Liedinterpreten vor Fischer Dieskau

  • Ich mag eigentlich gar nicht Stellung nehmen dazu, weil mir eben gerade wieder einmal klar geworden ist, dass es hier im Grunde primär um Geschmacksurteile, nicht hingegen um sachlich begründete Feststellungen geht. Und da halte ich mich lieber raus.


    Diese Entscheidung steht natürlich jedem frei!


    Dennoch meine ich, man solle sich hüten, es gering zu schätzen, wenn jemand sagt (Zitat von Hermann Prey, zitiert von Helmut):


    "Man bedenke jedoch, daß ich nicht Musikwissenschaftler, sondern Interpret bin, daß ich nicht kompositorische Analysen erörtern, sondern meine persönliche Gedanken wiedergeben und zeigen will, wie ich den Zugang zu meinen Liedern gewonnen habe."


    Ich meine, Farinelli hätte durch Wahl einer bildhaften Sprache sehr bündig auf den Punkt gebracht, was man auf dem Umweg über den Intellekt ansonsten wortreich und umständlich hätte beschreiben müssen.

  • Den Sinn von Wolframs Kommentar zu meiner Reaktion auf den Beitrag von farinelli verstehe ich nicht.


    Was soll diese Anspielung auf den "wortreichen und umständlichen Umweg über den Intellekt"?


    Wozu sind wir hier? Die Schiene unserer Kommunikation ist der Intellekt, - was sonst? Wir können uns natürlich auch gefühlsduselig über Musik austauschen. Das Ergebnis von dergleichen Kommunikation kann jeder hier im Forum nachlesen.


    Ich möchte micht icht abbringen lassen von der Überzeugung, dass man auch über Musik rational diskutieren und kommunizieren kann.


    (Kleine Anmerkung: Ich sehe farinelli nicken)

  • Das Grundproblem eines Threads dieser Art ist, dass man eigentlich nur wiedergeben kann, was man hört, und dass in eine solche Beschreibung des Höreindrucks sehr viele subjektive Wertungsfaktoren eingehen. Was macht man, wenn man hier liest, dass ein anderer aus einer Interpretation etwas herausgehört hat, was man selbst absolut nicht zu hören vermag?


    So ging es mir bei dem Beitrag von farinelli, wenn ich dort in bezug auf die Interpretation des Liedes „Traum durch die Dämmerung“ von Richard Strauss lese:
    Die Steigerungen ins Forte gelingen, ohne interpretatorisch zu überzeugen. Die sängerische Haltung ist nicht primär die eines schmachtenden Liebhabers, sondern eines Landschafts- und Stimmungszeichners;“.


    Die „sängerische Haltung“ Fischer-Dieskaus ist gerade nicht die eines „Landschafts- und Stimmungszeichners“, und der langsame melodische Spannungsaufbau, der in den Vers mündet: „In ein blaues mildes Licht“ , gelingt ihm wie kaum einem anderen, den ich als Interpreten dieses Liedes kenne.


    Die unumgängliche Subjektivität des Urteils bei all dem, was hier geschrieben wird, lässt sich nach meiner Auffassung nur dadurch partiell reduzieren, dass man die jeweilige sängerische Leistung an den Intentionen des Komponisten misst, wie sie sich in der musikalischen Faktur des jeweiligen Liedes niedergeschlagen haben.


    Und da fällt nun, wenn man dieses Lied von Strauss mit dem vergleicht, das Max Reger auf den gleichen Text geschrieben hat, dass Strauss eben gerade nicht aus der Perspektive der Landschaftsszenerie heraus komponiert hat (wie Reger das tat), sondern aus der des seelischen Innenraums des lyrischen Ichs. Dieses erlebt die Elemente von Naturlandschaft, die Bierbaum hier lyrisch zeichnet, aus der Haltung einer antizipierten, in diesen landschaftlichen Raum hereingeholten Begegnung mit der „schönen Frau“. Und genau darauf zielt die Liedkomposition von Strauss ab.


    In der ersten Strophe wird gleichsam die Szenerie lyrisch entworfen, in der sich dieser innere Gang über „Wiesen im Dämmergrau“ ereignet. Es ist ein innerer Gang, was vom lyrischen Ich ausdrücklich betont wird, wenn es sagt: „Ich gehe nicht schnell, ich eile nicht“. Es muss einem Sänger gelingen, diese differenzierte, an der seelischen Begegnung mit Naturlandschaft sich ereignende Antizipation der Begegnung mit der „schönen Frau“, so wie sie Strauss komponiert hat, zum Ausdruck zu bringen.


    Dann kann er aber nicht, so wie Schlusnus und Schmitt-Walter das tun, die zweite Strophe mit nahezu gleichbleibender stimmlicher Grundhaltung singen wie die erste. Er muss schon mit dem ersten Vers der zweiten Strophe die Stimme extrem zurücknehmen, in den seelischen Innenraum des lyrischen Ichs sozusagen, um dann die Spannung aufbauen zu können, die Strauss in die langsam ansteigende melodische Linie gelegt hat die auf den Versen eins bis vier der zweiten Strophe liegt.


    Das nun gelingt Fischer-Dieskau, so wie ich das höre, wesentlich besser als den beiden anderen, älteren Sängern, und zwar weil er die Stimme wesentlich differenzierter einsetzt. Mit jedem Versbeginn der zweiten Strophe nimmt er sie erneut zurück, aber in jeweils leicht gesteigerter Form, so dass sich bei Hören tatsächlich ein langsam ansteigender Spannungsbogen einstellt, der in überzeugender Wiese auf dem Wort „blaues“ („mildes Licht“) kulminiert.

  • Lieber Helmut,


    wir wollen nicht streiten, ich fand bloß, es müsse hier einmal ein argumentatives Gegengewicht zur Fischer-Dieskau-Panegyrik eingestellt werden. Ich habe daher bewußt den Pfad deiner Ästhetik verlassen.


    Ich denke, wir sind uns einig, daß es meistens verschiedene Arten der lauten Gedichtlektüre gibt. Zum einen die sensible, jedes Wort auskostende aus der Haltung des lyrischen Sprechens; zum anderen etwa die rollenhafte aus der Haltung des lyrischen Ichs und seiner adressierten Affekte. Die eine ist mehr sprachlich-semantisch, die andere mehr appellativ-psychologisch. Fischer-Dieskau etwa hat niemals in Schuberts "Erlkönig" die Rolle des dämonischen Geisterfürsten durch eine sängerische Haltung jenseits der Notenvorschriften plastisch zu gestalten versucht (wie z.B. E. Schwarzkopf dies tat). - In anderen Worten: ein Sonett Shakespeares wird u.U. anders aufgefaßt, wenn Romeo der Sprecher ist.


    "Traum durch die Dämmerung" ist ein Liebesgedicht. - Auch in Schacks "Ständchen" der gleichen Einspielungsserie malt Fischer-Dieskau das Hüpfen und Schlüpfen mit vokalen Elfentritten, entfernt sich also von der Haltung des Ständchensängers in Richtung eines auktorial sich anschmiegenden lyrischen Atmosphäre-Vergegenwärtigens. Der Effekt ist, wenn man darauf achtet, dem Lied eher abträglich; und die mit Impetus versehenen Stellen entfalten sich auch hier nicht aus einem Drängen der Leidenschaften, sondern aus einem bloßen Anschwellen der Stimme. Perfect breath controll rächt sich mitunter - Prey/Engel haben dieses Lied Mitte der 60er für DECCA (SXL 21055) weit gelungener realisiert.


    :hello:

    Zerging in Dunst das heilge römsche Reich


    - uns bliebe gleich die heilge deutsche Kunst!

    Einmal editiert, zuletzt von farinelli ()

  • Einverstanden, lieber farinelli,


    und das gleich mit mehrerlei. Einmal mit dem Nicht-streiten-Wollen, zum andern aber auch mit Deinem Hinweis auf die "verschiedenen Arten der lauten Gedicht-Lektüre", - den ich erweitern möchte auf "verschiedene Arten der Gedicht-Rezeption".


    Mir sind Deine Vorbehalte gegen D. Fischer-Dieskau als Liedinterpret bekannt. Ich selber unterscheide mich diesbezüglich recht deutlich von Deiner Auffassung. Eben deshalb ist es mir aber wichtig, darauf hinzuweisen, dass ich alles andere als "Fischer-Dieskau-Panegyrik" hier betreibe. Ich gebe mir allergrößte Mühe, mich bei solchen Interpretationsvergleichen in die Position des neutralen und um Objektivität bemühten Hörers zu begeben, und ich weiß um die Gefahren, die sich für die Beteiligung an einem solchen Thread daraus ergeben, dass man als Liedfreund sozusagen mit Fischer-Dieskau aufgewachsen ist.


    Das, was Du zu Fischer-Dieskaus Interpretation von "Heimliche Aufforderung" anmerkst, ist sehr treffend beobachtet und glänzend(!) formuliert:
    "Auch in der "Heimlichen Aufforderung" der gleichen Einspielungsserie malt Fischer-Dieskau das Hüpfen und Schlüpfen mit vokalen Elfentritten, entfernt sich also von der Haltung des Ständchensängers in Richtung eines auktorial sich anschmiegenden lyrischen Atmosphäre-Vergegenwärtigens."


    Warum eine derartige Interpretation dem Lied allerdings "abträglich" sein soll, vermag ich im Augenblick aber nicht zu sehen. So richtig finde ich auch keine Begründung dafür in Deinem Beitrag. Gleichwohl werde ich mir Fischer-Dieskaus Interpretation unter diesem Verdikt der "Abträglichkeit" noch einmal gründlich anhören, - und dabei verdrängen, dass ich sie ja schon im Ohr habe.

