Bei dem Versuch, die Aussage von Schuberts Lied „Der Leiermann“ von einem gleichsam dimensional weiter gefassten Interpretationsansatz her zu verstehen, setze ich an einem Gedanken von Thrasybulos Georgiades an. Den Schluss der „Winterreise“ betreffend meint er:
„Er (Schubert) verwirklichte damit einen >Abgang<, gleichsam ein Verlassen der Bühne, das an die Seite der größten >Exit<, die der europäische Geist geschaffen hat zu stellen ist. >Der Leiermann< ist wie ein vor dem Vorhang gesprochener Epilog, bei völliger Apathie des Ichs“. (Schubert, Musik und Lyrik, S.389)
Nun ist es ja tatsächlich so, dass Schubert die Abfolge der Lieder gleichsam auf den „Leiermann“ zulaufen lässt. Die Fassung, die Müller seinem Zyklus in der Endredaktion gegeben hat, übernahm Schubert nicht, sondern hielt sich an die Erstausgabe. In der zweiten Fassung Müllers lautet die Reihenfolge der letzten Gedichte: Der Wegweiser, Das Wirtshaus, das Irrlicht, Rast, Die Nebensonnen, Frühlingstraum, Einsamkeit, Mut, Der Leiermann. Die Tatsache, dass Schubert diese Reihenfolge nicht übernahm, sondern die ursprüngliche seinen Kompositionen zugrunde legte, dabei aber „Die Nebensonnen“ mit „Mut“ vertauschte, ist wohl nicht anders zu verstehen, als dass er seinem Liederzyklus einen „finalen Sog“ (P. Gülke“) verleihen wollte.
Im Grunde ist das Lied „Die Nebensonnen“ der eigentliche Schluss des Liederzyklus. Schaut man sich die Faktur dieses Liedes genauer an, so stellt man ab Takt 20 langsames Herabsteigen von Melodik und Harmonik fest. Diese Bewegung, die vom Klavier, mehrere Tonarten (darunter eine a-Moll-Wendung) durchlaufend, im Pianissimo und Diminuendo fortgesetzt wird, erreicht in Takt 25 ihr Ende in einem eine halbe Note anhaltenden E-Dur-Akkord, an den sich eine Achtelpause anschließt. Dieser Akkord sitzt auf dem Taktanfang, und das ist ungewöhnlich für dieses Lied, bei dem ansonsten rhythmisch alles auf die zweite Takthälfte gesetzt ist.
Schubert will hier wohl mit musikalischen Mitteln hörbar und nacherlebbar machen: Hier ist das Ende erreicht. Nicht nur alle Hoffnungen und Träume eines von Zweisamkeit erfüllten Lebens sind „hinab gegangen“, auch der Weg des Wanderers ist an ein Ende gelangt. Es gibt kein „Weiter“ mehr, weil es kein Ziel gibt. Georgiades kann also mit gutem Grund feststellen: „>Die Nebensonnen“ sind als das die >Winterreise“ abschließende Lied vertont.“
Damit kommt dem Lied „Der Leiermann“ ein besonderes Gewicht im Sinne eines das Werk beschließenden Epilogs zu. Es ist ja doch – einmal abgesehen von seiner kompositorischen Faktur – allein schon dadurch ein unter den anderen herausragendes Lied, dass der Wanderer hier erstmals einer zwar höchst wunderlichen und befremdlichen, aber doch menschlichen Gestalt begegnet. Mutter und Geliebte spielen nur in der Retrospektive eine Rolle, und der „Köhler“ nur als Eigentümer des „engen Hauses“, in dem der Wanderer vorübergehend Obdach fand. Man kann das Lied also durchaus als gleichsam „vor dem Vorhang“ eines zuvor abgelaufenen seelischen Dramas gesungen verstehen.
Was aber hieße das nun für sein Verständnis?
Man darf mit guten Gründen davon ausgehen, dass Schubert sich mit der Figur seines „Winterreisenden“ in existenziell fundamentaler Weise identifiziert hat. Schubert aber war Musiker, Komponist, kreativer Künstler. Wenn nun der Protagonist seiner „Winterreise“ in der Begegnung mit dieser befremdlichen Gestalt des „Leiermanns“ nach all den Stationen seiner Wanderschaft zum ersten Mal von „meinen Liedern“ spricht, indem er an diesen die Frage richtet: „Willst zu meinen Liedern deine Leier drehn?“ - wie ist das dann zu verstehen?
Vielleicht so. Hier begegnet der die Einsamkeit der gesellschaftlichen Exorbitanz, in eine existenzielle Grenzsituation also geratene Protagonist der „Winterreise“ erstmals einer Figur, mit der er sich in eben dieser existenziellen Grundsituation zu identifizieren vermag. Denn es heißt ja von dieser: „Keiner mag ihn hören, keiner sieht ihn an“. Alle anderen Versuche des Wanderers, einen Ort des Zu-Hause-sein-Könnens zu finden, sind ja doch gescheitert. Selbst das „unter den Schläfern säumen“ ist ihm verwehrt. Am Ende von „Das Wirtshaus“ muss sich der Wanderer die Parole seines Lebensweges regelrecht einhämmern: „Nur weiter denn, nur weiter, mein treuer Wanderstab.“
Und da taucht mit einem Mal diese Figur des Leiermanns auf, dieser „wunderliche Alte“. Schubert hat ihn ja doch im Grunde als einen Doppelgänger des Wanderers komponiert. Die melodische Linie, die er vor sich hin leiert, weist in ihrer Struktur eine auffällige Ähnlichkeit mit der des Wanderers auf. Und indem der Wanderer diesen seinen Doppelgänger anspricht und ihn fragt, ob er mit ihm sein künftiges Leben teilen möchte, indem er zu „seinen Liedern“ die Leier dreht, vollzieht er den entscheidenden Akt in seiner „Winterreise“:
Er identifiziert sich in diesem Augenblick mit seiner Existenz als gesellschaftlich exorbitanter Mensch und rafft sich auf diese Weise zu einem Entwurf von existenzieller Zukunft auf.
Dass der „Leiermann“ auf seine Frage nicht wirklich antwortet, sondern, nach einer nur ganz kleinen Geste des Reagierens auf diese, in seinem befremdlich mechanischen Leiern fortfährt, hat für diese Entscheidung des Wanderers keinerlei Bedeutung. Er hat sie in seiner Einsamkeit subjektiv souverän getroffen.
Und da er ein „Sänger“, ein Musiker, ein musikalisch kreativer Mensch ist – und darin eine Figur der Identifikation mit seinem Schöpfer Schubert – heißt das nun:
Hier, im Epilog der „Winterreise“, in der Bilanz ihrer Aussage als musikalisches Kunstwerk also, begegnet uns die Grundfigur des „Künstlers“, wie sie das europäische neunzehnte Jahrhundert in immer neuen Varianten entworfen hat:
Der gesellschaftlich exorbitante Dichter und Künstler, der, einsam und mit „entblößtem Haupt“ unter „Gottes Gewittern“ stehend, das allein zu schaffen vermag, „was bleibet“.