Franz Liszt und seine Lieder

  • Ja, Holger, so ist es. Man kann hier hörend erfahren, wie Verstummen kompositorisch zum Ausdruck gebracht werden kann.


    Liszt hat das Lied „J´ai perdu ma force et ma vie“ im Mai 1872 unter dem Eindruck des Todes seiner Jugendliebe Caroline de Saint-Cricq komponiert. Es kann aber gar kein Zweifel bestehen, dass es Ausdruck seiner allgemeinen Seelenlage damals ist, die von Einsamkeit, Selbstzweifeln und Depression geprägt war.


    In einem Brief aus dieser Zeit (an Therese von Helldorf) findet sich die Bemerkung: „Der düstere Ton, den Sie in meinen letzten Zeilen beanstanden, wird mir mehr und mehr vertraut. Besser würde es sein, ganz zu schweigen: >schweig, meid, leid und vertrag<“.


    In seiner kompositorischen Faktur ist das Lied von einer Radikalität und Kompromisslosigkeit, die man fast als singulär bezeichnen möchte. Über weite Strecken dominiert das Rezitativ, mehrmals wird die Tonart geändert, und das Ganze mündet klanglich in einen auf fast erschreckende Weise dissonant ins Leere verhallenden Akkord aus den Noten eis – gis – d.

  • Ich hatte das Lied „J´ai perdu ma force et ma vie“ als sehr persönlichen Ausdruck des Seelenschmerzes Liszts bezeichnet. Darüber hat er sich selbst zwar nicht geäußert, wohl aber darf man aus den persönlichen Zeugnissen, Briefen zum Beispiel, aus dieser Zeit durchaus eine solche Schlussfolgerung ziehen.


    Hinzu kommt, dass auch seine späten Klavierstücke eine kompositorische Struktur aufweisen, die in der Radikalität, mit der die Faktur auf die zentrale kompositorische Aussage reduziert wird, sehr stark an dieses Lied erinnert.


    Ein kleines Klavierstück wie „Trübe Wolken“ („Nuages gris“), das am 24. August 1881 in Weimar entstand, drängt sich einem im klanglichen Eindruck regelrecht als diesem Lied verwandt auf. Zunächst erklingen über vier Takte nichts anderes als zwei gleichförmige bogenförmige melodische Linien, durch eine Viertelpause voneinander getrennt. Danach, bei der Wiederholung dieser melodischen Figur, legt sich immerhin ein Oktavtremolo im Klavierbass darunter. Die Tristesse, die von all dem ausgeht, wird aber dadurch nur noch verstärkt.


    Ein paar vereinzelte, in Moll und verminderter Harmonik gehaltene Akkorde sind dann zu vernehmen, bevor sich wieder diese bogenförmige melodische Linie zu Wort meldet, dieses Mal noch eindringlicher, weil in oktavischer Form artikuliert. In den letzten fünfzehn Takten erreicht die kompositorische Kühnheit dieses kleinen Werkes ihren Höhepunkt. Drei klangliche Ebenen überlagern sich: Im Bass ein Orgelpunkt, darüber austeigende übermäßige Dreiklänge und im Diskant eine aufsteigende chromatische Linie aus Oktaven. Und das ganze mündet in einen klanglich überaus expressiv wirkenden arpeggierten Undezimenakkord.


    Man könnte noch eine ganze Reihe anderer Klavierwerke aus der Spätzeit hier anführen, - etwa „Schlaflos! Frage und Antwort: Nocturne nach einem Gedicht von A. Raab“, entstanden 1883. Das ist zwar klanglich reicher angelegt, wirkt aber wegen der bohrenden Insistenz, mit der das Thema durch die Harmonik hin und her gewälzt wird, kompositorisch ähnlich radikal.


    Das sind Kompositionen, die – ähnlich wie die einige späte Lieder Liszts – als zukunftsweisend eingestuft werden müssen.

