Franz Liszt und seine Lieder

  • Lieber Helmut,


    die Schumann-Vertonung ist wirklich unglaublich! Hier kann man sie mit Noten verfolgen:


    http://www.youtube.com/watch?v=c2WqM10t7w8


    Und Deine Beschreibung sehr einfühlsam, ganz toll! Das kann man mit Worten nicht ausschöpfen - was da in den ersten Zeilen schon zwischen Singstimme und Klavier alles Unerhörtes passiert. Und dann der desillusionierende Blick auf den Himmel, völlig antihymnisch, das ist nur schwarz und bedrohlich. Unglaublich spannend, was in diesen verschiedenen absolut hochkarätigen Liedvertonungen passiert. Eine Lehrstunde, was man in einem Gedicht alles "sehen" kann. Schade, daß sich die Germanisten und Literaturwissenschaftler kaum damit beschäftigen - Interdisziplinarität, im Normalfall Fehlanzeige! Mich reizt das ungemein, so etwas mal mit Studenten in einem Ästhetikseminar zu machen. Wenn ich allerdings daran denke, wie schwer sie es haben, die poetischen Bilder in einem Aphorismus von Kierkegaard aufzuschlüsseln, dann schreckt mich das allerdings auch wieder ab!


    Beste Grüße
    Holger

  • Danke, lieber Holger, für den Hinweis auf diese Internet-Adresse (oder wie heißt so etwas?). Ich bin diesbezüglch leider höchst unbedarft, aber das war schon recht eindrucksvoll. Dieses Bildschirmerlebnis: Wandernde Noten, tonlich unmittelbar umgesetzt. So etwas kenne ich gar nicht, da ich immer aufs Papier starre, mit all diesen Noten drauf, wenn ich Lieder höre. Ich staune, was es heute alles gibt!


    Du klagst: "Schade, daß sich die Germanisten und Literaturwissenschaftler kaum damit beschäftigen - ..."


    Diese Klage ist berechtigt. Allerdings ist zu bedenken, dass Lyrik nur ein sehr schmales Feld der germanistischen Betätigung ist. Und die "Vertonung" derselben ein noch viel schmaleres.


    Ich erlaube mir einen Scherz und sage: Aber dafür haben wir ja doch dieses Tamino-Forum.

  • Von diesem Lied auf ein Gedicht von Goethe („Klärchens Lied“ aus „Egmont“) gibt es drei Fassungen, wobei die erste auf 1844 datiert. Ich möchte auf die dritte von 1860 eingehen, denn sie weist in ihrer musikalischen Faktur wieder jene Elemente relativer Einfachheit auf, wie sie für den Spätstil von Liszts Liedkomposition bezeichnend ist. Das Lied steht im Viervierteltakt und ist mit „Andantino“ überschrieben.


    Freudvoll
    Und leidvoll,
    Gedankenvoll sein,
    Langen und bangen
    In schwebender Pein,
    Himmelhoch jauchzend,
    Zum Tode betrübt,
    Glücklich allein
    Ist die Seele, die liebt.


    Geprägt wird dieses Lied von einem musikalischen Motiv, das, wie so oft bei Liszt, schon in den ersten Takten des Klaviervorspiels aufklingt und danach von der Singstimme übernommen wird. Es besteht aus einem doppelten Sextfall von einer halben und einer Viertelnote, wobei der zweite Fall ein verminderter ist. Auf diese Weise greift Liszt die Aufeinanderfolge von Freude und Leid mit musikalischen Mitteln auf, und das ergibt eine die Schlichtheit des lyrischen Textes voll reflektierende und deshalb höchst eingängige melodische Linie.


    Das Klavier begleitet dabei mit aufsteigenden Achteln, die am Ende jeweils in eine Terz münden. Auch der Klaviersatz ist also durchaus schlicht gehalten, und er spiegelt in seiner leicht stockenden, den Schwerpunkt erst am Ende des Taktes erreichenden Bewegung die Rhythmik der Vokallinie.


    Auch in diesem Lied finden sich in der musikalischen Faktur wieder die strukturellen Elemente, die so typisch sind für Liszts kompositorischen Grundansatz. Die anfängliche Schlichtheit wird nämlich nicht durchgehalten. Die Worte „himmelhoch jauchzend“ und „zum Tode betrübt“ wirken wie ein singulärer lyrischer Impuls, der für den Komponsiten das ihnen gemäße musikalische Pendant reklamiert.


    In einem Accelerando erklingen im Klavier zunächst sechs Akkorde ( in Form von zwei Triolengruppen) im Klavier. Dieses macht dann eine Pause, und die Singstimme steigt „himmelhoch“ hinauf zu einem hohen „fis“, um danach, bei den Worten „zum Tode betrübt“ einen regelrechten Oktavfall zu vollziehen. Und diese musikalische Figur wird –man möchte fast sagen: natürlich – noch einmal wiederholt, eben weil sie so eindrucksvoll ist. Allerdings wird das „zum Tode betrübt“ beim zweiten Mal auf einer Sekunde höher deklamiert.


    Danach kehrt die melodische Linie der Singstimme wieder zur Schlichtheit ihres Anfangs zurück, - allerdings nicht ganz. Wieder erklingt der Sextfall des zentralen musikalischen Motivs, dieses Mal aber von einer lebhafteren, im Wechsel von Arpeggien und Akkorden sich entfaltenden Klavierbegleitung getragen.


    Bei der Wiederholung der Worte „glücklich allein“ wird ein Melisma in die melodische Linie eingeflochten, das dem lyrischen Wort eine musikalische Steigerung verleiht. Bei dem Wort „Seele“ ereignet sich dann musikalisch ein veritabler Oktavsprung hinauf zum höchsten Ton des ganzen Liedes. Das nachfolgende „die liebt“ wird, nach einem Fall über eine Septe, in einer sehr ruhigen, langsamen, sich nur um Sekunden aufwärts bewegenden melodischen Linie gesungen.


    Das Klaviernachspiel greift das zentrale musikalische Motiv vom Anfang des Liedes noch einmal auf und lässt es in einem arpeggierten, sehr langen Akkord ausklingen.

  • Lieber Helmut,


    "youtube" ist schon eine Fundgrube. Man entdeckt dort Dinge, die es weder auf CD und DVD zu kaufen gibt. Wer sich das ausgedacht hat - Musik und Noten zum Mitlesen - das finde ich eine großartige Idee. Das gibt es z.B. auch bei Liszts "Totentanz", Musik mit dem "Klaviergott" Arturo Benedetti Michelangeli.


    "Freudvoll und leidvoll" - das finde ich ein sehr reizvolles Objekt. M. Price singt alle drei Fassungen - das wollte ich mir auch noch einmal genauer anhören. Der Unterschied von 1. und 2. Fassung ist doch sehr krass - das Klavier gibt in der 1. geradezu eine "Ouvertüre". In der 2. fällt das alles weg. Zusammen so etwas genauer nachzuhören, es macht Freude. Das ist wie der gemeinsame Besuch im Museum - mit vier Augen sieht man doch mehr! Vielleicht mache ich mich da aber erst morgen daran, denn heute abend habe ich ein gewichtiges Konzertereignis hier in der Oetker-Halle: das "Lied von der Erde"! :)


    Beste Grüße
    Holger

  • Da von Dr. Holger Kaletha hier die erste Fassung des Liedes „Freudvoll und leidvoll“ ins Gespräch gebracht wurde, möchte ich, obgleich ich das ursprünglich nicht vorhatte, nun doch kurz darauf eingehen. Man kann, wenn man sie mit der dritten Fassung vergleicht, wieder einmal sehr schön diesen Prozess der Reduktion der musikalischen Faktur beobachten, der so typisch ist für die innere Entwicklung Liszts als Liedkomponist. Von fast der Hälfte seiner Lieder gibt es mehrere Fassungen. Und das zeigt: Er hat diesen Bereich seiner kompositorischen Tätigkeit durchaus ernst genommen, obwohl die Lieder tatsächlich eine Art „Nebenprodukt“ seines sinfonischen Schaffens und seines Komponierens für Klavier waren.


    Schon das Klaviervorspiel unterscheidet sich von dem der dritten Fassung: Es ist deutlich länger, kompositorisch aufwendiger, und wirkt, weil es die melodische Linie der Singstimme nicht nur vorausnimmt, sondern auch verarbeitet, wie ein eigenes Stück für Klavier.


    Bis zum vierten Vers („In schwebender Pein“) herrscht weitgehende Identität zwischen erster und dritter Fassung. Dann aber setzt das ein, was die Lieder der frühen und mittleren Phase musikalisch prägt: Es wird mit Mittel der musikalischen Expressivität und mit Wiederholungen gearbeitet. Schon das Klavierzwischenspiel vor dem fünften Vers ist deutlich dramatischer angelegt. Bei „himmelhoch jauchzend“ greift die melodische Linie viel weiter aus und verharrt bei dem Wort „jauchzend“ lange in großer Höhe.


    Das „zu Tode betrübt“ wird in tiefer Lage auf fallender melodischer Linie zwei Mal gesungen. Danach erklingt wieder ein längeres Zwischenspiel. Die melodische Linie, die auf dem letzten Vers liegt, unterscheidet sich deutlich von der in der dritten Fassung. Sie ist bogenförmig angelegt, greift in hohe Lagen aus und sie wird wiederholt. Bei der Wiederholung erfolgt sogar noch eine Steigerung: Das Wort „Seele“ wird in noch höherer Lage gesungen.