  • Lieber Helmut,


    wenn du die kleine Abschweifung vom Thema gestattest - mit "abträglich" meinte ich (bezogen übrigens auf von Schacks "Ständchen", wie das Lied wirklich heißt): die lautmalerisch-mimetische Artikulation bei Fischer-Dieskau klingt einfach nicht nach dem Verführer, der die Geliebte in den duftenden Garten lockt.


    flieg leicht hinaus in die Mondscheinnacht,
    zu mir in den Garten zu schlüpfen!


    Die entscheidende Wendung ist das zu mir!, nicht das neckische Geschlüpfer, um einen Ausdruck bei R. Wagner zu entlehnen. Fischer-Dieskau stimmt sich auf G. Moores gezupfte Mendelssohn-Harfe ein und singt sozusagen auch pizzicato. Er singt eine Feensommernacht, als sei es Puck, der hier spricht.


    die Nachtigall uns zu Häupten soll
    von unseren Küssen träumen,
    und die Rose, wenn sie am Morgen erwacht,
    hoch glühn von den Wonneschauern der Nacht.


    Der Höhepunkt des Lieds entfaltet sich aus der unterschwelligen Erotik. Die ist nur aus der sehnsuchtsvollen Haltung eine drängenden Liebhabers zu begreifen, der eine Verschmelzung beschwört und vorwegnimmt (und sich nicht in einer halb ironischen Feerie verliert).


    Gewiß stellt Fischer-Dieskau hier sehr subtil seine stimmlichen Möglichkeiten unter Beweis. Aber ein Pathos läßt sich nicht aus einzelnen Wortausdeutungen klangmalerisch aufaddieren. Daher ist das "hoch glühn" hier nur ein kalkulierter Akzent, nicht ein Ausbruch der Leidenschaft.


    :hello:

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  • Das, was Du zu Fischer-Dieskaus Interpretation von "Heimliche Aufforderung" anmerkst, ist sehr treffend beobachtet und glänzend(!) formuliert:

    Habe mir heute morgen zweimal mit Klavierfassung (Anders, Gedda) und zweimal mit Orchesterfassung (Heppner, Wunderlich) angehört. Bei der Interpretation dieses Richard-Strauss-Liedes gefallen mir Tenöre einfach besser.


    LG, Bernward


    "Nicht weinen, dass es vorüber ist
    sondern lächeln, dass es gewesen ist"


    Waldemar Kmentt (1929-2015)


  • Fischer-Dieskau ist nicht das Thema hier. Dennoch möchte ich eine kleine Anmerkung zu dem letzten Beitrag von farinelli machen, und zwar deshalb, weil das ganz unmittelbar mit der Fragestellung dieses Threads zu tun hat.


    Farinelli meint, an der Fischer-Dieskau-Interpretation des Strauss-Liedes "Ständchen" ansetzend: "Aber ein Pathos läßt sich nicht aus einzelnen Wortausdeutungen klangmalerisch aufaddieren."


    Das ist, gaube ich, auch gar nicht die Absicht Fischer-Dieskaus gewesen. Und jetzt komme ich zu dem Punkt, um den es mir geht. Ficher-Dieskau macht etwas, was die Liedinterpreten vor ihm in dieser Form nicht wollten: Er bringt in hohem Maße seine ganz spezifische Interpretation des Liedes in den Liedgesang ein. Diesen Text von Friedrich von Schack nimmt er hörbar nicht ganz ernst. Und er hat ja auch allen Grund dazu: Für uns heutige Leser ist er in seiner Blumigkeit und der abgegriffen- kitschigen Metaphorik eine Zumutung. Und ich habe bei Hören des Liedes, insbesondere was die Klavierbegleitung anbelangt, den Eindruck, dass Strauss dieses Gedicht auch nicht so ganz ernst genommen hat.


    Wenn dann also schon "Elfen" auftreten müssen, um dem "Hüpfen über die Blumen" eine gleichsam ätherische Leichtigkeit zu verleihen, und wenn die Geliebte zum lyrischen Ich in den Garten "schlüpfen" soll, - warum soll man da nicht eine heitere, vielleicht sogar schelmische Note hineinbringen? Muss ein Sänger so etwas wirklich bitter ernst nehmen?


    Man achte mal auf die melodische Linie an dieser Stelle: Da sind Auf- und Abwärtssprünge zu hören, und nach der leichten melodischen Dehnung über den Worten "Blumen" und (parallel dazu) "Garten, schlägt die melodische Linie auf den Worten "hüpfen" und "schlüpfen" einen überraschend hurtigen Purzelbaum nach unten. Ist das von Strauss an dieser Stelle wirklich ganz ernst gemeint?


    Fischer Dieskau scheint nicht der Meinung zu sein. Und er tut etwas, was Peter Anders vor ihm eben nicht getan hat: Er lässt seine, den Text nicht so ganz ernst nehmende Rezeption des Gedichts und des Liedes an dieser Stelle in die Interpretation einfließen.


    Man höre sich einmal im Vergleich dazu eben diese Interpretation von Peter Anders aus der Edition Raucheisen an. Die bei Fischer-Dieskau zu hörende - und an manchen Stellen sogar leicht schelmisch wirkende - Heiterkeit und Leichtigkeit des Gesangs geht dieser Interpretation völlig ab. Peter Anders macht daraus fast eine gewichtige Arie. Das Wort "leise" im ersten Vers kommt stimmlich so kräftig, dass man sich als Hörer nur wundern kann. Hat er den Text nicht gelesen? Oder legt er gar keinen Wert auf die semantische Ebene eben des lyrischen Textes und überlässt sich an dieser Stelle der Aufwärtsbewegung des melodischen Bogens, die zur Entfaltung der Stimme auffordert?


    Ich sehe mich beim Hören dieser Interpretation von Peter Anders wieder an meine These erinnert, von der ich bei diesen Interpretationsvergleichen ausgehen möchte: Der im früheren Liedgesang geringeren Berücksichtigung der Semantik und Phonetik des lyrischen Textes. Hier liegt für mich wieder eine Bestätigung vor.


    Aber ich füge gleich hinzu: Meine These ist in dieser Rigidität nicht zu halten. Denn neuerdings habe ich mich bei Karl Erb ein wenig eingehört, Schubert-Lieder betreffend. Und da sieht die Sache schon ein wenig anders aus. Ich werde darauf zurückkommen.


    (Anmerkung: Ich bitte noch einmal um Nachsicht für die "Respektlosigkeit", mit der ich mich hier über bedeutende historische Sängerpersönlichkeiten äußere. Ich lasse mich diesbezüglich gerne kritisieren und in meiner Auffassung korrigieren!)

  • Zitat

    (Anmerkung: Ich bitte noch einmal um Nachsicht für die "Respektlosigkeit", mit der ich mich hier über bedeutende historische Sängerpersönlichkeiten äußere. Ich lasse mich diesbezüglich gerne kritisieren und in meiner Auffassung korrigieren!)


    Ich finde, das ist durchaus legitim - denn ansonst bräuchten wir diesen Thread gar nicht erst zu starten.


    Auf Deine Meinung zu Karl Erb bin ich ganz besonders gespannt, denn er war einer der Sänger, an die ich dachte, als ich diesen Thread startete und meinte, es habe auch vor Fischer-Dieskau hervorragende Liedinterpreten gegeben.


    Wobei wir uns über die Definition "hervorragende Liedinterpreten" vielleicht gar nicht einigen können (?)
    Denn vielleicht hat das Publikum (und die Sänger ?) der Vergangenheit, den Inhalten von Liedertexten nicht eine derartige Bedeutung zugestanden, wie das heute offensichtlich der Fall zu sein scheint, sondern sich vielmehr für den Wohlklang von Stimmen interessiert ? (Dieser Aspekt ist nicht von der Hand zu weisen - und ich bin gerne bereit bei Bedarf diese These ein wenig zu untermauern)...


    Dazu kiommt noch, daß manche Texte heute als Parabel gesehen werden, was früher vermutlich nicht in diesem Ausmaße der Fall war.


    mfg
    aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Zitat Alfred Schmidt: "Denn vielleicht hat das Publikum (und die Sänger ?) der Vergangenheit, den Inhalten von Liedertexten nicht eine derartige Bedeutung zugestanden, wie das heute offensichtlich der Fall zu sein scheint, sondern sich vielmehr für den Wohlklang von Stimmen interessiert


    Das, lieber Alfred Schmidt, ist mir sehr wohl bewusst. Gleichwohl denke ich, dass wir aus der heutigen Perspektive uns ein Urteil über diese Sänger und ihr Publikum erlauben dürfen. Das muss aber ein historisch reflektiertes Urteil sein. Darauf lege ich, aus sachlichen, aber auch aus ganz persönlichen Gründen, ganz besonderen Wert.


    Historisch reflektiert heißt: Ich muss in meinem aus heutiger Hörerfahrung hervorgehenden Urteil über Liedsänger der Vergangenheit mitbedenken, wie diese damals Liedinterpretation verstanden und dabei die Erwartung ihres Hörerpublikums berücksichtigt haben. Ich darf also auch nicht meine Maßstäbe als allein gültig ansehen, sondern muss mir meinerseits der Zeitbedingtheit der eigenen Rezeption und des daraus resultierenden Urteils jederzeit bewusst sein.

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  • Wenn ich den Namen Karl Erb lese, werde ich hellhörig …


    Eines meiner Lieblingslieder (von ihm gesungen) ist das Schubert-Lied "Die Liebe hat gelogen", der Text stammt von August von Platen. Soweit ich das überblicke, lässt der Dichter die Tränen "rinnen", während sie bei den Sängerinnen und Sängern "fließen"


    Zum Vergleich zu Karl Erb habe ich den Stimmkollegen Nicolai Gedda gewählt, der dieses Lied anlässlich eines Salzburger Liederabends (17. August 1961) sang. Karl Erb hat das Lied 1937(!) aufgenommen, da liegen also 24 Jahre dazwischen.


