In eine ähnliche Richtung geht die Harnoncourtsche Knödeltheorie: Man kann auf der einen Seiten des Knödels etwas draufpacken, muss es aber von der anderen Seite wegnehmen. Der Knödel nimmt verschiedene Formen an, aber die Masse bleibt gleich. Mit anderen Worten: Ein Interpret kann nicht alle Aspekte eines wirklichen Meisterwerks beleuchten. Vieles wird im Dunkeln bleiben. Wenn er das Werk nach 10 Jahren wieder spielt, dann kann es sein, dass andere "Formationen" zu Tage treten, um im ersten Bild zu bleiben.
Meiner Ansicht nach muss man aber auch zugestehen, dass es schlicht Interpreten gibt, die erheblich mehr aus einem Werk "herausholen" als andere. Ein außerordentlich vielschichtiges Stück wie Beethovens 9. wird auch in "einseitigen" Interpretationen einiges bieten. Demgegenüber zeigen viele "traditionelle" Interpretationen etwa von den Sinfonien Mozarts m.E. lange nicht so viele verschiedene Aspekte wie das die besten HIP-Lesarten tun. Das ist allerdings ein Unterschied der quer zu HIP/Nicht-HIP liegt.
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Nun konkret zur Neunten:
Meinem Eindruck nach wollte Beethoven mit diesem Werk wie mit keinem anderen die konventionellen Grenzen sprengen, mit denen er auswuchs.
Sein Ausdruckswille war hier so unbedingt, dass er sowohl der Tradition der sprechenden Instrumentalmusik (Klangrede) als auch der etablierten Symphonieform (Sonatensatz wie Allegro, Adagio, Menuetto, Presto-Finale) offensichtlich gar nicht mehr zutraute, diesem gerecht werden zu können.
Das ist m.E. irreführend formuliert. Erstens hat Beethoven schon vorher konventionelle Grenzen in ähnlicher Weise gesprengt. (Die Dimensionen der Eroica sind fast 20 Jahre vorher näher an denen der 9. als an den Sinfonien Haydns oder Mozarts; ähnliches gilt für die ersten beiden Rasumovsky-Quartette u.ä.). Zweitens verwendet Beethoven ja bei allen diesen revolutionären Werken nach wie vor die traditionelle Sinfonie-Form. Die Erweiterungen sind da, aber sie sind formtechnisch gesehen behutsam gegenüber der sinf. Dichtung später. Der Chor im Finalsatz ist neu, gewiss. Aber die erweiterte Variationenform findet sich ja schon im Eroica-Finale und ist kein völliger Fremdkörper in der Klassik. (Immerhin schließen zwei wichtige Konzerte von Mozart und sehr viele bedeutende Kammermusikwerke mit Variationen, wenn auch nur wenige und keine gewichtigen Sinfonien.). Die ersten drei Sätze der 9. sind m.E. eher Musterbeispiele für die jeweiligen Satztypen, als dass sie etwas mit der Tradition Unvereinbares brächten. Erweiterung und außerordentliche Steigerung, ja. Aber kein Bruch.
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Deshalb konnte er sich sozusagen nicht anders helfen, als mit einem skandierenden Schlusschor abzuschliessen. Dessen Thema appeliert in seiner Einfachheit und der "wir Menschen sind doch alle Brüder" -Aussage für mich tatsächlich an die Massen und nicht mehr nur an eine gebildete, dünne Oberschicht, die den feinen, in der Klangrede versteckten Humor in Stellen einer Haydn-Symphonie vielleicht im Gegensatz zu Bauern und Handwerkern, die mit dieser Kunst überhaupt nicht in Kontakt kamen, heraushören konnten.
Der Stand der Forschung ist hier nicht eindeutig, Es scheint allerdings, dass die endgültige Entscheidung für ein vokales Finale erst sehr spät gefallen ist, so schwer auch die Vorstellung eines alternativen instrumentalen Finales fallen mag.
Einfachheit der Themen ist bei Beethoven (und teils auch schon bei Haydn und Mozart) häufig Programm und etwas anderes als Einfachheit des Satzes. Vielleicht sollte das Finale der 9. (wie das 5. u.a. Sinfonien) tatsächlich wie eine mächtig aufrüttelnde Volksrede wirken. Aber Bauern dürften im Publikum doch in der Minderheit gewesen sein und warum die eher das Raffinement einer massiven Doppelfuge schätzen sollten als den (oft nicht besonders versteckten) Humor einer Haydn-Sinfonie leuchtet mir nicht ein. Rosen zieht m.E. sehr zu recht Parallelen zwischen dem Finale der 9., den beiden späten Oratorien Haydns und Mozarts Zauberflöte. Zum aufklärerischen Programm aller dieser Werke scheint zu gehören, dass die Unterschiede zwischen "volkstümlicher" und "hoher" oder gar hermetischer Kunst ignorieren, sondern diese Bereiche, oft kaum vermittelt, nebeneinanderstellen oder fusionieren. Die Diabelli-Variationen und anderes beim späten Beethoven (op.130: komplexer Sonatensatz, Scherzo, Divertimeno-Satz, Deutscher Tanz, Cavatine, Fuge (oder "volkstümliches" Rondo)) sind weitere Beispiele für solch scheinbare stilistische Heterogenität.