    Damit aber nicht genug. Liszt gibt sich mit dieser Wiederholung nicht zufrieden, sondern fügt weitere Wiederholungen der Worte „Die Seele, die liebt“ an, wobei er das Mittel der dramatischen Seigerung einsetzt. Als genüge ihm auch das noch nicht, um dem Schlussvers von Goethes Gedicht den angemessenen Nachdruck zu verleihen, setzt er ans Ende des Liedes wie in Form einer Bestätigung ein „Ja“: „Ja, glücklich allein die Seele , die liebt“ lautet der Text auf der das Lied schließenden melodischen Linie. Dem Wort „Seele“ wird – nach Art einer Arie – dabei ein Melisma unterlegt.

  • Demjenigen, der sich auf Liszts Liedwerk ein wenig näher einlässt, drängt sich – wie etwa hier bei dem Lied „Freudvoll und leidvoll“ - eine Frage nahezu unvermeidlich auf: Warum hat er viele seiner Leder einer zum Teil mehrfachen und recht tiefgreifenden Überarbeitung unterzogen?


    Auf diese Frage ist keine Antwort möglich, die hinreichend durch authentisches Quellenmaterial gesichert ist. Liszt hat sich dazu nicht geäußert. Es gibt – ich kenne – diesbezüglich nur eine Äußerung von ihm, die ich oben schon zitiert habe. Sie läuft darauf hinaus, dass ihm seine frühen Lieder später „zu aufgebläht sentimental, und häufig zu vollgepfropft in der Begleitung“ erschienen sind. Das hat er – wie hier schon an mehreren Beispielen gezeigt wurde, später tatsächlich behoben. Was aber war das Motiv?


    Man kann hierzu nur Vermutungen anstellen. Zunächst einmal ist diesbezüglich eine Eigenart von Liszts Liedkomposition zu bedenken: Sie erfolgte oft sehr spontan, aus einem Einfall hervorgehend oder einer Gelegenheit geschuldet. Das konnte dann sehr flott gehen und war deshalb zuweilen später auch „revisionsbedürftig“.


    Zweitens spielt sicher seine sich wandelnde kompositorische Grundhaltung und sein sich veränderndes Verständnis von Musik als Kunstwerk eine Rolle. Die Haltung, die er unter unmittelbarem Einfluss der französischen Romantik entwickelte, machte später einem Kunstverständnis Platz, das ganz wesentlich von dem gewandelten Zeitgeist geprägt war, wie ihn etwa Zola oder Baudelaire dichterisch artikulierten. Darauf möchte ich später noch einmal zurückkommen.


    Hier geht es mir um den dritten Punkt: Liszt scheint im Laufe seines Lebens eine höhere kompositorische Sensibilität für Lyrik entwickelt zu haben.


    Er muss in sich das Gebot gespürt haben, dem lyrischen Text in seiner dichterischen Aussage und seiner spezifischen sprachlichen Struktur musikalisch besser gerecht zu werden. Am Beispiel des Liedes „Freudvoll und leidvoll“ kann man dies sehr schön ablesen (Bei „Der du von dem Himmel bist“ wurde es ja schon aufgezeigt).


    "Freudvoll und leidvoll", dieses Lied, das Klärchen im Dritten Aufzug von Goethes „Egmont“ in der Szene „Klärchens Wohnung“ in Gegenwart ihrer Mutter und im stiller Versunkenheit in ihre Liebe zu Egmont singt, ist sprachlich von unglaublicher Schlichtheit und zugleich hoher poetischer Raffinesse. Es gibt darin nur einen wirklich vollständigen Satz: Die beiden letzten Verse nämlich. Was sich sprachlich davor „abspielt“ ist eine schlichte Reihung von einfachen Adverbial-, und Verbalkonstruktionen und Partizipien: Alles syntaktisch unvollständig, sozusagen ein sprachliche Evokation ganz unmittelbar aus dem Gefühl hervorgehend. So hat Goethe dieses Mädchen dargestellt: Als ein Wesen, bei dem Sprache aus der Unmittelbarkeit des Fühlens und Empfindens kommt und von daher ihre Wahrheit bezieht.


    Liszt muss bei der Überprüfung seiner Erstfassung gespürt haben, dass die musikalische Faktur die auf den letzten vier Versen liegt („Himmelhoch jauchzend…“) dem lyrischen Text nicht nur nicht gerecht wird, sondern sogar die innere Einheit des lyrischen Textes stört. Es handelt sich bei diesem Gedicht ja um einen einzigen, gänzlich ungebrochenen Fluss von eher assoziativ daherkommenden, sprachlich "bruchstückhaften" Äußerungen, der aus einer Quelle, der Seele dieses Mädchens, kommt und erst am Ende in eine syntaktisch ausformulierte Aussage mündet, die wie eine abschließende Feststellung wirkt.


    Also darf die musikalische Faktur, die auf den letzten vier Versen liegt, nicht fundamental von der auf dem ersten Teil des Gedichts abweichen, sondern eher eine Modifikation derselben darstellen. Liszt hat – völlig zu recht – die melodische Linie, die am Anfang des Liedes aufklingt, auch in der letzten Fassung beibehalten: Sie ist ein musikalisches Aufgreifen der lyrischen Vorgabe, wie es besser gar nicht sein könnte: Ein Sextfall auf „Freudvoll“ und ein verminderter Sextfall auf „leidvoll“; anschließend eine aufsteigende, über eine ganz Oktave reichende melodische Linie auf „gedankenvoll“, die am Ende einen kleinen Sekundfall macht, - eben weil es um stilles In-Gedanken-Versunken-Sein geht. Und das alles von Pianissimo-Arpeggien im Klavier getragen. Das ist perfekte Liedkomposition.


    Was in der ersten Fassung dann nachfolgt (es ist im vorigen Beitrag beschrieben), weicht von der schlichten Stille dieser melodischen und musikalischen Faktur immer mehr ab, je mehr es sich fortsetzt. Dieses still vor sich hinsingende Klärchen wird mit einem Mal zu einer Art Operndiva, - etwas übersteigert formuliert. Präziser: Die musikalische Faktur macht in der ersten Fassung aus den letzten vier Versen des Gedichts eine eigenständige musikalische Aussage. Sie verabsolutiert die lyrische Aussage und löst sie aus ihrem ursprünglichen Kontext.


    Genau diesen „kompositorischen Fehlgriff“ hat Liszt dann in der letzten Fassung ausgemerzt. Die melodische Linie, die auf dem „himmelhoch jauchzend“ liegt, wirkt vergleichsweise wie gedämpft: Ein Anstieg im Sekundschritt von dem hohen „d“ hin zum „g“, und dort nur ein Innehalten in Form einer halben Note, mit nachfolgendem Oktavfall hin zu „zum Tode betrübt“. Und die Vokallinie, auf die die Worte „glücklich allein“ gesungen werden, ist in ihrer Struktur der ähnlich, auf die das anfängliche „Freudvoll“ gesungen wird.


    Es ist unübersehbar: Liszt hat mit seiner Überarbeitung ganz bewusst die innere Einheit des Liedes hergestellt, indem er seine musikalische Faktur in wesentlich engeren Einklang mit dem lyrischen Text brachte.

  • Kleine Anmerkung:


    Wie ich schon sagte, - ich werde Fehler machen. Eben habe ich einen entdeckt. Im Beitrag Nr. 93, das Lied "Freudvoll und ledvoll betreffend, schrieb ich: "Von diesem Lied auf ein Gedicht von Goethe („Klärchens Lied“ aus „Egmont“) gibt es drei Fassungen, wobei die erste auf 1844 datiert."


    Das ist falsch. Es gibt, wie ich eben feststelle nur zwei Fassungen (und mir waren ja auch nur zwei bekannt!). Die erste datiert auf 1844, und die zweite wird in Liszts Werkverzeichnis auf 1859 datiert, allerdings mit einem Fragezeichen versehen. Mein Notentext nennt das Jahr 1860.


    (Ich komme mir hier ein wenig wie ein Pionier durch noch unerschlossenes Liedgelände vor, - allerdings wie einer, der durchs Gelände stolpert!)

  • Lieber Helmut,


    es gibt drei unterschiedliche Fassungen (1844, 1848, 1860) - Margeret Price singt sie alle! :) Meine Besprechung s.u.!


    Beste Grüße
    Holger

  • Lieber Helmut,



    „Die musikalische Faktur macht in der ersten Fassung aus
    den letzten vier Versen des Gedichts eine eigenständige musikalische Aussage.
    Sie verabsolutiert die lyrische Aussage und löst sie aus ihrem ursprünglichen
    Kontext.


    Genau diesen „kompositorischen Fehlgriff“ hat Liszt dann in der letzten Fassung
    ausgemerzt.“



    Vielleicht ist es doch hilfreich, wenn ich hier einmal meinen „Ansatz“ erläutere, wie ich mit solchen „Fehlgriffen“ umgehe. Die Liedvertonung ist durchaus vergleichbar mit einer Buchillustration. Beispiel:
    Der Danziger Kupferstecher Daniel Chodowietzki (1726-1801), den Goethe sehr schätzte, illustrierte den „Werther“. Er stellt Werthers Tod als mystischen Augenblick der Ruhe im pietistischen Verständnis dar: Werther liegt friedlich im Bett, umringt von den Trauernden. Andere Illustratoren zeigen ihn blutüberströmt, die Pistole in der Hand, auf dem Boden hingestreckt. Da wird also der Tod Werthers verschieden „ausgemalt“, „veranschaulicht“ durch die Phantasie. Ähnliches macht eine Liedvertonung: Wer ist der „Wanderer“ eigentlich in „Wanderers Nachtlied“? Darüber wird gar nichts Konkretes gesagt!
    Was sind die „himmlischen Mächte“ im Lied des Harfners, ein dunkles, menschenfeindliches Schicksal (Schumann), das Göttlich-Erhabene (Schubert, Liszt)? Solche Veranschaulichungen durch eine produktive Phantasietätigkeit nennt Roman Ingarden, der Ästhetiker unter den Phänomenologen, „Konkretisationen“. Dort, wo der vorgegebene Sinn „unbestimmt“, „lückenhaft“ und quasi „abstrakt“ ist, füllen sie gewissermaßen die Lücken, stellen durch Veranschaulichung Konkretion her. Das geschieht bei jeder Rezeption quasi unwillkürlich.


