Schuberts Winterreise in liedanalytischer Betrachtung

  • Bei dem Versuch, die Aussage von Schuberts Lied „Der Leiermann“ von einem gleichsam dimensional weiter gefassten Interpretationsansatz her zu verstehen, setze ich an einem Gedanken von Thrasybulos Georgiades an. Den Schluss der „Winterreise“ betreffend meint er:
    „Er (Schubert) verwirklichte damit einen >Abgang<, gleichsam ein Verlassen der Bühne, das an die Seite der größten >Exit<, die der europäische Geist geschaffen hat zu stellen ist. >Der Leiermann< ist wie ein vor dem Vorhang gesprochener Epilog, bei völliger Apathie des Ichs“. (Schubert, Musik und Lyrik, S.389)


    Nun ist es ja tatsächlich so, dass Schubert die Abfolge der Lieder gleichsam auf den „Leiermann“ zulaufen lässt. Die Fassung, die Müller seinem Zyklus in der Endredaktion gegeben hat, übernahm Schubert nicht, sondern hielt sich an die Erstausgabe. In der zweiten Fassung Müllers lautet die Reihenfolge der letzten Gedichte: Der Wegweiser, Das Wirtshaus, das Irrlicht, Rast, Die Nebensonnen, Frühlingstraum, Einsamkeit, Mut, Der Leiermann. Die Tatsache, dass Schubert diese Reihenfolge nicht übernahm, sondern die ursprüngliche seinen Kompositionen zugrunde legte, dabei aber „Die Nebensonnen“ mit „Mut“ vertauschte, ist wohl nicht anders zu verstehen, als dass er seinem Liederzyklus einen „finalen Sog“ (P. Gülke“) verleihen wollte.


    Im Grunde ist das Lied „Die Nebensonnen“ der eigentliche Schluss des Liederzyklus. Schaut man sich die Faktur dieses Liedes genauer an, so stellt man ab Takt 20 langsames Herabsteigen von Melodik und Harmonik fest. Diese Bewegung, die vom Klavier, mehrere Tonarten (darunter eine a-Moll-Wendung) durchlaufend, im Pianissimo und Diminuendo fortgesetzt wird, erreicht in Takt 25 ihr Ende in einem eine halbe Note anhaltenden E-Dur-Akkord, an den sich eine Achtelpause anschließt. Dieser Akkord sitzt auf dem Taktanfang, und das ist ungewöhnlich für dieses Lied, bei dem ansonsten rhythmisch alles auf die zweite Takthälfte gesetzt ist.
    Schubert will hier wohl mit musikalischen Mitteln hörbar und nacherlebbar machen: Hier ist das Ende erreicht. Nicht nur alle Hoffnungen und Träume eines von Zweisamkeit erfüllten Lebens sind „hinab gegangen“, auch der Weg des Wanderers ist an ein Ende gelangt. Es gibt kein „Weiter“ mehr, weil es kein Ziel gibt. Georgiades kann also mit gutem Grund feststellen: „>Die Nebensonnen“ sind als das die >Winterreise“ abschließende Lied vertont.“


    Damit kommt dem Lied „Der Leiermann“ ein besonderes Gewicht im Sinne eines das Werk beschließenden Epilogs zu. Es ist ja doch – einmal abgesehen von seiner kompositorischen Faktur – allein schon dadurch ein unter den anderen herausragendes Lied, dass der Wanderer hier erstmals einer zwar höchst wunderlichen und befremdlichen, aber doch menschlichen Gestalt begegnet. Mutter und Geliebte spielen nur in der Retrospektive eine Rolle, und der „Köhler“ nur als Eigentümer des „engen Hauses“, in dem der Wanderer vorübergehend Obdach fand. Man kann das Lied also durchaus als gleichsam „vor dem Vorhang“ eines zuvor abgelaufenen seelischen Dramas gesungen verstehen.
    Was aber hieße das nun für sein Verständnis?


    Man darf mit guten Gründen davon ausgehen, dass Schubert sich mit der Figur seines „Winterreisenden“ in existenziell fundamentaler Weise identifiziert hat. Schubert aber war Musiker, Komponist, kreativer Künstler. Wenn nun der Protagonist seiner „Winterreise“ in der Begegnung mit dieser befremdlichen Gestalt des „Leiermanns“ nach all den Stationen seiner Wanderschaft zum ersten Mal von „meinen Liedern“ spricht, indem er an diesen die Frage richtet: „Willst zu meinen Liedern deine Leier drehn?“ - wie ist das dann zu verstehen?


    Vielleicht so. Hier begegnet der die Einsamkeit der gesellschaftlichen Exorbitanz, in eine existenzielle Grenzsituation also geratene Protagonist der „Winterreise“ erstmals einer Figur, mit der er sich in eben dieser existenziellen Grundsituation zu identifizieren vermag. Denn es heißt ja von dieser: „Keiner mag ihn hören, keiner sieht ihn an“. Alle anderen Versuche des Wanderers, einen Ort des Zu-Hause-sein-Könnens zu finden, sind ja doch gescheitert. Selbst das „unter den Schläfern säumen“ ist ihm verwehrt. Am Ende von „Das Wirtshaus“ muss sich der Wanderer die Parole seines Lebensweges regelrecht einhämmern: „Nur weiter denn, nur weiter, mein treuer Wanderstab.“


    Und da taucht mit einem Mal diese Figur des Leiermanns auf, dieser „wunderliche Alte“. Schubert hat ihn ja doch im Grunde als einen Doppelgänger des Wanderers komponiert. Die melodische Linie, die er vor sich hin leiert, weist in ihrer Struktur eine auffällige Ähnlichkeit mit der des Wanderers auf. Und indem der Wanderer diesen seinen Doppelgänger anspricht und ihn fragt, ob er mit ihm sein künftiges Leben teilen möchte, indem er zu „seinen Liedern“ die Leier dreht, vollzieht er den entscheidenden Akt in seiner „Winterreise“:
    Er identifiziert sich in diesem Augenblick mit seiner Existenz als gesellschaftlich exorbitanter Mensch und rafft sich auf diese Weise zu einem Entwurf von existenzieller Zukunft auf.
    Dass der „Leiermann“ auf seine Frage nicht wirklich antwortet, sondern, nach einer nur ganz kleinen Geste des Reagierens auf diese, in seinem befremdlich mechanischen Leiern fortfährt, hat für diese Entscheidung des Wanderers keinerlei Bedeutung. Er hat sie in seiner Einsamkeit subjektiv souverän getroffen.


    Und da er ein „Sänger“, ein Musiker, ein musikalisch kreativer Mensch ist – und darin eine Figur der Identifikation mit seinem Schöpfer Schubert – heißt das nun:
    Hier, im Epilog der „Winterreise“, in der Bilanz ihrer Aussage als musikalisches Kunstwerk also, begegnet uns die Grundfigur des „Künstlers“, wie sie das europäische neunzehnte Jahrhundert in immer neuen Varianten entworfen hat:
    Der gesellschaftlich exorbitante Dichter und Künstler, der, einsam und mit „entblößtem Haupt“ unter „Gottes Gewittern“ stehend, das allein zu schaffen vermag, „was bleibet“.

  • Der »Leiermann« ist innerhalb der Winterreise singulär, ganz recht, und ich sehe dafür einen weiteren Grund: Bei allen anderen Liedern kann ich die geschilderte Situation noch mehr oder weniger mit einer gedachten Realität in Übereinstimmung bringen, beim Leiermann dagegen (barfuß auf dem Eise ...) klappt das für mich nicht mehr, das ist das im Grunde schon irgendwie surreal. Welche Konsequenzen für eine Deutung könnte das haben?

