Was mit dem Begriff „Theatralik“ gemeint ist, geht an sich aus den Ausführungen hervor, die ich bis jetzt zu den einzelnen Liedern Liszts hier gemacht habe, gleichwohl ist er ein wenig unglücklich gewählt, weil er – abgelöst von seinem hiesigen Kontext – missverständlich ist (wie man an den jüngsten Stellungnahmen hier sehen kann).
Dieser Begriff ist in gar keinem Fall abwertend gemeint, sondern umfasst Merkmale der musikalischen Faktur, die aus dem kompositorischen Ansatz Liszts hervorgehen: Und das ist primär einer aus dem Geist der Musik, nicht einer, der sich in enger Anbindung an die Struktur und den semantischen Gehalt der lyrischen Sprache entfaltet.
Das alles wurde schon mehrfach im einzelnen aufgezeigt, zuletzt an den verschiedenen Fassungen des Liedes: „Der du von dem Himmel bist“. Die erste und die zweite Fassung sind „theatralisch“ in dem Sinne, dass, eben weil es primär um die Entfaltung und Ausgestaltung des musikalischen Motivs geht, am lyrischen Text vorbeikomponiert wird. Liszt hat dies ja selbst erkannt und mit der dritten Fassung genau eben diese „Schwäche“ korrigiert.
Auch bei „Mignons Lied“ ist dieses Komponieren aus dem Geist der Musik an vielen spezifischen Merkmalen der musikalischen Faktur erkennen. An einer einzigen Stelle sei dies noch einmal gezeigt. Gemeint ist der Liedanfang, die Stelle „Kennst du das Land“ also.
Liszt ist hier musikalisch derart in Bann geschlagen von der Dissonanz, die in dem Intervall „cis“ – „f“ aufklingt, dass er einen Akzent auf das Wort „du“ legt. Das widerspricht dem Sinn des lyrischen Textes, denn Mignon spricht hier ja nicht wirklich ein „Du“ an, sondern stellt eine gleichsam rhetorische Frage, deren Schwerpunkt und Zielrichtung „das Land“ ist. Liszt stört das aber gar nicht, weil er – und das ist eben typisch für ihn! – primär musikalisch denkt und nicht, wie Schubert etwa, die Komposition in enger Anlehnung an den lyrischen Text entwickelt.
In der Folge dieses kompositorischen Ansatzes kann sich im Lied auch die innere Einheit des Gedichts buchstäblich „in Musik auflösen“. Man sieht das an der letzten Strophe. Weder Beethoven, noch Schubert, Schumann oder Hugo Wolf haben die letzte Strophe in ihrer musikalischen Faktur derart tiefgreifend von der der beiden vorangehenden Strophen abgesetzt, wie Liszt das tat. Das ist ja auch gar nicht textgemäß, denn alle drei Strophen sind aus einer Grundsituation heraus lyrisch artikuliert: Es spricht, bzw. singt, ja immer die gleiche Mignon, und es besteht deshalb kein Grund, die lyrischen Bilder, die sie dabei entwickelt, sozusagen kompositorisch zu verabsolutieren.
Das aber tut Liszt. Offensichtlich inspiriert ihn das lyrische Bild von dem „Berg mit seinem Wolkensteg“, dem „Maultier“ und „der Drachen wilde Brut“ zu einer ausgeprägt dramatisch angelegten Melodik und Harmonik. Die Singstimme verharrt jetzt – im Unterschied zu den entsprechenden Versen der vorangehenden Strophen, taktlang auf einem Ton (einem tiefen „dis“) und bewegt sich nur um einen Sekundschritt davon weg. Der Klaviersatz besteht aus unruhig sich auf und ab bewegenden Achteln. Es ist eine völlig neue musikalische Idee, die hier kompositorisch entwickelt wird. Melodik und Harmonik sind eine andere als in den beiden Strophen davor.
Auch Schubert modifiziert übrigens diese dritte Strophe. Aber er tut es nicht mit annähernd der Radikalität, die Liszt hier kompositorisch an den Tag legt. Er wechselt das Tongeschlecht hin zu a-Moll und variiert die melodische Linie, - aber eben so, dass deren Grundstruktur im Verlauf ihrer Bewegung erhalten bleibt. Es geht ihm darum, in der Form des variierten Strophenliedes die Einheit des lyrischen Textes zu wahren. Für Liszt ist dies, eben weil er primär musikalisch denkt und sich dabei von den lyrischen Bildern inspirieren lässt, kein zwingendes Gebot mehr.