    Natürlich hört man dann auch Dietrich Fischer-Dieskau, der aus diesem Lied eine "größere Sache" macht, wenn man seine Interpretation mit der von Erb vergleicht.


    Wenn man die beiden Tenöre vergleicht, dann fällt natürlich auf, dass Karl Erb praktisch Autodidakt war; und es fällt auf, dass die Sorge "schwäär" lastet und dass "umhär" gesungen wird, das Schwäbische kommt offenbar etwas durch, so etwas würde man heute zu vermeiden wissen.


    (Die Spanierin Victoria de los Àngeles singt zum Beispiel "Troopfen")


    Aber Karl Erb singt dieses Lied so emphatisch und schlicht, dass ich das durchaus als gute Interpretation schätze, und wenn man den Ton bei "lass ab!" bis ganz zum Ende verfolgt, dann ist dem großer Respekt zu zollen.



    Die Liebe hat gelogen, Die Sorge lastet schwer, Betrogen, ach, betrogen Hat alles mich umher!

    Es fließen heiße Tropfen (diese beiden Zeilen werden wiederholt)
    Die Wange stets herab,
    Lass ab, mein Herz zu klopfen,
    Du armes Herz lass ab!

    Die Liebe hat gelogen, Die Sorge lastet schwer, Betrogen, ach, betrogen Hat alles mich umher!

  • Allmählich, beim langsamen Mich-Einhören in den Liedgesang der Ära vor Fischer-Dieskau, stellt sich bei mir der Eindruck ein, dass nicht nur, wie ich als These schon vertreten habe, tatsächlich die Semantik und Phonetik des lyrischen Textes weniger Berücksichtigung fand, sondern dass es auch eine Art Prädominanz des Stimmlichen gab.


    Das ist nicht abwertend gemeint. Es scheint mir eher historisch bedingt zu sein, und zwar in dem Sinne, dass es dem Sänger oder der Sängerin noch schwerfiel, sich aus dem großen Raum der Opern- und Arienbühne in den kleinen, kammermusikalischen und kompositorisch höchst filigran strukturierten Innenraum des Liedes zu begeben. Ich kann mir anders die Beobachtung nicht erklären, dass, wie das auch im folgenden Beispiel bei Schlusnus der Fall ist, häufig zu laut und stimmlich zu undifferenziert gesungen wurde. Es gibt aber auch Sänger, denen dieser Schritt in den Innenraum des Lieds wirklich gelang. Ein solcher war Karl Erb. Hatte er es vielleicht deshalb leichter, weil er keine richtige Sängerausbildung genossen hatte und deshalb in seiner sängerischen Grundhaltung offener war?


    Drei Interpretationen von Schuberts „Wanderers Nachtlied“ (D 768, „Über allen Gipfeln…“) habe ich miteinander verglichen. Die Sänger waren:
    Heinrich Schlusnus / Sebastian Peschko (Aufnahme 1939)
    Karl Erb / Pianist unbekannt (Aufnahme 1937)
    Gérard Souzay / Dalton Baldwin (Aufnahme 60er Jahre?) – Diesen Sänger habe ich gewählt, um nicht immer D. Fischer-Dieskau als sozusagen unumgängliche Bezugsgröße zu haben.


    HEINRICH SCHLUSNUS
    Das ist kein Piano-Gesang, wie Schubert ihn vorschreibt. Die Stimme ist dafür viel zu kräftig und zu dominant. Die erste Melodiezeile wirkt wie „heruntergesungen“: Sie ist zu wenig sängerisch gestaltet. Bei „In allen Wipfeln“ hört man zu Beginn ein Portamento, und danach wird fast „geschmettert“. Das ist nicht notengemäß! Auf dem Wort „allen“ liegt zwar ein kleines Crescendo, das wird aber im Wort selbst schon wieder zurückgenommen (durch ein Descrescendo-Zeichen). Schlusnus stört sich daran nicht: Er singt mit derselben – und zu großen! – Lautstärke weiter.


    Bei „Die Vöglein schweigen“ wird die Stimme zu wenig zurückgenommen: Das Wort „schweigen“ kommt zu laut. Bei der Wiederholung fällt dies noch unangenehmer auf. Das Crescendo beim zweiten „Warte nur“ ist zu stark ausgeprägt. Der Interpret muss ja bei dem Wort „ruhest“ ins Pianissimo zurück, und dies gelingt Schlusnus in gar keiner Weise.


    Übertrieben lang nimmt er die Fermate auf der Silbe („bal-) „-de“. Dieser Stelle wird damit eine Dramatik verliehen, die an den kompositorischen Intentionen Schuberts völlig vorbeigeht. Bei der Wiederholung wird das sogar noch gesteigert und wirkt wie eine vordergründige Effekthascherei.


    KARL ERB
    Die Stimme wird äußerst behutsam, fast schon pianissimo eingesetzt. Man hat sofort das Gefühl, dass hier einer sängerisch von dem von Schubert in Musiksprache umgesetzten lyrischen Text ausgeht. Auffällig ist das ausgeprägte Legato, bei dem man die Einfühlung in Schuberts Melodik vernimmt.


    Besonders deutlich wird das bei der sängerischen Gestaltung der Verse „Spürest du / Kaum einen Hauch“. Das „kaum“ erklingt so behutsam, als wäre es ganz organisch aus der melodischen Linie herausgewachsen. Karl Erb berücksichtigt dabei die Tatsache, dass Schubert auf dieses Wort den Tonschritt von einer nur kleinen Sekunde gelegt hat. Das ist wirklich subtiler Liedgesang!


    Auch das „Warte nur“ wirkt voll in die melodische Linie integriert und wird in gar keiner Weise übertrieben akzentuiert. Zwar dehnt auch Erb die Fermate auf „balde“ stark aus, hier wirkt das aber nicht so effekthascherisch wie bei Schlusnus, weil deutlich verhaltener gesungen wird.


    GÉRARD SOUZAY
    Auch bei ihm ist die Stimme stark zurückgenommen: Ins Piano eben, wie Schubert das will. Die erste Melodiezeile wird so gestaltet, dass sie auf dem Wort „Ruhe“ auch tatsächlich zur Ruhe kommt.


    Auf das „spürest du“, das, syllabisch exakt, auf demselben Ton artikuliert wird, folgt ein kurzes Innehalten, so dass die kleine Sekunde, die auf dem Wort „kaum“ liegt, auf eindrucksvolle Weise zur Geltung kommt. Das ist auf den Text gegründete Interpretation!


    Äußerst verhalten erklingt der Vers „Die Vöglein schweigen im Walde“. Die melodische Linie erhält hier etwas Schwebendes, das als völlig dem lyrischen Bild gemäß empfunden wird. Ohne besonderen Akzent wird das „Warte nur“ gesungen. Es hat nichts Mahnendes an sich, sondern wirkt völlig in die vorangegangene melodische Linie integriert. Nur die zweite Fermate wird voll, aber nicht exzessiv ausgesungen. Über die erste geht Souzay zwar nicht wirklich, aber beinahe hinweg. Das wirkt interpretatorisch überaus reflektiert und überzeugend.

  • Eine unvergleichlich differenzierte Interpretation, wenn die Tempoauffassungen von Sängerin und Pianist auch etwas frei anmuten. Die leuchtende Öffnung der Stimme bei den Deklamationen von "mein Herz!", die Zurücknahme ins Pianissimo mit all ihren Farbwechseln von Bangigkeit (z.B. bei "Willst wohl einmal hinübersehn"), die Gestaltung der Phrase "was drängst du denn so wunderlich" sind meisterhaft. Alle Verswiederholungen werden abschattiert, nichts verdoppelt sich schematisch. Selten wurde das unterschwellig Unheimliche dieses Lieds so gut getroffen.


    Als Vergleich mag man die einige Jahre zuvor entstandende Aufnahme mit Maria Ivogün heranziehen. Das Kammeremsemble sollte man hinnehmen, stimmlich ist die Sängerin weniger subjektiv als die Schumann. Doch der auch hier durch ein starkes Ritenuto in den Minore-Strophen hervorgehobene Kontrast zwischen Posthornfrohsinn und zweiflerischer Innenschau wird vokal überdeutlich, und die süße Leichtigkeit der Stimme macht dieses Innehalten besonders plastisch und ergreifend.


    Fazit: Zwei großartige Damen für die "Winterreise" und für den Liedgesang.


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  • Der Sänger singt mehr a tempo, er vereinheitlicht das Stück aus einer Grundhaltung, ohne einförmig zu sein. Weder die verhaltenen noch die strahlenden Passagen werden überzeichnet. Schlusnus zählt ja zu jenen Sängern, die schon in der Vokalfarbe, im Timbre expressiv klingen. Faszinierend ist die fp-Wirkung auf "Herz" und überhaupt der Einsatz des piano. Eine innige und schlichte, sehr berührende Interpretation.


    :hello:

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  • Ich möchte an einem weiteren Beispiel den oben, anlässlich von „Wanderers Nachtlied“ entwickelten, Gedanken, die Grundhaltung des Liedinterpreten betreffend, weiterführen. Dazu habe ich Schuberts Lied „Im Abendrot“ (D 799) auf einen Text von Carl Lappe („O wie schön ist deine Welt!“) ausgewählt. Die Sänger sind:


    Der 1902 geborene Walther Ludwig (Klavier M. Raucheisen) und
    Karl Erb (Begleiter unbekannt).


