Franz Liszt und seine Lieder

  • Was mit dem Begriff „Theatralik“ gemeint ist, geht an sich aus den Ausführungen hervor, die ich bis jetzt zu den einzelnen Liedern Liszts hier gemacht habe, gleichwohl ist er ein wenig unglücklich gewählt, weil er – abgelöst von seinem hiesigen Kontext – missverständlich ist (wie man an den jüngsten Stellungnahmen hier sehen kann).


    Dieser Begriff ist in gar keinem Fall abwertend gemeint, sondern umfasst Merkmale der musikalischen Faktur, die aus dem kompositorischen Ansatz Liszts hervorgehen: Und das ist primär einer aus dem Geist der Musik, nicht einer, der sich in enger Anbindung an die Struktur und den semantischen Gehalt der lyrischen Sprache entfaltet.


    Das alles wurde schon mehrfach im einzelnen aufgezeigt, zuletzt an den verschiedenen Fassungen des Liedes: „Der du von dem Himmel bist“. Die erste und die zweite Fassung sind „theatralisch“ in dem Sinne, dass, eben weil es primär um die Entfaltung und Ausgestaltung des musikalischen Motivs geht, am lyrischen Text vorbeikomponiert wird. Liszt hat dies ja selbst erkannt und mit der dritten Fassung genau eben diese „Schwäche“ korrigiert.


    Auch bei „Mignons Lied“ ist dieses Komponieren aus dem Geist der Musik an vielen spezifischen Merkmalen der musikalischen Faktur erkennen. An einer einzigen Stelle sei dies noch einmal gezeigt. Gemeint ist der Liedanfang, die Stelle „Kennst du das Land“ also.


    Liszt ist hier musikalisch derart in Bann geschlagen von der Dissonanz, die in dem Intervall „cis“ – „f“ aufklingt, dass er einen Akzent auf das Wort „du“ legt. Das widerspricht dem Sinn des lyrischen Textes, denn Mignon spricht hier ja nicht wirklich ein „Du“ an, sondern stellt eine gleichsam rhetorische Frage, deren Schwerpunkt und Zielrichtung „das Land“ ist. Liszt stört das aber gar nicht, weil er – und das ist eben typisch für ihn! – primär musikalisch denkt und nicht, wie Schubert etwa, die Komposition in enger Anlehnung an den lyrischen Text entwickelt.


    In der Folge dieses kompositorischen Ansatzes kann sich im Lied auch die innere Einheit des Gedichts buchstäblich „in Musik auflösen“. Man sieht das an der letzten Strophe. Weder Beethoven, noch Schubert, Schumann oder Hugo Wolf haben die letzte Strophe in ihrer musikalischen Faktur derart tiefgreifend von der der beiden vorangehenden Strophen abgesetzt, wie Liszt das tat. Das ist ja auch gar nicht textgemäß, denn alle drei Strophen sind aus einer Grundsituation heraus lyrisch artikuliert: Es spricht, bzw. singt, ja immer die gleiche Mignon, und es besteht deshalb kein Grund, die lyrischen Bilder, die sie dabei entwickelt, sozusagen kompositorisch zu verabsolutieren.


    Das aber tut Liszt. Offensichtlich inspiriert ihn das lyrische Bild von dem „Berg mit seinem Wolkensteg“, dem „Maultier“ und „der Drachen wilde Brut“ zu einer ausgeprägt dramatisch angelegten Melodik und Harmonik. Die Singstimme verharrt jetzt – im Unterschied zu den entsprechenden Versen der vorangehenden Strophen, taktlang auf einem Ton (einem tiefen „dis“) und bewegt sich nur um einen Sekundschritt davon weg. Der Klaviersatz besteht aus unruhig sich auf und ab bewegenden Achteln. Es ist eine völlig neue musikalische Idee, die hier kompositorisch entwickelt wird. Melodik und Harmonik sind eine andere als in den beiden Strophen davor.


    Auch Schubert modifiziert übrigens diese dritte Strophe. Aber er tut es nicht mit annähernd der Radikalität, die Liszt hier kompositorisch an den Tag legt. Er wechselt das Tongeschlecht hin zu a-Moll und variiert die melodische Linie, - aber eben so, dass deren Grundstruktur im Verlauf ihrer Bewegung erhalten bleibt. Es geht ihm darum, in der Form des variierten Strophenliedes die Einheit des lyrischen Textes zu wahren. Für Liszt ist dies, eben weil er primär musikalisch denkt und sich dabei von den lyrischen Bildern inspirieren lässt, kein zwingendes Gebot mehr.

  • Wie gibt man eine Mignon?


    Schubert läßt sie ein schlichtes Liedchen trällern, schematisch und formelhaft und dazu in seiner volkstümlichen Diktion dem harmlos Deutschen viel zu nahe anverwandt, um die leuchtenden transalpinen Evokationen auch nur anzudeuten.


    Ein sanfter Wind vom blauen Himmel weht


    - für Schopenhauer faßt dieser meisterhafte Goethevers die ganze Heiterkeit der Italienischen Landschaft in sich; bei Schubert klingt das allenfalls nach naivem Rokoko, nach einer Illustration à la Mozarts "Veilchen". Vom "Dahin"-Refrain zu schweigen ...


    Mignon ist aber nicht so innig und herzig wie eine österreichische Sennerin. Sie ist eine Schwester Ottiliens, dunkel, rätselhaft, von zweifelhafter Herkunft und seelisch angeknackst. Ihr Name ist ein Masculinum und hat im Französischen bis heute eine Nebenbedeutung behalten, die zur romantischen Faszination dieser Mädchenfigur dazugehört.


    Hätte Helmut recht, und der Akzent im Gedicht läge so unzweifelhaft auf dem "Land", würde das ganze wie ein Rätselquiz dastehen:


    "Wer kennt das Land, wo die Zitronen blühn?"


    a) Spanien
    b) Tirol
    c) Italien


    Nun ist das Metrum des Gedichtes unzweifelhaft jambisch, wodurch auch bei Goethe bereits ein Akzent auf das "Du" fällt. Da jede Strophe am Ende ausdrücklich an ein wechselndes Du adressiert ist, kann man die Eingangsfrage nicht so leichthin rhetorisch nennen.


    Natürlich deckt sich die Prosodie eines Verses nie völlig mit der Metrik. Wir sagen nicht


    Kennst dú das Lánd wo díe Zitrónen blúehn (u-u-/ u-u-u-),


    sondern eher:


    Kennst du das Lánd, wo die Zitrónen blühn (uuu-/ uuu-u-)


    oder auch:


    Kénnst du das Lánd, wo die Zitrónen blúehn (-uu-u /uuu-u-)


    Nun kann man der Lisztschen Eröffnungsphrase nicht wirklich eine Umakzentuierung auf das "Du" entnehmen. Der schmerzliche Vorhalt des cis auf dem doppelt verminderten Akkord f-gis-d[-h], über den Grundton a geschichtet, schlägt schon gleich zu Beginn das Unerlöste, Fragende und Sehnsuchtsvolle an. Es liegt entschieden mehr von der Exotik und Psychologie der Figur in dieser Formulierung als etwa bei Schubert. Es ist ein verhaltener Ton, der sehr schlüssig in die Exaltation des "dahin, dahin" ausbricht. - Brigitte Faßbaender singt die Eröffnung mit ihrer absteigenden Tritonus-Frage h-f übrigens ohne Betonung des "Du", wie es der Prosodie entspricht (eine solche Betonung verlangte in der Phrasierung z.B. eine minimale Atempause nach dem "[Kenn]st" und eine nichtlegierte Akzentuierung des "Du").


    Die dritte Strophe ist doch bei Liszt hörbar aus den beiden vorangehenden entwickelt; und es scheinen mir die atmosphärischen Bilder, Wolkensteg und Nebelpfad, die Imagination zu entzünden. - Übrigens ist bei Liszt die Bedeutsamkeit des nachgesetzten "Kennst du es [ihn] wohl" ein weiteres Beispiel für die Nuancierung des poetischen Gehalts - das hier durchaus verstärkte "Du" schlägt jeweils die Brücke zum "mit Dir!" der Strophenschlüsse, wo ja die imaginierte Topograhie und der ersehnte Begleiter gleichsam zu einer Einheit verschmelzen.


    :hello:

    Zerging in Dunst das heilge römsche Reich


    - uns bliebe gleich die heilge deutsche Kunst!

  • Es erscheint mir wichtig, darauf hinzuweisen, dass das Liedwerk Liszts ungewöhnlich vielfältig ist, - vielfältig, was den Typus der Lieder und die jeweilige musikalische Faktur anbelangt. Es finden sich darunter Lieder, die in eben dieser Faktur äußerst komplex sind und einen kompositorisch aufwendigen Klaviersatz aufweisen. Sie erinnern eigentlich eher an Arien als an das, was man, von Schubert oder Schumann herkommend, unter einem Lied versteht. Sie gehören einem Typus des Kunstliedes an, der zur damaligen Zeit immer mehr Verbreitung fand. Fischer-Dieskau charakterisiert ihn so:


    Der Klaviersatz wird virtuos und orchestral, die Literarisierung macht Riesenfortschritte, das Lied wird theatralisiert“. (Fischer-Dieskau verwendet also auch den hier von anderer Seite in seiner Angemessenheit in Frage gestellten Begriff „Theatralik“)


    Lieder, die man als genuin „liedhaft“ empfindet, hat Liszt aber auch komponiert: Das hier schon besprochenen Lieder „Du bist wie eine Blume“ oder „Über allen Gipfeln“ gehören dazu. Daneben finden sich Lieder, die einen ausgesprochenen „Bekenntnischarakter“ aufweisen, in der Form, dass sich Liszts Lebensgefühl darin musikalisch artikuliert. Das hier besprochene „Ich möchte hingehen“ möchte ich dazuzählen, ebenso das als nächstes hier anstehende „Wer nie sein Brot“. Und schließlich gibt es solche Lieder, die, weil durchaus vom Geist des Salons geprägt, melodisch überaus eingängig sind und wohl auch zu den bekanntesten zählen. Ein für diese Gruppe reüpäsentatives Lied ist etwa "Es muß ein Wunderbares sein".

    Man kann im Liedwerk Liszts drei Phasen des Schaffens unterscheiden, die durch einen jeweiligen Liedtypus geprägt sind, ohne dass hier Ausschließlichkeit herrschte. Ungefähr die Hälfte der Lieder entstand in der Zeit seiner großen pianistischen Auftritte, also zwischen 1839 und 1848. Die zweite Phase mit etwa zwanzig Liedern lässt sich auf seine Weimarer Zeit (1848-61) eingrenzen. Danach folgt eine längere Pause, in der gar keine Lieder entstanden. Die letzten sechzehn Lieder wurden zwischen 1871 und 1884 komponiert. Unter ihnen finden sich solche, bei denen die melodische und harmonische Substanz auf äußerste Kargheit reduziert ist, ja sogar zur Auflösung tendiert.


    Ich möchte, da hier nur sinnvoll sein kann, auf eine Auswahl aus Liszts Liedwerk näher einzugehen, mich darauf beschränken, von jedem der Typen noch mindestens ein Lied vorzustellen. Zuvor aber soll die Gruppe der Lieder auf Texte von Goethe vervollständigt werden, so dass eine Gesamtbetrachtung derselben möglich wird.

