Disharmonie wahrnehmen, sondern diesen Akkord als "schön", "klassisch", "harmonisch" wahrnehmen.

    Die Wahrnehmung dieses Akkordes hängt in meinen Augen nicht unwesentlich mit dem Kontext zusammen. Höre ich Beethoven unmittelbar nach Lachenmann "Reigen seeliger Geister" empfinde ich ihn als wohltönende Auflösung. Höre ich ein paar Präludien und Fugen aus dem WTC von Bach, klingt der Akkord in der Rezeption wahrscheinlich schon anders. Ich glaube allerdings auch, dass die dissonante Reibung heute keinen mehr "hinter dem Ofen hervorholt".


    BTW Lachenmann sagte an einer Stelle sogar mal, dass man in Mozarts Streichquartetten den Tristan-Akkord schon fände. Mozart hält sich halt mit Werbung vornehm zurück :)

  • Die Wahrnehmung dieses Akkordes hängt in meinen Augen nicht unwesentlich mit dem Kontext zusammen. Höre ich Beethoven unmittelbar nach Lachenmann "Reigen seeliger Geister" empfinde ich ihn als wohltönende Auflösung. Höre ich ein paar Präludien und Fugen aus dem WTC von Bach, klingt der Akkord in der Rezeption wahrscheinlich schon anders. Ich glaube allerdings auch, dass die dissonante Reibung heute keinen mehr "hinter dem Ofen hervorholt".

    Ich tendiere dazu, dass die meisten Hörer es nicht merken würden, wenn man den Akkord ohne die Sept spielte. Stattdessen wird sich eher das "5->1" einprägen, das da so "ausgestellt" wird, nicht das "Dissonanz->Konsonanz". Die nächste Frage wäre dann, wievielen Hörern auffallen würde, wenn statt dem "5->1" ein "1->5" oder ein "4->1" als Beginn von Beethovens 1. aufgetischt würde.


    Moderatos Text lässt auf mich ja eher den Schluss zu, dass er keine Disharmonie gehört hat, sondern gelesen, dass hier ein Dominantseptakkord zur Auflösung strebt.

  • Die Wahrnehmung dieses Akkordes hängt in meinen Augen nicht unwesentlich mit dem Kontext zusammen. Höre ich Beethoven unmittelbar nach Lachenmann "Reigen seeliger Geister" empfinde ich ihn als wohltönende Auflösung. Höre ich ein paar Präludien und Fugen aus dem WTC von Bach, klingt der Akkord in der Rezeption wahrscheinlich schon anders. Ich glaube allerdings auch, dass die dissonante Reibung heute keinen mehr "hinter dem Ofen hervorholt".


    BTW Lachenmann sagte an einer Stelle sogar mal, dass man in Mozarts Streichquartetten den Tristan-Akkord schon fände. Mozart hält sich halt mit Werbung vornehm zurück :)

    Das ist natürlich ein Phänomen und völlig richtig! Weil wir eben auch das Frühere durch das Spätere hören, kann sich so manche früher aufregende Wirkung relativieren. Deswegen ist es dann die Aufgabe der Interpreten, diese aufregende Wirkung irgendwie wiederherzustellen durch ein "Nachwürzen" der Stelle, damit ihre Wirkung nicht verloren geht. :)


    Bei Youtube kann man schön bei der Karajan-Aufnahme die Noten sehen:



    Da hat Beethoven etwas gemacht, was glaube ich nie seine Wirkung verfehlen wird! Es wird die unaufgelöste Spannung zum Ereignis und die Auflösung von der Hauptsache zur Nebensache degradiert. Das geschieht einmal dynamisch durch das fp, dann den Zeitwert - der unaufgelöste, dissonante Akkord ist der stärkere Affekt und zudem doppelt so lang (Viertel und nicht Achtel) wie die Auflösung, wo dann auch noch die auflösende Wirkung gleichsam "abgewürgt" wird durch die notierte Pause danach. Da wird die Musik wie bei einem Akku mit Spannung aufgeladen - das Ganze wird wiederholt und dann noch einmal die Spannung aufstauende Wirkung verstärkt durch die Akkordwiederholung (drei Viertel). Es wird eine Spannung also - dem rein funktionsharmonischen Sinn entgegengesetzt, ihn geradezu auf den Kopf stellend - nicht aufgelöst, sondern, das ist Beethovens Genialität - gerade aufgebaut durch die "Entwertung" der harmonischen Auflösung zur Nebensache. Ich glaube nicht, dass irgend Jemandem diese aufregende Wirkung entgeht. Spannender kann man einen Symphonie-Anfang kaum gestalten! Das ist glaube ich bleibend! :)


    Schöne Grüße

    Holger

  • Und ich glaube, dass genau das, was Du beschreibst, nur jemandem zugänglich ist, der auch in der Theorie über die Grundbegriffe hinausgekommen ist.


    Die anderen können natürlich auch das Stück mögen und irgendwie "verstehen", aber eine Spannung, die "dem rein funktionsharmonischen Sinn entgegengesetzt, ihn geradezu auf den Kopf stellend" nicht aufgelöst wird, werden sie nicht wahrnehmen.

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