Du hast recht, lieber Stimmenliebhaber, wenn Du noch darauf hinweist, dass es in dem von mir zitierten Artikel primär um Wilhelm Müllers Text und erst sekundär um Schuberts Werk geht. Das war aber an sich klar. Dass die Frage nach der spezifischen Eigenart von Müllers "Winterreise" "wenig fruchtbringend" sei, - dieser Auffassung kann man sein, ich teile sie aber nicht. Und zwar aus einem ganz einfachen Grund: Müllers lyrische Sprache schlägt sich in Schuberts Musik nieder, sie wird selbst zu Musik. Und noch ein wesentlicher Grund macht es durchaus "fruchtbringend", dieser Frage nachzugehen: Schubert übernimmt die Weltsicht und das Verständnis des Individuums, wie sich beides in Müllers lyrischem Text artikuliert. Und die sind nun beide alles andere als "romantisch".
Wenn Du Dich bitte noch etwas gedulden würdest, so könntest Du hier lesen, wie ich das begründe.
Etwas noch: Ich begegne immer wieder Auffassungen von "Romantik", die sich auf solche thesenhafte Sätze verdichten: " Romantik in allen Bereichen der Kunst würde ich primär mit Irrationalität assoziieren".
Bitte fühle Dich jetzt nicht belehrt, wenn ich entgegenhalte. Das ist ein verkürztes, ein einseitiges Bild von Romantik. Das Eigenartige und Faszinierende an der Romantik ist, dass sie in ihrem Kern ein theoretisches, rationales Operieren mit der Irrationalität darstellt. Du musst bitte mal Novalis und Friedrich Schlegel lesen, dann wirst Du eben diesem Sachverhalt begegnen.
Novalis entwickelt den Gedanken, dass das wahre Mittel, die Welt zu "romantisieren" die "Abstraktion" sei. Das ist ein typisch romantisches Denken, das sich darin äußert: Ein zutiefst rationales! Ein paar Belege dazu noch: "Je eigentümlicher, je abstrakter, die Vorstellung: Bezeichnung, Nachbildung ist, je unähnlicher dem Gegenstande, dem Reize, desto unabhängiger, selbständiger der Sinn." Und. "Die Welt soll sein, wie ich will" - "Ich selbst weiß mich, wie ich mich will, und will mich, wie ich mich weiß - weil ich meinen Willen will, weil ich absolut bin".
Das lieber Stimmenliebhaber, ist genuin romantisches Denken. Und nun lies mal den Text der Winterreise. So, wie sich das lyrische Ich dort sieht und sein Verhältnis zur eigenen Lebenswelt erfährt, ist es meilenweit vom romantischen Ich- und Lebensgefühl entfernt. Was Dir in Müllers Winterreise begegnet, ist der verlorene, seiner existenziellen Orientierung verlustig gegangene und in der Einsamkeit seiner Individuation versinkende und ihr ausgelieferte Mensch auf dem Weg in die Moderne.
Und die Größe von Schuberts Musik besteht darin, dass er dieses wesenhaft moderne Ich- und Lebensgefühl in Musik gesetzt und darin sogar noch intensiviert und gesteigert hat.
Schuberts "Winterreise" ist natürlich kein "klassisches " musikalisches Werk, - auch wenn Schuberts Melodik ihren Ursprung in der Wiener Klassik hat. Sie ist aber auch kein genuin "romantisches" Werk. Das Eigenartige und sie zu einem singulären Werk Machende ist, dass man sie sie nicht musikhistorisch einordnen und katalogisieren kann. Sie steht der musikalischen Moderne weitaus näher als der musikalischen Romantik.
Was sich im übrigen auch in der Musik niederschlägt. Arnold Feil - aber nicht nur her - hat darauf hingewiesen, dass sich in der "Winterreise" die musikalische Struktur als "brüchig" erweist. Und er schließt seine Betrachtung des Werks - darin allerdings das Lied "Die Stadt" mit einbeziehend und bedenkend, dass Schubert dort "die Tonalität als Grundlage ignoriert - ab mit dem Satz: "...Ein neues Zeitalter der Musik ist angebrochen."