  • Eigentlich wollte ich in diesem Thread nichts schreiben, weil ich nur wenige Lieder von Liszt kenne und deshalb nicht besonders sachkundig bin. Nun gestatte ich mir aber doch wenige Bemerkungen, weil hier kürzlich das Lied „Es muss ein Wunderbares sein“ besprochen wurde, das ich natürlich schon seit Jahrzehnten auswendig im Kopf habe, weil es eben so bekannt ist, dass man es einfach kennen muss.
    Immer, wenn ich in Rottach-Egern bin, besuche ich Leo Slezak auf dem Friedhof; auf seinem Grabstein findet man den Text: VOM ERSTEN KUSS BIS IN DEN TOD SICH NUR VON LIEBE SAGEN


    Und eine weitere Bemerkung zu Franz Liszt:
    Als ich dieser Tage in alten Aufnahmen von Karl Erb „kramte“, fiel mir bei drei Liedern auf, dass als Textdichter Peter Cornelius genannt wurde:


    Sei gesegnet immerdar
    Fried´ ist versagt mir
    So sah ich denn auf Erden

    Beim Nachschlagen der Sachverhalte, war ich dann doch etwas erstaunt über die Beziehung der beiden Komponisten zueinander. Es kommt wohl nicht so häufig vor, dass ein Komponist seinen Komponistenkollegen mit Texten beliefert.

  • Ein kleines Klavierstück wie „Trübe Wolken“ („Nuages gris“), das am 24. August 1881 in Weimar entstand, drängt sich einem im klanglichen Eindruck regelrecht als diesem Lied verwandt auf. Zunächst erklingen über vier Takte nichts anderes als zwei gleichförmige bogenförmige melodische Linien, durch eine Viertelpause voneinander getrennt. Danach, bei der Wiederholung dieser melodischen Figur, legt sich immerhin ein Oktavtremolo im Klavierbass darunter. Die Tristesse, die von all dem ausgeht, wird aber dadurch nur noch verstärkt.


    Ein paar vereinzelte, in Moll und verminderter Harmonik gehaltene Akkorde sind dann zu vernehmen, bevor sich wieder diese bogenförmige melodische Linie zu Wort meldet, dieses Mal noch eindringlicher, weil in oktavischer Form artikuliert. In den letzten fünfzehn Takten erreicht die kompositorische Kühnheit dieses kleinen Werkes ihren Höhepunkt. Drei klangliche Ebenen überlagern sich: Im Bass ein Orgelpunkt, darüber austeigende übermäßige Dreiklänge und im Diskant eine aufsteigende chromatische Linie aus Oktaven. Und das ganze mündet in einen klanglich überaus expressiv wirkenden arpeggierten Undezimenakkord.

    Lieber Helmut,


    "Nuages gris" ist wahrlich ein unglaubliches Stück. Und erstaunlich, wie schlecht es oft interpretiert wird, ohne Konzept und Idee. Ich habe mich da ja ziemlich hinein vertieft, von Musikwissenschaftlern, die ich gefragt habe, aber leider keine aufschlußreiche Antwort bekommen, woher der Titel stammt.


    Beste Grüße
    Holger

  • Ja, lieber Holger, das Stück ist, wie Du sagst, "unglaublich". Woher der Titel stammt, konnte ich auch nicht herausfinden. René Leibowitz legte 1951 eine Studie zu diesem kleinen Werk vor. Darin hob er seine unglaubliche Modernität hervor, bescheinigte ihm aber auch einige "kompositorische Schwächen". Letzteres sieht man heute anders.

  • Ja, lieber Holger, das Stück ist, wie Du sagst, "unglaublich". Woher der Titel stammt, konnte ich auch nicht herausfinden. René Leibowitz legte 1951 eine Studie zu diesem kleinen Werk vor. Darin hob er seine unglaubliche Modernität hervor, bescheinigte ihm aber auch einige "kompositorische Schwächen". Letzteres sieht man heute anders.


    Lieber Helmut,


    den Leibowitz (Evolution de la musique) werde ich mir besorgen über die Bibliothek. Mal sehn, wie schnell oder langsam das geht! Besten Dank für den Tip!


    Beste Grüße
    Holger

  • Zu dem Beitrag von hart:


    Peter Cornelius war nicht nur Liszts Schüler, sondern mehrere Jahre lang auch dessen Sekretär. Er war ihm bei all den Problemen, mit denen er in seiner Weimarer Zeit zu ringen hatte, eine wesentliche Stütze. Das Tagebuch von Cornelius ist für die Liszt-Forschung eine wichtige Quelle.