  • „Kennst Du das Land...“ – ich finde auch, dass Liszt das Fremdartige und zugleich Verlockende, den Reiz des Exotischen, diese psychologische Doppelbödigkeit der Italienbegeisterung wirklich durch die Musik wiedergibt, wovon bei Schubert gar nichts zu spüren ist. Anders bei Hugo Wolf – auch diese Vertonung finde ich sehr eindrucksvoll. Schuberts Vertonung hat durchaus auch ihre Stärken – aber nicht hier! Während der Geist bei Liszt und Wolf – mit Hölderlin – „Kolonien“ sucht („Kolonien sucht tapfer vergessen der Geist“) bleibt er bei Schubert „häuslich“. Liszts Vertonung – gerade auch das Klavier – ist für mich gerade in diesem Lied sehr „modern“ in seinem Bemühen um Sprachdeutlichkeit. Das weist – in der prägnanten und beredten Phrasierung – voraus auf die „Sprachmelodien“ von Janacek. Hier verwirklicht Liszt exemplarisch das, was er eine „charakteristische Melodie“ nennt. Selbst Hugo Wolf ist da viel „tonmalerischer“ und viel weniger musiksprachlich“.



    Den Ausdruck „Theatralisierung“ – in der Soziologie wird er
    heute verwendet (!) – ist mit Blick auf die Musik eher unglücklich. Man denkt
    da sofort an Nietzsches Wagner-Kritik: „der Sieg des Schauspielers über die
    Musik“. Gemeint ist damit das Setzen auf wirkungsrhetorische Mittel – Effekt
    statt Ausdruck. Genau das kann man Liszt selbstverständlich nicht vorwerfen.
    Ich finde deshalb „Dramatisierung“ treffender. Zur romantischen Ästhetik gehört
    das Prinzip, die Gattungen zu mischen. Es darf also auch das Lied ariöse Züge
    annehmen. (Bei diesem Liszt-Lied finde ich das evident!) Der Sinn der
    Dramatisierung ist, die Konflikte herauszuarbeiten und das musikalische
    Verfahren das einer Intensivierung des Ausdrucks durch Kontrastschärfung – und
    genau das kann man bei Liszt beobachten. Die gegensätzlichen Befindlichkeiten,
    der Wechsel der Empfindungen, wird herausgestellt, was den Eindruck der
    Heterogenität hervorruft. All das passt zudem zur „charakteristischen Melodie“
    – das Bemühen um höchste Prägnanz und Beredsamkeit fördert die
    Kontrastierungen.





    Die „Norm“, dass sich die Liedvertonung streng an den
    Sprechakzente orientieren müsste, gehört zur musikalischen Rhetorik. Goethe
    selbst forderte das noch von einer guten Liedvertonung. Bei der betont
    rhetorikkritischen Romantik darf man natürlich nicht erwarten, dass sie sich
    daran hält. Die Musik setzt ihre eigenen Akzente – formal und semantisch.
    Wolfram Huschkes Begeisterung für Schuberts Vertonung von „Über allen Gipfeln
    ist Ruh“ kann ich nicht teilen. Den Eindruck der „Ruhe“ vermittelt sie einfach
    nicht. Wie später auch Liszt wiederholt Schubert die Schlusszeile „Warte nur,
    balde ruhest Du auch“. Das ist für beide die zentrale Aussage. Was passiert
    hier? „Wanderers Nachtlied“ ist der Titel. Für den romantischen Leser – Goethe
    war ja nun alles andere als ein Romantiker! – ist das keine einfache
    Schilderung eines Naturerlebnisses, sondern die Befindlichkeit des unruhigen
    Wanderers, der als ein Fremder, ein „Pilger“ durch die Welt zieht und in diesem
    Sinne darauf „wartet“, in der Natur
    Ruhe zu finden. Mit der Wiederholung dieser Schlusszeile vollzieht sich das,
    was man mit Friedrich Schiller den Übergang von einer „naiven“ in eine
    „sentimentalische“ Betrachtung der Natur nennen kann: sich im Einklang mit der
    Natur befinden („naiv“ wie in Goethes Gedicht) oder nach der verlorenen Natur
    zu suchen („sentimentalisch“ wie in den Liedvertonungen Schuberts und Liszts).
    Man sieht hier: Wiederholungen haben hier als Kunstmittel einen entscheidenden
    semantischen Sinn, den man als Interpret wirklich ernst nehmen sollte.





    Beste Grüße



    Holger

  • Zu dem Begriff "Theatralik", lieber Holger, habe ich gesagt, was aus meiner Sicht zu sagen ist. Ich selbst finde ihn auch "unglücklich", weil nicht sehr präzise und zudem missverstehbar. Was ich damit meinte ist: Viele Lieder Liszts sind auf eine Art "Außenwirkung" hin angelegt, auf den gleichsam bühnenwirksamen Effekt. Ich habe auf derartige, für sein Liedschaffen recht typische strukturelle Elemente schon im einzelnen hingewiesen und werde das weiter tun. Immer wieder möchte ich betonen, dass dies keine Kritik an Liszt sein soll. Es steht ganz einfach anderes Verständnis von Liedkomposition dahinter, als es für Schubert oder Schumann gilt.


    Zu Mignon:
    Du sagst: .." – ich finde auch, dass Liszt das Fremdartige und zugleich Verlockende, den Reiz des Exotischen, diese psychologische Doppelbödigkeit der Italienbegeisterung wirklich durch die Musik wiedergibt, wovon bei Schubert gar nichts zu spüren ist. "


    Diese Kritik wird Schubert nicht gerecht, weil sie seinen kompositorischen Ansatz verkennt. Schubert komponiert deses Lied aus einer Einfühlung in die Gestalt, so wie Goethe sie in seinem Roman dichterisch gestaltet hat. Das ist ein zwar geheimnisvolles, aber sehr einfaches und schlichtes, kindhaftes Wesen, das in eigenümlicher Weise zwischen Mädchenhaftigkeit und Jungenhaftigkeit schillert. Genau so lässt Schubert sie auch singen. Ihm geht es nicht um das "Exotische" der lyrischen Bilder, sondern um das Wesen dieser Gestalt. Von der heißt es bei Goethe:


    "Mit den Wesen der Natur erwacht sie und geht sie zur Ruhe, wie ein Hund liegt sie des Nachts auf dem nackten Boden und ist wie eine Katze um ihre Reinlichkeit besorgt. Wie ein echter Dämon verschwindet sie ab und zu, und die Orte ihres Aufenthalts sind Dachböden und Dächer, solche also, die von Menschen, selten aufgesucht werden oder ihnen nicht zugänglich sind. "


    Marie Luise Kaschnitz hat in Mignon ein höchst kreatürliches, fast menschenfeindliches Wesen gesehen. Du kannst, lieber Holger, ja gerne der Meinung sein, dass ein solches Wesen singen würde, wie Franz Liszt es ihm in den Mund legt. Ich könnte Dir allerdings darin in gar keiner Weise folgen. Dass Hugo Wolf diese Gestalt kompositorisch voll getroffen hat, - darin stimme ich mit Dir völlig überein. Für mich ist das die beste Vertonung von Goethes Gedicht.


    Liszt verfolgt mit seiner Komposition eine andere Absicht. Er setzt auch hier wieder - wie ich das schon an mehreren Beispielen gezeigt habe - an der "Oberfläche" des lyrischen Textes an. Nicht das Wesen dieser Gestalt interessiert ihn primär, ihn schlagen die lyrischen Bilder in Bann, die er kompositorisch umsetzt. Das allerdings großartig.

  • „Zu dem Begriff "Theatralik", lieber
    Holger, habe ich gesagt, was aus meiner Sicht zu sagen ist. Ich selbst finde
    ihn auch "unglücklich", weil nicht sehr präzise und zudem
    missverstehbar. Was ich damit meinte ist: Viele Lieder Liszts sind auf eine Art
    "Außenwirkung" hin angelegt, auf den gleichsam bühnenwirksamen
    Effekt. Ich habe auf derartige, für sein Liedschaffen recht typische
    strukturelle Elemente schon im einzelnen hingewiesen und werde das weiter tun.
    Immer wieder möchte ich betonen, dass dies keine Kritik an Liszt sein soll. Es
    steht ganz einfach anderes Verständnis von Liedkomposition dahinter, als es für
    Schubert oder Schumann gilt.“


    Lieber Helmut,



    das verstehe ich. Gleichwohl sind solche Charakterisierungen des „theatralischen“ Stils wie „auf Außenwirkung angelegt“ oder „bühnenwirksamen Effekt“ problematisch, weil in der Rezeption immer negativ besetzt. In der Musikästhetik spielt da immer die Kritik an der Wirkungsrhetorik mit als bloß äußerlich – mehr überredend denn überzeugend. Du selbst verstehst ja solch eine Vertonung als „Musikalisierung“. Hier scheint es mir durchaus hilfreich, auf die romantische Musikphilosophie hinzuweisen, das Ideal der Symphonik. E.T.A. Hoffmann bemüht hier den Vergleich der Symphonie mit der „schönen Verworrenheit eines Shakespeareschen Dramas“. Das Drama ist „Theater“, aber es geht da nicht primär darum, Wirkung zu erzielen, sondern um die Mannigfaltigkeit der Affekte, welche dargestellt werden sollen. Dazu kommt: Das Ideal der Romantik ist passend zur Symphonie das öffentliche Konzert, also die weltliche Bühne. Das mag bei Liszt eine Rolle spielen, dass das Kunstlied dem romantischen Ideal der Symphonie entsprechend „verweltlicht“ wird, seinen privaten Charakter verliert und auf einer öffentlichen Bühne präsentiert wird entsprechend mit dem Ausdruck „großer“ Gefühle und Leidenschaften, welche die Intimität der „Kammer“ sprengen und sonst nur auf der Opernbühne zu hören sind.




    “Zu Mignon:


    Du sagst: .." – ich finde auch, dass Liszt das Fremdartige und zugleich Verlockende, den Reiz des Exotischen, diese psychologische Doppelbödigkeit der Italienbegeisterung wirklich durch die Musik wiedergibt, wovon bei Schubert gar nichts zu spüren ist. "


    Diese Kritik wird Schubert nicht gerecht, weil sie seinen kompositorischen Ansatz verkennt. Schubert komponiert deses Lied aus einer Einfühlung in die Gestalt, so wie Goethe sie in seinem Roman dichterisch gestaltet hat. Das ist ein zwar geheimnisvolles, aber sehr einfaches und schlichtes, kindhaftes Wesen, das in eigenümlicher Weise zwischen Mädchenhaftigkeit und Jungenhaftigkeit schillert. Genau so lässt Schubert sie auch singen. Ihm geht es nicht um das "Exotische" der lyrischen Bilder, sondern um das Wesen dieser Gestalt. Von der heißt es bei Goethe:


    "Mit den Wesen der Natur erwacht sie und geht sie zur Ruhe, wie ein
    Hund liegt sie des Nachts auf dem nackten Boden und ist wie eine Katze um ihre
    Reinlichkeit besorgt. Wie ein echter Dämon verschwindet sie ab und zu, und die
    Orte ihres Aufenthalts sind Dachböden und Dächer, solche also, die von
    Menschen, selten aufgesucht werden oder ihnen nicht zugänglich sind.“ "



    Da verstehst Du von der Materie sicher mehr als ich! Das leuchtet mir ein, dass dies die Sicht von Schubert ist. Nur da sind wir mitten beim Problem, was eigentlich vertont wird: Diese „Gestalt“ ist doch eigentlich gar kein Gegenstand des Gedichtes! So kann man das lesen, wenn man den kompletten Goethe-Text im Kopf hat. Liszt hält sich da schlicht an den Wortlaut des Textes, und der ist doch nun mal sehr „bildhaft“. „Kennst Du das Land, wo die Zitronen blühen?“ Der Reisende Liszt kennt es natürlich – Schubert wohl nicht. Und entsprechend assoziiert er – und identifiziert sich mit dem „Inhalt“. Der eigentliche Gehalt, die Aussage, sprich die Italienbegeisterung, sie wird in Schuberts Vertonung geradezu ausgespart. Er interessiert sich offenbar mehr für die Gestalt Mignon als das, wovon sie spricht. Genau diese literarische Figur der Mignon wiederum ist Liszt hier gar nicht wichtig – damit kann er sich nicht „enthusiastisch“ identifizieren, wohl aber mit der Sehnsucht nach Italien, die das Gedicht ausspricht.




