Ob das „oder“ im Titel des Threads Sinn macht, möchte ich gleich selber bezweifeln.
In den diversen Auseinandersetzungen, in denen es bei TAMINO um Sänger geht, wird aber immer wieder gegen Kritik, die stimmtechnische oder gesangstechnische Probleme oder Defizite aufzeigt und moniert, eingewendet, letztlich sei das Urteil über einen Sänger eine Frage des Geschmacks.
Andererseits wird gegen die sehr persönliche Begeisterung für einen Sänger, seine Stimme und sein Singen vehement mit dem ganzen Arsenal von Argumenten ins Feld gezogen, das aus dem Wissen um Regeln der Stimmbildung und Gesangstechnik und aus dem reichen schatz vergleichenden Hörens resultiert.
Scheinbar also heißt die Frage: Ist das Hören und Bewerten von Sängern reine Geschmackssache, sodass ein Streit keinen Sinn macht? Oder ist das Hören und Bewerten von Sängern eine Sache, die Kenntnis von Regeln und Traditionen voraussetzt und Kriterien und Maßstäbe braucht?
Ich bin mir nicht sicher, ob die Frage so richtig gestellt ist!
Ich habe vor einiger Zeit mal in einem mal Thread aufgelistet, was alles von Belang ist, wenn es um das Hören und Bewerten von Sängern geht. Darüber ist nun auch gestritten worden. Es wurde unterstellt, ich würde verlangen, man sollte gleichsam mit einer Check-Liste in die Oper gehen und Kriterium um Kriterium prüfen und dann Noten geben – also Noten für Intonation, für Legato, für Triller und so weiter. Das ist natürlich gar nicht gemeint. Ich habe versucht, den Sinn meiner Liste zu erläutern und zugleich betont, wie vorläufig sie noch ist und wie gut es wäre, sie weiter zu präzisieren und zu differenzieren.
Da will ich jetzt erst mal nicht weitermachen. Vielmehr will ich diese Liste nutzen, um uns in unseren oben etwas holzschnittartig charakterisierten Kontroversen über Sänger ein wenig weiter zu helfen. Ich glaube nämlich, dass es nützlich wäre, uns jeweils klar zu machen, um welche Fragen es gerade geht und dann genauer zu prüfen,
- ob das Fragen sind, die nach persönlichem Empfinden und Geschmack beurteilt werden dürfen, vielleicht sogar nur nach persönlichem Empfinden und Geschmack beurteilt werden können, oder
- ob das Fragen sind, über die man nur reden und urteilen kann, wenn man mit den Grundlagen und Regeln der Gesangskunst vertraut ist.
Deshalb habe ich die Liste mal bearbeitet und zwar habe ich
- alle Punkte, bei deren Wahrnehmung und Beurteilung primär der Geschmack im Vordergrund steht, rot geschrieben und
- alle Punkte, für deren Wahrnehmung und Beurteilung objektive Kriterien existieren und nicht ignoriert werden können, blau geschrieben.
- Einige Punkte habe ich schwarz gelassen, da es mir hier durchaus legitim erscheint, sich von persönlichem Empfinden und den Geschmack leiten zu lassen, da es aber auch für diese Punkte durchaus objektive Kriterien und Maßstäbe gibt, die hier helfen können, Wahrnehmungen einzuordnen und zu werten.
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STIMMMATERIAL
Umfang (also Reichweite, Volumen, Fülle, Kraft usw.)
Klang(also Schmelz, Glanz, Strahl, Farbe, Leuchtkraft, Sinnlichkeit, Brillianz, Elastizität, Tragfähigkeit, Durchschlagsfähigkeit usw. - nicht: flach, stumpf, matt, rauh, gepresst, gequetscht, schrill, dünn o.ä.) -
TECHNIK
Intonation (also Tonbildung, Präzision, Attacke, Fokussierung, Reinheit, Intensität, Leichtigkeit, Weichheit, Geschmeidigkeit usw.)
Stimmführung(also Atemkontrolle, Legato, Registerausgleich, Stimmfluß, Koloraturgeläufigkeit, Sprungtechnik, Rouladen, Triller. Je nach Fach wird erwartet, dass er fließend, natürlich, frei, gelöst, beherrscht, geschmeidig oder aber gespannt, energisch, prägnant usw. singt - also nicht verkrampft, gestaut, unruhig, unausgeglichen, kurzatmig usw.) -
ARTIKULATION
Musikalität (also Linienformung, Phrasierung, Akzentuierung, Kolorierung, Eleganz, Phantasie, Diktion, Artikulation, Sprachgenauigkeit und Sprachbehandlung, Eloquenz, Rhythmisches Timing, Sensibilität für harmonische Entwicklungen, Energie, Pathos, Melancholie usw.
Stil (also die Fähigkeit, das spezifische Idiom des Nationalstils, der Zeit, des Komponisten zu treffen, das heißt den Don Jose nicht so zu singen wie den Turridu) -
GESTALTUNG
Charakter (also Rollenportrait, Charakterisierung, Differenzierung, Profilierung usw.)
Drama(also Anschaulichkeit, Vorstellungsvermögen, darstellerische Phantasie und Dringlichkeit, Ausdrucksintensität, Engagement, Projektionsfähigkeit usw. - anders formuliert. kann der Sänger (je nach Rolle) verzaubern, begeistern, mitreißen, anrühren, bewegen, erschüttern, überwältigen usw.?
Wenn diese Liste nicht ganz falsch und irreführend ist, könnten wir vielleicht zu konstruktiveren Debatten kommen, zumindest jedenfalls die Konfrontationen zwischen den Melomanen, die angeblich nur ihrem Geschmack folgen, und denen, die angeblich für alle ihre Urteile objektive Argumente haben, ein Stück weit aufbrechen.
Oder fängt jetzt der Streit etwa erst an? - Vielleicht!
Spannender aber fände ich, wenn wir hier über die Gründe für unsere Urteile mal generell diskutieren würden. Ansätze gab es ja zuletzt in Debatten über Max Lorenz, Jonas Kaufmann, Anna Netrebko und so weiter…
Ich freue mich auf ein konstruktives Weiterdenken!
Caruso41