    Schuberts Lied verführt einen Sänger, der nicht aus dem Geist des lyrischen Textes und der ihn aufgreifenden musikalischen Faktur des Liedes singt, regelrecht dazu, seine Stimme in einer Art Strahleton zu entfalten. Das ist diesem Lied natürlich in gar keiner Weise gemäß, denn Lappes Gedicht lebt lyrisch ganz und gar aus der Haltung der Introvertiertheit des hier sich artikulierenden Ichs. Und ein Interpret muss das bedenken, wenn er sich auf dieses Lied einlässt.


    WALTHER LUDWIG
    Das Tempo ist entschieden zu langsam, wodurch das Lied einen schleppenden Ton bekommt. Ludwig braucht eine Minute länger als Karl Erb! Die Stimme entfaltet sich von vornherein in voller Stärke, und diese Haltung behält Ludwig bei: Eine Differenzierung in ihrem Einsatz findet kaum statt.


    Jede Möglichkeit einen gesanglichen Bogen stimmlich auszukosten, wird voll genutzt. Das fängt schon damit an, dass die Worte „deine Welt“ mit einer viel zu starken Dehnung versehen werden. Und natürlich entfaltet die Stimme bei „golden strahlet“ ihre ganze Pracht, ein leichtes Portamento einbezogen. Und das wiederholt sich natürlich bei dem Parallelvers mit „Schimmer malet“.


    Völlig an der Aussage des Liedes vorbei geht die stimmliche Gestaltung des Verses „Könnt ich klagen, könnt ich zagen?“ Hier wird zu expressiv gesungen. Das Wort „zagen“ erhält eine Lautstärke, die den Sinn dieses Verses und die ihm zugrundeliegende melodische Linie regelrecht pervertiert. Ähnlich ist das bei dem Vers „Nein, ich will im Busen tragen …“. Das Wort tragen wird über eine Dehnung mit einem solchen Gewicht versehen, dass der Sinnzusammenhang mit dem nächsten Vers verloren geht.


    Es unüberhörbar: Hier wird nicht von der semantischen Ebene des Textes und der diese reflektierenden musikalischen Faktur des Liedes her gesungen, sondern es wird einfach nur Schöngesang praktiziert. Der Sänger hat sich nicht aus dem großen Raum der Bühne in den Innenraum des Liedes begeben.


    KARL ERB
    Der erste, ganz spontan sich einstellende Eindruck schon nach der ersten Melodiezeile ist: Hier wird sprechend gesungen. Die Verse sprechen ja „den Vater“ an, und genau diesen lyrischen Gestus greift Erb auch auf. Man hört das besonders deutlich daran, dass er nach „Vater“ eine winzige Pause in die melodische Linie legt, und danach syllabisch exakt die Wortgruppe „wenn sie golden strahlet“ artikuliert.


    Man hat den Eindruck, dass das Auskosten gesanglicher Bögen regelrecht gemieden wird. Das „herniederfällt“ bekommt ebenfalls deutlich hörbare syllabische Akzente, und das Wort „Schimmer“ wird keineswegs stimmlich hervorgehoben, sondern es mündet in melodischem Fluss in das die Melodiezeile abschließende Wort „malet“.


    Wunderschön gelingt ihm der Vers: Wenn das Rot, das in der Wolke blinkt“, und zwar deshalb, weil er – wieder durch eine winzige Pause – dem Wort „Rot“ ein ganz eigenes Gewicht gibt, so dass man meint, es leuchten zu sehen. (So habe ich das noch nie gehört!).Und das „Fenster“ ist hier tatsächlich still!


    Die Introversion, die mit der zweiten Strophe einsetzt, ist bei Erb zu hören. Er verändert ganz leicht die stimmliche Grundhaltung und gibt dem Wort „zagen“ einen fast brüchigen Ton .Das „Nein“ kommt entschieden, aber nicht besonders laut. Und wieder wird bei dem nachfolgenden „ich will im Busen tragen“ jedes Wort mit deutlicher Hervorhebung artikuliert, als wolle der Sänger diesem „ich will“ Nachdruck verleihen.


    Überzeugend ist auch die Zurücknahme der Stimme bei dem Vers „Und das Herz…“. Das entspricht völlig der Intention Schuberts, weil die melodische Linie, das „und“ reflektierend, hier ja tief ansetzt und sich dann langsam nach oben bewegt.


    Vergleicht man beide Interpretationen, so ist unüberhörbar, dass Karl Erb, im Gegensatz zu Walther Ludwig, mit der Hereinnahme des lyrischen Textes in die stimmliche Gestaltung der melodischen Linie voll den Intentionen Schuberts gerecht wird.

  • Lieber Helmut Hofmann,


    in manchen Forumsbeiträgen habe ich schon meine Begeisterung bezüglich des Liedgesangs von Karl Erb zum Ausdruck gebracht. Es freut mich, dass andere "Genauhinhörer" wohl das gleiche Empfindenh haben.


    Um so unverständlicher ist für mich deshalb die von Jens Malte Fischer (der Mann hat immerhin eine Gesangsausbildung genossen!) abgegebene Beurteilung: "Sein Timbre war von seltener Reizlosigkeit". Ob da ein Hochschullehrer sauer ist, dass hier einer singt wie ihm der Schnabel gewachsen ist und einen Bogen um die Gesangsausbildung gemacht hat?

  • Das von hart zitierte Urteil über Karl Erb: "Sein Timbre war von seltener Reizlosigkeit" ist für mich nicht recht nachvollziehbar, obwohl ich zu ahnen glaube, was dieses Jens Malte Fischer damit meinen könnte.


    Man muss vorsichtig sein, wenn man aufgrund von alten Tonarchivmaterialien eine Aussage über den Klang einer Stimme oder eines Instruments macht. Die Kondensatormikrophone der Zeit, aus denen die Aufnahmen Erbs stammen, die mir zur Verfügung stehen, wiesen einen starken Abfall im unteren Frequenzbereich auf, so dass die Stimme zwangsläufig verzerrt wurde. Dennoch hört es sich so an, als verfügte Erb über einen sehr hellen, nicht sehr „körperreichen“ Tenor.


    Aber was wohl bei dem Urteil eine viel größere Rolle gespielt haben dürfte, ist dieses: Er weigerte sich beim Liedgesang, die sorgfältige Artikulation der Forderung nach optimaler Entfaltung der Stimme zu opfern. Das, was ich, den frühen Liedgesang betreffend, die Prädominanz des Stimmlichen nannte, ist bei ihm nicht zu hören


    Immer wieder hat man den Eindruck, dass er die melodische Linie stimmlich nicht voll auskostet, weil es ihm wichtiger ist, sorgfältig zu deklamieren, um die Aussage des lyrischen Textes zur Geltung zu bringen. Im Internet habe ich eine Rezension aus dem Münchner Merkur von 1950 gefunden. Dort heißt es, und das scheint mir sehr treffend: "In ungebrochener Spannkraft ist er der alte Magier geblieben, ... ein Stimmzauberer von vollendeter Musikalität und mit einer Aussprache, bei der jedes Wort verständlich ist."

    Man kann an fast jedem Lied diese ganz typische Art von Erbs Interpretation erleben, die die Sprachgebundenheit der melodischen Linie in überaus sorgfältiger Weise berücksichtigt. Beispielsweise hört man das sehr schön bei Schuberts „Der Wanderer an den Mond“ (D 870. Bei dem ersten Vers „Ich auf der Erd´, am Himmel du,“ akzentuiert er ungewöhnlich stark jeweils die erste Takthälfte, setzt hebt also die Worte „auf“, „Erd“ und „Himmel“ besonders hervor, um den Schreitcharakter der melodischen Linie zu betonen.


    Und was dieser Jens Malte Fischer mit seiner Kritik vermutlich meint, ist an der Art zu hören, wie Erb das Wort „Himmel“ singt. Er legt nicht den mindesten Wert darauf, den sonoren Doppelkonsonanten stimmlich auszukosten, sondern reduziert ihn auf ein kurzes, akzentuiertes „m“, um den sprachlich-lyrischen Gegensatz zu „Erd“ herauszuarbeiten. Und was auch auffällt: Bei Erb ist in der Art der Stimmführung und –gestaltung die unterschiedliche lyrische Perspektive von „Ich“ und „Du“ deutlich zu vernehmen, etwa bei dem Vers: „Ich ernst und trüb, du mild und rein“.


    Bei der heutigen Liedinterpretation hebt ein Fischer-Dieskau diese Dualität der lyrischen Perspektive zwar noch deutlicher hervor, aber es ist immerhin festzuhalten, dass Karl Erb im Jahre 1937 dies ebenfalls schon tat, - was wiederum ein Beleg dafür ist, wie sehr er aus dem Geist des Liedes heraus sang und interpretierte. Mir steht noch eine historische Aufnahme dieses Liedes mit Karl Schmitt-Walter (aus der Edition Raucheisen) zur Verfügung, die mir auch recht gelungen erscheint. Dort ist aber diese für das Lied so typische Eigenart, der perspektivische Gegensatz von „ich und „du“ weniger prägnant zu hören, als dies bei Karl Erb der Fall ist.

  • Interessant, daß gerade Erbs interpretation von "Der Wanderer an den Mond" hier zu Demonstrationszwecken herangezogen wird. Gerade dieses Lied nämlich hat meine Begeisterung für Karl Erb geweckt - ohne daß ich wusste warum. Keine andere Mir bekannte Interpretation dieses Liedes erschien mir so überzeugend wie gerade diese. -Und ich fand weder die Stimme reizlos, noch, daß sie nicht "optimal entfaltet" wäre . Aber das sind nun mal subjektive Eindrücke....
    "der alte Magier" - das trifft es aus meiner Sicht schon eher......


    mfg aus Wien


    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Alfred Schmidts Reaktion auf meinen letzten Beitrag zeigt mir, dass ich mich in mindestens einem Punkt wohl nicht klar genug ausgedrückt habe. Ich meinte nicht, dass Karl Erbs Stimme da und dort, - etwa in diesem Lied "der Wanderer an den Mond" - "nicht optimal entfaltet" wäre.