    Bei der Liedvertonung gibt es nun das Problem mit der Tradition der musikalischen Rhetorik: Sie sieht die Musik in einer
    ausschließlich „dienenden“ Rolle gegenüber dem Text: ihre Aufgabe ist die Sinnverdeutlichung und Affektverstärkung. Das ist eine „Norm“, der sich auch die Komponisten immer wieder unterstellen. Evident scheint aber doch – gerade bei der romantischen Liedvertonung – dass die Musik über diese dienende Funktion schon längst hinausgegangen ist. Insofern ist Liszts Selbstkritik durchaus zu hinterfragen: Ist das etwa nur das schlechte Gewissen der Tradition, die konservative „Norm“ rhetorischer Sprachdeutlichkeit missachtet zu haben? „Konkretisationen“ haben immer den Sinn der Sinnerweiterung. D.h. sie bilden eine eigenständige Sinnschicht, die über die bloße Reproduktion der Textbedeutung hinausgeht. Wenn man so an die Liedvertonung herangeht, dann stellt sich die Frage nicht primär so: Wie „wörtlich“ hält sich die Vertonung an den Text? – sondern: Wie, in welcher Hinsicht erweitert sie den Sinn, gibt dem Text eine zusätzliche Sinnschicht? Das kann nun auf sehr unterschiedliche Weise geschehen, etwa dadurch, dass die Musik andere Akzente setzt als der Text. Das Problem bei der rhetorischen, normativen Betrachtung ist, dass sie immer davon ausgeht, dass der Textsinn eindeutig bestimmt ist (gleichsam schon „alles gesagt“ ist) und für die Musik dann nur die Rolle der quasi wörtlichen Wiederholung der Textbedeutung übrigbleibt, sie lediglich noch „wirksamer“ hervorzuheben für die Verständigung und Mitteilung. Die „Konkretisation“ bezieht sich aber gerade auf eine nicht festgelegte Bedeutung (es ist eben nicht „alles gesagt“), der einen „Spielraum“ gibt für unterschiedliche produktive „Ausmalungen“. Auch diese ist freilich nicht „beliebig“ – die Sinnerweiterung darf den Textsinn nicht einfach zerstören, wohl aber etwas „hinzugeben“, was ihn neu und anders beleuchtet. Den Textsinn „missachten“, wenn man dieses Wort benutzen will, ist also doppeldeutig: Sich über ihn einfach „hinwegsetzen“ oder aber ihn mehr oder weniger bewusst weiter „ausdeuten“ im Sinne einer konkretisierenden Sinnerweiterung.


    Ich werde also in diesem Sinne versuchen, die verschiedenen Fassungen von „Freudvoll und leidvoll“ erst einmal positiv zu verstehen als „Konkretisationen“ des Textsinnes durch die Musik. Also: Wie wird die Textbedeutung hier reflektiert, welche Sinnschicht kommt hinzu?


    Freudvoll


    Und leidvoll,


    Gedankenvoll sein,


    Langen und bangen


    In schwebender Pein,


    Himmelhoch jauchzend,


    Zum Tode betrübt,


    Glücklich allein


    Ist die Seele, die liebt.

    Zu bemerken ist erst einmal die größere Verwandtschaft der
    ersten mit der dritten Fassung: die beherrschenden Dur-Moll-Wechsel von
    „Freudvoll und leidvoll“. Allerdings ist die frühe Fassung melodisch
    „flüssiger“, ariöser im Stil. Was könnte Liszt zu seinen Revisionen bewogen
    haben? Bei der Erstfassung fällt eine „Schwäche“ auf – die fehlende ästhetische
    Einheit. Man versteht das naive Glück am Schluss nicht so recht, wo doch die
    Ambivalenz zuvor so stark betont wird, sehr opernhaft dramatisch, das
    Hin-und-her-Gerissensein zwischen den Extremen („himmelhoch jauchzend, zum Tode
    betrübt“). Wieso kann eine solche Liebe eigentlich noch eine glückliche Liebe
    genannt werden? Die Vertonung erinnert im Ton mehr an das Petrarca-Sonnett
    „Pace non trovo“, was die heillose
    Verwirrung und Zerrissenheit der Liebe zeigt. Diese „Frage“, wie die seelische
    Aufgewühltheit von „Freudvoll und leidvoll“ naives Glück bedeuten kann,
    beantwortet die frühe Vertonung letztlich nicht schlüssig. Der Text selbst gibt
    darüber keine Auskunft – und braucht es auch nicht. Hier zeigt sich allerdings
    die Notwendigkeit einer sinnerweiternden „Konkretisation“ insbesondere in der
    Vertonung, denn der Leser des Gedichtes versucht und muss es versuchen, diese
    Frage zu beantworten, damit ihm der Sinn nicht widersprüchlich erscheint. So
    entsteht das Paradox: Gerade weil Liszt hier „naiv“ die Worte allzu wörtlich
    nimmt, am jeweiligen Bedeutungsgehalt gewissermaßen „klebt“ und nicht darüber
    hinaus geht, das Liebesglück in den letzten Zeilen ebenso rhetorisch effektvoll
    ausmalt, wie er vorher die Gegensätze dramatisch gesteigert hat, wird der Bruch
    um so deutlicher, zum offenen Widerspruch. Insofern rächt sich Liszts
    opernhafte „Dramatisierung“ von Goethes schlichten Worten – welche man einer
    Vertonung zwar im Prinzip nicht verbieten kann. Allerdings: Die hier von der
    literarischen Vorlage „ausgesparte“ Aussage: Warum ist diese „schwebende Pein“
    überhaupt als ein Zustand von Glück zu benennen? – wird so nicht beantwortet,
    sondern im Gegenteil zur musikdramatischen Aporie.


    Auf diese offene Frage gibt nun die Zweitfassung eine
    Antwort, indem das Klavier die Rolle übernimmt, eine einheitliche Grundstimmung
    herzustellen: eine ruhelose, „umtriebige“ Bewegung, die alles durchzieht. Die
    Ambivalenzen treten entsprechend in den Hintergrund. Die „Sinnerweiterung“ wird
    deutlich in der Wiederholung der Schlusszeilen „Glücklich allein/ Ist die
    Seele, die liebt.“ Dieses Resumé des Ganzen, welches in der Wortdichtung am
    Schluss gezogen wird, begreift die Vertonung nicht nur als die zentrale
    Aussage, welche durch die Wiederholung bekräftigt wird, sondern wird nun vom
    Ende an den Anfang gesetzt und so zum „geheimen“, alles verbindenden Band. Das
    Liebesglück fungiert somit musikalisch als die gleichsam
    harmonisch-vereinheitlichende Stimmung, welche durch alle Gegensätze, Höhen und
    Tiefen, hindurchscheint, veranschaulicht durch die Harmonisierung der Melodie
    durch das Klavier. Das Klavier beginnt Solo, stimmt durch seinen Ausdruck von
    innerer Bewegtheit den Hörer in diese Stimmung gleichsam ein. Bei diesem
    freilich nicht ruhig-idyllischen, sondern unruhigen Liebesglück denkt man
    unwillkürlich an das eines Don Juan oder Casanova, seine Umtriebigkeit nach
    immer neuen Liebesabenteuern (was zum Liebhaber Liszt sehr gut passt!), der
    „Liebesfreud und Liebesleid“ einerseits spielerisch hinnimmt (das Liebesglück
    kommt und geht, man kann es nicht festhalten), aber gleichwohl in dem Genuss
    die Unruhe, die Unerfülltheit, niemals los wird. Dass die Ambivalenzen von
    Freude und Leid hier „leicht“ genommen werden im Sinne eines flüchtigen
    Abenteuers, von hedonistischer Leichtlebigkeit, zeigt sich musikalisch in der
    sehr „unrhetorischen“, wenig sprechenden Phrasierung. Liszt hat mit dieser
    zweiten Fassung also das ungelöste Problem der Einheit aus der ersten gelöst:
    Es geht nicht um „Sinnverdeutlichung“ im Einzelnen, die Orientierung am
    Wortlaut, sondern darum, alles in eine einheitliche Stimmung zu tauchen. Der
    Textsinn wird hier erweitert und nicht zerstört, indem das Resumé, dass allein
    die Liebe „Glück“ bedeutet, von der Musik ausgedeutet wird im Sinne des
    Ausdrucks einer bestimmten Lebenseinstellung, des Don-Juanismus.


