Zu einer Stelle in Glockentons Beitrag (der aus meiner Sicht in vielerlei Hinsicht für die Diskussion hier sehr förderlich ich, weshalb ich mich dafür bedanke!) möchte ich noch eine sachliche Ergänzung anbringen. Sie knüpft an die Feststellung an:
„Natürlich spielt die musikalische Sozialisation eine Rolle. Für meine Aufforderung zum Hören setze ich voraus, dass der Hörer, wie Schubert auch, kulturell durch die abendländische Musikgeschichte von der Gregorianik bis zu Schubert und weiter geprägt ist."
Wir sind als Musikrezipienten und damit auch als Hörer des Kunstliedes natürlich geprägt von der Tradition der europäischen Musik und den musikalisch-rhetorischen Ausdrucksmitteln, die sich im Laufe dieser Tradition herausgebildet haben und mit denen alle Komponisten, die in dieser Tradition stehen, ganz selbstverständlich umgehen.
Wobei dieses „Umgehen“ sehr oft nicht nur der einfache Einsatz dieser rhetorischen Ausdrucksmittel ist, sondern immer wieder auch das „Spiel“ mit ihnen, - im Sinne einer provokativ wirkenden Verfremdung. Letzteres wird in der europäischen Musik gegen Ende des 19. Jahrhunderts immer häufiger und im 20. Jahrhundert fast schon zur Selbstverständlichkeit. Aber das setzt ja gerade voraus, dass es solche Traditionen gibt.
Schubert stand voll in einer Tradition, wie sie für ihn ganz speziell von Bach und der Wiener Klassik geprägt wurde, und er hat natürlich mit deren Formensprache kompositorisch gearbeitet. Er hat sie freilich auch transzendiert, - was ja gerade seine Größe als Komponist ausmacht. Gerade in der „Winterreise“ ist das zu beobachten, aber auch in seiner Instrumentalmusik und – was die Sinfonik anbelangt – in seinem am meisten zukunftsweisenden Werk: der sog. „Unvollendeten“.
Im Falle der „Winterreise“ ist in diesem Zusammenhang besonders auf solche Lieder wie „Letzte Hoffnung“ und „Der Leiermann“ hinzuweisen. In letzerem Lied, ebenso wie in dem Lied „Die Stadt“ („Schwanengesang“) verlässt Schubert die Prinzipien der Tonalität, wie sie für die Klassik noch uneingeschränkt gültig waren. Darauf möchte ich später noch einmal eingehen.
Was nun den hier von Glockenton angesprochenen Fall der Interpretation von „Gute Nacht“ und das von Schubert in diesem – wie in vielen Liedern der „Winterreise“ – eingesetzte kompositorische Arbeiten mit dem Wechsel des Tongeschlechts anbelangt, so gilt auch hier: Er steht diesbezüglich ganz in der Tradition der europäischen Musik, die seine Kompositionstechnik und unser Ohr als Rezipienten derselben geprägt hat.
Heißt: Ein Wechsel von Moll nach Dur ist seit eh und je ein Umschlag von mit emotional traurigen und schmerzvollen musikalischen Konnotationen hin zu positiv besetzten, wie Freude und Daseinsbejahung. Mit „Sozialisation“ hat das überhaupt nichts zu tun, sondern mit dem Faktum der Inkulturation. Selbst das Volkslied und der Schlager arbeiten ja mit diesem Ausdrucksmittel. Bachs „Matthäuspassion“ bliebe für uns im wesentlichen unverständlich, nähmen wir sie nicht auf der Grundlage des europäisch geprägten Hörverständnisses auf, - insbesondere was das Arbeiten mit dem musikalisch-rhetorischen Mittel des Wechsels des Tongeschlechts anbelangt.
Da ich kein Musikwissenschaftler bin, muss ich – wie immer - Fachliteratur in Anspruch nehmen, um meinen Ausführungen hier im Forum das sachlich gebotene Fundament zu verleihen. Ich zitiere aus Metzlers Musiklexikon:
„Der Wechsel Dur-Moll wurde in der Vokalmusik seit dem 17. Jahrhundert gerne als Ausdrucksmittel (etwa zur Kennzeichnung von Freude – Trauer) verwendet und in der Lehre von den musikalisch-Rhetorischen Figuren als Mutatio toni klassifiziert. Dieser Wechsel von Dur und Moll als klangliche Abdunkelung bzw. Aufhellung wurde zu einem bevorzugten Ausdrucksmittel der Romantik.“
HINWEIS:
Dieser Beitrag nimmt Bezug auf den Einwand von Forumsmitglied Wolfram ( Beitrag fünfhundertachtundzwanzig ) gegen meine Interpretation des Liedes „Gute Nacht, der wie folgt lautet:
"Man spürt beim Hören" - was soll das heißen? Ist es eventuell denkbar, dass Menschen mit zwei verschiedenen musikalischen oder sogar politischen Sozialisationen verschiedene Dinge beim Hören spüren? Ich meine schon, und daher erschließt sich mir diese Argumentation nicht - denn sie suggeriert, alle denkbaren Hörer müssten dasselbe spüren. - Jedenfalls lässt sich der Verdacht, Schubert habe mit der Dur-Variante Ironie ausgedrückt, m. E. nicht mit diesem Argument von der Hand weisen. Unser Spüren kann völlig anders als dasjenige Schuberts sein - und ist es wohl auch, sonst müsste uns ja keiner die Winterreise erklären, wir würden sofort eindeutig spüren, was Schubert meinte."