    Mit meinem Satz " Er weigerte sich beim Liedgesang, die sorgfältige Artikulation der Forderung nach optimaler Entfaltung der Stimme zu opfern." meinte ich: Karl Erb stellt seine Stimme ganz in den Dienst der Interpretation des Notentextes. Sie ist ihm nicht Selbstzweck! Natürlich kann er sie zu "optimalen Entfaltung" bringen. Aber eben nur dann, wenn das vom Notentext her erforderlich ist.


    Ich werde mich bemühen, das noch an mindestens einem Beispiel näher aufzuzeigen.

  • Beim Hören der Liedinterpretationen von Karl Erb, die mir als historische Aufnahmen zur Verfügung stehen, fällt mir, wenn ich sie mit Aufnahmen anderer Liedsänger aus dieser Zeit vergleiche, eine gewisse „Ungeschliffenheit“ seines Gesangsstils auf. Er scheint nicht den mindesten Wert auf „Belcanto“ gelegt zu haben. Ein Portamento, wie ich es etwa von Schlusnus kenne, ist mir bis jetzt bei ihm nicht begegnet. Ganz im Gegenteil: Er scheint manchmal sogar das Gebot des Legato-Gesangs zu missachten, wenn er die Anbindung der melodischen Linie an die Deklamation für vordringlich hält.


    Daher wahrscheinlich dieser Eindruck der „Ungeschliffenheit“, den ich in gar keiner Weise abfällig meine. Ganz im Gegenteil: Diese Art der Liedinterpretation empfinde ich aus ausgesprochen authentisch, weil der Sprachgebundenheit des Liedes kompromisslos verpflichtet. Dem Anspruch eines falsch verstandenen „Belcanto“ wird Karl Erb, jedenfalls was den Liedgesang betrifft, ganz sicher nicht gerecht. Aber es gilt ohnehin, worauf Fischer-Dieskau hingewiesen hat, dass es nur eine „ideelle Differenz zwischen >cantabile< und >declamatio>“ gibt. Denn entscheidend ist letzten Endes, dass der Geist des Liedes dem schönen Ton nicht geopfert werden darf.


    Bei D. Fischer-Dieskau bin ich auf eine Anmerkung gestoßen, die mir, was den Liedgesang von Karl Erb betrifft, höchst aufschlussreich zu sein scheint, obgleich sie gar nicht auf diesen bezogen ist. Er meint: „Alle mechanistische Beschreibung (des Wort-Ton-Verhältnisses) müßte … in der These kulminieren, daß Sprache im Singen erst zu sich selbst gelangt. Und wo die Sprache sich dem Kunstgesang verweigert …bleibt sie Zeichen, d.h. Mittel zum Zweck. Das stimmtechnisch Erreichte, der Schönklang wartet darauf, erhellt zu werden. Was zwischen den Noten steht (mit Gustav Mahler das Wesentliche), soll befreit, und was mit ihnen notiert ist, nicht vergewaltigt werden.“

    Mir scheint, dass dieses, was Fischer-Dieskau hier als eine Art Kriterium für den seine Aufgabe erfüllenden Liedgesang formuliert hat, von Karl Erb in vollem Umfang eingelöst wird. Man meint, wenn man seinen Liedinterpretationen lauscht, dass „Sprache im Singen zu sich selbst gelangt“. Und es ist wohl auch so, dass er die rechte Balance zwischen „declamatio“ und „cantabile“ gefunden hat, auch wenn es sich manchmal so anhört, als vernachlässige er den Aspekt „Schöngesang“.


    Dort, wo es wirklich darauf ankommt, lässt er seine Stimme aufklingen und wahrt das Legato, das der Notentext erfordert. Ein schönes Beispiel dafür ist Schuberts Lied „Du bist die Ruh“ auf einen Text von Friedrich Rückert. Die erste Melodiezeile „Du bist die Ruh, / Der Friede mild“ wird in vollendetem Legato so gesungen, dass die innere melodische Einheit voll erhalten bleibt.


    Erst dort, wo die lyrische Ansprache des anderen direkter wird, nämlich in der zweiten und der vierten Strophe, modifiziert Erb seine sängerische Grundhaltung im Sinne einer leichten Verstärkung des deklamatorischen Prinzips. Er tut das voll im Sinne von Schubert. Denn dieser hat in den betreffenden Strophen auch die musikalische Faktur im Sinne einer ausgeprägten harmonischen Modulation verändert.


    Und dort, wo es darauf ankommt, die Stimme voll und strahlend zu entfalten, nämlich in der letzten Strophe, wird Erb dem Anspruch des Notentextes voll gerecht. Nicht nur das: Er kann auch, wiederum sängerisch Schuberts Intentionen folgend, in der Aufeinanderfolge von nur zwei Takten, diese voll entfaltete Stimmpracht wieder mühelos ins Pianissimo zurücknehmen: Bei dem Wort „erhellt“ nämlich.


    Im Notentext findet sich bei dem Wort „erhellt“ ein „forte“. Danach folgen ein Decrescendo-Zeichen und eine volltaktige Pause. Der letzte Vers („o füll es ganz“ ) muss dann im Pianissimo gesungen werden. Die Perfektion von Erbs Liedgesang kann man darin hören und daran erkennen, dass er das Decrescendo tatsächlich in die zweite Silbe des Wortes „erhellen“ hineinnehmen kann. Besser – und Schuberts Intentionen gemäßer! – kann man das nicht machen.

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  • Eigentlich, so denke ich beim Hören der beiden „Winterreise“-Lieder „Der Wegweiser“ und „Das Wirtshaus“, ist es sehr schade, dass wir keine „Winterreise“-Gesamtaufnahme von Karl Erb haben. Es wäre ein großer Gewinn gewesen, zu hören, was er mit seinem ganz spezifischen Interpretationsstil diesem Zyklus abgewonnen hätte. Immerhin: Zwei Lieder daraus gibt es, - von ihm auf höchst eindrucksvolle Weise gesungen.


    Auch bei diesen Liedern ist wieder dieses für ihn so typische Singen von der semantischen und phonetischen Ebene der lyrischen Sprache her zu hören. Es wird durchgehend, und das in sehr konsequenter und markanter Weise, aus der für die „Winterreise“ so konstitutiven monologischen Sprechsituation heraus interpretiert.


    Bei „Was vermeid ich denn die Wege“ (dem ersten Vers von "Der Wegweiser") wird die Stimme stark zurückgenommen und das Wort „vermeid“ so markant artikuliert, dass sich der Fragecharakter dieses Verses regelrecht aufdrängt. Das „Habe ja doch nicht begangen“ trägt hingegen einen deutlich vernehmbaren Klageton.


    Eindrucksvoll ist der Vers „Weiser stehen auf den Straßen“ gesungen. Die beiden ersten Worte werden mit einem starken deklamatorischen Akzent versehen. Insbesondere bei dem Wort „stehen“ ist das der Fall, weil beide Silben gleichgewichtig gesungen und gesprochen werden. Man meint beim Hören, dieses lyrische Bild vor sich zu sehen.


    Beim zweiten „und suche Ruh“ wird die Stimme – ganz Schuberts Anweisung entsprechend – bei dem letzten Wort ins Piano zurückgenommen, darüber hinaus aber auch noch das Tempo verlangsamt, - Vorbereitung für das bedrohliche Bild der letzten Strophe. Mit beinahe leicht zittriger Stimme singt Erb das Wort „Weiser“. Und dadurch, dass jede Silbe der einzelnen Verse deklamatorisch markant hervorgehoben wird, kommt eine Art Schreitrhythmus in die melodische Linie, der die Bedrohlichkeit dieses Weisers zum Tode auf eine Weise steigert, wie ich das bislang noch nicht erlebt habe.


    Das Lied „Das Wirtshaus“ ist, von Karl Erb gesungen, eine für mich ganz neue Hörerfahrung. Normalerweise überlassen sich die Sänger hier dem ruhigen Fluss der melodischen Linie, der sich ja am Anfang im Raum eines relativ geringen Tonintervalls entfaltet. Erb aber tut das nur begrenzt, und zwar deshalb, weil er wieder sehr stark die sprachliche Ebene in das Singen einbezieht.


    Schon beim ersten Vers ist das zu hören. Das Wort „gebracht“ wird markant deklamiert, und danach reißt die melodische Linie schlagartig ab. Erb singt hier die Viertelnote, die Schubert auf die Silbe „bracht“ gelegt hat, nicht voll aus.


    Und im Grunde ist das ja auch schlüssig, denn der erste Vers skizziert sozusagen die Situation, in die der Wanderer geraten ist. Danach folgt eine Achtelpause im Notentext, und anschließend wird dann der „Beschluss“ artikuliert, hier „einkehren“ zu wollen. Dieses Wort deklamiert Erb wieder so, dass jede Silbe Gewicht hat, und man meint dabei diese eigentümliche Müdigkeit zu hören, die in den Worten und der Musik dieses Verses liegt.


    Man kann noch viele Stellen anführen, an denen dieses Singen von der lyrischen Sprache her zu vernehmen ist. Bei „doch weisest du mich ab“ wird zum Beispiel wieder jede Silbe mit solchem Nachdruck artikuliert, dass man das Abgewiesenwerden hörend nachvollziehen kann. Und der letzte Vers, dieses „Nun weiter denn, nur weiter, mein treuer Wanderstab“ ist ganz und gar aus dem Ansprachegestus heraus gesungen: Die Worte „weiter“ und „treuer“ erhalten, eben weil sie lyrisch und musikalisch im Zentrum stehen, ganz besonderen Nachdruck.