  • Wenn man lange genug sucht, so meine ich, ist nicht nur "Der Leiermann" surreal, und der "finale Sog" fängt für mich schon eher an, mindestens schon beim "Wegweiser", er verstärkt sich dann noch beim "Wirtshaus" und auch in den "Nebensonnen". Insofern sit es nur schlüssig, wenn Schubert diese Reihenfolge wählte.
    Wenn ich eine neue Winterreise erhalte, höre ich zuerst die Nr. 20 bis 24. Ich weiß auch nicht, warum, oder vielleicht doch? Ich habe, eigentlich schon seit meiner Jugend, ein tiefes Verständnis für den Winterreisenden, fühle mich manchmal ähnlich, suche aber nicht diese finalen Konsequenzen.
    Ich habe meinen Winterreisenbestand jüngst stark aufgestockt. Von den bestellten zwölf sind schon sieben eingetroffen, und wenn ich jetzt mal ein wenig Pause machen will von den Beethoven-Sonaten, höre ich die Nr. 20 bis 24. Auch da vergleiche ich, nur so für mich.


    Liebe Grüße


    Willi

    1. "Das Notwendigste, das Härteste und die Hauptsache in der Musik ist das Tempo". (Wolfgang Amadeus Mozart).
    2. "Es gibt nur ein Tempo, und das ist das richtige". (Wilhelm Furtwängler).

  • Der »Leiermann« ist innerhalb der Winterreise singulär, ganz recht, und ich sehe dafür einen weiteren Grund: Bei allen anderen Liedern kann ich die geschilderte Situation noch mehr oder weniger mit einer gedachten Realität in Übereinstimmung bringen, beim Leiermann dagegen (barfuß auf dem Eise ...) klappt das für mich nicht mehr, das ist das im Grunde schon irgendwie surreal. Welche Konsequenzen für eine Deutung könnte das haben?

    Der Wanderer stirbt am Ende der "Nebensonnen", das von ihm bis dato personifizierte menschliche Leid überträgt sich auf den (allegorischen) Leiermann - die Welt dreht sich auch nach dem Tod des Individuums (Wanderers) weiter wie die Leier des Leiermanns, der Kreislauf von Glück und Unglück, Freude und Elend bleibt bestehen, wobei hier das jeweils Zweitenannte hier deutlich dominiert, hohl (Quinte) und trostlos, beinahe mechanisch - es kann keine Lösung für dieses Problem geben, keinen wirklichen Schluss, daher dieser Halbschluss, bei dem die Melodie auf dem Sekundton (als Dreiklangston des Dominantakkrods) endet. Das ist eine Deutung, die ich mal anbieten möchte.

    Beste Grüße vom "Stimmenliebhaber"

  • Ja gewiss, der „Leiermann“ ist eine „surreale“ Gestalt, und das nicht nur als lyrische Figur, sondern auch als musikalische. Schuberts Musik weist nicht nur von ihrer quintenbetonten Klanglichkeit her die Anmutung von Leere auf, sie wirkt auch in ihrer Melodik (Klavierdiskant und melodische Linie der Singstimme) auf geradezu bedrückende Weise mechanisch, un-menschlich. Von allen Deutungsansätzen, die sich in der Literatur zu „Winterreise“ finden, scheint mir die des Doppelgängers noch am plausibelsten, - zumal diese Figur ja bei Schubert ohnehin eine große Rolle spielt. Im Grunde ähneln die zweitaktigen melodischen Figuren, die der Leiermann und der Wanderer artikulieren, einander. In ihrem schroffen Ende reflektieren sie die jeweils stumpfe Kadenz der lyrischen Verse: „Leiermann“, „was er kann“, „hin und her““, „immer leer". Nur dass der Leiermann das noch schroffer tut, - mit dem durch eine Achtelpause abgesetzten dreistimmigen Akkord am Ende.


    Nach meiner obigen Deutung wäre dann also der Leiermann zu verstehen als (Doppelgänger-) Vision einer künftigen Existenzform des Wanderers: Der einsame, gesellschaftlich ausgegrenzte („hinterm Dorfe“, von Hunden „umknurrt“), im Grunde nicht wahrgenommene („Keiner mag ihn hören, keiner sieht ihn an“) – und insofern „surreale“ - Künstler. Er verwendet hier ja zum ersten Mal die Wendung "meine Lieder". Allerdings, und Stimmenliebhaber hat ja noch einmal darauf hingewiesen, endet Schuberts Lied mit dem Verharren der melodischen Linie auf der Quinte und dem mechanischen Weiterspielen des Leiermann in einem offenen Schluss.


    Zu der Bemerkung von Stimmenliebhaber: „Der Wanderer stirbt am Ende der "Nebensonnen",
    Das kann man wohl so nicht sagen. Der lyrische Text gibt das nicht her. Er ist an das Ende seiner Wanderschaft gelangt. Die Musik reflektiert das ja auch, - mit ihrer fallenden Tendenz in Melodik und Harmonik.

  • Zu der Bemerkung von Stimmenliebhaber: „Der Wanderer stirbt am Ende der "Nebensonnen",
    Das kann man wohl so nicht sagen. Der lyrische Text gibt das nicht her. Er ist an das Ende seiner Wanderschaft gelangt.


    Was anderes soll denn am Ende dieser Wanderschaft stehen, wenn nicht der Tod? Am Ende ist immer der Tod, und wenn es nicht der Tod ist, dann ist es noch nicht das Ende...


    Für mich entsprechen die "Nebensonnen" in der "Winterreise" ganz klar "Des Baches Wiegenlied" in der "Schönen Müllerin". "Der Leiermann" ist hingegen noch einmal etwas ganz Neues, Anderes.


    Vielleicht ist es auch kein Zufall, dass "Die Nebensonnen" quasi direkt an die Schlusszeile von "Des Baches Wiegenlied" anknüpfen: "Und der Himmel da oben, wie ist er so weit" - "Drei Sonnen sah ich am Himmel stehn."

    Beste Grüße vom "Stimmenliebhaber"

  • Dass Müller - und damit auch Schubert - den Protagonisten seiner "Winterreise" keinen physischen Tod sterben lässt (um Unterschied zu dem der "Schönen Müllerin"), darüber kann man nicht streiten. Müller konnte ihn ja auch gar nicht sterben lassen. Für ihn ist "Der Leiermann" eine Verkörperung künstlerischer Existenz in der eisigen Zeit der Restauration. In diesem Sinne ist das Ansprache durch den Wanderer zu verstehen. Hätte er den Wanderer sterben lassen. sein Gedichtzyklus hätte seinen Sinn verloren, - in dem Sinn, das der Geist der Restaurationen den Sieg davongetragen hätte.


    Das Lied "Die Nebensonnen" soll für Schubert tatsächlich einen finalen Charakter haben. Aus diesem Grund hat er es ja - darin abweichend von Müller - vor den "Leiermann" gesetzt. Der Vers "Im Dunkel wird mir wohler sein" wurde von ihm ebenfalls geändert. Bei Müller heißt es "im Dunkeln". Schubert ging es nicht um das optische Phänomen Dunkelheit, sondern um existenzielle Dunkelheit. Das kann man als "Tod" interpretieren. Jedoch steht der Satz im Tempus des Futurs: Hier drückt sich - ähnlich wie im Lied "Das Wirtshaus" - eine Sehnsucht des Wanderers nach finaler Ruhe aus. Das Erschreckende an der "Winterreise" ist ja doch, dass dem Wanderer diese existenzielle Ruhe verwehrt bleibt. Es gibt für ihn weder die "Ruhe" eines Lebens in der gesellschaftlichen Geborgenheit bürgerlicher Existenz, noch gibt es die Art von Ruhe, die der Müllerbursch in der "Schönen Müllerin" findet. Das Lied "der Leiermann" ist für Schubert von daher ein Schlusslied Zyklus, das im Sinne eines Epilogs mit offenem Schluss ganz in der Logik seiner kompositionellen Konzeption steht.

  • Was anderes soll denn am Ende dieser Wanderschaft stehen, wenn nicht der Tod? Am Ende ist immer der Tod, und wenn es nicht der Tod ist, dann ist es noch nicht das Ende...