    Die letzte Vertonung bedeutet dagegen einen radikalen Schnitt:
    Hat die zweite Vertonung etwas von der Flüchtigkeit eines bitter-süßen, aber
    zugleich doch heiteren Sommernachtsraums, so ist dieses leichtsinnige Spiel nun
    schon mit der ersten Note aus: Aus der Ambivalenz wird bitterer Ernst. Dafür
    sorgt nicht zuletzt die „Trockenheit“, die Reduktion des Melodischen auf die
    bis zur Drastik gesteigerten Prägnanz einer „Sprechmelodie“. Der
    Dur-Moll-Wechsel wie auch die Abfall aus der Höhe in die Tiefe wird zum
    elementaren Ereignis. Dass das Klavier hier zurücktritt, hat seinen Grund nicht
    zuletzt darin, dass an die Stelle des Ausdrucks einer Stimmung des Ganzen die
    sich an das einzelne Wort haltende rhetorisch-sprechende Phrasierung tritt,
    welche der Charakterisierung und Typisierung dient. Aber wie gelingt Liszt hier
    – ohne eine alles harmonisierende „Stimmung“ durch das Klavier zu beschwören –
    die Herstellung der Einheit? Bemerkenswert ist die Wiederholung der Zeilen:


    Himmelhoch jauchzend,


    Zum Tode betrübt,


    Das Liebesleid, nicht das Glück, wird in dieser letzten Fassung zur
    alles beherrschenden Aussage. Und diese Umakzentuierung zeigt sich schließlich
    in der Vertonung der Schlusszeilen, vor allem der ersten: „Glücklich allein“
    wird zum Nachklang von „Freudvoll und leidvoll“ – das heißt das Glück selbst
    stellt sich nun als ambivalentes, vom Wechsel von Freude und Leid beherrschtes,
    heraus. Auch das ist eine Sinnerweiterung, die über den Text, den bloßen
    Wortsinn, hinausgeht. Aber sie dient dazu, mit Blick auf das Ganze des
    Gedichtes die Einheit des Sinnes herzustellen: Durch die Vertonung versteht
    man, warum Liebeslust und Liebesleid,
    das „Himmelhoch jauchzend und zum Tode betrübt“, Liebesglück bedeuten kann.


    Beste Grüße
    Holger




  • Verehrte Freunde,


    Christian Gerhaher beleuchtet das hier von Helmut und Holger entwickelte Thema nochmals auf andere Weise, indem er, seit etwa Schumann, auf den Aspekt der musikalischen Vervieldeutigung und Polyvalenz als kompositorische Intention hinweist. Sein Beitrag befaßt sich besonders mit Mahlers Wunderhorn-Liedern in ihrem Verhältnis zur Tradition.


    http://www.youtube.com/watch?v=Q3_io8idWEQ


    :hello:

    Zerging in Dunst das heilge römsche Reich


    - uns bliebe gleich die heilge deutsche Kunst!

  • Banner Trailer 2 Gelbe Rose
  • Danke, lieber farinelli, für diesen You-Tube-Tip. Was man da hören kann, ist, was Mahlers Lieder anbelangt, sicher für viele eine Bereicherung.


    Ich bin jetzt in großer Verlegenheit, denn ich sehe mich in der Versuchung, auf den einschlägigen Thread hinzuweisen, in dem vieles über das Verhältnis von Sprache und Musik bei Mahler und u.a. auch etwas über den "Tamboursg`sell" zu lesen ist, auf den Gerhaher eingeht. (Darf man einen solchen Hinweis geben?)


    Eines darf ich nun aber wirklich anmerken, weil es aus sachlichen Gründen geboten ist:


    Wenn Gerhaher sagt, das Orchesterlied sei der "Feind des Klavierliedes", so ist das in dieser Formulierung unzutreffend. Das Orchesterlied ist - und das kann man im Thread "Sprache und Musik im Lied" nachlesen, der Endpunkt in einem Prozess, den ich dort die "Musikalisierung des Liedes" genannt habe. Es ist also - musikgeschichtlich gesehen - der logische Endpunkt in der Entwicklung des Klavierliedes, - und nicht sein"Feind".


    Was diesen Thread nun anbelangt, so ist Franz Liszt ein - historisch gesehen - wichtiges Stadium in eben diesem Prozess, der am Ende ins Orchesterlied mündet.
    Die Tatsache, dass eine ganze Reihe seiner Klavierlieder von ihm selbst orchestriert wurden, sagt gerade genug. Aber auch die ganz spezifische Faktur seiner Klavierlieder zeigt, wie schon nachgewiesen wurde, eben dieses Phänomen der "Musikalisierung".


    Eine persönliche Notiz möchte ich mir gleichwohl erlauben. Ich setze sie in Klammer, weil ich mir nicht so ganz sicher bin, dass sie sich gehört:


    (Beim Hören dessen, was Gerhaher in You Tube zum Kunstlied sagt, stellte sich bei mir eine seltsame Müdigkeit ein. Dahinter saß der Gedanke:


    Ist hier im Forum doch alles längst gesagt, - und noch vieles mehr! - Aber wozu das alles?)

  • A propos You Tube: Die Zeitgenossen, die eben mal locker auf You Tube klicken können, haben es natürlich leichter als die, die sich mühsam durch Liszts Werkverzeichnis wühlen müssen. Will sagen:


    Dr. Holger Kaletha hat natürlich völlig recht:Es gibt tatsächlich doch eine dritte Fassung des Liedes "Freudvoll und leidvoll", - so wie ich anfänglich ja auch schrieb. Sie stammt, wie ich jetzt - eben beim Suchen in Liszts Werkverzeichnis feststellte - aus dem Jahre 1848. Genauer: Damals wurde sie veröffentlicht. Man vermutet, dass Liszt sie auch in diesem Jahr komponiert hat, kann es aber nicht genau nachweisen.

  • Lieber farinelli, lieber Helmut,


    wirklich hörenswert, was Gerhaher ausführt, jemand der nachdenkt über das was er tut, so etwas wünscht man sich doch! :) Polyvalenz, die auf das Orchester übergeht, da spielt Wagner eine wohl entscheidende Rolle: das Orchester entdeckt die Unendlichkeit, die das Wort allein nicht aussprechen kann. Mahler selbst vertonte Schuberts Streichquartette für Orchester - da finde ich auch, daß es eine Parallele zur Entwicklung des Klavierlieds zum Orchesterlied gibt, eine Tendenz zur Entprivatisierung. Insofern fand ich den Hinweis von Gerhaher doch treffend.


    Beste Grüße
    Holger

  • Noch einmal zu Christian Gerhahers Äußerungen:


    "Hörenswert", - ja. Zu begrüßen, dass ein Sänger sein Tun reflektiert, - durchaus. Eine wirklich in die Tiefe des Liedes von Gustav Mahler vordringende Äußerung, - keineswegs. Ich möchte noch einmal darauf hinweisen, dass eine Feststellung wie die: "Das Orchsterlied ist die nicht gewollte Perversion des Klavierliedes" ganz einfach unzutreffend ist. Das Klavierlied durchläuft einen Entwicklungsprozess, bei dem das Klavier mehr und mehr die Rolle eines gleichsam orchestralen Begleiters der Singstimme wird. Es ist dann nicht mehr, wie bei Schubert oder Schumann, ein "Mitspieler der Singstimme", - diese akzentuierend, interpretierend, ergänzend oder "konterkarierend" - es wird mehr und mehr zum eigentlichen Träger der musikalischen Aussage. Eben weil einem Komponisten wie Johannes Brahms, Hugo Wolf oder - hier wichtig - Franz Liszt die melodische Linie der Singstimme nicht mehr ausreichte, um das zum Ausdruck zu bringen, was aus einem Lied herausgelesen wurde, wird zunehmend das Klavier in den Vordergrund des Liedes gerückt.


    Das Klavier wird zum Medium gesteigerter, auf die emotionalen Dimensionen der kompositorischen Aussage gerichteter musikalischer Expressivität. Die melodische Linie der Singstimme läuft am Ende dieser Entwicklung, die man als "Musikalisierung des Kunstliedes" bezeichnet, nur noch als eigenständiger Bestandteil des Liedes neben dem Klaviersatz her oder wird gar zum Bestandteil desselben. Damit ist das Ende dessen gekommen, was das Wesen des "polyrhythmischen Liedes" ausmacht: Das Ineinandergreifen von Singstimme und Klavier im Sinne eines gleichsam musikalischen Diskurses. Das Orchesterlied ist die musikalisch-logische Folge dieses Prozesses.


    Was unser Thema hier betrifft, so ist diese Musikalisierung des Kunstliedes bei Liszt in vollem Umfang erreicht. Das wurde an mehreren Beispielen gezeigt, etwa bei den ersten Fassungen von "Der du von dem Himmel bist" oder bei "Mignons Lied". Dass Liszt einen beachtlichen Teil seiner Klavierlieder in Orchesterlieder umwandelte, lag in der Logik dieser Musikalisierung. Man kann diesen Prozess aber auch an der "Tre sonetti di Petrarca" sehr schön beobachten. Sie wurden zunächst als Klavierlieder komponiert, schon kurz danach aber (das erste Stück schon 1847) zu reinen Klavierstücken umgewandelt und zum Bestandteil der "Années de pèlerinage".


    Es soll hier nicht im einzelnen auf diese Stücke eingegangen werden. Nur so viel ist im Zusammenhang mit dem zur Musikalisierung des Kunstliedes Gesagten wichtig: Schon wenn man die Lieder hört, wird deutlich, dass das Klavier das Medium für das ist, was Liszt kompositorisch sagen will. Man muss dazu gar nicht in die Noten gehen, wo einem dieser Sachverhalt regelrecht in die Augen springt. Allein die aufwendigen, mit allen Mitteln der musikalischen Expressivität arbeitenden Klaviereinleitungen machen das deutlich. Beim Lied "Pace non trovo" zum Beispiel setzt die Singstimme erst ein, nachdem das Klavier mit übermäßigen Akkorden lebhaft präludiert hat und danach in einer Art einstimmmendes und einleitendes Rezitativ übergegangen ist. Die Singstimme ist hier tatsächlich nur Bestandteil des Klaviersatzes und wird prompt in der Fassung für Klavier von diesem übernommen. Interessant übrigens - und durchaus hierher gehörend - ist, dass an mehrere Stellen dieser Lieder zu hören ist, dass Liszt das Melos nicht ganz dem Wortrhythmus anpassen konnte. Die Musik ist ihm buchstäblich "davongelaufen", - eben weil er primär musikalisch dachte.