    Ich stelle mir vor – und male mir hörend aus – wie Karl Erb „Die Wetterfahne“ gesungen hätte, - ein Lied, in dem Schuberts Fähigkeit, lyrische Sprache vollkommen in musikalische Struktur zu verwandeln sozusagen in Reinkultur vorliegt. Es wäre wohl ganz sicher eine faszinierende Hörerfahrung. Sie ist nicht möglich. Leider!

  • Als Folie dienen mir Hüsch und Schlusnus. Hüsch kommt unserer Auffassung (Fischer-Dieskau) am nächsten; Tempostringenz, vokale Farbgebung, Rollengestaltung sind optimal aufeinander abgestimmt. Bei Schlusnus ist die Tempoauffassung bereits freier (Ritardandi und breiteres Tempo beim Übergang zum Vater), die Gestaltung dramatischer, allerdings ohne allzuviel Farbkontraste. - Was beiden Herren fehlt, gelingt Lotte Lehmann - eine hochdramatische, in ihrer Spannung kaum zu übertreffende Balladendeutung. Schon das Anfangstempo ist irrwitzig, die Rollen werden trotzdem nicht bloß farblich angedeutet, sondern beseelt und durchlitten. Die Angstschreie des Kindes, die immer bedrohlichere Annäherung des Erlkönigs, die ungeheuer plastische Erzählhaltung dieses atemlosen sich zu Tode Hetzens voller Panik und Grauen haben in meinen Ohren bloß eine Nachfolgerin an Lehmanns Seite, und das war Elisabeth Schwarzkopf. Mitgerissen und mitreißend - was dieses Stück zu entfesseln vermag, kann man hier hören.


    :hello:

    Zerging in Dunst das heilge römsche Reich


    - uns bliebe gleich die heilge deutsche Kunst!

  • Es mag eine Platitüde sein, aber der Gedanke, dass der hörbare Unterschied zwischen dem Liedgesang der Zeit vor Fischer-Dieskau und dem in der Zeit danach darin gründet, in welchem Maß der Interpret sich von dem Habitus des Bühnensängers zu emanzipieren vermag, scheint mir immer mehr plausibel.


    Die entscheidende Frage scheint zu sein, in welchem Maß der Sänger in der Lage ist, aus dem Innenraum der kompositorischen Aussage des Liedes heraus zu singen und in Folge davon auf die der Bühne gemäße expressive Außenwirkung der stimmlichen Artikulation zu verzichten: Auf die von mir oben so genannte „Prädominanz des Stimmlichen“ also.


    An einem winzigen Detail ist mir das bewusst geworden. Beim Vergleich der verschiedenen Interpretationen von „Wanderers Nachtlied“ (worüber ich im obigen Beitrag berichtete) fiel mir auf, dass die Fermate auf dem Wort „balde“ um so weniger exzessiv gesungen wurde, je mehr der Sänger sich auf eine textgemäße Interpretation des Liedes einließ.


    Ich habe das noch einmal nachgeprüft und dabei, neben den bereits vorgestellten Interpreten, auch noch Hans Hotter (Edition Raucheisen) einbezogen und mit Fischer-Dieskau verglichen. Es scheint so zu sein, als ließe sich an diesem winzigen Detail eben diese Grundhaltung des Sängers ablesen.


    Heinrich Schlusnus, ganz auf Bühnenwirksamkeit seines Singens bedacht, verleiht der Fermate einen fast theatralischen Gestus, indem er, ganz entgegen dem Notentext, sie extrem lange hält und danach auch noch eine Pause macht, von der in den Noten nichts steht.


    Karl Erb hingegen – und übrigens auch Hans Hotter! – nehmen die Länge dieser Fermate schon deutlich zurück. Gérard Souzay hält an dieser Stelle noch weniger lang inne, singt die Fermate eigentlich nur in der Wiederholung voll aus, und Fischer-Dieskau nutzt die Fermate, die er natürlich auch beachtet, als Plattform zu einem gesanglich-melodischen Bogen hinunter zu dem Wort „ruhest.


    Das scheint mir die den kompositorischen Intentionen Schuberts gemäßeste Interpretation dieser Stelle des Liedes zu sein. Und es ist auch die, die am wenigsten auf „Außenwirkung“ bedacht ist, weil ganz aus der sängerischen Interpretation des Notentextes hervorgehend und ausschließlich diesem verpflichtet.

  • Wer immer meine - zugegeben ein wenig spekulativen! - Betrachtungen über eine Fermate für "leicht spinnert" halten mag, dem sei gesagt:


    Ich bin eben bei einem Interpretationsvergleich auf genau dasselbe Phänomen gestoßen. Wieder wurde die Fermate in einem Schubertlied (es geht um "Gretchen am Spinnrade") bei Interpretationen der dreißiger und vierziger Jahre deutlich länger gehalten, als man das heute tut.


    Ich werde darüber berichten. Aber das muss ja alles erst einmal sorgfältig und genau "zu Papier gebracht" werden, - durchaus unüblich, hier in diesen flottsprüchigen Inernetwelten

  • Von Gilms Gedicht "Allerseelen" in der Vertonung durch Richard Strauss hat etwas ganz spezifisch Demodiertes, das der Welt unserer Großeltern angehört und daher von modernen Sängern wie Elly Ameling oder Hermann Prey schon im Ton nicht getroffen wird.


    Lotte Lehmann sang es 1947 live in der Hollywood-Bowl, mit Orchesterbegleitung, und ihre gereifte Stimmfarbe, die wehmütig lächelnde Wärme ihres Timbres sind ebenso paßgenau zur lyrischen Rolle wie die hörbare Vertrautheit mit der in den ersten Zeilen ausgedrückten Handlung und Haltung. Man muß etwas in die Jahre gekommen sein, um das Anrührende und Beglückende dieses Lieds zu verstehen. Man muß gleichsam noch wissen, wie Reseden aussehen und duften, weil man aus einer Zeit kommt, wo diese Blumen verbreitet und in Mode waren. Auch mit Allerseelen muß man weltlich vertraut sein, weil man einen lieben Toten hat.


    Elly Amelings wunderbar innige und nuancierte Interpretation bleibt, verglichen mit Lehmann, dem Stück gerade diese innere Anempfindung an die Haltung eines lächelnd beschworenen Verlusts schuldig; wie bei Prey fallen Getragenheit und leidenschaftlicher Ausbruch auseinander, sie nehmen das Stück etwas zu nachdenklich und zu ernst.


    "Wie einst im Mai", eine heute unmögliche, abgedroschene Phrase, muß man von Lotte Lehmann gesungen hören, die auch dafür eine Selbstverständlichkeit findet, die in ihrer feinsinnigen Abtönung kaum ihresgleichen hat.


    Man kann aus solchen Hörerfahrungen lernen, daß dem Wesen der modernen Liedinterpretation, repräsentiert etwa durch Dietrich Fischer-Dieskau, ein Moment von Distanz innewohnt. Einen Text in all seinen vokalen Nuancen vorzutragen, oder dem Menschlichen dahinter Gestalt zu geben, ist nicht ganz dasselbe.


    :hello:

    Zerging in Dunst das heilge römsche Reich


    - uns bliebe gleich die heilge deutsche Kunst!

  • Ohne in dieser Sache eine wirkliche Urteilskompetenz beanspruchen zu dürfen, meine ich, auch bei den Liedinterpretinnen eine ähnliche Entwicklung beobachten zu können, wie ich sie auch bei den männlichen Liedsängern festgestellt habe: Ich meine die in den fünfziger und sechziger Jahren mehr und mehr sich ausprägende Interpretation aus dem Innenraum des Liedes, was insbesondere die Berücksichtigung der semantischen Ebene des lyrischen Textes anbelangt. Auch die Sängerinnen scheinen sich im Verlauf der historischen Entwicklung des Liedgesangs mehr und mehr von der Opernbühne gleichsam emanzipiert zu haben.


    An einem Beispiel soll das kurz gezeigt werden, und zwar an Schuberts „Gretchen am Spinnrade“. Ich habe vier Aufnahmen dieses Liedes unter diesem Aspekt miteinander verglichen, und zwar
    - Dusolina Giannini (Aufnahme 1930)
    - Elisabeth Schumann (Aufnahme 1936)
    - Maria Müller (Aufnahmedatum unbekannt, wahrscheinlich 40er Jahre)
    - Elisabeth Schwarzkopf / Edwin Fischer (Aufnahme 1950)


    Für die Beurteilung der sängerischen Interpretation ist zu bedenken, dass dieses Lied Schuberts in seiner musikalischen Grundsubstanz im Pianissimo angesiedelt ist, aus dem – textbedingt –nur an wenigen Stellen einen Ausbruch ins Fortissimo gibt. Der Grund: Goethes Gedicht ist eine lyrische Artikulation von seelischen Regungen im Innern eines Mädchens, das am Spinnrad sitzt. Zu lautes, zu expressives Singen wird, mit Ausnahme jener Stellen in der siebten und der zehnten Strophe, der introvertierten Grundhaltung des lyrischen Ichs nicht gerecht.


    Genau dieser Prozess, von einer zu stark expressiven hin zu einer mehr introvertierten Interpretation ist bei den erwähnten Aufnahmen zu beobachten. Er entspricht durchaus dem, was auch bei den männlichen Liedsängern festzustellen war. Im einzelnen ergab sich folgendes Hörbild.