    Das ist eine finde ich bedenkenswerte Interpretation von Dir. Dieser rätselhafte "Schluß" der Winterreise gibt ja einiges zu denken auf - vielleicht kommt man da nie an ein Ende. Ich jedenfalls bin es noch nicht. Du sagtest, der Wanderer sei im Grunde schon vorher gestorben. Wie interpretierst Du dann aber "Der Wegweiser" und "Das Wirtshaus"? Von der Suche nach Ruhe ist die Rede - aber der Friedhof als gastliche Städte ist besetzt, es ist keine Kammer frei, d.h. die Todessehnsucht wird nicht erfüllt und der Wanderer ist dazu verurteilt, ruhelos weiter zu wandern.


    Wenn man es psychologisierend interpretiert, kann man allerdings beim "Leiermann" einen Bezug zum Tod herstellen, wenn man es im Sinne von Siegmund Freud auslegt. Der "Todestrieb" bei Freud ist ja der Wiederholungszwang. Die immer wieder alte Leier, die gespielt wird, das ließe sich so deuten. Aber ist das wirklich ein Abschluß nach dem Motto: am Ende des Lebens steht eben der Tod? Ist die Resignation wirklich das Ziel der Reise, womit alles ein für allemal zuende geht (und zuende gehen muß, so sicher wie der Tod kommt)? Schubert hat sicher durch die Umstellung der Gedichte die Resignation am Ende "folgerichtig" dargestellt - aber ist sie auch wirklich ein Abschluß im Sinne eines notwendigen Zieles, auf das alles zu oder hinläuft? Mir ist das ein bisschen zu "teleologisch" interpretiert, wo die Romantik doch immer das Unabgeschlossene der menschlichen Lebensreise betont. Oder - das bedenkend - kann man dieses Ende nicht auch als ein Rücklaufen in den Anfang interpretieren? "Gute Nacht" beginnt doch schon so: es wiederholt sich immer dieselbe traurige Geschichte - nichts Neues unter der Sonne:


    Fremd bin ich eingezogen
    fremd zieh´ ich wieder aus.


    Könnte man von daher nicht die These riskieren, dass das, was der Leiermann spielt, eben im Grunde diese ganze Winterreise von Anfang bis Ende ist in ewiger Wiederholung? Das ist sicher eine etwas gewagte These, aber nicht ganz unplausibel, finde ich. :hello:


    Schöne Grüße
    Holger

  • Ich sehe gerade, dass ich nicht sorgfältig genug verfahren bin in meinem Bemühen, zu jedem Beitrag in diesem Thread in angemessen detaillierter Weise Stellung zu nehmen. (Ausnahme müssen leider die Beiträge von Herrn Dr. Kaletha sein, denn der hat mir ein für allemal die Kommunikation aufgekündigt, und ich nehme ihn beim Wort).


    Die Frage von Dieter Stockert „Welche Konsequenzen für eine Deutung könnte das haben?“ habe ich aber, wie ich denke, in Beitrag 605 hinreichend beantwortet, indem versuchte, für das "Surreale" im Bild vom Leiermann eine Erklärung zu geben.


    Zu der Bemerkung von WilliamB.A.: "der finale Sog" fängt für mich schon eher an, mindestens schon beim "Wegweiser", er verstärkt sich dann noch beim "Wirtshaus" und auch in den "Nebensonnen":
    Ja, das ist ganz sicher so. Dieser „finale Sog“, wie Peter Gülke das nannte, liegt der Abfolge der Lieder von Anfang an zugrunde. Schubert hat ihn aus der ursprünglichen Fassung des zweiten Teils von Müllers „Winterreise“ herausgelesen und die lyrischen Texte dementsprechend in Musik gesetzt. Gestört hat ihn dabei nur das Gedicht „Mut“ unmittelbar vor dem „Leiermann“. Also hat er es mit den „Nebensonnen“ vertauscht.


    Was den Beitrag von Stimmenliebhaber anbelangt, so habe ich mich missverständlich ausgedrückt, wenn ich auf die Feststellung von ihm „Der Wanderer stirbt am Ende der "Nebensonnen" mit den Worten reagierte: "Das kann man wohl so nicht sagen. Der lyrische Text gibt das nicht her. Er ist an das Ende seiner Wanderschaft gelangt.“


    Das Missverständliche liegt in dem Wort „Wanderschaft“. Es suggeriert einen realen Vorgang. Den gibt es aber in der „Winterreise“ nicht. Die Lieder stehen hier, anders als die „Schöne Müllerin“, nicht in einem narrativen Kontext. Die „Winterreise“ stellt ein Kompendium von Stationen einer imaginären Wanderschaft dar, bei der die Elemente von realer Lebenswelt (Wetterfahne, Fluss, Post, Krähe, Dorf u.a.) nur eine evokative Funktion haben, als Auslöser monologisch zum Ausdruck gebrachter seelischer und kognitiver Prozesse dienen.


    Die Quittung kam prompt und lautete:
    Zit. Stimmenliebhaber: „Was anderes soll denn am Ende dieser Wanderschaft stehen, wenn nicht der Tod? Am Ende ist immer der Tod, und wenn es nicht der Tod ist, dann ist es noch nicht das Ende..“.
    In der Tat: Am Ende jeder realen „Wanderschaft“ steht „immer der Tod“. Aber es geht hier ja doch nicht um eine solche. Schubert musste es sehr recht sein, dass Müller sein lyrisches Ich nicht sterben ließ, - nicht sterben lassen konnte, wie ich oben zu zeigen versuchte. Er wollte – ja musste! - seinen Liederzyklus in ein offenes Ende münden lassen, weil sein „Zyklus schauerlicher Lieder“ existenzielle Grundprobleme und –fragen zum Inhalt hat, für die es kein „Ende“ im Sinne einer Lösung und einer Antwort gibt.


    Und selbst wenn man den „Leiermann“ so interpretiert, wie ich das oben versucht habe, kann es kein, eine finale Lösung beinhaltendes Ende des Zyklus geben. In Schuberts – und in nicht nur seinem – Verständnis von künstlerisch produktivem Leben birgt dieses wesenhaft unauflösliche gesellschaftliche Exorbitanz in sich. Wenn man seine privaten Tagebuchaufzeichnungen und seine Briefe liest, so sprechen diese eine diesbezüglich geradezu erschreckend klare Sprache:
    Sie läuft auf fundamentale „Einsamkeit“ und schmerzliches „Unverstanden-Sein“ hinaus.

  • (Ausnahme müssen leider die Beiträge von Herrn Dr. Kaletha sein, denn der hat mir ein für allemal die Kommunikation aufgekündigt, und ich nehme ihn beim Wort).

    Das ist leider eine bedauerliche Fehlinterpretation. Ich habe lediglich die Konsequenz daraus gezogen, dass meine Beiträge und meine Art zu denken Helmut Hofmann mißfallen und mehrfach als unerwünscht gewertet wurden. Deshalb habe ich für meine Ausführungen in meinem persönlichen Stil einen anderen Ort gewählt, was aber nicht heisst, dass ich nicht mehr kommunikationsbereit wäre. Jedem das Seine. Konstruktive Denkarbeit ziehe ich dem unnötigen Streit, dem man besser aus dem Wege geht mit allen damit verbundenen negativen emotionalen Energien, vor. Das Reden und Sich-Bemühen um das Verständnis von Musik soll Freude machen bzw. konstruktiv aufbauen.


    Schöne Grüße
    Holger

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  • Apropos "bedauerliche Fehlinterpretation":


    Zit: Dr. Holger Kaletha (Beitrag 94 vom 7.4.2015, im Thread „Schuberts Winterreise post Fischer-Dieskau“):


    "Gut! Dann ziehe ich mich aus allen "Deinen" Threads ab sofort zurück - und diesmal endgültig."


    Ich nehme Menschen immer beim Wort. Und ich denke: Das sollten sie, sich selbst betreffend, auch tun, - und ihr Wort nicht nachträglich als "Fehlinterpretation" verdrehen und zurechtbiegen.