    “Marie Luise Kaschnitz hat in Mignon ein höchst kreatürliches, fast
    menschenfeindliches Wesen gesehen. Du kannst, lieber Holger, ja gerne der
    Meinung sein, dass ein solches Wesen singen würde, wie Franz Liszt es ihm in
    den Mund legt. Ich könnte Dir allerdings darin in gar keiner Weise folgen. Dass
    Hugo Wolf diese Gestalt kompositorisch voll getroffen hat, - darin stimme ich
    mit Dir völlig überein. Für mich ist das die beste Vertonung von Goethes
    Gedicht.“


    Wie gesagt – Liszt interessiert sich vielleicht weniger für Mignon als Mignons Lied. Hugo Wolf, das ist so gewichtig, darüber müsste man eigenständige Betrachtungen anstellen. Trotz alledem: Liszts Vertonung finde ich auch sehr eindrucksvoll, hat eigene Aspekte, die singulär sind und bleiben.



    “Liszt verfolgt mit seiner Komposition eine andere Absicht. Er setzt auch hier
    wieder - wie ich das schon an mehreren Beispielen gezeigt habe - an der
    "Oberfläche" des lyrischen Textes an. Nicht das Wesen dieser Gestalt
    interessiert ihn primär, ihn schlagen die lyrischen Bilder in Bann, die er
    kompositorisch umsetzt. Das allerdings großartig.“


    Warum an der Oberfläche? Mignon selbst ist doch gar nicht Thema des Gedichtes, sondern ihre Sehnsucht nach Italien und dem Geliebten.



    Machen wir weiter so – wirklich spannend!



    Schöne Grüße



    Holger

  • Lieber Holger,


    Der Begriff "Oberfläche des Gedichts" ist - aus meiner Sicht - ähnlich "unglücklich" gewählt wie der Begriff "Theatralik". Ich weiß im Augenblick nur keinen besseren. Deshalb noch einmal eine kurze Erläuterung dessen, was ich meine.


    In Goethes Gedicht artikuliert sich ein lyrisches Ich. Alle drei Strophen kommen sozusagen aus derselben "Quelle", eben diesem lyrischen Ich, und sie drücken dessen emotionale Regungen aus. Hierzu setzt Goethe lyrische Bilder ein, die aber - und das ist jetzt wichtig! - ihre Funktion einzig und allein darin haben, sozusagen evokative Äquivalente dieser seelischen Regungen der Mignon-Gestalt zu sein.


    Für den Komponisten muss dies nun heißen, dass er sie auch in dieser lyrisch-funktionalen Bindung an die Gestalt der Mignon musikalisch aufgreift. Wenn er sie - und genau dies tut Liszt - sozusagen ablöst davon und verabsolutiert, dann ignoriert er, dass es letzten Endes in diesem Gedicht um eine sich lyrisch artikulierende literarische Gestalt geht, - und nicht - ich drücke es mal grob aus:


    Um musikalische Landschaftsbilder.


    Ich glaube, dass ich Lizst kompositorischem Ansatz immer deutlicher auf die Spur komme. Auch das mal plakativ ausgedrückt:


    Liszt ist in seinen frühen und mittleren Liedern eher musikalischer (sinfonischer) Dichter als textnaher Liedkomponist.

  • Ich gebe, für die Nichtleser des "Wilhelm Meister", mal den informativen Abriß aus Wikipedia:


    Mignon stammt aus Italien und wurde ihren Eltern geraubt. In ihrer Figur nimmt die Sehnsucht nach Italien Gestalt an, Goethe legt ihr das Lied Kennst du das Land, wo die Zitronen blüh'n[1] in den Mund. Mignon - von Wilhelm bei ihrer ersten Begegnung auf zwölf bis dreizehn Jahre geschätzt - ist eine Kindfrau, die sich in ihren Retter verliebt und Wilhelm mit ihrer Zuneigung zunehmend in Verlegenheit bringt. Meist tritt Mignon in Verbindung mit dem rätselhaften, geistig verwirrten Harfner auf; sie singen im Duett das Lied Nur wer die Sehnsucht kennt, weiß was ich leide. Die verworrene Geschichte klärt sich am Ende auf: Der Harfner ist der Vater Mignons, die er im Inzest mit seiner Schwester gezeugt hat, ohne dies zu wissen. Dem Kloster entsprungen, irrt er ruhelos umher auf der Suche nach seinem Kind. Es kommt zu keinem guten Ende: Mignon und der Harfner sterben.


    Helmut hat recht, wenn er sagt, daß Mignon keine Peter-Altenberg-Lieder singt, also keine Ansichtskarten aus Italien offeriert, sondern mit ihrem Lied unbewußt auf ihren innersten seelischen und existenziellen Konflikt verweist. Ein Element ist die verschüttete Erinnerung (an den Saal mit den Marmorbildern), ein anderes die wunschvolle Überhöhung des Geliebten zum Beschützer und Vater. Ein drittes ist die Bedrohlichkeit des Erinnerns und des Erinnerten - was hat man dir, du armes Kind, getan?, eine rechte Unheilsformel; wir würden heute von Traumatisierung sprechen. Der innere Widerspruch des Gedichts, das eine unstillbare Sehnsucht ausdrückt und zugleich das Ziel dieses "Dahin!" ins Unheimliche und Bedrohliche rückt, ist so sehr Teil der poetischen Inszenierung, daß es schon sehr gewagt scheint, ausgerechnet Schuberts Vertonung als diejenige hinzustellen, die die Figur nicht verfehlt, weil sie, statt der Landschaft, das Seelische adäquat erfaßt. - Wo doch dieses Seelische der Entrückung und Leuchtkraft des Landschaftlichen zuvorderst bedarf, um das Verheißungsvolle ins Sonderbare umkippen zu lassen. Die Nervosität und Ambivalenz der Figur gehen unter, auch das Verzehrende und Unbedingte der Sehnsucht (z.B. in der heimlichen Gleichsetzung Geliebter-Vater). Schubert zeichnet ein kindlich schlichtes Gemüt, und kindlich-ausgelassen wie ein Herumsprigen und in die Hände Klatschen ist die jeweils wiederholte Schlußphrase jeder Strophe. Mit großer Ökonomie entwickelt sich aus dem feierlichen Ton der ersten Verse das ernst fragende [vom blauen] Himmel weht und die (eigentlich unvermittelte) bange Minore-Harmonik zu Myrthe und Lorbeer. Neben dieser durchaus subtilen Zurückgenommenheit nimmt sich der Umschlag bei den Sehnsuchtsformeln umso übertriebener aus. In der jubelnd vorweggenommenen Vorfreude liegt für mich eine große Verkürzung dessen, was in Goethes Text steckt.


    Prosodisch bemerkenwert ist, daß Hugo Wolf das "Dahin!" sinndeckend auf der ersten Silbe betonen läßt, wogegen die in Goethes Metrum naheglegte Intonation Dahín eigentlich etwas wie "Verloren!" bedeutet. - Doch auch dies läßt sich als raffinierte Nuance stark machen; da im angestrebten Ziel bereits die Vergeblichkeit der Ankunft mitschwingt.


    Überflüssig zu bemerken, daß ich die Behauptung, bei Liszt werde das Poetisch-Topographische ins Pittoresk-Landschaftsmalerische veräußerlicht, unbegründet finde. Was für metaphorisch-innerseelische Regungen das sein mögen, die einzig Schubert hier erfaßt, wüßte man gerne. Tatsächlich evoziert etwa die erste Strophe mit Zitronenblüten, leuchtenden Orangen, blauem Himmel und Myrthen nichts anderes als das Glück einer Landschaft der Kindheit, die hier ganz real als eine italienische angesprochen wird.


    :hello:

    Zerging in Dunst das heilge römsche Reich


    - uns bliebe gleich die heilge deutsche Kunst!

  • „In Goethes Gedicht artikuliert sich ein lyrisches Ich.
    Alle drei Strophen kommen sozusagen aus derselben "Quelle", eben
    diesem lyrischen Ich, und sie drücken dessen emotionale Regungen aus. Hierzu
    setzt Goethe lyrische Bilder ein, die aber - und das ist jetzt wichtig! - ihre
    Funktion einzig und allein darin haben, sozusagen evokative Äquivalente dieser
    seelischen Regungen der Mignon-Gestalt zu sein.



    Für den Komponisten muss dies nun heißen, dass er sie
    auch in dieser lyrisch-funktionalen Bindung an die Gestalt der Mignon
    musikalisch aufgreift.“



    Lieber Helmut,


    schauen wir uns doch mal die Personalpronomina an: „Kennst Du das Land...“ Hier wird der Leser angesprochen. Und dann: „Dahin, dahin, möchte ich mit dir, o mein Geliebter, ziehn“. Also hier findet ein ständiger Wechsel von Anrede und Selbstrede statt, dieser beherrscht das Gedicht und nicht ein irgendwie „identisches“ Ich – und nur Liszt hat diesen Perspektivenwechsel wirklich „vertont“. Liszt orientiert sich nämlich sehr genau und einfühlsam an der Form des Gedichts. Das wiederholte „Kennst du...“ hat die Form einer Litanei, wo etwas gebetsmühlenartig „heruntergebetet“ wird im Sinne einer Beschwörung. Die Litanei – schon als rhetorische Artikulation entfaltet sie große Suggestivkraft. Und genau das unterstreicht Liszts Vertonung durch die ständige harmonische Modulation in der Wiederholung. Man bekommt so den Eindruck, dass sich das Subjekt immer mehr in die Ferne begibt, in eine Phantasiewelt hineinträumt und in sie verstrickt. Die Suggestion wird so wie von selbst dramatisch, die Träume und Bilder ergreifen Besitz vom Subjekt, das sie träumt.
    Das ist also eine sehr „textorientierte“ Vertonung und psychologisch sehr einfühlsam, macht in der sprachlichen Verdichtung die innere Empfindung, die Suggestion und Autosuggestion, sichtbar. Davon setzt sich nun das „Dahin, dahin...“ ab, die Selbstrede, welche Liszt im Kontrast zur Litanei als Refrain komponiert mit dem Ausdruck der Verzückung – eine sehr idiomatische Gefühlslage, die den Romantiker des 19. Jahrhunderts begeistert, für uns heute im 21. Jahrhundert dagegen sich hart an der Grenze zum Kitsch bewegt. Der gewisse „Narzismus“ in diesem Ausdruck passt zur Selbstrede, hat im Gegensatz zur geheimnisvollen Beschwörung der Litanei etwas Direktes und Unmittelbares, fast schon Naives. Es ist meisterhaft, wie Liszt hier die Komponenten des Strophenliedes und durchkomponierten Liedes mischt, um diesen Wechsel der subjektiven Einstellung zu verdeutlichen. Keineswegs reduziert sich seine Vertonung auf eine assoziative Bilderfolge, damit würde man die anspruchsvolle Konstruktivität dieser Vertonung verkennen! Der Refrain verklammert nämlich das Ganze – formal und semantisch: Es gibt einmal das beständige Anderswerden, das Ausgehen ins Fremde in der Litanei und dann der „Haltepunkt“ der Liebe als Refrain und Reprise, als Rückkehr zu sich. Das ist das Subjekt Mignon als „dialektische“ Bewegung von Selbstentäußerung und zugleich Zu-sich-selbst-Kommen, mit Hölderlin: Man muss erst selbstvergessen Kolonien suchen, um sich selbst zu finden. Am Schluss gibt es bei Liszt die Synthese: In der Fremde kommen die Liebenden tatsächlich bei sich selber an. Hugo Wolfs Vertonung ist ein wahrlich großes Meisterstück, aber von ganz anderem Geist, vermeidet jeglichen romantischen Subjektivismus und gibt ein eher protokollarisches“ Psychogramm höchster Komplexität. Die Folge ist eine größere stilistische Einheitlichkeit – dafür kommt aber auch der Wechsel der personalen Perspektive von der beschwörenden Anrede zur Selbstrede nicht mehr so plastisch zur Geltung, wie dies Liszt so eindrucksvoll gelingt.