  • Diana Damrau in ihrer kürzlich erschienenen Liszt-CD (mit Helmut Deutsch) singt übrigens die seltener aufgeführte 2. Fassung wie auch die 3. Fassung von "Freudvoll und leidvoll".


    Ich glaube, Gerhaher hat seine Äußerung ein bisschen "zugespitzt". Er würde, lieber Helmut, Dir glaube ich durchaus zustimmen. Nicht umsonst schreibt Schumann "Symphonische Etüden" für Klavier, die Klavierbegleitung nimmt symphonische Züge an und entsprechend kann sie dann durch das Orchester "ersetzt" werden. Bei den Petrarca-Sonnetten würde ich ergänzen, dass da etwas Ähnliches passiert wie bei den Klavierkonzerten, wo das Klavier in das Orchester als Solist unter Solisten integriert wird. So wie die Singstimme zum "Teil" des Klavierparts wird, gilt das auch umgekehrt: Das Klavier wird zur Singstimme, übernimmt Funktionen des Gesangs. Sie benehmen sich so, als wären sie Instrumente eines imaginären Orchesters, spielen also "für" das andere Instrument.


    Beste Grüße
    Holger

  • Die Aufnahme mit Liszt-Liedern von Diana Damrau kenne ich noch nicht, lieber Holger, werde sie mir aber umgehend zulegen. Das Problem bei meiner "Arbeit" an dem Liedwerk Liszts - nein: die Strichelchen müssen weg, es ist wirklich Arbeit! - besteht darin, dass ich nicht von allen Fassungen Aufnahmen habe, weil die Interpreten in der Regel sich die Fassung aussuchen, die sie besonders anspricht. Also bin ich auf Noten angewiesen, und da klingts im Kopf bei mir halt nicht so, wie es eigentlich sollte.


    Wenn Du sagst: "Ich glaube, Gerhaher hat seine Äußerung ein bisschen "zugespitzt". . ..so hast du sicher recht. Er hat bei dem von mir gebrachten Zitat ("Perversion des Klavierliedes") ja auch in wenig gezögert. Das schien mir so eine Augenblickseingebung zu sein, und man sollte sie nicht auf die Goldwaage legen.


    Dennoch, ich beschäftige mich mit der Entwicklung des Klavierliedes schon lange ziemlich intensiv, und vieles von dem, was mir diesbezüglich bewusst geworden ist, steht ja auch hier im Liedforum. Was den Prozess der "Musikalisierung" anbelangt, so bin ich darauf ausführlich im Thread "Sprache und Musik im Lied" eingegangen. Man kann diese Entwicklung im Verhältnis zwischen Singstimme und Klavier ziemlich genau nachweisen und konkretsieren. Das ist kein Hirngespinst von mir, sondern in der einschlägigen Fachliteratur genau untersucht und reflektiert worden. Von dort habe ich ja auch den Begriff "Musikalisierung" übernommen. Er ist nicht auf meinem Mist gewachsen, wohl aber sind das die zugehörigen Liedbesprechungen.

  • Lieber Helmut,


    da verfügst Du über das bewundernswerte Vorstellungsvermögen eines Sängers! Zur CD von Diana Damrau gibt es auch ein Video, hier zu sehen (Film mit Ausschnitten plus die kompletten Lieder!):


    http://www.jpc.de/jpcng/classi…-1886-Lieder/hnum/9773078


    Beste Grüße
    Holger

    Die Aufnahme mit Liszt-Liedern von Diana Damrau kenne ich noch nicht, lieber Holger, werde sie mir aber umgehend zulegen. Das Problem bei meiner "Arbeit" an dem Liedwerk Liszts - nein: die Strichelchen müssen weg, es ist wirklich Arbeit! - besteht darin, dass ich nicht von allen Fassungen Aufnahmen habe, weil die Interpreten in der Regel sich die Fassung aussuchen, die sie besonders anspricht. Also bin ich auf Noten angewiesen, und da klingts im Kopf bei mir halt nicht so, wie es eigentlich sollte.

  • Von dem "Vorstellungsvermögen eines Sängers" bin ich leider himmelweit entfernt, lieber Holger. Mein Notenlesen gleicht dem eines Grundschülers, der noch Wort für Wort entziffern muss und Mühe hat, das Ganze in einen Sinnzusammenhang zu bringen. Aber vielen Dank für diesen Internet-Hinweis!

  • Dieses Gedicht ist u.a. auch von Reichardt, Beethoven und Schubert vertont. Ich habe, wieder einmal, vergleichend gehört, allerdings wiederum nur, um die Eigenart von Liszts Kompositionsstil besser erfassen zu können. Dieser Vergleich geht, was Schubert anbelangt, durchaus nicht zu ungunsten von Liszt aus. Im Gegenteil. Mir scheint, dass er die seelische Verfassung Klärchens musikalisch sogar besser ausgeleuchtet hat, als dies Schubert gelungen ist. Der Subjektivität meines Urteils bin ich mir dabei natürlich bewusst.


    Schubert geht kompositorisch – wie das bei ihm die Regel ist – in enger Anbindung an den lyrischen Text vor. Auf den ersten drei Versen liegt eine Melodiezeile, die bogenförmig und liedhaft schlicht angelegt ist. Auf den lyrisch maßgeblichen Worten liegt ein melodischer Akzent in Form des jeweils höchsten Tones der melodischen Bewegung, wobei die Art und Weise, wie das Wort „bangen“ melodisch herausgehoben ist, überaus eindrucksvoll wirkt. Triolen im Klavierdiskant begleiten dies alles. Danach erklingen Arpeggien.


    Die nächsten Verse weisen eine melodische Linie auf, die in der Struktur zwar ähnlich angelegt, jedoch harmonisch modifiziert ist. Bei „Himmelhoch jauchzend“ steigt die Vokallinie, syllabisch exakt deklamiert, zu großer Höhe auf, um danach wieder abzufallen und mit einem Melisma bei dem Wort „betrübt“ kurz zu verharren.


    Die beiden Schlussverse wiederholt Schubert, wobei bei der Wiederholung die melodische Linie fast arienhafte Züge annimmt. Ein emphatisch strahlender Ton prägt sie, und er ist ganz offensichtlich von dem lyrisch zentralen Wort „glücklich“ inspiriert.


    Im Vergleich dazu wirkt Liszts Lied (in seiner letzten Fassung) still, verinnerlicht, ganz aus der Seele dieses Mädchens kommend. Es fehlt jegliches arienhafte Pathos. Überaus schlicht das melodisch abfallende Intervall auf den Versen „Freudvoll und leidvoll“, mit seiner harmonischen Verminderung auf dem dritten Wort. Nur eine einzige, harmonisch und dynamisch exponierte Stelle gibt es in diesem Lied: Bei „himmelhoch jauchzend“ nämlich. Zweimal klingen die triolischen Achtelakkorde im Klavier hell auf, und die Vokallinie geht im Forte hinauf zu hohen „fis“. Aber schon bei dem Wort „schon“ fällt sie mit einem Oktavsprung abwärts ins Piano.


    Das ist – im Vergleich mit Schubert – eine starke Zurücknahme der musikalischen Expressivität an einer Stelle des lyrischen Textes, die die eine von Pathos geprägte melodische Linie ja durchaus nahelegt. Liszt hat sich wohl hier sehr stark von einer „Gesamtsicht“ dieser literarischen Gestalt leiten lassen, wie sie ihm aus Goethes „Egmont“ bekannt gewesen sein dürfte und wie sie sich in diesem Gedicht lyrisch artikuliert. Er liest das Gedicht als Ausdruck einer Introversion, eines In-sich-Hineinsinnens. Eine allzu starke, von der großen melodischen Geste geprägte musikalische Expressivität verbietet sich ihm von daher.

  • Im Vergleich dazu wirkt Liszts Lied (in seiner letzten Fassung) still, verinnerlicht, ganz aus der Seele dieses Mädchens kommend. Es fehlt jegliches arienhafte Pathos. Überaus schlicht das melodisch abfallende Intervall auf den Versen „Freudvoll und leidvoll“, mit seiner harmonischen Verminderung auf dem dritten Wort. Nur eine einzige, harmonisch und dynamisch exponierte Stelle gibt es in diesem Lied: Bei „himmelhoch jauchzend“ nämlich. Zweimal klingen die triolischen Achtelakkorde im Klavier hell auf, und die Vokallinie geht im Forte hinauf zu hohen „fis“. Aber schon bei dem Wort „schon“ fällt sie mit einem Oktavsprung abwärts ins Piano.


    Das ist – im Vergleich mit Schubert – eine starke Zurücknahme der musikalischen Expressivität an einer Stelle des lyrischen Textes, die die eine von Pathos geprägte melodische Linie ja durchaus nahelegt. Liszt hat sich wohl hier sehr stark von einer „Gesamtsicht“ dieser literarischen Gestalt leiten lassen, wie sie ihm aus Goethes „Egmont“ bekannt gewesen sein dürfte und wie sie sich in diesem Gedicht lyrisch artikuliert. Er liest das Gedicht als Ausdruck einer Introversion, eines In-sich-Hineinsinnens. Eine allzu starke, von der großen melodischen Geste geprägte musikalische Expressivität verbietet sich ihm von daher.

