Franz Liszt und seine Lieder

  • Auf diese Weise, eben weil er sie kompositorisch mit einem radikal subjektiven Ansatz liest, erschließt er ganz neue Dimensionen der Lyrik Goethes. Dieser Ansatz kann der einer personalen unmittelbaren Betroffenheit sein, wie etwa „Über allen Gipfeln“ oder „Der du von dem Himmel bist“. Er kann aber auch zu einer intensiven Einfühlung in eine lyrisch sich artikulierende literarische Figur führen, wie bei „Mignon“ oder „Klärchen“.

    Lieber Helmut,


    das finde ich sehr treffend und erhellend! :) Ich hoffe, ich kann in derselben Richtung auch noch etwas beisteuern - ich nehme mir nochmals die 1. und 3. Fassung von "Der du von dem Himmel best" vor, wenn ich hoffentlich morgen dazu komme. Fischer-Dieskau ist auch für mich "der" Liedsänger schlechthin. Auf Deine letzte Anregung werde ich insbesondere nochmals seinen Vortrag von "Die drei Zigeuner" hören. Es gehört nicht hierher, aber ich muß es doch sagen: "Fidis" Aufnahme des "Lied von der Erde" zusammen mit Fritz Wunderlich (Dir. J. Krips) - von keiner noch so guten Altistin habe ich Mahlers Orchesterlieder so tiefsinnig und vielschichtig ausgelotet gehört. Einfach singulär!


    Beste Grüße
    Holger

  • Die Interpretation des Liedes „Die drei Zigeuner“ durch Dietrich Fischer-Dieskau und Daniel Barenboim weicht in der Tat sehr stark von all den anderen Interpretationen dieses Liedes ab, die ich kenne. Man kann ihr möglicherweise vorhalten, dass sängerisch zu viel in dieses Lied „hineininterpretiert“ und zu stark auf Gestik und Rhetorik abgestellt wird. Ich hingegen finde, dass diese Interpretation der kompositorischen Vielfalt, der Komplexität und dem musikalischen Detailreichtum des Liedes am ehesten gerecht wird. Sie ist in hohem Grade artifiziell und damit Liszt-gemäß.


    Wenn Du andeutest, lieber Holger, dass Du Dich noch einmal auf das Lied „Der du von dem Himmel bist“ einlassen möchtest, so bitte ich dafür um Verständnis, dass ich dies meinerseits nicht mehr tun werde. Was ich dazu zu sagen habe, ist gesagt, und ich deutete ja schon einmal an, dass ich einen gewissen Horror davor entwickelt habe, mich in liedanalytische Details zu verlieren.


    Ich bin inzwischen der Meinung, dass zu intensiv betriebene Liedanalyse die Gefahr der Verzettelung in sich birgt. Ein Außenstehender, der einfach nur mit dem Liedschaffen Liszts ein wenig vertraut werden und die Eigenart und spezifische Schönheit der Lieder dieses Komponisten kennenlernen möchte, hat nichts davon, wenn man diese Lieder analytisch detailliert unter die Lupe nimmt. Er wird eher abgeschreckt. Und das ist dann das Gegenteil von dem, was ich mit diesem Thread bewirken möchte.


    Es kommt, so meine ich, letzten Endes nicht darauf an, die kompositorischen Details der verschiedenen Fassungen einzelner Lieder hier penibel herauszuarbeiten, sondern wichtig ist, aufzuzeigen und damit für einen Leser dieses Threads deutlich werden zu lassen, was das Besondere an Liszts Liedern ist und warum es sich lohnt, sie sich anzuhören.


    Das ist aber mein ganz eigener, aus langwieriger liedanalytischer Betätigung hier im Forum hervorgegangener Standpunkt. Und ich teile ihn hier auch nur deshalb mit, weil ich verständlich machen möchte, welche „Strategie“ meinen Beiträgen zu diesem Thread zugrundliegt.