    Beste Grüße


    Holger

  • Lieber Holger, lieber farinelli,


    eure letzten Beiträge habe ich gründlich gelesen und finde es sehr beeindruckend, wie tief da die Gestalt der Mignon sowohl literarisch ausgeleuchtet, als auch in der speziellen Vertonung des Gedichts durch Franz Liszt interpretiert wird. Mein Problem ist jetzt nur, dass ich mich nicht allzu sehr in diesen speziellen Fall vergraben möchte – so gern ich das täte - , weil ich ja versuche, die ganze Bandbreite des Liedschaffens dieses Komponisten in Augenschein zu nehmen. Und da ist eben noch mehr so sehen und zu hören, als eben nur bei diesem einzelnen Lied.


    Ich bitte also um Verständnis dafür, dass ich aus diesem ganz spezifischen Dialog „aussteigen“ möchte. Um für mich noch einmal eine Art Bilanz zu ziehen, die den Stand meiner ganz eigenen Erkenntnisse reflektiert und keinen Anspruch auf Allgemeingültigkeit erhebt, habe ich mir alle Vertonungen des Goethe-Gedichts, die mir zur Verfügung stehen, noch einmal hintereinander aufmerksam angehört. Insbesondere habe ich auch das Lied von Alban Berg auf diesen lyrischen Text einbezogen. Mein Bild von Liszts Komposition, das ich in Form einer liedanalytischen Betrachtung hier vorgelegte, hat sich dabei bestätigt.


    Liszt weicht in seinem kompositorischen Zugriff auf den lyrischen Text insofern deutlich von allen anderen Komponisten ab, als er die Tatsache, dass dieser in allen seinen drei Strophen Ausdruck der seelischen Regungen und Empfindungen eines einzigen lyrischen Ichs sind, hintanstellt hinter sein Interesse an der musikalischen Umsetzung der evokativen Kraft der lyrischen Bilder. Ihm geht es infolgedessen nicht – wie etwa Schubert oder Schumann – um die Wahrung der Einheit der melodischen Linie über alle drei Strophen. Vielmehr stellt sich sein Lied im Noten- wie im Hörbild – etwas überspitzt formuliert - als eine Akkumulation von musikalischen Einzelimpressionen dar, die gleichwohl eine – durchaus beeindruckende - kompositorische Einheit bilden.


    Auf dem Hintergrund des Liedes von Alban Berg fällt diese Eigenart der kompositorischen Intention von Liszt ganz besonders auf. Bergs Lied ist das kürzeste von allen. Gerade mal siebzig Sekunden dauert es. Das hat einen simplen Grund: Nur die erste Strophe wurde in Musik umgesetzt. Aber wie das geschieht, das ist überaus aufschlussreich.


    Auf jedem Vers liegt eine Melodiezeile. Durchgehend ist sie in ihrer Grundstruktur ähnlich angelegt. Die melodische Linie macht eine Art Fallbewegung, die sich anhört, als nähme sie den Schwung auf, den sie braucht, um sich in Wellenbewegungen, die durch dies syllabische Struktur der Verse bedingt sind, nach oben zu ihrem Höhepunkt zu bewegen, von dem sie dann, wiederum in Wellenbewegungen, auf eine gleichsam mittlere Tonhöhe herabsteigt. Dabei pendelt sie in harmonisch faszinierender Weise zwischen Moll und Dur hin und her, und das Klavier folgt ihr dabei mit zumeist aufgelösten Akkorden.


    Das wirklich Verblüffende an dieser Vertonung ist nun, dass diese melodische Grundstruktur bis zum Schluss der Strophe durchgehalten wird. Das „Dahin, dahin“, das bei allen Komponisten mit einem deutlichen kompositorischen Akzent – bis hin zur Wiederholung – versehen wir, kommt hier wie beiläufig. Es wird wieder auf dieser zunächst abfallenden melodischen Linie gesungen, die dann freilich ihren absoluten Höhepunkt bei dem „mit dir“ erreicht.


    Alban Bergs Lied ist – so wie beispielsweise auch bei Schubert zu beobachten – ganz aus der in enger Anbindung an den lyrischen Text sich entfaltenden und bewegenden melodischen Linie der Singstimme komponiert. Das gibt ihm die innere liedhafte Einheit eines musikalischen Werks, das aus der lyrischen Einheit des Gedichts hervorgeht: Hier „singt“ sowohl im Gedicht wie auch im Lied ein lyrisch-musikalisches Ich, das sich in Fragen an ein Du mithilfe lyrischer Bilder artikuliert.


    Genau dieses aber aus meiner Sicht in Liszts Lied nicht der Fall. Jedenfalls nicht durchgängig. Es bilden sich in diesem Lied immer wieder gleichsam „musikalische Inseln“, die durch die musikalisch inspirierende Kraft einzelner Elemente des lyrischen Textes entstehen. Das sind zumeist die lyrischen Bilder, - besonders deutlich in der dritten Strophe zu erkennen. Aber nicht nur! Auch eine Frage kann sich bei Liszt verselbständigen, weil er ihr besonderen Nachdruck verleihen will. Zu hören bei dem „Kennst du es wohl?“, das drei Mal gesungen wird, musikalisch „eingepackt“ jeweils in Solo-Klavierpassagen.


    Man kann an diesem Lied, so denke ich, sehr schön erkennen, dass Liszt in vielen, ja den meisten seiner Lieder eher musikalischer Dichter als textnaher und textgebundener Liedkomponist ist. Mit dieser Charakterisierung ist keine Abwertung seines Liedwerkes verbunden. Es ist eben Ausfluss einer in ihrer Intentionalität gewandelten kompositorischen Grundhaltung, die ganz wesentlich geprägt ist von Liszts Konzept der „sinfonischen Dichtung“.

    Mir ist bewusst, dass ich in dem, was ich zur kompositorischen Intention Liszts – bezogen auf dieses Lied – hier feststelle, nicht konform gehe mit der Auffassung, die ihr vertretet. Ich denke, wir lassen das einfach mal nebeneinander stehen und verstehen das, was hier geschrieben wird, als Beitrag zur jeweils eigenen Urteilsbildung der Leser dieses Threads.

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  • Von mir aus gerne, lieber Helmut; du gibts das Tempo vor, ich hinke, wie gewöhnlich, auch hier hinterher, zumal ohne Noten und Platten einmal mehr auf youtube angewiesen. Immerhin ergab sich dabei der Glücksfall, Angelika Kirchschlager in einem Live-Konzert mit verschiedenen Versionen berühmter Gedichtvertonungen hören und erleben zu können, so etwa mit allen drei neben der Lisztschen bedeutendsten Mignon-Fassungen (Schubert, Schumann, und Wolf), oder mit Schuberts und Liszts Version von "Wandrers Nachtlied", übrigens mit einem ausgezeichneten Begleiter am Klavier, Simon Lepper.


    Mir persönlich gefällt augenblicklich Schumanns Fassung am besten, obwohl ich Schumann, Liszt und Wolf hier recht artverwandt empfinde in der Auffassung der melancholischen Mignonfigur als Anspruch an die musikalische Differenzierung (etwa in der Spannung von Sehnsucht und Erfüllung, in der beschwörenden Akzentuierung des "Kennst du es wohl?" und in der expressiven Ausgestaltung der dritten Strophe). Wolfs Mignon ist sehr präsent, Elisabeth Schwarzkopf (Salzburg 1958, G. Moore) und Arleen Auger (Kiel 1988, I. Gage) bieten überragende Interpretationen. Von Liszt empfehle ich ferner die von Mitsuko Shirai und ihrem Ehemann Hartmut Höll eingesungenen Stücke; von "Ich möchte hingehn" existiert eine betörend tonschöne Fassung mit Gundula Janowitz.


    Das sind, en passant, ein paar der Früchte, die ich dank Helmuts Begeisterungsfähigkeit für mich einfahren konnte.


    o.t. - Tchaikovsky : "Nur wer die Sehnsucht kennt" (in Russian, by Ekaterina Sementchuk, mezzo-soprano) - das ist, gerade gegenüber Schubert (z.B. gesungen von Rita Streich), wahrhaft bekenntnishaft; großartig gesungen und dem Goethe-Text gewissermaßen näher als der (vielleicht etwas gewaltsam unterlegten) poetischen Rolle. Auch das ist eine Facette Mignons (und dieses Stück wird gegen alle Konventionen auch gerne mal von Herren gesungen, z.B. von Peter Anders).


    :hello:

    Zerging in Dunst das heilge römsche Reich


    - uns bliebe gleich die heilge deutsche Kunst!

  • Also das mit dem „Hinterherhinken“, lieber farinelli, möchte ich eigentlich so nicht stehenlassen. Nicht nur, weil es mir ein wenig peinlich zu lesen ist, - nein, es entspricht einfach nicht dem Sachverhalt. Das „Hinterher“ ist ja nur ein temporales. Inhaltlich ist es für mich nicht nur gelegentlich, sondern sogar meistens ein mich zum weiteren Nachdenken anregendes „Voraus“.


    Du sagst: „Mir persönlich gefällt augenblicklich Schumanns Fassung am besten,…“


    Nun wollte ich ja eigentlich nichts mehr sagen zu diesem regelrecht in Bann schlagenden Thema „Mignon“. So viel aber dennoch:


    Ich kann das sehr gut verstehen. Schumanns Lied ist ein ganz großes, und zwar weil es diesem Komponisten auf faszinierende Weise gelingt, die innere Erregung, die sich bei dem Sich-Hineinsteigern in die Bilder der Sehnsucht in diesem rätselhaften Wesen ereignet, in Musik zu fassen. Und was mich da ganz besonders beeindruckt, ist, dass dies aus der musikalischen Interpretation des lyrischen Wortes geschieht.


    Großartig, wie Schumann die melodische Linie regelrecht sprunghaft anlegt – als musikalisches Abbild innerer Erregung; wie er – aus dem gleichen Grund – mit Chromatik und Dissonanzen arbeitet oder Sechzehntel-Triolen einsetzt. Ich meine, niemandem sonst ist es so gut gelungen, das „Dahin, dahin“ aus dem „Kennst du es wohl“ im Sinne einer Fortsetzung des Gedankengangs mit musikalischen Mitteln buchstäblich "herauswachsen" zu lassen.


    Aber ich komme schon wieder ins Schwärmen. Dabei sollte ich doch nüchtern an meinem Thread-Thema weiterarbeiten.

  • Lieber Helmut,


    vielleicht tröstet es dich ja, daß ich, als ich im letzten Beitrag schrieb: in der beschwörenden Akzentuierung des "Kennst du es wohl?" , einen Moment versucht war, hier auf die besondere "Schwellenfunktion" dieser Wendung hinzuweisen, die ja den Ausbruch des Dahin! vorbereitet und gleichsam auslöst. Das deckt sich genau mit deiner Anmerkung. Schumanns Lied ist, im Verhältnis zur inneren Differenzierung, die geschlossenste Version, so empfinde ich das auch.