    Wichtiger ist aber, dass Cornelius sich auch im sog. „Romantiker-Streit“ auf die Seite von Liszt geschlagen hat. Er nahm zum Beispiel, ohne dessen Namen zu erwähnen, Stellung zu der „Kampfschrift“ von Hanslick, die den Titel trug: „Vom musikalisch Schönen“. In Cornelius´ Stellungnahme findet sich eine Passage, die hier zitierenswert ist, weil sie Liszts Grundposition als Komponist sehr treffend charakterisiert:


    Die andere Partei betrachtet die ihr von den großen Meistern überlieferte Musik als eine poetisch ausgebildete Sprache, in welcher sie sprechen, in welcher sie darstellen will; sie sieht in ihr eine geschaffene Welt, in der nur der Mensch, der poetische Gedanke wandeln soll. (…) Sie geht noch weiter: sie will aus dem poetischen Gedanken heraus seine jedesmalige Form bedingen, nur dieser soll ihr die Berechtigung verleihen.“


    Was hier in gleichsam programmatischer Form formuliert wird, ist Liszts Grundgedanke einer Inspiration der Musik durch die Poesie, den er als zukunftsweisend verstand und der sich auch in seiner Liedkomposition niederschlug.

  • Lieber Helmut,


    genau das hat Liszt selber ja auch immer wieder zum Ausdruck gebracht - und das wurde dann zu einer "Grundlagenstreit" in der Musikästhetik mit diversen Vermittlungsversuchen. Ohne diese Grundlage kann man Liszts Musik und insbesondere die Liedvertonungen in der Tat nicht verstehen. :)


    Beste Grüße
    Holger

  • Dazu aus einem Brief Liszts an Louis Köhler vom 9. Juli 1856:


    "Allerdings bemerken Sie ganz richtig, daß die Formen (welche nur zu oft mit den Formeln, ja selbst die Floskeln von selbst ganz respectablen Leuten verwechselt werden): "Hauptsatz, Mittelsatz, Nachsatz etc. sehr zur Gewohnheit werden können, weil sie rein natürlich, primitiv und am leichtesten faßlich sein müssen." Ohne gegen diese Ansicht die mindeste Einwendung zu machen, bitte ich nur um die Erlaubnis, die Formen durch den Inhalt bestimmen zu dürfen, und sollte mir diese Erlaubnis auch von Seiten der hochlöblichen Kritik versagt werden, so werde ich nichtsdestoweniger getrost meinen bescheidenen Weg weiter gehen. Am Ende kommt es doch hauptsächlich auf das Was der Ideen und das Wie der Durchführung und Bearbeitung an - und das führt uns immer wieder auf das Empfinden und Erfinden zurück, wenn wir nicht im Geleise des Handwerks herumkrabbeln und zappeln wollen."


    Was für ein höflicher Mensch Liszt doch war - aber auch mit einer sehr feinen Ironie! :)


    Beste Grüße
    Holger

  • Es gibt für die zurückhaltende, ja vornehme Art, wie Liszt mit anderen Menschen umging, sehr viele Belege aus seiner Biographie. Darauf soll hier nicht eingegangen werden, weil es zu weit abführt vom Thema des Threads. Interessant ist aber, dass er sogar andere in ihren Versuchen dämpfte, ihn durch allzu heftige Angriffe auf seine Gegner (im Rahmen eben dieses „Romantiker-Streits“) zu verteidigen. So schreibt er an Franz Brendel 1861:


    „Insbesondere bitte ich Sie, verehrter Freund, gegen das Lied von (Ferdinand Hiller) keinen Protest einzulegen. Das einfach Gerechte und Billige (…) besteht einfach darin, Niemandem den Weg der Öffentlichkeit zu versperren, oder ihn heimtückisch und hinterlistig mit Steinen und Koth zu bewerfen. Ungeachtet wir nicht zu erwarten haben, dass man von der anderen Seite uns Reciprozität darbietet, müssen wir pflichtgetreu dieses einfach Gerechte und Billige consequent durch- und vollführen und nebenbei den Herren demonstrieren, wie sich Leute von ehrenhafter Gesinnung und anständiger Bildung benehmen.“


    Man muss dazu wissen: Seit 1860 war dieser „Romantiker-Streit“ zu einem regelrechten publizistischen Krieg ausgeartet. Ferdinand Hiller (Pianist, Komponist, Musikpublizist) war während der Pariser Zeit Liszts dessen Freund und künstlerischer Weggefährte. Im Jahre 1960 war er ins Lager der Gegner Liszts übergelaufen.