  • Ich nehme Menschen immer beim Wort. Und ich denke: Das sollten sie, sich selbst betreffend, auch tun, - und ihr Wort nicht nachträglich als "Fehlinterpretation" verdrehen und zurechtbiegen.

    Menschen sind keine Maschinen. Kommunikation besteht nur zu einem Teil aus dem, was wörtlich gesagt wird. Wer Menschen immer beim Wort nimmt, wird scheitern.

  • Schön, dann lassen wir es halt, wie es ist. Es geht ja auch so und jeder bleibt sich - passend zum Thema - selber treu wie der Leiermann in der Winterreise.

  • Beim nochmaligen Rückblick in die obigen Sachbeiträge zu diesem Thread stieß ich auf die Bemerkung von WilliamB.A.:
    "Ich habe meinen Winterreisenbestand jüngst stark aufgestockt. Von den bestellten zwölf sind schon sieben eingetroffen,"

    Und nun hege ich die Hoffnung, Willi möge doch aus diesem erweiterten "Bestand" schöpfen und einen oder mehrere Beiträge in den Thread "Schuberts Winterreise post Fischer-Dieskau" einbringen.
    Denn der liegt schon seit mehr als einer Woche brach.
    Und dabei könnte man doch auch auf dem Weg des Sich-Einlassens auf die gesanglichen Interpretationen der "Winterreise" zu Einsichten in deren Verständnis gelangen.

  • Dass Müller - und damit auch Schubert - den Protagonisten seiner "Winterreise" keinen physischen Tod sterben lässt (um Unterschied zu dem der "Schönen Müllerin"), darüber kann man nicht streiten. Müller konnte ihn ja auch gar nicht sterben lassen. Für ihn ist "Der Leiermann" eine Verkörperung künstlerischer Existenz in der eisigen Zeit der Restauration. In diesem Sinne ist das Ansprache durch den Wanderer zu verstehen. Hätte er den Wanderer sterben lassen. sein Gedichtzyklus hätte seinen Sinn verloren, - in dem Sinn, das der Geist der Restaurationen den Sieg davongetragen hätte.

    Das ist eine mögliche These, aber nicht die einzig mögliche Wahrheit.


    Der Vers "Im Dunkel wird mir wohler sein" wurde von ihm ebenfalls geändert. Bei Müller heißt es "im Dunkeln". Schubert ging es nicht um das optische Phänomen Dunkelheit, sondern um existenzielle Dunkelheit. Das kann man als "Tod" interpretieren. Jedoch steht der Satz im Tempus des Futurs: Hier drückt sich - ähnlich wie im Lied "Das Wirtshaus" - eine Sehnsucht des Wanderers nach finaler Ruhe aus.

    Für mich ist bei der Liedinterpretation der Text eine sehr wichtige, aber nicht die wichtigste Ebene (sonst ist es eine Gedichtinterpretation) - die wichtigste Ebene ist zweifellos der Kommentar des Komponisten zum Text, mit seiner Musik. Und wenn ich das Nachspiel der "Nebensonnen" nach "Im Dunkel wird mir wohler sein" höre, dann wird hier die Sehnsucht des Wanderers nach finaler Ruhe tatsächlich erreicht. Der Text spricht von der Zukunft, aber die Musik macht diese "finale Ruhe" gegenwärtig.


    Wie interpretierst Du dann aber "Der Wegweiser" und "Das Wirtshaus"? Von der Suche nach Ruhe ist die Rede - aber der Friedhof als gastliche Städte ist besetzt, es ist keine Kammer frei, d.h. die Todessehnsucht wird nicht erfüllt und der Wanderer ist dazu verurteilt, ruhelos weiter zu wandern.

    Ich muss gestehen, dass meine intensive interpretatorische Auseinandersetzung mit den Liedern der "Winterreise" schon ca. 18 Jahre her ist und dass ich seitdem wenig damit in Berührung gekommen bin. 1998 habe ich im Studium meine vierstündige Abschlussklausur in Musiktheorie geschrieben, da war neben Komposition die gründliche Analyse eines Schubert-Liedes der Hauptschwerpunkt. Zwischen 1996 und 1998 habe ich alle Lieder der "Winterreise" selbst analysiert, aber natürlich auch gelesen, was damals an Literatur dazu maßgeblich war. An einen Autorennamen (der auch sehr radikal gedeutet hat) erinnere ich mich leider nicht mehr, aber ein anderer für mich ganz maßgeblicher Autor war Arnold Feil. Dieses Buch habe ich damals regelrecht verschlungen und alle Ausführungen durch den Blick in den Notentext nachzuvollziehen versucht (was meistens gelang, wenn auch nicht immer):



    Damit will ich sagen: Meine Deutung vom Tod des Wanderers am Ende der "Nebensonnen" und der Deutung des "Leiermanns" als Epilog ist nicht allein auf meinem Mist gewachsen, sondern diese Deutung war so entweder bei Feil oder dem anderen, noch Radikaleren, dessen Name mir leider entfallen ist, so angelegt. Leider habe ich mein Feil-Buch mal verliehen und nicht wiederbekommen...


    Du fragst mich nun konkret nach "Wegweiser" und "Wirtshaus" - wie gesagt bin ich aktuell leider überhaupt nicht gut "im Stoff" drin, aber die Schlusszeilen des "Wegweisers", "Eine Straße muss ich gehen, die noch keiner ging zurück", bestärken mich in meiner Auffassunng, dass der Wanderer eben doch in den Tod geht und es eine Einbahnstraße und kein Kreislauf ist (der ist überindividuell, aber für den Wanderer als Individuum ist es eben eher die Einbahnstraße). Und warum weist das "Wirthaus", also der Totenacker, der Friedhof den Wanderer ab? Zum einen ist zu diesem Zeitpunkt seine Wanderschaft, also sein Leidensweg eben noch nicht am Ende angelagt (die Trotzphase in "Mut" ist noch nicht durchlaufen), zum anderen wäre dieser Tod ein ehrbarer innerhalb der bürgerlichen Gemeinschaft, aus welcher der Wanderer halb ausgestoßen wurde, halb freiwillig geflüchtet ist. Wer weiß, wie weit er sich mit dem Mädchen aus "Gute Nacht" eingelassen hatte und welche Konsequenzen dies nach sich zog. Für mich ist dieser Wanderer ein Außenseiter, ein Nonkonformist, der sich dem bürgerlichen Leben verweigert und in dieser Kompromisslosigkeit seine physische Existenz nicht nur gefährdet, sondern letztlich auch verliert. Dieser Wanderer wird seinen Platz nicht im "Wirtshaus" finden, wird nicht in Ehren und unter Anteilnahme der Gemeinschaft auf einem Friedhof bestattet, sondern bestenfalls außerhalb der Friedhofsmauern verscharrt werden, wenn er nicht einfach irgendwo im Wald vermodert. Dieser dunkle, hoffnungslose Ton durchzieht doch Schuberts Musik durch den ganzen Zyklus, er ist in der "Winterreise" viel schwärzer und existenzieller als in der "Schönen Müllerin", daher ist es für mich unvorstellbar, dass ausgerechnet "Die Winterreise" weniger tragisch enden sollte als "Die schöne Müllerin" - rein von der Textanalyse her mag man zu diesem Ergebnis kommen, aber der Vergleich der Komposition, also von Schuberts "Handlungskommentar", sagt mir etwas anderes.


    Aber ist das wirklich ein Abschluß nach dem Motto: am Ende des Lebens steht eben der Tod?

    Der Abschluss des Zyklus ist ja eben "Der Leiermann", und der geht eben darüber hinaus.



    Könnte man von daher nicht die These riskieren, dass das, was der Leiermann spielt, eben im Grunde diese ganze Winterreise von Anfang bis Ende ist in ewiger Wiederholung? Das ist sicher eine etwas gewagte These, aber nicht ganz unplausibel, finde ich.