    :hello:

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  • "Schumanns Lied ist, im Verhältnis zur inneren Differenzierung, die geschlossenste Version, so empfinde ich das auch."

    "D´accord, mon cher farinelli" - würde ich sagen, da ich inzwischen vor lauter Lizst nur noch französisch denke und mit mir selbst parliere.


    Eben stoße ich auf eine Bemerkung Heinrich Heines:


    "Das ist ein bedeutendes Zeichen, daß niemand mit Indifferenz von ihm redet ... Es gehört Feuer dazu, um die Menschen zu entzünden, sowohl zum Haß als zur Liebe".


    Als ich diesen Thread eröffnete, wusste ich noch nicht, was auf mich zukommen würde. Inzwischen weiß ich ein wenig mehr und bedauere in keiner Weise, mich auf einen Komponisten eingelassen zu haben, von dem ich zuvor noch viel zu wenig Ahnung hatte. Wirklich viel zu wenig!

  • Ich bitte also um Verständnis dafür, dass ich aus diesem ganz spezifischen Dialog „aussteigen“ möchte. Um für mich noch einmal eine Art Bilanz zu ziehen, die den Stand meiner ganz eigenen Erkenntnisse reflektiert und keinen Anspruch auf Allgemeingültigkeit erhebt,


    Liszt weicht in seinem kompositorischen Zugriff auf den lyrischen Text insofern deutlich von allen anderen Komponisten ab, als er die Tatsache, dass dieser in allen seinen drei Strophen Ausdruck der seelischen Regungen und Empfindungen eines einzigen lyrischen Ichs sind, hintanstellt hinter sein Interesse an der musikalischen Umsetzung der evokativen Kraft der lyrischen Bilder. Ihm geht es infolgedessen nicht – wie etwa Schubert oder Schumann – um die Wahrung der Einheit der melodischen Linie über alle drei Strophen. Vielmehr stellt sich sein Lied im Noten- wie im Hörbild – etwas überspitzt formuliert - als eine Akkumulation von musikalischen Einzelimpressionen dar, die gleichwohl eine – durchaus beeindruckende - kompositorische Einheit bilden.

    Lieber Helmut,


    manchmal kommt die Diskussion an einen Endpunkt, und da ist es besser, abzubrechen und die Sache um des Weiterdenkes willen offen zu lassen. Du bist in Deiner Interpretation zu einem bestimmten Abschluß gekommen, das verstehe ich. Nur Deine Grundthese, das muß ich doch noch einmal sagen, kannst Du in diessem Falle finde ich nicht belegen. Es gibt in Goethes Mignon-Lied nämlich gar kein "einziges lyrisches Ich". Das ist rein sprachlich überhaupt nicht ausweisbar! Dann hätte es nämlich heißen müssen: "Ich kenne das Land, wo die Zitronen blühen". Es heißt aber "Kennst Du das Land...". Das Gedicht verzichtet auf eine durchgehende Ichrede, und statt dessen betont es den Wechsel von Anrede und Ichrede. Schumanns Vertonung ist wirklich sehr schön, aber sie romantisiert, stellt da eine kontinuierliche Einheit her, die sich über die Diskontinuitäten hinwegsetzt im Sinne der Auffassung, daß diie Musik die unbestimmten Ahnungen und Sehnsüchte ausdrückt, welche sich dem Ausdruck durch das Wort entziehen. Liszt und Wolf stehen da auf der Seite von Hegel und Wagner, die gegen die romantische Beschwörung des Unbestimmten um Sprachdeutlichkeit und Bestimmtheit bemüht sind, um Charakterisierung. Insofern sind sie "moderner" als Schumann, was natürlich nichts über die Qualität der Vertonung aussagt. Eine um Charakteristik bemühte Vertonung ist immer "textnäher" als die "romantische". Seien wir froh, daß wir beide haben und uns daran erfreuen können! :)


    Beste Grüße
    Holger

  • Mit dem "Endpunkt", lieber Holger, hast du sicher recht. Irgendwann müssen wir der Diskussion um Mignon und all ihre "Vertoner" wohl eine Ende setzen, so schade das eigentlich ist. Ich habe mich gerade entschlossen, dann, wenn ich mit diesem Thread an einem Ende bin, das mir als solches akzeptabel erscheint, den Thread "Mignon-Lieder" wiederzubeleben. Schubert, Schumann und Wolf haben alle vier Mignon-Gedichte Goethes vertont. Macht drei mal vier Lieder, - und die sind alle einen wirklichen Thread wert, nicht einen abgebrochenen, von denen es hier viel zu viele gibt.


    Was das "lyrische Ich" anbelangt, da scheint zwischen uns ein unterschiedliches Verständnis dieses Begriffs vorzuliegen. Ich habe diesen Begriff so verwendet, wie es die Germanistik bei der Interpretation von Lyrik tut. Ein lyrisches Ich kann sich in diesem Sinne auch in der Ansprache eines "Du" als solches sprachlich artikulieren. Hier, im Falle von "Kennst du das Land" spricht sich dieses lyrische Ich mittels Metaphern in einem fiktiv dialogischen Gestus aus. Von diesem interpretatorischen Ansatz aus bin ich an die Beurteilung von Liszts Lied heranggegangen. Wenn Du der Meinung bist, dass ich mein diesbezügliches Urteil nicht hinreichend begründet haben sollte, dann muss ich das eben akzeptieren.


    Was die Beurteilung der Schumannschen Vertonung dieses Gedichts anbelangt, so würde ich vorschlagen, ein wenig Geduld zu haben, bis der Mignon-Thread wieder aufgegriffen werden kann.


    Nein, Unsinn! Du packst das an. Wäre doch viel besser!

  • Lieber Helmut,


    lesenswert ist der Wikipedia-Artikel zum lyrischen Ich:


    http://de.wikipedia.org/wiki/Lyrisches_Ich


    Er zeigt, daß der Begriff in der Literaturwissenschaft nicht unproblematisch ist, ursprünglich die biographische Auslegung bevorzugt (Dilthey). Der "Ich"-Begriff stammt aus dem deutschen Idealismus (Fichte!) und meint immer einen Identitätspol. Wenn man vom lyrischen Ich redet, unterstellt man entsprechend ein identitätsstiftendes Subjekt. Der Artikel zeigt schön am Beispiel mittelalterlicher Dichtung, daß dies problematisch ist. Bei Goethes Mignon-Lied ist das ebenso. Die Postmodere-Diskussion hat schließlich sensibel dafür gemacht, daß man nicht einfach in jedem Fall die Mannigfaltigkeit als Ausdruck einer zugrundeliegenden Einheit betrachten kann. Es gibt im Mignon-Lied keinen triftigen Grund, hinter dem Wechsel der Subjektperspektive (Ich und Du) eine weitere Instanz zu unterstellen, ein "lyrisches Ich", das diese noch einmal fundiert, quasi ein "Ich", das von sich "Du" und "Ich" sagt. Allein schon sprachanalytisch ist das Nonsens. Dann bleibt nur, den Begriff des "lyrischen Ich" zu formalisieren, dann verliert er jedoch seinen Inhalt und die sprachliche Ausweisbarkeit. Warum also nicht den Wortlaut des Textes ernst nehmen, daß hier der beständige Wechsel der Subjektperspektive das ist, was ausgedrückt wird und nicht eine in der konkreten Aussage überhaupt nicht greifbare Einheit dahinter. Und wenn sich die Vertonung an den Wortlaut hält, den Wechsel und nicht eine fiktive Einheit, die sprachlich gar nicht ausgedrückt wird, dann kann man ihr schwerlich ästhetisch vorhalten, an der Oberfläche der Bildassoziation zu verbleiben.


    Beste Grüße
    Holger

  • Ich erlaube mir, mich wieder ganz speziell dem Thema "Franz Liszt und seine Lieder" zuzuwenden, denn das ist in der Tat hochinteressant. Wie überhaupt dieser Mensch und Künstler Franz Liszt mir mehr und mehr Rätsel aufgibt. Wenn ich hintereinander die Sonate h-Moll und das kleine Klavierstück "Nuages gris" höre, dann frage ich mich: Was ist da mit diesem Komponisten passiert? Ähnlich ist das beim Hintereinander-Hören von etwa den Liedern auf Texte von Petrarca und dem Lied "J´ai perdu ma force et ma vie".


    Es gibt so etwas die den Lisztschen Alterstil. Und das Erstaunliche ist, dass man Spuren davon schon sehr früh bei ihm entdecken kann. Liszt ist, wenn man es mal banal ausdrückt, sehr schnell gealtert, und das nicht nur physisch. Für mich sich da die Frage, was da an Reflexion über den Sinn und die Intentionen künstlerischer Produktivität dahintersteckt. Baudelaire natte ihn einmal "Sänger der ewigen Wonnen und der ewigen Angst".

  • Auch von diesem Lied gibt es zwei Fassungen. Die zweite stammt von 1860. Ich möchte aber auf die erste, von 1847, eingehen, weil sie mir die mit Blick auf die kompositorischen Intentionen Liszts interessantere zu sein scheint. Dem Lied liegt einer der „Gesänge des Harfners“ aus Goethes „Wilhelm Meister“ zugrunde.


    Wer nie sein Brot mit Tränen aß,
    Wer nie die kummervollen Nächte
    Auf seinem Bette weinend saß,
    Der kennt euch nicht, ihr himmlischen Mächte.


    Ihr führt ins Leben uns hinein,
    Ihr laßt den Armen schuldig werden,
    Dann überlaßt ihr ihn der Pein:
    Denn alle Schuld rächt sich auf Erden.


    Durch eine eigentümliche Spannung von elegischem Sprechgesang und lyrisch geprägter Melodik zeichnet sich dieses Lied aus. In der Einleitung erklingen in Moll harmonisierte und melodisch abfallende Achtel-Triolen im Klavierdiskant: „Quasi Arpa“, „un poco pesante“.

    Auch die melodische Linie der Singstimme, die dann einsetzt, ist eine in Sekundschritten abfallende, ganz von melancholisch-müder Moll-Harmonik geprägt. Bei „Wer nie die kummervollen Nächte“ erhebt sie sich zwar um eine Terz, fällt danach aber wieder in gleicher Weise fast schleppend ab. Das Wort „weinend“ wird wiederholt, und bei „saß“ wandelt sich das Tongeschlecht überraschend in Dur.


    In der Pause der Singstimme erklingen drei Takte lang Tremoli im Klavier, und in diese fallen dann, „gesprochen“, wie es im Notentext heißt, kurz und spitz artikuliert die Worte: „Der kennt euch nicht“ ein. Zwei Mal werden sie wie eine Warnung in die Klaviertremoli hineinskandiert, beim dritten Mal aber werden sie in einer in kleinen Sekunden aufsteigenden melodischen Linie gesungen, „fortissimo“, von schweren Akkorden im Klavier akzentuiert.


    Bei „ihr himmlischen Mächte“ setzt sich diese aufsteigende melodische Linie fort und verfällt bei der Wiederholung der Worte auf ihrem Höhepunkt fast schlagartig in ein Pianissimo. Danach folgt ein langes Klavierzwischenspiel, das das musikalische Motiv des Liedanfangs variiert und in eine fermatierte Pause mündet.


    „Dolce“ und „con grazia“ setzt danach das Klavier wieder mit Achteltriolen im Diskant ein, in denen wieder die melodische Linie des Anfangs aufklingt, dieses Mal aber in Dur harmonisiert. Die Singstimme greift sie auf, allerdings nur in ihrer Grundstruktur. Und schon bei der Wiederholung von „Ihr führt ins Leben uns hinein“ gerät die Vokallinie wieder in Moll-Harmonien.