    DUSOLINA GIANNINI
    Sie beginnt zwar zunächst recht verhalten, ohne die Stimme wirklich ins Pianissimo zurückzunehmen. Die melodische Linie wirkt ein wenig zerstückt, weil jeder Vers vom anderen deutlich abgesetzt ist. Etwas Drängendes ist da zu hören, wahrscheinlich Ausdruck der inneren Unruhe. Deutlich expressiver wird sie aber in Strophe sieben: Das Wort „Kuss“ wird fortissimo ungewöhnlich lange gehalten. Ebenso extrem expressiv verläuft die Interpretation der zehnten Strophe: Bei der Wiederholung von „vergehen sollt“ scheint keine Steigerung mehr möglich zu sein.


    ELISABETH SCHUMANN
    Sie interpretiert sehr stark vom lyrischen Wort her. Gleich am Anfang werden „Herz“ und „nimmermehr“ mit einem deutlichen Akzent versehen. Bei dem Wort „hin“ („meine Ruh ist…“) wirkt die Stimme sogar eine wenig brüchig. Bei einem Vers wie „Ist mir zerstückt“ wirkt die Stimme stark affektiv aufgeladen. An den besagten Fortissimo-Stellen wirkt der stimmliche Ausdruck ins Extrem gesteigert. Bei dem Worten „vergehen sollt“ hält man fast die Luft an, - aus Angst, dass der Sängerin die Stimme tatsächlich „vergeht“.


    MARIA MÜLLER
    Sie nimmt ein deutlich langsameres Tempo, - Schuberst Intentionen gemäß, denn er schreibt „Nicht zu geschwind“ vor. Und sie singt deutlich verhaltener! Es wird hörbar mehr aus dem seelischen Innenraum interpretiert, - im Sinne einer stillen Klage. Allenfalls ein Wort wie „Nimmermehr“ bekommt einen deutlich vernehmbaren Akzent. Allerdings kommt es bei den „neuralgischen Stellen“ dann doch wieder zu extremer Expressivität: Sowohl bei dem Wort „Kuss“ als auch bei „vergehen sollt“ wird die Stimme zu äußerster Lautstärke gesteigert. Ein gewisser Unterschied zu Giannini und Schumann besteht aber darin, dass die Fermate auf „Kuss“ nicht so lange ausgehalten wird.


    ELISABETH SCHWARZKOPF
    Diese Interpretation hebt sich deutlich von den vorangegangenen ab. Schon bei den ersten Takten stellt sich der Eindruck ein: Hier wird aus dem Geist des Liedes heraus gesungen. Die Unruhe, die in der Stimme aufklingt, ist hörbar eine innere. Und das, was stimmlich artikuliert wird, kommt aus seelischer Not.


    Wie sehr von der semantischen Ebene des lyrischen Textes her gesungen wird, kann man bei Strophe 5 vernehmen („Nach ihm nur schau ich“). Hier ändert sich ja die lyrische Perspektive: Die Außenwelt wird in die seelische Innenwelt hineingenommen, und Schubert greift das in der musikalischen Faktur auch auf. E. Schwarzkopf reagiert darauf mit einer deutlich hörbaren Veränderung des stimmlichen Tons. Die expressiven Höhepunkte des Liedes werden von ihr stimmlich vergleichsweise zurückhaltend artikuliert. Die Fermate auf „Kuss“ wird nur kurz angedeutet, und auch das „vergehen sollt“ wird mit verhaltener Expressivität gesungen. Großartig das letzte „Meine Ruh ist hin“: Die Stimme lässt tiefe innere Erschütterung vernehmen, und sie versinkt am Ende fast gebrochen in ein absolutes Pianissimo.


    ZUSAMMENFASSUNG
    Ich meine, dass man an diesem Beispiel bei den Sängerinnen sehr wohl den gleichen Prozess der Wandlung in der Grundhaltung der Liedinterpretation beobachten kann, der auch bei den Liedsängern zu beobachten ist: Eine Abkehr von dem gleichsam an der musikalischen Oberfläche des Liedes ansetzenden Singen hin zu einer aus seinem lyrisch-musikalischen Geist heraus sich entfaltenden Interpretation.

  • Die expressiven Höhepunkte des Liedes werden von ihr stimmlich vergleichsweise zurückhaltend artikuliert.



    Lieber Helmut,


    deine akustischen Quellen würden mich interessieren - bei youtube ist die Schwarzkopf mit Edwin Fischer stark zurückgedreht; von der Platte ist mir eine ungeheure Exaltation und Expansion erinnerlich. Hör doch einmal auf die Tonerzeugung bei den letzten beiden "vergehen" bei Lotte Lehmann, Elisabeth Schumann und Elisabeth Schwarzkopf - da singt die letztere doch mit der offensten Stimme; bei der Schumann ist der Vokal nach i verfärbt, ein gleichsam scharf angesetzter Schrei; und die Lehmann bringt die Spitzentöne am Unvergeßlichsten hervor, sie entringen sich der Stimme voll innerer Anspannung, nicht so exaltiert-befreiend wie bei der Schwarzkopf.


    Vielleicht sollte man, gerade bei Damenstimmen, für die Schellackära konzedieren, daß aus aufnahmetechnischen Gründen ein wenig zu laut mußte gesungen werden, damit alles draufkam (ist nur eine Spekulation).


    Ich höre bei allen Dreien einen Wechsel der Stimmfarbe ab "sein hoher Gang". Die Schumann hat (wie später die hier auch großartige Lucia Popp) das ideale Timbre für die Mädchenhaftigkeit der Liedrolle. Ich finde die Versionen nicht so grundverschieden. Die Schwarzkopf klingt mir allerdings viel zu damenhaft, was auch mit der Überprononcierung zu tun hat. Sie zelebriert einen Text, ist aber kein verzweifeltes Mädchen. Man hört den dunklen Vokal in Ruh und die Assonaz von Herz an hin - aber was ist damit gewonnen?


    :hello:

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    - uns bliebe gleich die heilge deutsche Kunst!

  • Du fragst nach meinen "akustischen Quellen", lieber farinelli,


    nun, das sind CDs, Tonbänder und Schallplatten. Hier in diesem Fall hörte ich die Aufnahme mit E. Schwarzkopf auf einer EMI-Lp (die es aber auch als Umschnitt auf CD gibt). You Tube meide ich, - erstens, weil ich beim Lied-Hören in der Nähe meines Computers hocken muss (was ich gar nicht mag) und zweitens, weil die Tonqualität nicht optimal ist.


    Zum Stickwort "Tonqualität" habe ich mich schon einmal geäußert. Man muss sorgfältig auf die Aufnahmezeit achten. In den dreißiger und vierziger Jahren wurden zwar schon richtige Mikrophone verwendet (keine Trichter mehr, wie in der Frühzeit der Schallplatte), das waren aber in der Regel Kondensator-Mikrophone, die keinen linearen Freqenzgang aufwiesen. Dieser fiel bereits oberhalb von 1000 Hertz deutlich ab, so dass die Stimmen aus dieser Zeit grundsätzlich obertonreicher (heller) klingen, als sie sich in Wirklichkeit anhörten.Viele akustische Unzulänglichkeiten ergaben sich auch daraus, dass der Solist nahe an das Mikrophon herantreten musste.


    Aus der Zeit, in der ich jede auch nur irgendwie erreichbare Liedsendung im Rundfunk mitgeschnitten habe, besitze ich Tonband mit "Liedgesang aus der Frühzeit der Schallplatte". Eben hörte ich mir gerade mal eine Aufnahme daraus an. Da singt (u.a.) der Tenor Gustav Walter Schuberts "Am Meer" (Schwanengesang) in einer Aufnahme von 1905. Das ist hochinteressant, denn da kann man hören, wie Liedgesang im 19. Jahrhundert praktiziert wurde. Diese Tradition reicht ja noch bis in die erste Hälfte des 20. Jhs. hinein. Wenn man Dusolina Giannini "Gretchen am Spinnrade" oder Heinrich Schlusnus "Wanderers Nachtlied" singen hört (beides hier beschrieben!), dann kann man das nacherleben.


    Gustav Walter musste damals, entgegen dem Notentext, mezzoforte singen, - weil man das den Sängern vorher einschärfte, des Trichters wegen. Die Nicht-Einhaltung der Dynamikvorschriften kann man den Sängern also nicht anlasten. Interessant ist aber die sängerische Grundhaltung. Man hält das Tempo nicht ein, leistet sich jede Menge Rubati, um Gefühl in den Gesang zu legen. Portamenti gehörten zum selbstverständlichen sängerischen Handwerkszeug. Weil es um eine expressives, emotional aufgeladenes Singen ging, lässt man, wie Gustav Walter hier, auch mal einen leichten Gickser in die melodische Linie einfließen ( bei dem Wort "Knie gesunken") oder man lässt die Stimme sogar brechen oder in einem Schluchzer versinken ("die Tränen fortgetrunken"). Das "unglückselge Weib" wird mit einer gewaltigen Dehnung versehen, das Wort "vergiftet" aber ganz langsam, unter starker Verringerung des Tempos, in jeder Silbe ausgekostet. Bei "Tränen" am Ende bricht dann die Stimme beinahe wieder.


    Hier kann man also sehr schön hören, dass es beim Liedegsang - was ich ja zu zeigen versuche - usrprünglich noch sehr stark um stimmliche Außenwirkung ging. Diese - sozusagen stark extrovertierte - Grundhaltung des Sängers oder der Sängerin wird zwar in den ersten Jahrzehnten des zwanzigsten Jahrhunderts langsam abgebaut, sie ist aber bei den meisten Liedinterpreten, die mir aus dieser Zeit zur Verfügung stehen, immer - in unterschiedlich starker Ausprägung - zu vernehmen. Das, was ich das "Singen aus dem Innenraum des Liedes " nannte, entwickelt sich erst voll und konsequent um die fünfziger Jahre und in der Zeit danach.