    Dazu habe ich gerade mit Hinweis auf den Schluss des Liedes "Der Wegweiser" schon geantwortet, ich finde auch musikalisch keinen Kreislauf, kein Anknüpfen im "Leiermann" an "Gute Nacht", wo en Getriebener sagt, "dass man mich trieb hinaus" und auch die Musik meines Erachtens dieses Getriebenwerden verdeutlicht - natürlich wird sich dieses Schicksal wiederholen, aber mit anderen Individuen. Der Wanderer, dessen Geschichte in der "Winterreise" erzählt wird, kann nach meiner tiefsten Überzeugung nach den "Nebensonnen" respektive "Der Leiermann" nicht wieder von vorne mit der "Guten Nacht" anfangen.


    Es ärgert mich dass mir der andere Autorenname nicht einfällt, abe rich empfehle sehr das Buch von Feil, dessen Cover ich eingestellt habe. Es hat mir SEHR viel gegeben!

    Beste Grüße vom "Stimmenliebhaber"

  • Ich muss mich korrigieren. Mir ist ein - mir peinlicher! - Fehler unterlaufen.
    In Beitrag 607 schrieb ich: "Der Vers "Im Dunkel wird mir wohler sein" wurde von ihm ebenfalls geändert. Bei Müller heißt es "im Dunkeln"."
    Es ist umgekehrt: Schubert machte aus dem "im Dunkel" Müllers "im Dunkeln".
    Das, was ich zu den - möglichen - Gründen für diese Änderung des Müller-Textes durch Schubert meinte, ist damit gegenstandslos geworden. Warum Schubert das Wort "Dunkel" durch "Dunkeln" ersetzte, darüber kann man nur spekulieren. Ich würde jetzt einfach mal vermuten: Der sonore Konsonant war dem Melodiker hier klanglich angenehmer. Das Wort fügt sich so besser in die Sekundfallbewegung, die die melodische Linie an dieser Stelle macht.


    Im übrigen: Es ist durchaus lohnend, beim Nachdenken über die Lieder der „Winterreise“ die Gründe für die Textänderungen durch Schubert mit einzubeziehen. Sie wurden ja vom Komponisten vorgenommen und können so Teil von dessen Aussageabsicht sein.
    In diesem Lied „Die Nebensonnen“ hat Schubert, neben „im Dunkeln“ noch drei weitere Änderungen vorgenommen. Eine davon scheint mir wirklich relevant zu sein, was die musikalische Aussage des Liedes anbelangt.
    Müllers Vers „Als könnten sie nicht weg von mir“ ändert Schubert in „Als wollten sie nicht weg von mir.“
    Den drei Sonnen verleiht Schubert auf diese Weise auch textlich eine das lyrische Ich aktiv in Bann schlagende Kraft. Und das liegt ganz auf der Linie der Gesamtaussage, die dieses Lied macht.

  • Zitat

    Stimmenliebhaber: Dieser dunkle hoffnungslose Ton durchzieht doch Schuberts Musik durch den ganzen Zyklus, er ist in der "Winterreise" viel schwärzer und existentieller als in der "Schönen Müllerin", daher ist es für mich unvorstellbar, dasss ausgerechnet "Die Winterreise" wweniger tragischen enden sollte als "Die schöne Müllerin".


    Das glaube ich auch nicht. Wenn wir in der Betrachtung der Winterreise die Erkenntnisse aus der Bedeutung der Schönen Müllerin vergleichend zu Rate ziehen, dann ist m. E. die Situation in ihrer Perfidie viel tragischer als die des Müllerburschen, weil nämlich der Winterreisende noch nicht an seinem Ziel angelangt ist, sondern die furchtbaren Qualen seiner Reise (sprich des Lebens) weiter ertragen muss, von denen er noch nicht weiß, wie lange sie noch andauern.
    Wenn wir das Schicksal des Müllerburschen und später des Winterreisenden auf Schuberts eigene Lebenssituation übertragen, könnte man auf die Idee kommen, dass Schuberts eigene "Winterreise" zu Zeiten der "Schönen Müllerin" noch nicht zu Ende ging und sein"Hilferuf" in Form der "Winterreise", die ja wesentlich drastischer und brutaler seine Lebenssituation wiederspiegelte, dann bei ihm letztlich im Gegensatz zu seinem Helden aus der "Winterreise", etwa ein Jahr nach der Fertigstellung der Komposition, an sein Ziel führte, als ihm der Tod in gewisser Weise Erlösung brachte.
    Diie Frage, die der Winterreisende am Ende des "Leiermanns" auspricht: "Willst zu meinen Liedern deine Leier drehn?" zeigt dann ja m. E. genauso brutal, dass Schubert selbt ja auch nicht wusste, wie lange sein Leidensweg noch dauern würde.


    Liebe Grüße


    Willi :)

    1. "Das Notwendigste, das Härteste und die Hauptsache in der Musik ist das Tempo". (Wolfgang Amadeus Mozart).
    2. "Es gibt nur ein Tempo, und das ist das richtige". (Wilhelm Furtwängler).

  • Damit will ich sagen: Meine Deutung vom Tod des Wanderers am Ende der "Nebensonnen" und der Deutung des "Leiermanns" als Epilog ist nicht allein auf meinem Mist gewachsen, sondern diese Deutung war so entweder bei Feil oder dem anderen, noch Radikaleren, dessen Name mir leider entfallen ist, so angelegt. Leider habe ich mein Feil-Buch mal verliehen und nicht wiederbekommen...

    Schade, dass Du Deine Interpretationen in Textform nicht mehr hast! Die würde ich gerne lesen! :) Das Buch von Feil gibt es bei Amazon für nur 7.95 Euro - das werde ich bestellen. Besten Dank für den Tip! Wenn ich das gelesen habe, können wir manches daraus ja nochmals diskutieren!


    Du fragst mich nun konkret nach "Wegweiser" und "Wirtshaus" - wie gesagt bin ich aktuell leider überhaupt nicht gut "im Stoff" drin, aber die Schlusszeilen des "Wegweisers", "Eine Straße muss ich gehen, die noch keiner ging zurück", bestärken mich in meiner Auffassunng, dass der Wanderer eben doch in den Tod geht und es eine Einbahnstraße und kein Kreislauf ist (der ist überindividuell, aber für den Wanderer als Individuum ist es eben eher die Einbahnstraße).

    Das ist etwas schwierig zu interpretieren. Die Unumkehrbarkeit des Weges - woran liegt sie? Wege in der Welt, die man benutzt, kann man zurück gehen. Den Weg, den man nur in sich selber findet, geht man nur einmal. Ob das darin liegt, dass er mit dem Tod endet? Das kann man so sehen, muß man aber vielleicht nicht. Eine offene Frage für mich.


    Und warum weist das "Wirthaus", also der Totenacker, der Friedhof den Wanderer ab?

    Da habe ich mir eine Interpretation zurechtgelegt, die glaube ich ganz gut paßt:


    Urlicht


    Der Mensch liegt in größter Not!
    Der Mensch liegt in größter Pein!
    Je lieber möcht’ ich im Himmel sein!
    Da kam ich auf einen breiten Weg.


    Da kam ein Engelein und wollt mich abweisen.
    Ach nein! Ich ließ mich nicht abweisen!
    Ach nein! Ich ließ mich nicht abweisen:
    Ich bin von Gott, und will wieder zu Gott!
    Der liebe Gott wird mir ein Lichtchen geben,
    wird leuchten mir bis in das ewig selig Leben!


    Im Wunderhorn-Lied ist es so, dass da einer vorzeitig - also nicht zu der ihm bestimmten Zeit am Ende des Lebens - in den Himmel will und deshalb abgewiesen wird. So scheint es mir auch in der Winterreise zu sein. Der Tod wird nicht vom Menschen bestimmt - das für ihn bestimmte Grab ist eben noch nicht geschaufelt. Er hält sich nicht an die von Gott gegebene Ordnung der Zeit - Leben und Tod - und deshalb ist dieser Ruhe und Frieden gebende Friedhof nicht für ihn bestimmt und er muß gehen.