    Lieber Helmut,


    das ist wirklich eine großartige Idee von Dir, diese Gegenüberstellung der Vertonungen! Das verführt sogleich zum Nachhören! Bei Schubert fällt mit spontan auf - sich an einen solchen ersten Eindruck zu halten, ist ja oft nicht verkehrt! - dass die Vertonung einerseits sehr emphatisch ist, eine dynamische Steigerung auf das Ende hin, so eine Art emotionale Teleologie, die auf das "Glück" zielt. Andererseits denke ich mir: Da ist noch viel "klassischer Geist" drin, nämlich das Bemühen um "Ethos", die Einheit des Charakters. Was Schubert macht - er schattiert bei "himmelhoch-jauchzend" und "zum Tode betrübt", aber dieser glücklich-emphatische Ton hält sich doch durch. Bei Liszt dagegen gibt es wirklich Ambivalenz, so etwas wie innere Zerrissenheit (die Einheit des Charakters zerfällt!) und - in der dritten Fassung - Nachdenklichkeit, so empfinde ich das auch! Bei Schubert dagegen wird mehr "gefühlt" als "gedacht", Liszts "Gefühl" geht in der 3. Fassung mehr in Richtung des Dokumentarischen. Besonders die 3. Fassung von Liszt ist mir persönlich auch am nahesten, obwohl mir Schuberts Vertonung wirklich sehr gefällt, muß ich sagen! Wie er das macht, ist einfach vollkommen stimmig, ein wunderbares Schubert-Lied! :)


    Beste Grüße
    Holger

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  • Das ist ein wichtiger Aspekt, den Du da in die Diskussion einbringst, lieber Holger. Ich meine Deine Erwägung, dass in Schuberts Lied sehr viel "klassischer Geist" stecke.


    Ich sehe das genauso. Schubert schrieb dieses Lied am 3. Juni 1815. Man weiß nicht, ob er Beethovens Vertonung dieses Goethe-Textes kannte, mir scheint es aber sehr wahrscheinlich, denn es lassen sich, besonders was die kompositorische Grundhaltung anbelangt,aus meiner Sicht gewisse Anklänge an Beethoven heraushören, insbesondere was den Schluss des Liedes anbelangt.


    Schuberts Lied folgt in seiner musikalischen Faktur durchweg der sprachlichen Gestalt des lyrischen Textes, setzt diesen sozusagen Versgruppe für Versgruppe in Musik um und muss dann, ganz in der Logik dieses kompositorischen Ansatzes, bei den letzten Versen zu einer emphatischen Steigerung kommen.


    Liszt hingegen ist - von Anfang an - der musikalische "Einfühler". Er versetzt sich einfühlend in diese literarische Gestalt und setzt das, was aus dieser "Einfühlung" bei ihm sich einstellt, in Musik um. Ganz bezeichnend für ihn ist, dass er dabei in den ersten Fassungen gleichsam über die Stränge schlägt.


    Das ist die Gefahr, die einer solchen kompositorischen Grundhaltung sozusagen a priori innewohnt. Deshalb das immer wieder neue Bemühen, die subjektive Rezeption des literarischen Textes kompositorisch in Einklang zu bringen mit dessen genuiner sprachlichen Struktur und dichterischen Aussage.


    Bei Liszt war dieses Ringen um eine Einheit von Subjektivität und Verantwortung dem lyrischen Text gegenüber ein lebenslanger Prozess.


  • Schuberts Lied folgt in seiner musikalischen Faktur durchweg der sprachlichen Gestalt des lyrischen Textes, setzt diesen sozusagen Versgruppe für Versgruppe in Musik um und muss dann, ganz in der Logik dieses kompositorischen Ansatzes, bei den letzten Versen zu einer emphatischen Steigerung kommen.

    Lieber Helmut,


    Schubert denkt in Antithesen, wobei er zunächst eine Emphase thematisch setzt und ihr dann ein retardierendes Moment gegenüberstellt, was als solches dann natürlich "schwächer" ist, an Eigenwert verliert und nur die Emphase weiter steigert . Dabei verschwindet vor allem die Ambivalenz: "Freudvoll und leidvoll" - eigentlich ist das ein antithetisches "Freudvoll oder leidvoll" - bei Schubert bekräftigt dann das "leidvoll" emphatisch die Freude - "und" ist kein "oder". Auf diese Weise hat immer die Zeile mit der positiven Befindlichkeit das "Übergewicht", die Dominanz der "positiven" Befindlichkeit wird gar nicht angegriffen, so daß dann die etwas opernhafte Apotheose am Schluß die logische Folge ist. "Pein" und "Betrübnis" sind - um in der Sprache eines Sonatensatzes zu sprechen, bloße "Seiten"- und "Neben"-Themen zum Hauptthema Freude, Jauchzen und Glück. Das ist natürlich auch eine Art der "Einfühlung", die zu dieser musikalischen Gewichtung führt, die allein durch die Gedichtform gar nicht so recht begründbar ist: Das sind sprachliche Antithesen, aber ohne erkennbare Verlagerung des Gewichts auf eine Seite. Das meinte ich mit "klassisch": Schuberts Vertonung sucht nach Identität auch in der Polarität (sprich: Wahrung eines "Ethos", von "Einstimmigkeit" und "Eindeutigkeit") und läßt entsprechend die Ambivalenz nicht gelten, das Zwiespältigwerden dieses Glücks. Insofern ist diese Vertonung natürlich das Gegenstück zu Liszt, für dessen Einfühlung die Ambivalenz das herrschende Thema ist.


    Beste Grüße
    Holger

  • Mit Ausnahme von „Es war ein König in Thule“ sind alle Lieder auf Gedichte von Goethe hier besprochen worden. Es ist also an der Zeit, eine Art Zwischenbilanz zu ziehen. Mit zwei Thesen habe ich mich dabei auseinanderzusetzen. Ich führe sie zunächst einmal hintereinander an:


    1. Fischer-Dieskau meint: Bei Heine und Goethe bleibe Liszt „mehr im Ornamentalen und ist lange nicht so nahe an die Dichter herangekommen wie andere Komponisten seiner Zeit.“
    2. Der Musikologe Wolfram Huschke stellt seine Betrachtung von Liszts Goethe-Lieder unter die – durchaus recht allgemein vertretene, von ihm aber kritisch reflektierte – Maxime: „Dabei repräsentieren Schubert-Lieder das So-, Liszts Lieder das Anders-Sein: Schubert con Goethe, Liszt contra Goethe.“ (in: Liszt und die Weimarer Klassik, 1997).


    Liszt hat sich, das ist zunächst einmal festzuhalten, sehr gründlich mit Goethes literarischem Werk auseinandergesetzt. Insbesondere natürlich in seiner Weimarer Zeit, als er seine sinfonische Dichtung „Tasso“ und seine „Faust-Sinfonie“ komponierte und dem Erbgroßherzog sogar das Konzept einer „Goethe-Stiftung“ präsentierte (aus dem freilich nichts wurde). Lina Ramann notierte für das Jahr 1876: „Viel wurde von Goethe gesprochen, Sentenzen von ihm citirt und witzig, mit viel Geist, discutirt.“

    Nun ist allerdings von großer Bedeutung, dass Liszts Goethe-Rezeption auf der Grundlage jener „Prägung“ erfolgte, die er in seiner Begegnung mit der französischen Romantik erfuhr. Die Begegnung mit der französischen Musik und Literatur während seiner Pariser Jahre, der Zeit also zwischen 1823 und 1835, wurden richtungweisend für seine Grundhaltung als Künstler und Komponist. Einer seiner Biographen (Christoph Rueger) meint: „Liszt ist typischer Pariser der 30er Jahre, im innersten Wesen ein Vertreter der französischen Romantik – eine der Ursachen für die zunehmende Vereinsamung im Alter.“

    Nun meine ich nicht, dass ein derart „französisch-romantisch“ geprägter Komponist nicht in der Lage wäre, den „deutschen Klassiker“ Goethe nicht wirklich zu verstehen. Das ist natürlich ein völlig unsinniger Gedanke. Wohl aber kann man nachweisen, dass sein Goethe-Verständnis von daher eine spezifische Prägung erfahren hat. Ganz bezeichnend dafür ist zum Beispiel seine Bemerkung in einem Brief an Frau von Helldorff (22.9.1869):


    In meiner Jugend bewunderte ich >Manfred< leidenschaftlich, und ich besuchte ihn viel öfter als >Faust<, der – das sei leise gesagt – trotz seines wunderbaren Ansehens als Dichtung mir als ein Charakter von Grund auf >bourgeois“ erschien.“

    Hinter einer solchen Beurteilung von Goethes „Faust“ stehen eben die literarisch-künstlerischen Maßstäbe, wie sie etwa von Victor Hugo mit seiner Maxime „Nieder mit dem Alexandriner“ auf eine Art propagandistischen Nenner gebracht wurden. Das alles soll hier aber nicht näher betrachtet werden, denn hier kann nur von Interesse sein, welche Auswirkungen das auf den kompositorischen Zugriff Liszts auf die Lyrik Goethes hatte.


    Und hier zeigt sich nun, dass solche „Auswirkungen“ durchaus feststellbar sind. Die Parole „Nieder mit dem Alexandriner“ ist ja zu verstehen als eine Emanzipation der künstlerischen Produktivität von allen traditionellen Form-Vorgaben. Kunst – also auch Musik – soll sich frei entfalten können, allein dem Aussagewillen und der schöpferischen Kraft des Kunstschaffenden selbst verpflichtet. Liszt wurde als Komponist maßgeblich von diesen künstlerischen Leitbildern der französischen Romantik geprägt. Die extrem kontrastive Struktur seiner Sinfonik und seiner Klaviermusik lässt sich darauf zurückführen.


    Auf die Liedkomposition wirkte sich diese Prägung durch die französische Romantik so aus, dass eine enge Bindung an den lyrischen Text als Fesselung des musikalischen Ausdruckswillens verstanden werden musste: Daher also die Freiheit, die Liszts sich nahm, indem er Änderungen in den dichterischen Vorgaben durch Textumstellung, Wiederholung, ja sogar zusätzliche Verse vornahm, letzteres aber selten. Auch die kompositorische Neigung zur großen Geste, zu arienhafter Expressivität und zum Ornamentalen lässt sich auf dieses Kunstverständnis zurückführen. Liszt verstand sich wohl vom Anfang seines kompositorischen Schaffens an als „musikalischer Poet“.