  • Elisabeth Schumann hat mein Interesse geweckt, - nach der Erfahrung, die ich beim Interpretationsvergleich von „Gretchen am Spinnrade“ machte. Sie scheint mir, ähnlich wie Karl Erb, eine der wirklich großen Vertreter(innen) des Liedgesangs in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts zu sein. Sie war ja von 1917 bis 1937 Mitglied der Wiener Staatsoper und sang außerdem regelmäßig bei den Salzburger Festspielen und am Covent Garden in London.


    Das für mich Erstaunliche ist dabei, dass sie Lieder gar nicht so singt, als stünde sie auf der Bühne. Zwar setzt sie gesangliche Stilelemente der Bühne ein, affektive Ausdrucksmittel und Portamenti zum Beispiel, aber sie tut das mit einer ganz konsequenten Anbindung an die semantische Ebene des lyrischen Textes. Und dergleichen beeindruckt mich allemal!


    Ich habe drei Interpretationen von „Nähe des Geliebten“ miteinander verglichen:
    Elisabeth Schumann (Aufnahme 1936)
    Hilde Scheppan (Ed. Raucheisen, Aufnahme vermutlich vierziger Jahre)
    Janet Baker / Gr. Johnson (Aufnahme 2005)


    Schuberts Komposition, die als Strophenlied angelegt ist, lebt musikalisch ganz von der Melodiezeile, die jeweils auf den ersten beiden Versen der Strophe liegt. Sie fällt (in meiner Ausgabe für mittlere Stimme) von einem hohen „es“, auf dem zwei Viertelnoten liegen (davon eine punktiert) in drei Schritten hinunter zum „f“ und bewegt sich in ähnlicher, stark von Legato geprägten Weise wieder nach oben, allerdings nicht zu Ausgangslage. Das lädt zu stark gefühlsgeladenem Singen ein, zumal Goethes Text das ja auch nahelegt. Die Frage war für mich, wie stark die Interpretinnen Wert darauf legen, eine den lyrischen Text reflektierende Binnendifferenzierung bei den einzelnen Strophen vorzunehmen.


    ELISABETH SCHUMANN
    Es wird mit ganz großer Emphase gesungen. Die fallende Linie der ersten Melodiezeile betont Schumann durch einen ausgeprägten Legato-Gesang, bei dem sie über Schuberts Notentext insofern hinausgeht, als sie Portamenti einsetzt und auch dort melodische Bögen singt, wo gar keine vorliegen. Besonderes Gewicht erhält jeweils das lyrische Wort, das am Ende der Melodiezeile steht („strahlt“, „malt“ usw.). Das geschieht dadurch, dass die Stimme in der tiefen Lage, die sie an dieser Stelle erreicht, einen leicht bebenden Klang annimmt. Das wirkt höchst eindrucksvoll!


    Bemerkenswert ist, dass innerhalb der strophischen Grundstruktur des Liedes im stimmlichen Ausdruck höchst differenziert gesungen wird, und zwar je nach Aussage des lyrischen Textes. So wird zum Beispiel dem „o wärst du da“ weitaus mehr Emphase verliehen, als den musikstrukturell parallelen Versen.


    HILDE SCHEPPAN
    Der Gesang ist – im Vergleich zu E. Schumann – deutlich weniger binnendifferenziert und weniger mit affektiven Elementen angereichert. Mit einer Ausnahme allerdings: Das ist die letzte Strophe. Diese ragt so markant aus der stimmlichen Artikulation der anderen Strophe heraus, dass man denken möchte, die ganze Interpretation sei nur auf sei angelegt. Auffallend ist, dass die Stimme weniger auf die strukturierende Wirkung von Semantik und Phonetik des lyrischen Wortes reagiert und statt dessen die melodische Linie der ganzen Strophe herausarbeitet, - weniger also die einzelnen Melodiezeilen, wie das bei E. Schumann zu hören ist.


    Aus diesem Grund wirken die ersten drei Strophen fast gleichförmig gesungen. Anders sieht das aber bei der letzten aus. Der Vers „Ich bin bei dir“ wird mit deutlichem Nachdruck auf den Worten „bin“ und „dir“ versehen. Nach „Sterne“ wird eine winzige Pause eingelegt, damit das „o wärst du da“ um so mehr Emphase erhalten kann, - mit einem ausgeprägt tonalen Gewicht auf dem Wort „du“ übrigens.


    JANET BAKER
    Sie wählt ein deutlich rascheres Tempo. Mir scheint das nicht angemessen, denn Schubert schreibt „Langsam, feierlich, mit Anmut“ vor, und er hat ja die zweite Fassung des Liedes ganz bewusst mit einem Zwölfachteltakt versehen, um diese getragene Feierlichkeit noch besser zum Ausdruck bringen zu können. Ich meine, J. Baker wird dem nicht voll gerecht!


    Zwar wird das „Ich denke dein“ durchaus stimmlich markant artikuliert, das nachfolgende „wenn mir der Sonne Schimmer“ erklingt jedoch melodisch arg komprimiert. Auch das „vom Meere strahlt“ wird melodisch nicht so gedehnt, wie das bei E. Schumann zum Beispiel der Fall ist.


    Andererseits reagiert J. Baker durchaus auf den lyrischen Text. Sie nimmt innerhalb der identischen musikalischen Struktur der einzelnen Strophen eine deutlich hörbare Binnendifferenzierung vor. Schon das zweite „Ich denke dein“ wird in wesentlich innigerem Ton gesungen als das erste. Ähnlich ist es bei „ich höre dich“ oder bei „im stillen Haine“. In diesen Fällen wird die Stimme stark zurückgenommen.


    Durchweg hat man den Eindruck, dass J. Baker großen Wert darauf legt, die unterschiedlichen Gefühlslagen beim jeweiligen Ansprechen des lyrischen „Du“ stimmlich zum Ausdruck zu bringen. Im Vergleich zur Interpretation von Elisabeth Schumann wirkt die ihrige aber deutlich weniger gefühlsgeladen.


    AUSWERTUNG
    Das Ergebnis entspricht durchaus den Hörerfahrungen, die man bei solchen Interpretationsvergleichen immer wieder macht und die auch oben beschrieben wurden: Es wurden in den dreißiger und vierziger Jahren beim Liedgesang wesentlich stärker affektive stimmliche Mittel zum Einsatz gebracht. Im Vergleich dazu wirkt so manche heutige Liedinterpretation distanzierter. Und bei so manchem Lied – wie bei diesem zum Beispiel – weiß man nicht so recht, welchen Interpretationsstil man bevorzugen möchte.

  • Lieber Helmut,


    sobald man sich etwas eingehört hat, entdeckt man sehr viel Schönheit im Liedgesang der Schellackära. Und daß man ein wenig danach suchen muß, unterscheidet sich kaum von der Situation heute.


    Ich habe eben Schumanns "Nußbaum" von Elisabeth Schwarzkopf wiedergehört - aus einer telephone bell hour, deutlich langsamer als auf der früheren Aufnahme mit Gerald Moore. Ich wollte meinem Beitrag ursprünglich eine Brahms-Zeile als Motto geben:


    Und a bissele Falschheit is au wohl dabei.


    Ich habe damit das vokale Auskosten der Textnuancen als Sprachlaute gemeint. Aber dann habe ich Leo Slzezaks 1928er Interpretation vom Nußbaum gehört, und siehe da - er macht es kaum anders als die Schwarzkopf, singt alles mit einer behutsamen und zärtlichen Kopfstimme, pianissimo, und bei der Stelle "Das dächte die Nächte/ und Tage lang usw." wählt er die gleiche herabgetönte Färbung und Haltung wie seine jüngere Kollegin. Das Diminuendo am Schluß gelingt Slezak meisterhaft.


    Wenn man das bezaubernde Lied so singt, wirkt es wie eine ganz nah an die Ironie geführte Idylle (und in dieser Spannung steht ja die lieblich raunende Begleitung zum etwas zu diminutiven Text). Man spürt bei Schwarzkopf ganz deutlich, daß sie sich in diese Atmosphäre versetzen kann, aber sie nimmt dazu fast eine Kinderpose an (wie auch im "Mausfallensprüchlein"). Es ist diese verkappte Rollenhaftigkeit, die das Charakteristikum ihres Nußbaums ausmacht.


    Anneliese Rothenberger verzichtet weitgehend auf diese Überbiegsamkeiten der Stimme, dieses mütterlich-mitfühlende Ohgottohgott bei "das dächte, die Nächte" (man könnte auch bei "wußte, ach! selber nicht, was" die Hervorhebung durch Schwarzkopf anführen, eine Überprononcierung des Kommas gleichsam - in dieses offene "was" wird der uneingestandene Inhalt mit hineingelegt, ein sehr kluger, aber auch sehr reflektierter Ansatz.)


    All das unterstreicht natürlich deine, lieber Helmut, hier entwickelte These, es würde bei Fischer-Dieskau (oder Schwarzkopf) ganz aus einer lyrisch-verinnerlichten Haltung gesungen, "aus dem Innenraum des Liedes", wie du so treffend formulierst. Das Singen wird zu einem Instrument der Textrealisation, das Affektive zum Moment eines Kalküls (statt zu einem primären vokalen Anliegen).


    Diana Damrau (zur Harfenbegleitung) singt das Stück mit aller gebotenen Verhaltenheit und Zärtlichkeit ein wenig natürlicher, aber zuletzt auch weniger differenziert.


    :hello:

    Zerging in Dunst das heilge römsche Reich


    - uns bliebe gleich die heilge deutsche Kunst!

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