    Für mich ist dieser Wanderer ein Außenseiter, ein Nonkonformist, der sich dem bürgerlichen Leben verweigert und in dieser Kompromisslosigkeit seine physische Existenz nicht nur gefährdet, sondern letztlich auch verliert. Dieser Wanderer wird seinen Platz nicht im "Wirtshaus" finden, wird nicht in Ehren und unter Anteilnahme der Gemeinschaft auf einem Friedhof bestattet, sondern bestenfalls außerhalb der Friedhofsmauern verscharrt werden, wenn er nicht einfach irgendwo im Wald vermodert. Dieser dunkle, hoffnungslose Ton durchzieht doch Schuberts Musik durch den ganzen Zyklus, er ist in der "Winterreise" viel schwärzer und existenzieller als in der "Schönen Müllerin", daher ist es für mich unvorstellbar, dass ausgerechnet "Die Winterreise" weniger tragisch enden sollte als "Die schöne Müllerin" - rein von der Textanalyse her mag man zu diesem Ergebnis kommen, aber der Vergleich der Komposition, also von Schuberts "Handlungskommentar", sagt mir etwas anderes.

    Das sehe ich ganz genau so. Der Wanderer ist eine Portestfigur, die scheitert, eine Paria-Existenz mit all ihrer Tragik.


    Der Wanderer, dessen Geschichte in der "Winterreise" erzählt wird, kann nach meiner tiefsten Überzeugung nach den "Nebensonnen" respektive "Der Leiermann" nicht wieder von vorne mit der "Guten Nacht" anfangen.

    Das war eine Deutungsidee von mir, die ich faszinierend finde aber natürlich nicht erprobt habe. Die Schwierigkeit ist finde ich (das habe ich im meinem Thread dargestellt), dass Resignation - gerade weil der Wanderer eine Protestfigur ist - als Antwort auf Verzweiflung kein wirklicher Ausweg ist. Liegt das Scheitern und die Tragik des Winterreisenden nicht vielmehr darin, dass es schlechterdings keinen Ausweg aus der Ausweglosigkeit gibt - auch nicht den des Leiermanns? :hello:


    Schöne Grüße
    Holger

  • Zit. William B.A.: „Das glaube ich auch nicht. Wenn wir in der Betrachtung der Winterreise die Erkenntnisse aus der Bedeutung der Schönen Müllerin vergleichend zu Rate ziehen, dann ist m. E. die Situation in ihrer Perfidie viel tragischer als die des Müllerburschen, …“

    Das ist gewiss richtig und in der Sache zutreffend. Ich denke aber, dass es ganz allgemein wenig Sinn hat. „Die Schöne Müllerin“ mit der „Winterreise“ zu vergleichen, - unter welchem Aspekt auch immer. Zwar haben beide Werke das (Schubert-)Thema „Wanderschaft“ gemeinsam. Das ist es aber auch schon. Im Grunde sind beide Liederzyklen in einem fundamentalen Sinne unvergleichbar.


    Im einen Fall ereignet sich in der Abfolge der Lieder eine Geschichte, die am Ende in den Tod des Protagonisten mündet. Die beiden Hälften weisen eine gewisse Symmetrie auf, und man kann in der Gesamtanlage durchaus eine Gliederung in der Art von Exposition -Entfaltung der Handlung – Höhepunkt – Katastrophe erkennen. Der Tod des Müllerburschen hat – obgleich Schubert dem Lied seine „Todestonart“ zugrunde legt – nichts Schreckenerregendes. Im Gegenteil: Er erfährt eine Art romantische Verklärung. Der Tote ruht geborgen im „blauen kristallenen Kämmerlein“ und der Bach singt ihm ein Wiegenlied.


    Die „Winterreise“ kennt keine „Story“, die einzelnen Lieder stehen in keinem narrativen Kontext, sie sind Stationen einer imaginären, keiner narrativ realen „Wanderschaft“, und es kann also auch kein „Ende der Geschichte“ geben. Die „Wanderschaft“ des Protagonisten ist die eines endlosen Zirkels ohne Ziel, ohne Hoffnung auf Erlösung. Der Wanderer sehnt sich zwar nach der „Ruhe im Dunkeln“, aber er findet sie nicht. Darin liegt das zutiefst Schreckenerregende und Verstörende der „Winterreise“. Sie lässt den Hörer nicht mit dem den Tod geradezu beschönigenden und verklärenden Bild des Ruhens in einem kristallenen Kämmerlein zurück, und es gibt auch nicht das Versprechen: „Wandrer, du müder, du bist zu Haus“.


    Der Wanderer der Winterreise ist müde, er ist es in einem existenziell abgrundtiefen Sinn.
    Aber an keiner einzigen Stelle der „Winterreise“ ist auch nur ein Funken perspektivischer „Ruhe“ zu finden. Im Gegenteil: Am Ende steht die metaphorisch geradezu schrill-schmerzhafte Vision der Leiermann-Existenz des Wanderers.

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  • Ich denke aber, dass es ganz allgemein wenig Sinn hat. „Die Schöne Müllerin“ mit der „Winterreise“ zu vergleichen, - unter welchem Aspekt auch immer.

    Ich finde schon, dass es Sinn macht, Schuberts zwei Liedzyklen (der "Schwanengesang" ist ja nicht wirklich ein Zyklus wie die beiden anderen) miteinander zu vergleichen und dabei die Weiterentwicklung in der "Winterreise" im Vergleich zur "Schönen Müllerin" zu bemerken. Solche Vergleiche werden in der Literatur ja auch häufig gezogen, und so "fundamental" sind die Unterschiede nun auch nicht, als dass man keine Gemeinsamkeiten mehr entdecken könnte.

    Beste Grüße vom "Stimmenliebhaber"

  • Lieber Stimmenliebhaber,


    ich habe mir einige Stunden überlegt, ob ich Dir antworten soll oder besser die Flinte ins Korn schmeißen. Ich war, nach dem Donnerwetter, das da im neuen Parallel-Thread zur „Winterreise“ über mich niedergegangen ist, wieder einmal nahe dran, in ein anderes Forum zu wechseln. In diesem hier scheine ich in eine sozusagen hoffnungslose Außenseiter-Position geraten zu sein. Das hält man auf Dauer nicht aus. Viele reden gar nicht mehr mit mir – ich könnte Dir die Namen nennen -, und was in der letzten Zeit von zwei prominenten Mitgliedern dieses Forums auf mich niedergegangen ist, ist schlechterdings unerträglich.


    Warum sollte ich das über mich ergehen lassen? Ein Neu-Anfang woanders scheint mir immer mehr die einzige sinnvolle Lösung zu sein. Dort fange ich sozusagen „jungfräulich“ an, und niemand kann mir, eben deshalb, solche Sätze an den Kopf schleudern, die die von Glockenton heute: „Wenn man sich als (Schubert)-Liederpapst des Forums versteht und jede Interpretationsanalyse als Gnadenakt mit ex-cathedra-Anspruch, somit als Verwaltungsakt einer Schubertwahrheit ansieht, dem die anderen dankbar zuzustimmen haben, …“.
    Ich habe die Nase voll von dergleichen.


    Was glaubst Du, wie einem zumute ist, der sich von seinem Germanistik-Studium an sein ganzes Leben lang mit der Epoche der Romantik beschäftigt hat, alle literarischen Vertreter gründlich gelesen hat, die wesentliche Fachliteratur dazu kennt und sogar ein Buch verfasst hat, das sich mit dem Schlegel-Tieck-Kreis in Romanform auseinandersetzt. Wie mag dem zumute sein wenn er von Dir liest:
    „Lieber Helmut, ich glaube, du hast dich hier wirklich etwas verrannt, nicht nur rhetorisch, sondern auch inhaltlich. DIE Romantik gibt es nicht, aber es gibt eine lange Epoche, die man als solche bezeichnet und die sich wegen ihrer Länge noch in unterschiedliche Phasen gliedert: Frühromantik, Hochromantik, Spätromantik.“
    Wie wohl?