    Gleichwohl lässt sich aus meiner Sicht die These Fischer-Dieskaus – zumindest was die Goethe-Vertonungen betrifft – in dieser undifferenzierten Form nicht aufrechterhalten. Einige Goethe-Lieder weisen in der Tat solche ornamentalen Elemente auf. Das wurde oben aufgezeigt. Aber es lässt sich in Liszts Liedschaffen auch in bezug auf den kompositorischen Zugriff auf die Lyrik Goethes eine Entwicklung zur Konzentration auf die Aussage des lyrischen Textes unter Verzicht auf die große Geste, die arienhafte Expressivität und das musikalische Ornament feststellen. Ein Musterbeispiel dafür ist das Lied „Der du von dem Himmel bist“. Aber auch „Über allen Gipfeln“ und „Wer nie sein Brot mit Tränen aß“ müssen hier genannt werden. Gleichwohl sind alle diese Lieder „typischer Liszt“, und zwar in dem in der musikalischen Faktur sich niederschlagenden hohen subjektiven, aus personaler Betroffenheit resultierenden Ausdruckwillen.


    Die parolenhafte These „Liszt contra Goethe“ geht – möglicherweise unbewusst – von einem Verständnis von Liedkomposition aus, wie es sich aus der Tradition Schuberts und Schumanns herleiten lässt. Dieser fühlt sich Liszt, obgleich er ein Bewunderer der beiden war, aber nicht mehr verpflichtet. Sein kompositorischer Zugriff auf den Text ist in einem viel höheren Maße subjektivistisch-expressiv. Später, wenn noch einige weitere Lieder Liszts hier besprochen sind, soll diese Feststellung differenziert und konkretisiert werden.

  • Lieber Helmut,


    erst einmal muß ich doch sagen, daß ich sehr glücklich bin mit diesem Deinem Thread, Liszts Liedschaffen zu würdigen und zum "Jubiläum" etwas der Fixierung nur auf das Klavierwerk entgegenzuwirken. Ich glaube diese ganzen Bewertungen der Lieder kranken daran, daß sie alle rückwärts gewandt sind und nicht nach vorwärts schauen: Es wäre endlich an der Zeit, Liszts Art der Vertonung mal nicht mit Blick auf das vormals Gewesene, sondern hin auf Expressionismus und Neue Musik einzuschätzen. Dann ändern sich auch die Maßstäbe. Vieles, was da geschrieben wird, ist einfach anachronistisch. Die Prägung durch die französische Romantik ist natürlich bei Liszt da. Aber Entsprechendes (die Sprengung der Formkonventionen) kommt dann auch im Wagner-Kreis, durch die Ästhetik des Erhabenen. Da gibt es "Schnittmengen" zwischen deutscher und französischer Romantik.


    Noch eine Frage: Ich habe heute die wirklich großartige Aufnahme von Diana Damrau gehört. Sie singt eine Fassung von "Die drei Zigeuner", wo am Ende eine Strophe "dazukomponiert" wird, die nicht bei Lenau steht. Den Text kann ich nicht unterbringen - Brigitte Faßbänder singt eine "reguläre" Version. Weißt Du etwas darüber?


    Schöne Nikolausgrüße
    Holger

  • Lieber Holger,


    Deine Frage, das Lied "Die drei Zigeuner" betreffend, kann ich im Augenblick nur so beantworten:


    Das Lied ist im Juni 1860 von Liszt komponiert worden und weist sechs Strophen auf. Die Aufnahme von Diana Damrau kenne ich inzwischen, habe hier auch noch eine mit Ruth Ziesak. Beide singen das Lied so, wie es in den Noten steht. Was Brigitte Faßbänder singt, weiß ich nicht. Die "reguläre Version" ist das bestimmt nicht. Welche sollte das denn sein, wenn es nur eine Fassung gibt, die hier in Form von sieben Notenblättern vor mir liegt?


    Aber ich werde dem noch einmal genauer nachgehen.

  • So, lieber Holger, ich glaube, ich habe die Sache klären können, was das Lied "Die drei Zigeuner" betrifft.


    Du hattest recht! Die Interpreten singen zwei verschiedene Fassungen. Und das hat einen einfachen Grund, der aber andererseits für mich etwas rätselhaft bleibt.


    In den Noten findet sich nach der sechsten Strophe, die auf das Wort "verachtet" endet, folgende Anmerkung: "Entweder hier schließen oder weiter ohne den Schlußakkord." Und dann folgt die siebte Strophe "Nach den Zigeunern...", die offensichtlich nicht von allen Interpreten gesungen wird. Warum Liszt diese Wahl ließ, konnte ich nicht herausfinden. Ein Grund dafür könnte in der musikalischen Faktur liegen: Die Worte "dreimal verachtet" weisen einen derartig starken musikalischen Akzent auf, dass sie tatsächlich wie ein Abschluss des Liedes wirken. Die letzte Strohe wirkt dann wie eine "Nachbetrachtung", die man auch weglassen kann.

  • Dieses Lied auf ein Gedicht von Nikolaus Lenau entstand 1860, am Ende von Liszts Zeit im Weimar. Es ist eines seiner großen und bedeutenden Lieder, denn hier entfaltet er all seine kompositorischen Fähigkeiten zur Verwandlung lyrischer in musikalische Bilder von faszinierender Klanglichkeit. Dem Klavier kommt dabei eine maßgebliche – und wahrhaft virtuose! – Rolle zu. Liszt greift dabei auf das Klangmaterial der Zigeunermusik zurück und setzt die dort verwendete Moll-Tonleiter mit übermäßigen Sekunden und Zimbal-Sequenzen ein. Weil die Musik in intensiver Weise auf den lyrischen Gehalt der Strophen in gleichsam musikalisch-illustrativer Weise eingeht, weist das Lied eine ungewöhnliche klangliche Vielfalt auf.


    Die drei Zigeuner
    Drei Zigeuner fand ich einmal
    Liegen an einer Weide,
    Als mein Fuhrwerk mit müder Qual
    Schlich durch sandige Heide.


    Hielt der eine für sich allein
    In den Händen die Fiedel,
    Spielte, umglüht vom Abendschein,
    Sich ein feuriges Liedel.


    Hielt der zweite die Pfeif im Mund,
    Blickte nach seinem Rauche,
    Froh, als ob er vom Erdenrund
    Nichts zum Glücke mehr brauche.


    Und der dritte behaglich schlief,
    Und sein Zimbal am Baum hing,
    Über die Saiten der Windhauch lief,
    Über sein Herz ein Traum ging.


    An den Kleidern trugen die drei
    Löcher und bunte Flicken,
    Aber sie boten trotzig frei
    Spott den Erdengeschicken.


    Dreifach haben sie mir gezeigt,
    Wenn das Leben uns nachtet:
    Wie mans verraucht, verschläft, vergeigt
    Und es dreimal verachtet.


    Nach den Zigeunern lang noch schaun
    Mußt ich im Weiterfahren,
    Nach den Gesichtern dunkelbraun,
    Den schwarzlockigen Haaren.


    Mit einem wahren klanglichen Feuerzauber, der sich gleichwohl langsam entfaltet (Tempovorschrift am Anfang: „Langsam“) setzt die lange Klaviereinleitung ein: Rhythmisch fallende Oktaven und nachfolgend ein regelrechter Wirbelwind von Sechzehnteln und Zweiunddreißigsteln im Klavierdiskant.


    Die beiden ersten Verse der ersten Strophe werden dagegen in einer Art rhythmisiertem Erzählton ohne Begleitung durch das Klavier deklamiert. Dann aber setzt dieses „poco marcato“ mit pochenden Einzeltönen ein, die rhythmisch zwischen Bass und Diskant hin und her tanzen: Die „müde Qual“ des Fuhrwerks wird musikalisch suggeriert.


    Auf klanglich faszinierende Weise werden nun die lyrischen Bilder der einzelnen Strophen musikalisch aufgegriffen. Der tänzerische Fiedelton erklingt in einer markant „zigeunerisch“ rhythmisierten Abfolge von Sechzehntel-Figuren im Klavierdiskant. Bedächtig wird der melodische und harmonische Fluss hingegen beim zweiten Zigeuner mit seiner Pfeife. Arpeggierte Akkorde erklingen, und dazwischen rauscht ein Jeu perlé in die Höhen des Diskants, mit dem wohl die Rauchwölkchen musikalisch illustriert werden sollen, die aus der Pfeife in den Himmel steigen. Csardas-Klänge sind danach zu vernehmen.


    Idyllische Ruhe und harmonisch-melodische Besinnlichkeit kehrt beim nächsten Bild in das Lied ein: Dem mit dem schlafenden Zimbal-Spieler. Immer wieder werden die Harmonien des Klaviers von Pausen unterbrochen, und bei dem Wort „Schlaf“ landet die melodische Linie der Singstimme auf einem tiefen „c“, auf dem sie den ganzen Takt über ruhen bleibt. Zimbal-Klänge tragen sie in ihrer weiteren sehr ruhigen, nur geringe Intervalle aufweisenden Bewegung. Auf einem hohen „e“ verharrt sie dann lange bei dem Wort „Traum“ und bewegt sich nur zögerlich über zwei kleine Sekundschritte nach unten.