    Die Worte „Dann überlaßt ihr ihn der Pein“ werden auf nur zwei Noten deklamiert, auch dieses Mal wieder von Tremoli im Klavier begleitet. Bei der Wiederholung dieses Verses steigert sich die melodische Linie der Singstimme in einer emphatischen Aufwärtsbewegung hin zu dem Wort „Pein“ ins Fortissimo.


    Die Worte „Denn alle Schuld rächt sich auf Erden“ werden, mit dramatischer Akzentuierung durch Achtelakkorde im Klavier, zweimal melodisch artikuliert, wobei bei der Wiederholung die melodische Linie des Liedanfangs wieder auftaucht. Dieses Arbeiten mit einer Art musikalischem Leitmotiv gehört zu den ganz spezifischen Eigenarten von Liszts Liedkomposition.


    „Poco rall.“ sind die letzten Takte des Liedes überschrieben. Auf dem Wort „Erden“ liegt der Tonschritt einer fallenden Sekunde, wobei diese melodische Bewegung „piu rit.“ über die Länge von zwei Takten erstreckt.

  • Ich erlaube mir, mich wieder ganz speziell dem Thema "Franz Liszt und seine Lieder" zuzuwenden, denn das ist in der Tat hochinteressant. Wie überhaupt dieser Mensch und Künstler Franz Liszt mir mehr und mehr Rätsel aufgibt. Wenn ich hintereinander die Sonate h-Moll und das kleine Klavierstück "Nuages gris" höre, dann frage ich mich: Was ist da mit diesem Komponisten passiert? Ähnlich ist das beim Hintereinander-Hören von etwa den Liedern auf Texte von Petrarca und dem Lied "J´ai perdu ma force et ma vie".


    Es gibt so etwas die den Lisztschen Alterstil. Und das Erstaunliche ist, dass man Spuren davon schon sehr früh bei ihm entdecken kann. Liszt ist, wenn man es mal banal ausdrückt, sehr schnell gealtert, und das nicht nur physisch. Für mich sich da die Frage, was da an Reflexion über den Sinn und die Intentionen künstlerischer Produktivität dahintersteckt. Baudelaire natte ihn einmal "Sänger der ewigen Wonnen und der ewigen Angst".


    Lieber Helmut,


    Baudelaires Charakterisierung ist sehr treffend: Liszt sagte über die Kunst, sie sei das Schweben zwischen dem absoluten Nichts und der Ewigkeit. "Nuages gris" ist das Nichts, die Ewigkeit: etwa "La benediczion de dieu dans la solitude" oder "Les jeux d´eau a la Villa d´Este. Bei Liszt werden die äußersten Extreme zusammengespannt, da schlägt das Pendel mal nach der einen, mal der anderen Seite aus. In der h-moll-Sonate ist der faustische Geist präsent mit allen seinen Widersprüchen. Liszt traut sich in die Abgründe der menschlichen Seele zu leuchten und auszudrücken, was andere nicht auszudrücken wagen, weil es nicht mehr "schön" ist. Warum diese Abstraktion und Verknappung gegenüber hochromantischer Klangfülle? Bei Liszt gibt es den Hang zur Askese, er reiste 3. Klasse auf Holzbänken aus Prinzip. Dahinter stecken - so meine Deutung - auch zwei Wege der romantischen Poetisierung. Die Romantiker empfinden die Empfindsamkeit, die einfachen rührenden Melodien, als platt. Entweder die Melodie wird deshalb "harmonisiert" und mit Klangfülle angereichert oder aber es gibt den Weg der Abstraktion: Auch das, die Reduktion, ist ein Weg der Poetisierung, weil der "Klang" sich hier vom Melodischen löst, gleichsam absolut wird.


    Schön, daß Du weiter machst! Da bekomme ich wieder richtig Lust zum Nachhören! :)


    Beste Grüße
    Holger

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  • Es ist zweifellos richtig, lieber Holger, dass in Liszts Musik "äußerste Extreme zusammengespannt" sein können. Hier kommt seine Prägung durch die französische Romantik zum Vorschein, für die - nach Victor Hugo - Kunst "die fruchtbare Einheit des Grotesken und des Erhabenen" ist. Und ganz ohne Zweifel entspricht das auch Liszts ganz persönlichem Naturell. Seine Biographen sprechen bei ihm gerne von der "göttlich dämonischen Doppelnatur".


    Dieses Gegen-, Neben, - und Ineinander der Extreme gilt aber für das jeweilige musikalische Werk, - insbesondere der frühen und mittleren Zeit seines Komponierens. Was ich in dem Beitrag ansprach, auf den Du bezug nimmst, ist aber etwas anderes: Es ist die extreme Reduktion der musikalischen Faktur in seinem Spätwerk, die im Vergleich dem dem "kompositorischen Aufwand" der frühen und mittleren Phase regelrecht verblüffend wirkt. Es mag sein, dass darin Liszts Neigung zur "Askese" zum Ausdruck kommt, - die bei ihm übrigens immer nur phasenweise zum Vorschein kam. Er hatte durchaus auch Gefallen am Luxus. Während seiner Zeit in Rom bildete sich bei ihm aber allmählich eine Haltung heraus, die er "santa indifferenza" nannte. Sie könnte durchaus für dieses Phänomen der klanglichen Askese im Spätwerk verantwortlich sein. Jedenfalls als ein ursächlicher Faktor von mehreren.


    Eben sitze ich gerade an einem Lied aus dem Jahre 1862, und da ist, beim Blick auf die Noten - vordergründig betrachtet - buchstäblich "nichts mehr los". Wenn man die erste Fassung von "Der du von dem Himmel bist" danebenlegt, reibt man sich die Augen und denkt: Das kann nicht von demselben Komponisten stammen!

  • Es ist zweifellos richtig, lieber Holger, dass in Liszts Musik "äußerste Extreme zusammengespannt" sein können. Hier kommt seine Prägung durch die französische Romantik zum Vorschein, für die - nach Victor Hugo - Kunst "die fruchtbare Einheit des Grotesken und des Erhabenen" ist. Und ganz ohne Zweifel entspricht das auch Liszts ganz persönlichem Naturell. Seine Biographen sprechen bei ihm gerne von der "göttlich dämonischen Doppelnatur".


    Dieses Gegen-, Neben, - und Ineinander der Extreme gilt aber für das jeweilige musikalische Werk, - insbesondere der frühen und mittleren Zeit seines Komponierens. Was ich in dem Beitrag ansprach, auf den Du bezug nimmst, ist aber etwas anderes: Es ist die extreme Reduktion der musikalischen Faktur in seinem Spätwerk, die im Vergleich dem dem "kompositorischen Aufwand" der frühen und mittleren Phase regelrecht verblüffend wirkt. Es mag sein, dass darin Liszts Neigung zur "Askese" zum Ausdruck kommt, - die bei ihm übrigens immer nur phasenweise zum Vorschein kam. Er hatte durchaus auch Gefallen am Luxus. Während seiner Zeit in Rom bildete sich bei ihm aber allmählich eine Haltung heraus, die er "santa indifferenza" nannte. Sie könnte durchaus für dieses Phänomen der klanglichen Askese im Spätwerk verantwortlich sein. Jedenfalls als ein ursächlicher Faktor von mehreren.


    Eben sitze ich gerade an einem Lied aus dem Jahre 1862, und da ist, beim Blick auf die Noten - vordergründig betrachtet - buchstäblich "nichts mehr los". Wenn man die erste Fassung von "Der du von dem Himmel bist" danebenlegt, reibt man sich die Augen und denkt: Das kann nicht von demselben Komponisten stammen!


    Lieber Helmut,


    ich finde auch, daß man Liszts enge Verbundenheit besonders mit der französischen Romantik nicht genug betonen kann. Es gibt natürlich auch enge Verbindungen zwischen der deutschen und französischen Romantik, rezeptionsgeschichtlich.


    Liszt war im Alter ein einsamer Mann trotz seiner "Berühmtheit" oder gerade deswegen. ich glaube, daß dies ein Grund ist: Die Weltabgeschiedenheit wird zum Prinzip, die bewußte Vermeidung von jeder "Weltläufigkeit", Musik als Ausdruck innerer Emigration. Die romantische Bewegung hat ja immer den Zwiespalt, einerseits mit dem Ideal der Symphonie die Weltlichkeit der Musik zu betonen, zugleich aber ein Kunstreich neben der Wirklichkeit aufzurichten. Beim späten Liszt dominiert wohl die Enttäuschung über die "Welt". Das ist freilich keine Privatisierung im biedermeierlichen Sinne, sondern der Versuch, im Inneren den Weg zum Absoluten zu finden. Wer schreibt sonst schon ein Klavierstück mit dem Titel "Engel"?


    Bei Schumann lese ich gerade - und das ist glaube ich auch für Liszt wichtig: Schubert mache sich "die Fortschritte des einstweilen weiter ausgebildeten Begleitinstruments, des KLaviers, zunutze ... Die Singstimme allein kann allerdings nicht alles wirken, nicht alles wiedergeben, neben dem Ausdrucke des Ganzen sollen auch die feineren Züge des Gedichts hervortreten." Die Singstimme ist melodisch, aber gerade deshalb ist ihr Ausdrucksvermögen eingeschränkt: die feineren harmonischen Differenzierungen drückt die Klavier"begleitung" aus, die gar keine Begleitung mehr ist, sondern eigenständiger Ausdrucksträger. Die Melodiebetontheit kritisiert Schumann bei italienischer Musik, insbesondere bei Bellini und Rossini, die findet er rührselig seicht, inhalts- und gedankenlos. In Berlioz dramatischer Symphonik liege mehr Melodie "als in zehn Bellinischen Melodien". Es ist auffallend, daß gerade bei Liszts sehr "italienischen" Liedern wie den Petrarca-Sonnetten die Rolle des Klaviers eine sehr emanzipierte ist. Das kann kein Zufall sein. Auch Liszt wollte offenbar dem Eindruck des Seichten und Gefälligen, Opernhaften vorbeugen, indem er die Singstimme durch das Klavier höchst komplex harmonisiert und ihr so einen unendlich differenzierten Ausdruck verleiht. Mit Wirkungsrhetorik hat das also nichts zu tun - im Gegenteil, die melodisch-sentimentale "Rührung" wird mit der sehr klavieristischen "Vertonung" gewissermaßen gehemmt.


    Beste Grüße
    Holger

  • Ich bitte um Verständnis dafür, lieber Holger, dass ich mich in diesem Thread ganz auf Franz Liszt konzentrieren möchte. Zu der Frage, welche Rolle das Klavier bei Franz Schubert oder bei Robert Schumann spielt, habe ich mich in diesem Forum schon so auführlich ausgelassen, dass mir inzwischen die Luft dafür fehlt, noch mehr dazu hier niederzuschreiben.


    Bei Franz Liszt spielt das KLavier eine gänzlich andere Rolle als bei Schubert oder Schumann. Es ist der eigentliche Träger der musikalischen Aussage. Es ist der Faktor, der maßgeblich für das ist, was man die Musikalisierung des Kunstliedes nennt.


    Die Singstimme ist nicht mehr, wie bei Schubert oder Schumann, gleichwertiger Partner eines gleichsam musikalisch-diskursiven Prozesses. Im Thread "Sprache und Musik im Lied" wird dafür der Begriff "Polyrhythmisches Lied" verwendet. Und für Liszt gilt nun: Das, was dür diese Art von Kunstlied typisch ist, gilt für Liszt nicht mehr. Klavier und Singstimme wirken in der Regel nicht mehr miteinander, sondern sie laufen sozusagen nebeneinander her, sind Bestandteil eines musikalischen Korpus, in dem dem Klavier die Hauptfunktion der musikalischen Aussage zukommt.


    Genau dieses versuche ich hier an einzelnen Beispielen aufzuzeigen, um der ganz spezifischen Liedsprache Liszts auf die Spur zu kommen.