    Ich weiß, was ich sage, wenn ich feststelle, dass Wilhelm Müller kein Vertreter der literarischen Romantik ist. Selbst einem germanistischen Laien wird das bewusst, wenn er romantische Lyrik ein wenig kennt und dann dessen Gedichte liest. Müllers lyrische Sprache ist von der eines Eichendorff, eines Novalis, eines Achim von Arnim, eines Brentano …. sehr weit entfernt. Man kann ihn literaturhistorisch als „Spätromantiker“ einordnen, aber damit erfasst man nur die Thematik seiner Lyrik, nicht aber deren Sprache. Die ist eher die des literarischen Realismus. In den „Winterreise“-Gedichten ist das in geradezu auffälliger Weise manifest.


    Aber ich wollte Dir ja auf Deinen letzten Beitrag zu diesem Thread hier antworten.
    Du sagst: „Ich finde schon, dass es Sinn macht, Schuberts zwei Liedzyklen (der "Schwanengesang" ist ja nicht wirklich ein Zyklus wie die beiden anderen) miteinander zu vergleichen.“
    Ich möchte mich mit Dir nicht streiten. Ich möchte nicht Recht behalten, in dem was ich in dem Beitrag ausführte, auf den Du Dich beziehst.
    Aber sag mir doch bitte einmal, was darin falsch, unzutreffend oder zweifelhaft ist. Ich bin gerne bereit, meine Meinung von der Unvergleichbarkeit der beiden Müller-Zyklen zu revidieren, wenn Du mir klar machst, worin ich mich in meiner Argumentation irre.


    Noch einmal: Das ist eine Bitte. Mit geht es nicht ums Recht-haben-Wollen. Ich unterwerfe mich jedem sachlichen Diskurs und seinen Argumenten.

  • Aber ich wollte Dir ja auf Deinen letzten Beitrag zu diesem Thread hier antworten.
    Du sagst: „Ich finde schon, dass es Sinn macht, Schuberts zwei Liedzyklen (der "Schwanengesang" ist ja nicht wirklich ein Zyklus wie die beiden anderen) miteinander zu vergleichen.“
    Ich möchte mich mit Dir nicht streiten. Ich möchte nicht Recht behalten, in dem was ich in dem Beitrag ausführte, auf den Du Dich beziehst.
    Aber sag mir doch bitte einmal, was darin falsch, unzutreffend oder zweifelhaft ist. Ich bin gerne bereit, meine Meinung von der Unvergleichbarkeit der beiden Müller-Zyklen zu revidieren, wenn Du mir klar machst, worin ich mich in meiner Argumentation irre.


    Noch einmal: Das ist eine Bitte. Mit geht es nicht ums Recht-haben-Wollen. Ich unterwerfe mich jedem sachlichen Diskurs und seinen Argumenten.

    Lieber Helmut,


    ich habe dir ja schon meine Position dargelegt, dass der Kommentar des Komponisten durch seine Musik für eine Liedinterpretation entscheidender ist als die Interpretation des Gedichts selbst. Und wenn ein Schumann (da scheinen wir uns ja einige zu sein, bei Schubert leider nicht) Szenen aus Goethes "Faust" vertont, dann wird aus dem klassischen Werk ein romantisches.


    Bei der "Schönen Müllerin" ist die Geschichte einfacher, nachvollziehbarer, ok - deshalb würde ich aber nicht sagen, dass Schubert mit seiner Vertonung der "Winterreise" - und er schafft diesen zusammenhängenden Zyklus, den es so bei Müller nicht gibt - keine Geschichte erzählt, sondern nur Lieder in losem Zusammenhang vertont. Warum hätte er sonst die Reihenfolge von "Mut" und "Nebensonnen" vertauscht, wenn das für seine Geschichte, die er erzählen wollte, nicht notwendig gewesen wäre?


    Der Fachliteratur stellt sich die Frage, ob es sinnvoll oder gar verboten sei, beide Schubertschen Liedzyklen miteinander zu vergleichen, nicht - für sie ist das so selbstverständlich wie etwa, jede Beethoven-Sinfonie mit ihrer Vorgänger-Sinfonie zu vergleichen.
    Und so findet sich bei jeder Abhandlung zur "Winterreise" natürlich ein Vergleich zur "Schönen Müllerin".


    Ich habe jetzt gerade das Buch "Franz Schubert. Musikführer" von Walter Dürr und Arnold Feil in der Hand, zu den Liedern schreibt nicht Feil, sondern Dürr, und ich könnte jetzt viel daraus zitieren, was meine Interpretationsansätze zu den "Nebensonnen", zum "Wirtshaus", zum "Wegweiser" und zum "Leiermann" stützt. Ich verzichte jetzt aber darauf, sondern will nur in einem Zitat belegen, wie selbstverständlich für renommierte Musikwissenschaftler ein solcher Vergleich zwischen "Müllerin" und "Winterreise" ist, gegen den du dich hier so sehr verwahrt hast:


    Zitat

    Zur Komposition: In der "Schönen Müllerin" führte die ironische Distanz des Dichters zu seinem Text, der Rückgriff auf volkstümliche Zitate und "schlicht ausgedrechselte" Vers- und Strophenformen zu ähnlichen Zitaten auch in der Musik. Die "Wanderlieder" der "Winterreise" - wenn sie auch auf Motive des früheren Zyklus unmittelbar anspielen - behalten zwar die volkstümlichen Formen bei, erscheinen aber weniger gebrochen, verzichten weitgehend auf auffällige Zitate; vereinzelte Formen wie "fein Liebchen, gute Nacht" im ersten Lied oder "Am Brunnen vor dem Tore" verweisen auf die Müller-Lieder, geben aber nicht den Ton an. Es ist bezeichnend, dass von den 24 Liedern der "Winterreise" einzig der "Lindenbaum" - das Lied, das einst auch Schober allein gefallen hatte - populär geworden ist. Die volkstümlichen Formen der Dichtung hingegen spiegeln sich in der Musik in einer ungewöhnlichen Dominanz des Strophenliedetrophenlides, sowohl als Strophenlied im engeren Sinne ("Wasserflut", "Rast", Frühlingstraum", "Die Post"), wie als variiertes Strophenlied ("Gute Nacht", "Der Lindenbaum", "Mut", "Der Leiermann"). Auch hier erkennt man Parallelen zur "Schönen Müllerin", wenn gleich die Strophenlieder der "Winterreise" sich vom ursprünglichen, volkstümlichen Modell (durch melodische Varianten, Tempowechsel, unerwartete Ausbrüche) noch weiter entfernt haben.
    Walter Dürr auf S. 139 in Franz Schubert. Musikführer, Stuttgart (Reclam) 1991

    Und nun frage ich dich, was daran nun so verweflich sein soll, Schuberts "Schöne Müllerin" und Schuberts "Winterreise" miteinander zu vergleichen, um sich über Gemeinsamkeiten und Unterschiede klar zu werden? In der Fachliteratur ist dies jedenfalls selbstverständlich und mir ist vor die noch niemand begegnet, der dies verwerflich fände. Ich würde sogar so weit gehen wollen zu sagen: Nur wer "Die Winterreise" mit der "Schönen Müllerin" vergleicht, kann ihre neue Dimension ganz erfassen.

    Beste Grüße vom "Stimmenliebhaber"

  • Aber Stimmenliebhaber,
    das, was Du da zitierst, ist doch ein liedkompositorisch-strukturanalytischer Vergleich der beiden Zyklen. Selbstverständlich ist der nicht nur möglich, sondern auch sinnvoll.


    Blick doch bitte mal nach oben, hier in diesem Thread. Da ging es doch um etwas ganz anderes, - den inhaltlichen Vergleich der beiden Zyklen, insbesondere den Schluss derselben betreffend. Es ging um die Frage: Was ist erschreckender, - der Tod des Müllerburschen oder die nicht enden wollende Wanderschaft des Protagonisten der "Winterreise".
    Meine These der Inkommensurabilität der beiden Zyklen bezog sich auf deren musikalischen Gehalt und die intendierte kompositorische Aussage.