    „Ziemlich schnell“ steht als Tempovorgabe vor der fünften Strophe. Im Klavier bewegen sich wieder die Sechzehntel- und Zweiunddreißigstelfiguren gegenläufig in Bass und Diskant. Rasch und sprunghaft bewegt sich die melodische Linie in zwei Anläufen nach unten, vom Klavier mit Zweiunddreißigstelfiguren wie vorangetrieben. Ein kurzes Innehalten, - und mit großem, pathetischem Gestus wird das „Aber sie boten trotzig frei…“ gesungen. Das Klavier geht erst zu Akkorden über, dann zu Csardas-Klängen.


    Der – vorläufige oder wirkliche – Schluss des Liedes wird wieder ruhig deklamiert, von einfachen Akkorden im Klavier begleitet. Die zentralen Worte „verraucht“, „verschläft“, „vergeigt“ wirken, weil in der Faktur isoliert, wie melodische Inseln. Im Fortissimo und mit heftigen Akkorden im Klavier akzentuiert werden dann die Worte „dreimal verachtet“ in einem melodischen Dreifachsprung über eine Septe nach unten fast herausgeschmettert.


    Es steht dem Interpreten frei, das Lied damit zu beenden. Und das ist ja ein sowohl inhaltlicher wie auch musikalisch gültiger Schluss, der in einen fermatierten Akkord mündet. Liszt hat an dieser Stelle notiert: „Entweder hier schließen oder weiter ohne den Schlussakkord“. Die letzte Strophe wirkt, wenn sie denn gesungen wird, wie ein musikalisch-meditativer Nachklang: Eine ruhig dahinfließende melodische Linie, von einfachen Akkorden getragen und schließlich mit einem kurzen Klaviernachspiel ausklingend.

  • Lieber Helmut,


    ganz herzlichen Dank! Wer den Klappentext mit den Liedtexten gemacht hat zur CD von Diana Damrau, der hat "geschlafen"! Die letzte Strophe, die sie singt, ist nämlich gar nicht abgedruckt! So ist man natürlich irritiert! Ich finde "Die frei Zigeuner" eines der eindrucksvollsten Liszt-Lieder - und der Text sagt viel über Liszts Befindlichkeit aus! Deine Beschreibung ist wieder mal sehr schön! Ich freue mich schon auf noch mehr von den Liszt-Liedern! :)


    Beste Grüße
    Holger


    So, lieber Holger, ich glaube, ich habe die Sache klären können, was das Lied "Die drei Zigeuner" betrifft.


    Du hattest recht! Die Interpreten singen zwei verschiedene Fassungen. Und das hat einen einfachen Grund, der aber andererseits für mich etwas rätselhaft bleibt.


    In den Noten findet sich nach der sechsten Strophe, die auf das Wort "verachtet" endet, folgende Anmerkung: "Entweder hier schließen oder weiter ohne den Schlußakkord." Und dann folgt die siebte Strophe "Nach den Zigeunern...", die offensichtlich nicht von allen Interpreten gesungen wird. Warum Liszt diese Wahl ließ, konnte ich nicht herausfinden. Ein Grund dafür könnte in der musikalischen Faktur liegen: Die Worte "dreimal verachtet" weisen einen derartig starken musikalischen Akzent auf, dass sie tatsächlich wie ein Abschluss des Liedes wirken. Die letzte Strohe wirkt dann wie eine "Nachbetrachtung", die man auch weglassen kann.

  • Da bei diesem Lied der seltene Fall vorliegt, dass ein Komponist es dem Interpreten freistellt, wie er das Lied singen soll, fragt man sich natürlich, welche Version dem, was Liszt da komponiert hat, eher gerecht wird.


    Vom lyrischen Text her hat die siebte Strophe ja durchaus ihren Sinn, stellt sie doch mit der ersten zusammen den epischen Rahmen dar, in den die Begegnung mit den drei Zigeunern eingebettet ist.


    Auf diese Begegnung ist nun aber Liszts Komposition von ihrer musikalischen Faktur her ganz und gar abgestellt. Die sechste Strophe zieht gleichsam die „philosophische Bilanz“ aus der Begegnung, und Liszt hat ihr, durchaus diesem Sachverhalt gemäß, in der musikalischen Faktur ein ganz besonderes Gewicht verliehen. Es läuft sozusagen musikalisch alles auf den letzten Vers dieser sechsten Strophe zu und findet einen entsprechenden Abschluss. Die siebte Strophe wirkt, daran gemessen, wirklich wie ein Anhängsel, das kein besonderes Gewicht mehr hat.


    Beim Nachdenken über diese Frage und dem damit verbundenen Probehören machte ich übrigens eine Erfahrung, die ich für so interessant halte, dass ich davon berichten möchte.
    Man möge mir die folgende ganz und gar spontane Äußerung bitte nachsehen. Aber ich habe das Lied „Die drei Zigeuner“ eben zum ersten Mal richtig gehört. „Richtig“ soll heißen: So wie es Liszt möglicherweise klanglich gehört hat, als er es komponierte.


    Wieso?
    Nun, ich habe bisher zu den CDs gegriffen, die um mich herumliegen, seitdem ich mich mit Lizst-Liedern beschäftige. Und da hörte ich dieses Lied in der Interpretation zum Beispiel von Ruth Ziesak, Hans Jörg Mammel oder (neuerdings) Diana Damrau. Alles bemerkenswerte und beeindruckende sängerische Leistungen.


    Was ich nicht tat, das war reiner Faulheit geschuldet. Ich wollte den Plattenspieler nicht in Gang setzen und ließ deshalb dieses Lied in der DG-Kassette, in der es in der Interpretation von Dietrich Fischer-Dieskau und Daniel Barenboim ruht.


    Das war ein großer Fehler, wie ich eben feststelle. Das musikalisch Gestische dieses Liedes, dieses ingeniöse musikalische Ineinandergreifen von episch-erzählerischen, schildernd-lyrischen, dramatischen und rhetorischen Elementen, das dieses Lied so einmalig macht, ist nirgends besser zu vernehmen als bei Fischer-Dieskau.


    Das war wie die Begegnung mit einem Franz Liszt, den ich bislang nicht kannte.

  • Franz Liszt hat sich zwar in seinen späteren Lebensjahren intensiv mit deutscher Literatur beschäftigt, aber er tat dies aus seiner originär europäischen Prägung heraus. Und diese kam vor allem in der langen Zeit seines Aufenthaltes in Paris zustande. Im Jahre 1823 kam er dort an und verließ die Stadt erst 12 Jahre später, um bis 1844 noch mehrmals dorthin zurückzukehren.


    Eine Stelle aus einem Brief an seinen Freund Pierre Wolff, vom 2. Mai 1832, ist diesbezüglich sehr aufschlussreich. Dort heißt es:


    „Homer, die Bibel, Plato, Locke, Hugo, Lamartine, Chateaubriand, Beethoven, Bach, Hummel, Mozart, Weber sind alle um mich herum. Ich studiere sie, ich denke über sie nach, ich verschlinge sie mit Feuereifer.“

    Heißt: Liszt wurde als Mensch und Komponist in seiner Pariser Zeit geprägt von französischer Literatur und deutscher (österreichischer) Musik. Aber das kann man so auch wieder nicht stehen lassen, denn seine intensive Beziehung zu Berlioz und dessen Musik ist ebenfalls ein maßgeblich prägender Faktor.


    Man sollte denken, dass dies alles keine für die Thematik dieses Threads relevante Faktoren seien. Dem ist aber nicht so. Die musikalische Sprache, mit der ein Komponist lyrische Sprache reflektiert, ist ganz wesentlich von seiner künstlerischen Grundhaltung geprägt. Und diese ist bei Liszt nun einmal ganz allgemein eine kulturell europäische.


    Er hat von daher einen anderen Blick auf eine solch zentrale Figur der deutschen Literatur, wie es Goethe zu seiner Zeit war. Was nicht heißt, dass er diesem Dichter damit nicht gerecht geworden wäre, denn Goethe war im Kern seines Künstlertums ja ebenfalls Europäer. Nein, Liszts Verständnis des Dichters Goethe hebt sich deutlich ab von dem zur damaligen Zeit typisch deutschen. Man kann das an einer fast beiläufigen Bemerkung in einem Brief an Olga von Meyerdorff ( 24.9.1875) erkennen. Dort heißt es:


    „Ich habe niemals eine übersteigerte Bewunderung für den herkömmlichen Goethe gehabt, den Abgott, dessen Verehrung den Müßiggängern gar zu bequem geworden ist.“

    Hinter dieser, das deutsche Bürgertum seiner Zeit kritisch treffenden Äußerung ist jedoch mehr erkennbar, als eben diese Gesellschaftskritik: Es ist ein Blick auf den Dichter Goethe aus einer gleichsam weltbürgerlichen Perspektive.


    Und ich glaube, dass dies auch die Art und Weise geprägt hat, wie er sich als Liedkomponist der Lyrik Goethes genähert hat. Es ist eine grundsätzlich andere als die etwa Schuberts und Schumanns. Er will die Lyrik dieses Dichters nicht so tiefgreifend wie möglich musikalisch ausleuchten. Er greift aus dem großen lyrischen Werk Goethes die Gedichte heraus, die ihn in seiner Absicht, Musik durch Dichtung inspirieren zu lassen, ganz subjektiv ansprechen und ihm die Impulse geben, musikalisch-sinfonische Dichtung auf der Ebene des Liedes zu schaffen.


    Auf diese Weise, eben weil er sie kompositorisch mit einem radikal subjektiven Ansatz liest, erschließt er ganz neue Dimensionen der Lyrik Goethes. Dieser Ansatz kann der einer personalen unmittelbaren Betroffenheit sein, wie etwa „Über allen Gipfeln“ oder „Der du von dem Himmel bist“. Er kann aber auch zu einer intensiven Einfühlung in eine lyrisch sich artikulierende literarische Figur führen, wie bei „Mignon“ oder „Klärchen“.

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