  • Lieber Helmut,


    ich wollte natürlich nicht behaupten, daß Schubert gleich Schubert gleich Liszt ist. (Deine Ausführungen zum polyrhythmischen Lied habe ich bei dem langen Thread leider nicht gefunden!) Die Unterschiede herauszuarbeiten bleibt selbstverständlich die entscheidende Aufgabe. Allerdings glauibe ich, daß alle drei im Kontext der Romantik stehen und es da insofern eine Gemeinsamkeit gibt, als "Richtungstendenz" sozusagen. Schumanns Äußerung zeigt, daß der Romantiker bei einem Gedicht zwischen dem "Gesagten" und "Gemeinten" unterscheidet. Die Singstimme hält sich an das direkt Ausgesprochene, das Gesagte. Das ist aber nicht das eigentlich Gemeinte, der tiefere Sinn, der gewissermaßen zwischen den Zeilen steht. Den zu enthüllen obliegt dem Klavier, es gilt "durch tieferes Eindringen in die Geheimnisse der Harmonie (...) die feineren Schattierungen der Empfindungen auszudrücken". Genau diese Aufgabe erfüllen können die "Worte", das Gesagte, nämlich nicht, die Sprache der Empfindungen wirklich sprechen. Das ist romantische Musikphilosophie, die Worte können die Dinge nur dürftig zählen und nennen, aber nicht das Empfindungskontinuum ausdrücken. Die damit angedeutete Funktion der Verfeinerung des Ausdrucks - bei Schumann erkennbar der humanistische Gedanke einer Kultivierung und Verfeinerung der Sinne -, kommt also letztlich der Klavierbegleitung zu, die damit aufhört, bloße Begleitung zu sein. Bei Liszt geht es nun noch einen Schritt weiter. Exemplarisch wird das vielleicht sichtbar bei den Petrarca-Sonnetten: "Pace non trovo" - Liebe stiftet Aufruhr, Verwirrung, führt zur Kopflosigkeit, Zerrüttung der Seele. Das ist sehr destruktiv, doch den Sprengstoff leidenschaftlicher Liebe hat Petrarca humanistisch gleichsam entschärft, indem er den destruktiven Inhalt in die schön geordnete Sonnettform gezwängt hat, die als Zähmung und Besänftigung fungiert und damit den ästhetischen Schein wahrt, als den Trost der Seele durch die schöne Form. In Liszts Vertonung wird dieser chaotische Inhalt aus dem formalen Zwangskorsett schließlich befreit. Und dabei hat das Klavier einen maßgeblichen Anteil, es fantasiert frei und sprengt damit die Form, so daß der Inhalt freigesetzt wird, sich "ausleben" kann ohne alle Fesseln. Ausdruck wird erreicht durch eine Sprengung der Form - und nicht nur ihre Verfeinerung und Differenzierung wie bei Schumann.


    Beste Grüße
    Holger

  • Man kann die Art und Weise, wie Liszt kompositorisch an den lyrischen Text heran- , und mit ihm umgeht, auf eindrucksvolle Weise erleben, wenn man sich Schuberts Lied auf diesen „Gesang des Harfners“ einmal unmittelbar nach der Komposition Listzts von 1847 anhört.


    Wenn man den Unterschied auf einen zwar ein wenig simplen, aber durchaus sehr klaren Nenner bringen möchte, dann könnte man sagen: Hier steht nebeneinander ein Komponieren aus der unmittelbaren Anbindung an den Gestus und den semantischen Gehalt der lyrischen Sprache neben einem kompositorischen Zugriff auf dieselbe, der an der evokativen Kraft des lyrischen Bildes ansetzt.


    Ich sagte es schon und betone noch einmal: Ein derartiger Vergleich ist nicht wertend gemeint. Mir geht es nur darum, Liszts musikalische Liedsprache zu erfassen. Und Schubert oder Schumann dienen mir dabei als struktureller, nicht als maßstabgebender Bezugspunkt.


    Liszts Liedkomposition hat ihre ganz eigene musikalische Qualität. Und dieses Lied auf den „Gesang des Harfners“ entfaltet eine klangliche Aura, die die Situation, aus der heraus dieser „Harfner“ sich lyrisch artikuliert, ganz sicher auf höchst eindrucksvolle Art musikalisch einfängt, indem sie sie musikalisch ausleuchtet. Das geschieht aber nicht in Form jener engen Verschmelzung mit der lyrischen Sprache, wie sie bei Schubert zu beobachten ist. Ich möchte diese These begründen.


    Die erste Strophe des Gedichts ist sprachlich so angelegt, dass das „Wer“ am Anfang in das „Der“ des letzten Verses mündet. Dieser ist gleichsam der Zielpunkt, auf den die Verse der ersten Strophe zulaufen. Und genau so hat Schubert auch die musikalische Faktur derselben angelegt. Auf den beiden ersten Versen liegt eine in Moll harmonisierte fallende melodische Linie. Beim zweiten Vers unterscheidet sich diese in ihrer Struktur nur dadurch, dass das Wort „kummervollen“ in silbengerechter Weise melodisch reflektiert wird.


    Mit dem dritten Vers setzt aber eine langsam steigende Bewegung der melodischen Linie ein, die – zusammen mit einem Crescendo – ihren Höhepunkt auf den Worten „ihr himmlischen Mächte“ findet. Danach folgt ein leichter Abfall hin zur Tonika. Die musikalische Faktur folgt also bei Schubert ganz genau der inneren sprachlichen Struktur dieses Verses.


    Liszt ignoriert diesen Aspekt der lyrisch-sprachlichen Binnenstruktur der Strophe ganz souverän. Ihn interessiert kompositorisch primär und hauptsächlich die Aussage der einzelnen Verse, die er mit einer diese reflektierenden musikalischen Faktur aufgreift.


    Auf den fallenden Klageton der ersten drei Verse – durchaus deren semantischen Gehalt reflektierend - folgt ein Klavierzwischenspiel mit dramatischem Trillereffekt, und danach fällt – äußerst effektvoll hervorgehoben – das dreimalige rezitativische „Der kennt euch nicht“ in dieses ein. Und nach demselben kompositorischen Prinzip davon abgesetzt, und wieder so etwas wie eine musikalische „Insel“ bildend, erklingt dann der emphatische Anstieg der melodischen Linie in große Höhen bei den „himmlischen Mächten“.


    Wenn hier von musikalisch expressiven „Inseln“ gesprochen wird, dann heißt das nicht, dass dieses Lied keine innere musikalische Einheit aufwiese. Diese gibt es durchaus, und zwar dadurch, dass dieses im großen und kleinen Sekundenfall sich musikalisch artikulierende Klagemotiv immer wiederkehrt und auch den Schluss des Liedes bildet.

  • Lieber Helmut,



    ist stelle mal zwei Deiner zentralen Aussagen heraus:



    „Wenn man den Unterschied auf einen zwar ein wenig
    simplen, aber durchaus sehr klaren Nenner bringen möchte, dann könnte man
    sagen: Hier steht nebeneinander ein Komponieren aus der unmittelbaren Anbindung
    an den Gestus und den semantischen Gehalt der lyrischen Sprache neben einem
    kompositorischen Zugriff auf dieselbe, der an der evokativen Kraft des
    lyrischen Bildes ansetzt.“



    "Liszt ignoriert diesen Aspekt der lyrisch-sprachlichen
    Binnenstruktur der Strophe ganz souverän. Ihn interessiert kompositorisch
    primär und hauptsächlich die Aussage der einzelnen Verse, die er mit einer
    diese reflektierenden musikalischen Faktur aufgreift.“



    Ich schätze Deine
    Bemühungen und geistvollen Aussagen sehr, doch finde ich, dass gerade dieses
    Beispiel zeigt, dass Du Dich in Deinem Versuch der „Typisierung“ doch
    vielleicht etwas „verrannt“ hast (beim facettenreichen Liszt sind Typisierungen
    sowieso hochproblematisch, was ist denn sein einheitlicher Klavierstil, der
    sich durch alle Werke hindurchzieht??), wenn ich das so sagen darf. Deine
    Typisierung lautet: Schuberts Vertonung ist semantisch, orientiert sich am
    Ausdrucksgehalt und der Form des Gedichtes, während Liszt diese formale und
    semantische Ebene „ignoriert“, sich in seiner Vertonung nicht am
    Sinnzusammenhang ausrichtet, sondern an isolierte Bildassoziationen hält.



    Gerade dieses von Dir
    selbst gewählte Beispiel widerlegt diese These finde ich in allen wesentlichen
    Punkten! Die Form von Goethes Gedicht „Wer nie sein Brot in Tränen aß“ ist erst
    einmal symmetrisch, was die Struktur der beiden Strophen angeht. Das zeigt sich
    einmal mit Blick auf die ersten beiden Zeilen, die in Strophe 1 mit „Wer, wer“
    beginnen, in Strophe 2 mit „Ihr, Ihr“. Ebenso spiegelsymmetrisch ist die
    Hervorhebung der Schlusszeile 4 die in Strophe 1 mit „Der“ beginnt und in
    Strophe 2 mit „Denn“. Das sind aber noch nicht alle Symmetrien. Entscheidend –
    auch für die Semantik dieses Gedichts – ist die Reimform. Die ersten drei (!)
    Zeilen bilden nämlich eine Einheit durch den umschlossenen Reim: „aß und „saß
    (Zeile 1 und 3 Strophe 1), „hinein“ und „Pein“ entsprechend in Strophe 2. Die
    Schlusszeile wird durch diesen umschlossenen Reim der ersten drei Zeilen
    herausgestellt, isoliert. Sie bekommt dadurch zentrales Gewicht als eine
    Reflexionsebene, die eingeführt wird (Zeile 1-3 sind unreflektiert, Zeile 4 ist
    reflektiert). Besonders deutlich wird das bei dem „Denn“ in Strophe 2, das auch
    sprachlich eine Schlussfolgerung aus dem Vorhergehenden zieht. Form und
    Semantik stimmen also überein. Besonders kunstvoll ist die Schlusszeile 4 von
    Strophe 1 „Der kennt Euch nicht, ihr himmlischen Mächte“. Nicht nur, dass hier
    der Kulminationspunkt in der Anrede des Göttlich-Erhabenen gesetzt ist, sondern
    er verklammert zugleich die Strophen organisch: Das „Ihr“, die Anrede, wird
    aufgenommen in Strophe 2.