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  • In seiner großen, im Jahre 1931 erschienenen Liszt-Biographie merkte Peter Raabe zur Liedkomposition Liszts an:


    „Der Hauptgrund, daß die meisten Lieder Liszts keinen Erfolg gehabt haben, liegt darin, daß die Melodie in ihnen keine selbständige Rolle spielt, sondern alle Einzelbestandteile in Wechselwirkung zueinander treten: Harmonie, Rhythmus, Farbe des Klaviersatzes und der Stimme, Gliederung, Betonen der einzelnen Worte und was sonst noch in einem Gesange enthalten ist.“

    Das ist ein Urteil über Liszts Lieder, das in signifikanter und höchst aufschlussreicher Weise zugleich richtig und falsch ist. Richtig, das heißt zutreffend, ist es, wenn man es analytisch-strukturell liest: In der Tat treten alle „Einzelbestandteile“ der Lieder Liszts in eine „Wechselwirkung“ zueinander.


    Liszt orientierte sich – und das dürften die einzelnen Liedbesprechungen gezeigt haben - als Liedkomponist nicht an jenem Modell von Kunstlied, wie Schubert und Schumann es in gleichsam exemplarischer Weise entwickelt haben. Bei allem gleichberechtigt dialogischen Neben- und Miteinander von Singstimme und Klavier bleibt dieses Modell doch im Grunde melodieorientiert, weil es die Urbeziehung zum Volkslied wahren möchte.


    Liszts Konzept eines Kunstliedes liegt dieselbe Idee zugrunde, die auch seine sinfonischen Dichtungen prägt: Seine Lieder sind von ihrer musikalischen Faktur her im Grunde sinfonische Dichtungen en miniature. Mit dem von Schubert und Schumann immer gewahrten „Volkston“ wollen sie nichts zu tun haben. Sie entspringen kompositorisch dem Willen einer „Erneuerung der Musik durch ihre innigere Verbindung mit der Dichtkunst“. Der Akzent liegt dabei auf „Musik“. Und das bedeutet: Die Musikalisierung des Kunstliedes hat bei Franz Liszt gleichsam ihren Endpunkt erreicht.


    Der Liszt-Biograph Michael Stegemann merkt zu Liszts Liedern an: „Diese genau dem Wort folgende, quasi rhapsodische Gestik ist ebenso typisch für Liszts Lieder wie das weit gefächerte harmonische Spektrum, das das tonale Gefüge immer wieder infrage zu stellen scheint“.

    Das ist eine sehr treffende Charaktersierung. Allerdings wird sie der Gesamtheit des Liedschaffens diese Komponisten nicht voll gerecht, weil sie dessen thematische Vielfalt und musikstrukturelle Breite nicht voll berücksichtigt. Was die thematische Vielfalt anbelangt, so weist Liszt Liedwerk nicht nur das musikalische Kleinod auf, sondern auch die dramatische Ballade, das gleichsam französisch inspirierte Lied, den religiös geprägten, liedhaften Gesang oder das Lied auf, das von der Salonmusik des neunzehnten Jahrhunderts inspiriert ist. Es gibt außerdem aber auch noch das Lied, in dem sich das persönliche, ganz und gar individuelle Bekenntnis auf kompromisslose Weise musikalisch artikuliert.


    Wenn man dem Liedkomponisten Liszt gerecht werden will, dann ist auch die Tatsache zu berücksichtigen, dass er an vielen seiner Lieder über Jahre hinweg kompositorisch gearbeitet hat. Es gibt sie häufig in mehreren Fassungen. Und das Erstaunliche dabei ist: In deren Aufeinanderfolge dokumentiert sich der Prozess einer radikalen Reduktion der musikalischen Faktur zugunsten der kompositorischen Berücksichtigung der strukturellen Eigenart des lyrischen Textes und seiner dichterischen Aussage.


    Für den Betrachter des Listzschen Liedes stellt sich das aus heutiger Perspektive dar als ein Zurücktreten eines auf musikalische Effekte abzielenden individuellen kompositorischen Aussagewillens hinter das Gebot einer Umsetzung der sprachlichen Struktur und der Semantik des lyrischen Textes in Musik. Eben weil Liszt – nach seinem eigenen Bekenntnis – der Anfang der fünfziger Jahre Meinung war, dass seine „früheren Lieder…meistens zu aufgebläht sentimental und häufig zu vollgepfropft in der Begleitung“ waren, das heißt also zu sehr auf den äußerlichen musikalischen Effekt abgestellt, fühlte er sich verpflichtet, diese einer kompositorischen Revision zu unterziehen, die die musikalische Faktur in adäquaterer Weise den lyrischen Text reflektieren lässt.