  • Aber Stimmenliebhaber,
    das, was Du da zitierst, ist doch ein liedkompositorisch-strukturanalytischer Vergleich der beiden Zyklen. Selbstverständlich ist der nicht nur möglich, sondern auch sinnvoll.


    Blick doch bitte mal nach oben, hier in diesem Thread. Da ging es doch um etwas ganz anderes, - den inhaltlichen Vergleich der beiden Zyklen, insbesondere den Schluss derselben betreffend. Es ging um die Frage: Was ist erschreckender, - der Tod des Müllerburschen oder die nicht enden wollende Wanderschaft des Protagonisten der "Winterreise".
    Meine These der Inkommensurabilität der beiden Zyklen bezog sich auf deren musikalischen Gehalt und die intendierte kompositorische Aussage.

    Nein, nein, das las sich schon anders:


    Zitat

    Ich denke aber, dass es ganz allgemein wenig Sinn hat. „Die Schöne Müllerin“ mit der „Winterreise“ zu vergleichen, - unter welchem Aspekt auch immer.

    (Hervorhebungen von mir)

    Beste Grüße vom "Stimmenliebhaber"

  • Vielen Dank, lieber Stimmenliebhaber, dass Du so prompt auf meinen Beitrag reagiert und geantwortet hast.
    Sei mir nicht böse, wenn ich es dabei bewenden lasse. Ich lasse Dich gerne recht haben.
    Meine Sorgen sind andere. Sie finden sich im ersten Teil meines obigen Beitrages. Es stimmt mich nachdenklich - und bestätigt mich in meinen Überlegungen - , dass Du darauf keinerlei Bezug genommen hast.

  • Wie man zu diesem Forum zurückfinden kann.


    Heute, auf der - wie ich törichter Weise meinte - mir aufgenötigten Suche nach einer neuen Forums-Heimat, stieß ich in einem anderen Forum für klassische Musik, dessen Name hier nichts zur Sache tut, zu meiner größten Verblüffung auf eine Reaktion auf die Kontroverse, die sich hier um die Frage aufgetan hat, wie weit – und ob überhaupt – es sich bei Schuberts „Winterreise“ und dem zugrunde liegenden Text von Wilhelm Müller um ein Werk der Romantik handele.
    Na sieh mal, dachte ich: Was sich hier im Tamino-Forum reflexiv und diskursiv in Sachen Kunstlied ereignet, schlägt ja regelrechte Internet-Wellen!


    Der Verfasser des dortigen Beitrags, er nennt sich „zabki“, ging ganz systematisch vor, indem er jedes Wort des Zitats aus der „literaturwelt“, auf der Glockenton seine Argumentation aufbaute, zur Grundlage einer Prüfung im Sinne der Gültigkeit für die „Winterreise machte.


    Es geht um das Zitat im Thread „Schuberts Winterreise: Konzeptionen. Interpretationen. Ästhetik“:
    „Romantisch bedeutet etwas Sinnliches, Abenteuerliches, Wunderbares, Phantastisches, Schauriges, Abwendung von der Zivilisation und Hingabe zur Natur. Die Romantik als Epoche zeichnete sich durch romantisches Denken und romantische Poesie aus, z. B. Kritik an der Vernunft, Aufhebung der Trennung zwischen Philosophie, Literatur und Naturwissenschaft, Naturnähe, Erleben des Unbewussten.“


    Dieser "zabki" stellte sich einleitend die Frage:
    „Trifft das denn nicht auf den Wanderer aus der Winterreise geradezu exemplarisch zu?"
    Seine Antwort lautete:
    „Nein“. Und er fügte dann an: „Gehen wir mal die Stichworte im Hinblick auf die Winterreise durch“. Was er dann auch Begriff für Begriff tat, wobei er da und dort durchaus Aspekte fand, die er für „zutreffend“ hielt. Sein Gesamtergebnis lief allerdings auf eben dieses „Nein“ hinaus.


    Und nun denke ich plötzlich:
    Na, bleib doch hier! Mach´s ein wenig gründlicher, sachkundiger und detaillierter als dieser Geselle dort. Warum denn davonlaufen, wenn du schon einen Ort hast, an dem du über solche Fragen nachdenken und die Ergebnisse dieses Nachdenkens in sachlich fundierter Weise vorbringen kannst? Du musst dich doch darin nicht behindern und gar davon abbringen lassen von Leuten, die anderer Meinung sind als du, und diese Haltung dir gegenüber in, wie du es empfindest, recht rabiater, ja z.T. persönlich verletzender Weise vertreten.

  • Mag sein, dass das Internet in formal-technischer Hinsicht nicht vergisst, aber so ein Forum hat anscheinend (oder doch nur scheinbar?) etwas Meisterliches darin, sich kurz zu schütteln und dann zur Tagesordnung überzugehen. Ganz gleich, was vorher noch gelaufen ist.


    Es mag für Leute wie Helmut Hofmann oder auch mich, die sich eigentlich gern ein wenig treu bleiben möchten und bisweilen nachtragend sein können, gewöhnungsbedürftig sein, dieses quasi politische Gebaren, bei dem das Geschwätz von gestern eben das Geschwätz von gestern ist.


    Aber man gewöhnt sich daran und nützt bisweilen die unzweifelhaften Vorzüge, die damit auch verbunden sind, ganz ungeniert.


    In diesem Sinne!


    Wolfgang

    Lieber Fahrrad verpfänden denn als Landrat enden!

  • Hm, ich lese diesen "zabki"-Beitrag vom 17.5., auf den du dich beziehst, doch etwas anders als du:


    Zuerst räumt er ein, nur der Frage nachgehen zu wollen, ob der Text von Wilhelm Müller der Romantik zuzurechnen wäre - und er unterstreicht das Wort Text ganz bewusst und fügt dann gleich hinzu: "Dabei dürfte eine Ja/Nein-Antwort wenig fruchtbringend sein."

    Diesen letzten Satz unterstreiche ich absolut, zumal mich die Interpretation des Textes für sich allein genommen nur sekundär interessiert, primär interessiert mich die Vertonung des Müller-Textes durch Schubert und der Kommentar, den Schubert damit zum Text von Müller gibt, wie er diesen Text also interpretiert.


    Und "zabki" stellt sich auch einleitend keine Frage, sondern zitiert die Frage von "Glockenton".


    Dann bringt er ein sehr schönes Zitat von Vollmann, das er bei Feil gefunden hat, dann zitiert er Dorschel, zuletzt mit dem Satz "Winterreise" = insgesamt das "dunkle Gegenbild des klassischen Bildungsromans" und schreibt dann als Schlussatz:


    "Die 'Winterreise' ist also nicht ein zielloses Kreisen, sondern es kommt durchaus an ein Ziel, wenn auch nicht an ein selbstgewähltes."

    Ich lese im dortigen Beitrag nichts, was meine Auffassung zu diesem Liedzyklus erschüttern würde, und ich halte Schuberts Vertonung der "Winterreise" nach wie vor für romantisch, wenn man diesen Begriff so definiert, wie es ein ehemaliger "Tamino" in der dortigen Rubrik "Was ist Romantik?" getan hat: "Romantik in allen Bereichen der Kunst würde ich primär mit Irrationalität assoziieren". Das scheint mir auf Schuberts "Winterreise" ganz besonders stark zuzutreffen.

    Beste Grüße vom "Stimmenliebhaber"

  • "Romantik in allen Bereichen der Kunst würde ich primär mit Irrationalität assoziieren"

    Hier zitiert Stimmenliebhaber.


    Hallo,


    Frage (nicht nur an Stimmenliebhaber): Wäre in diesem Zusammenhang irrational mit emotional gleich zu setzen?


    Viele Grüße
    zweiterbass

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

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