    Liszt ist es nun gerade,
    der in seiner Vertonung versucht, diese spiegelsymmetrische Form wiederzugeben.
    Die dritte Zeile wird zu einem dramatischen Kulminationspunkt gestaltet, was
    die Struktur des umschlossenen Reimes unterstreicht. Entsprechend wird die letzte
    Zeile in ihrer Aussage isoliert – wie es der Gedichtform entspricht. Liszt muss
    Schuberts Vertonung gekannt haben, auch bei ihm vollzieht sich mit der zweiten
    Strophe eine Aufhellung, eine Art hymnische Verklärung, wenn die himmlischen
    Mächte angesprochen werden. Damit enden aber auch die Gemeinsamkeiten! Schubert
    ist es nämlich, der in seiner Vertonung Form und Semantik von Goethes Gedicht
    ganz bewusst „ignoriert“? Was passiert nämlich? Er missachtet völlig den
    umschlossenen Reim und betont nicht die Einteilung 3-1 – sondern bei ihm
    ergeben sich zwei Zweizeiler (2-2) (!). Also: „Auf seinem Bette weinend saß“
    bezieht er (den umschlossenen Reim musikalisch als nicht existent betrachtend!)
    damit antizipierend auf das Ende „ihr himmlischen Mächte“. Dadurch ergibt sich
    mit den Zeilen 3 und 4 eine Klimax, die auf
    die letzte Halbzeile von Zeile 4 „ihr himmlischen Mächte“ als
    Kulminationspunkt zusteuert. Diese Dynamisierung ist weder formal noch
    semantisch durch Goethes Gedicht zu rechtfertigen. Zeile 3 ist überhaupt nicht
    reflektierend, sondern schließt die Gedanken von Zeile 1 und 2 ergänzend ab,
    was der umschlossene Reim - „saß“ reimt sich auf „aß“ – auch formal
    unterstreicht: In kummervollen Nächten sitzt das lyrische Ich auf seinem Bett.
    Semantisch gibt es keinerlei Anhaltspunkt, diese dritte Zeile als Antizipation
    des Endes aufzufassen! Die Musik „weiß“ hier gewissermaßen mehr als die
    Dichtung, liest das Gedicht gleichsam von hinten nach vorne, nimmt das Ende
    vorweg. Zudem wiederholt Schubert die kompletten Strophen, was noch einmal
    diese „Dynamisierung“ unterstreicht, eine dynamische Teleologie, welche die
    spiegelsymmetrische Anlage des Gedichtes
    überwuchert und damit unkenntlich macht. Natürlich ist damit nichts über
    die Qualität der Vertonung gesagt! Ich würde Schuberts Vertonung auch nicht als
    „misslungen“ bezeichnen, im Gegenteil: Die Musik deutet hier die Dichtung eigenständig aus, setzt selbst
    einen eigenen „Akzent“ im Sinne der Inszenierung der „himmlischen Mächte“ als
    Zentrum der Anbetung, einem hymnischen Kulminationspunkt. Allerdings: Wer sich
    näher an der Textsemantik bewegt, ist hier eindeutig Liszt und nicht Schubert.
    Um es zugespitzt zu sagen: Bei Goethe heißt es ausdrücklich in Zeile 4: „Der“,
    welcher in den Zeilen 1-3 spricht,
    kennt die himmlischen Mächte nicht (!).
    Schuberts Vertonung tut so, als kennte dieser sie (antizipierend in Zeile 3)
    sehr wohl, was glatt im Widerspruch zur Textsemantik steht!



    Beste Grüße


    Holger

  • Du sagst, lieber Holger:


    "Gerade dieses von Dir selbst gewählte Beispiel widerlegt diese These finde ich in allen wesentlichen Punkten! "

    Ich habe Deine Begründung für diese Behauptung aufmerksam gelesen. Ich werde sie nicht zu widerlegen versuchen, weil so etwas erfahrungsgemäß keinen Sinn hat. Es führt zu endlosen Auseinandersetzungen, weil zu viel subjektive Beurteilungsperspektiven im Spiel sind.


    Lassen wir einfach alles so stehen. Mir wäre das sehr recht!



  • Einverstanden, lassen wir es so stehen! Ich finde die Diskussion ja wirklich sehr anregend und hoffe doch sehr, wir führen sie mit anderen Beispielen fort! :)

    Nur als Ergänzung:


    Die Raffinesse von
    Goethes Gedichtform habe ich natürlich arg verkürzt: Sie besteht darin, dass
    die Reimform mit der Alliteration in den Zeilenanfängen durchkreuzt wird. „Wer
    nie, wer nie“ ist eine Alliteration (Zeile 1 u. 2), welche mit einer weiteren
    in Takt 4 erweitert wird „Wer, Wer, Der“. Dadurch ergibt sich eine semantische
    Verklammerung der beiden ersten Zeilen mit der vierten: „wer – der“ ist eine
    Reflexionsbewegung, die mit der vierten Zeile abgeschlossen wird. In dieser
    Alliteration wird die 3. Zeile überspannt „Auf seinem Bette weinend saß“. Das
    hat nun Auswirkungen auf den Reim. Die Form der Kreuzreims „aß – saß“ (Zeile 1
    und 3) und „Nächte – Mächte“ (Zeile 2 und 4) wird dadurch nämlich wiederum
    durchkreuzt. Der Kreuzreim macht semantisch Sinn, weil die „kummervollen
    Nächte“ mit den „himmlischen Mächten“ kontrastieren: Dunkel und Licht.
    Gleichwohl wird durch die Alliteration die dritte Zeile „übersprungen“, hier
    fehlt die Alliteration (Zeile 4 korrespondiert mit den Zeilen 1 und 2). Der
    Kreuzreim gleicht nun die fehlende Alliteration aus, stellt eine Korrespondenz her zwischen 1 und 3 und
    erscheint so als umschließender Reim: die 3. Zeile wird damit den ersten beiden
    semantisch zugeordnet als vorreflexiver Bereich, während die Reflexionsbewegung
    in der letzten Zeile kulminiert. Zeile 4 korrespondiert so nicht nur mit Zeile
    2 (Kreuzreim), sondern mit dem ganzen Zeilenblock 1-3. Die Isolierung der
    letzten Zeile, ihre Herauslösung aus dem Kreuzreimschema durch Verschränkung
    der „Reime“ von Zeilenanfang und Ende wird noch unterstrichen mit der Öffnung
    zum Schluss: „ihr himmlischen Mächte“, die 2. Halbzeile, wird fortgesetzt durch
    die Alliteration der folgenden Zeilenanfänge „Ihr führt, Ihr lasst“, sie leitet
    quasi bruchlos zum folgenden Vierzeiler über, wird mit diesem verwoben. Wenn
    man wie Schubert den ersten Vierzeiler komplett wiederholt, dann schwächt das
    natürlich diese semantische Verklammerung der beiden Strophen erheblich. Zudem
    gibt es eine Abweichung, die Schubert in der Vertonung nicht berücksichtigt: Es
    gibt im zweiten Vierzeiler eine Alliteration der Zeilen 1 und 2 „Ihr, Ihr“
    sowie eine weitere der Zeilen 2 und 4 „denn, dann“. In der zweiten Strophe gibt
    es auch wieder den Kreuzreim, der von der Reflexionsbewegung der Zeilenanfänge
    durchkreuzt wird. Hier gibt es eine 2 plus 2 Teilung – anders als in der ersten
    Strophe. In der zweiten Strophe sind die beiden Schlusszeilen reflektierend,
    und nicht nur die letzte. Diesen feinen aber wichtigen Unterschied hat Schubert
    in seiner Vertonung gleichsam „übergangen“, indem er schon dem ersten
    Vierzeiler eine 2 plus 2 Aufteilung angedeihen ließ. Wenn er „konsequent“
    gewesen wäre mit seiner teleologischen Lesart, wonach die erste Strophe auf die
    letzte Zeile als Zielpunkt zusteuert, hätte er, wenn überhaupt, mit der Dynamisierung
    schon in Zeile 1 beginnen müssen – da gibt es nämlich die „Vorbereitung“ der
    Reflexionsbewegung und Korrespondenz mit der Alliteration wer – der. Damit erst
    in Zeile 3 zu beginnen, macht rein textsemantisch betrachtet keinen Sinn.



    Beste Grüße
    Holger

  • (Zit.) "....und hoffe doch sehr, wir führen sie mit anderen Beispielen fort! :)


    Das habe ich zwar vor, lieber Holger, aber nicht mit solchen analytischen Zugriffen auf den lyrischen Text oder die musikalische Faktur, wie Du sie hier vorlegst.


    Solche bis in die Binnenstruktur der Faktur vordringenden Liedanalysen habe ich früher hier auch vorgelegt, aber ich spüre wie diese Zeit für mich hier im Forum langsam zu Ende geht. Ich werde mehr und mehr zu dem Prinzip der "stillen Betrachtung" und der "gelegentlichen Anmerkung" übergehen, - wenn ich nicht gar mal eine längere Pause einlege.


    Den Liszt-Thread möchte ich aber mit noch zwei, drei Liedbetrachtungen fortsetzen.

  • Dieses Lied von Franz Liszt auf den Harfner-Gesang von Goethe kann - was das musikalische Erfassen des lyrischen Textes in seiner sprachlichen Gestalt und in seinem dichterischen Gehalt anbelangt - durchaus in der Reihe der anderen großen Vertonungen bestehen, also denen von Schubert, Schumann und Hugo Wolf. Auf das Lied von Schubert bin ich bereits eingegangen, deshalb einen kurzen Blick auf die Komposition von Robert Schumann.


    Bei Schumann ist dieser Harfenspieler so etwas wie ein Seher, der das Ausgeliefertsein des Menschen an ein unabwendbares Schicksal in zum Ausdruck bringt. Zunächst in einer Art trotzigen Auflehnung dagegen, am Ende in tiefer Resignation und Ergebenheit. Der Klageton, der Liszts Lied prägt ist hier nicht in dieser Ausgeprägtheit zu hören. Eher herrscht eine Art berichtender Erzählton in der melodischen Linie der ersten Strophe, der allerdings am Ende derselben in eine Art Warnung vor den himmlischen Mächten umschlägt. Die melodische Linie geht hier in die Höhe und wird markant akzentuiert. Das Wort „Mächte“ erhält sogar noch auf der zweiten Silbe einen Akzent. Das Klavier setzt diesen Grundton mit energischen, von Achteln umspielten Akkorden fort.


    Die zweite Strophe ist musikalisch ganz und gar von der Unabwendbarkeit des Schicksals geprägt. Die Singstimme ist wie kontrapunktisch an die Basslinie im Klavier gefesselt, und die Harfenklänge im Diskant schwellen dazwischen in mächtig an, wie in trotziger Auflehnung. In energischem Ton bäumt sich die Singstimme zu nächst in einem weit ausgreifenden Bogen auf. Auf ihrem Höhepunkt, dem Wort „Leben“ hält sie lange inne, als wolle sie ins Bewusstsein rufen, um welch bedeutende Aussage es hier geht. Und noch einmal vollzieht sich eine derartig strukturierte melodische Bewegung, dieses Mal mit dem Höhepunkt auf dem Wort „schuldig“. Auch dieses lyrisch zentrale Wort wird auf diese Weise besonders akzentuiert.


    Wie ein Anlauf zu der alles überragenden Aussage im Schlussvers erklingt der langsame Anstieg der melodischen Linie bei „Dann überlasst ihr ihn der Pein“. Danach erklingt ein energischer Akkordschlag, und die Singstimme setzt bei dem Wort „Denn“ auf ihrem höchsten Ton des ganzen Liedes ein, „fortssimo“. In großen Intervallen wird die melodische Linie gesungen. Aber beim letzten Worte des Verses, bei „Erden“, wird die Lautstärke zurückgenommen und die Tonart gewechselt. Es ist, als wenn ein resignatives Sich-Abfinden mit dem Unabwendbaren in sie einzöge.


    Wie eine Bestätigung dieses Eindruck erklingen die jetzt ganz harmonisch sich entfaltenden Harfenklänge im Klavier. Noch einmal steigt die melodische Linie der Singstimme in kleinen Intervallen an, wenn der Schlussvers wiederholt wird. Das „auf Erden“ wird jetzt auf dem tiefsten Ton des Liedes gesungen. Bestätigt werden soll hier musikalisch, was zuvor schon gesagt wurde, - freilich mit dem Unterton tiefer Resignation.


    Liszt und Schumann, - das sind zwei völlig verschiedene kompositorische Leseweisen dieses Gedichts. Der eine, Schumann nämlich, komponiert es so zusagen von seinem letzten Vers her: Der Harfner macht – als selbst Betroffener – eine Aussage über das Wesen menschlicher Existenz. Der andere, Liszt also, setzt in seiner Komposition ganz am ersten Vers an: Das lyrische Bild des weinend sein täglich Brot Essenden prägt maßgeblich die musikalische Faktur des ganzen Liedes.

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