    Ganz bewusst habe ich zunächst einmal alle Goethe-Vertonungen Liszts – bis auf eine – hier vorgestellt. „Die drei Zigeuner“ sollten eigentlich erst später kommen, im Anhang sozusagen. Das Thema Liszt und Goethe ist damit für mich abgeschlossen, obwohl ich dazu natürlich noch einiges zu sagen hätte. Aber wozu? Das hier soll doch um Himmels willen kein musikwissenschaftliches Seminar zum Thema "Lizst als Liedkomponist" sein. Ich wäre nämlich dafür als Teilnehmer der absolut Falsche, weil faktischer Dilettant. Und deshalb möchte ich mich jetzt dem nächsten Themenschwerpunkt - den Heine-Vertonungen nämlich - zuwenden und danach aus diesem Thread aussteigen.

  • „Langsam, düster“ ist das Lied auf ein Gedicht von Heinrich Heine überschrieben. Seine erste Fassung entstand vermutlich 1845, die zweite 1860 (was aber ebenfalls nicht ganz gesichert ist). Von ihr ist hier die Rede. Die große, klanglich ausgreifende Geste, wie Liszt sie kompositorisch in seinen frühen und mittleren Liedern oft praktiziert, ist in ihr nicht zu vernehmen. Melodik und Harmonik wirken wie in sich zurückgenommen. Ganz offensichtlich hat sich die starke evokative Kraft des lyrischen Bildes prägend auf die musikalische Grundstruktur der Komposition ausgewirkt.


    Ein Fichtenbaum steht einsam
    Im Norden auf kahler Höh´;
    Ihn schläfert; mit weißer Decke
    Umhüllen ihn Eis und Schnee.


    Er träumt von einer Palme,
    Die fern im Morgenland
    Einsam und schweigend trauert
    Auf brennender Felsenwand.


    In der Klaviereinleitung steigen aus dem Bassbereich Achtelfiguren hoch in den Diskant und geben das harmonische Fundament des Liedes vor: Es ist stark von Moll-Klängen und verminderter Harmonik eingefärbt.


    Die melodische Linie der Singstimme bewegt sich in der ersten Strophe über lange Strecken auf nur einem Ton. Der erste Vers wird silbengetreu auf nur einem „f“ deklamiert, - mit einem einzigen melodischen Ausgriff hoch zu einem „as“. Der Vers „Im Norden auf kahler Höh´“ wird auf einer im Sekundschritt fallenden und ganz und gar in Moll harmonisierten, überaus trist wirkenden melodischen Linie gesungen.


    Das „Ihn schläfert“ erklingt wieder auf nur einem hohen „as“, in Form von einer Viertel-, einer halben und wieder einer Viertelnote. Danach geht es in Sekundschritten aufwärts, und bei „umhüllen ihn“ ereignet sich ein Absturz der melodischen Linie um eine ganze Oktave. Bei den Worten „Eis und Schnee“ erklingt dieses große Intervall noch einmal.


    Nach im Klavier aus tiefen Basslagen aufsteigenden Achteln wird mit einer Klangfigur aus Achtelakkorden im Diskant und einer darunter im Bass aufsteigenden melodischen Linie „dolcissimo“ die Vokallinie der zweiten Strophe eingeleitet. Mit einem Quintsprung setzt sie ein, und über zwei Takte wird der Ton gehalten, der auf dem Wort „träumt“ liegt. Dort bleibt die Vokallinie auch noch beim nächsten Vers und bewegt sich erst bei dem Wort „Palme“ um eine kleine Sekunde nach oben, um bei „fern im Morgenland“ langsam abzusteigen..


    Wieder, mit fast bohrender Beharrlichkeit, wird der Vers „Auf brennender Felsenwand“ auf einem einzigen Ton syllabisch exakt deklamiert. Erst bei der Silbe „-wand“ geht es, klanglich genauso bohrend, um eine kleine Sekunde nach oben, und danach kommt eine zweitaktige Pause für die Singstimme.


    „Langsamer“ wird der Schluss des Liedes musiziert, - in trister melodischer Linie, in Sekundschritten fallend über mehr als eine Oktave. Und noch einmal, in ähnlich angelegter Abwärtsbewegung, erklingen die Worte „auf brennender Felsenwand“. Bei der Silbe „Fel-„ erreicht die Singstimme den tiefsten Ton des ganzen Liedes und macht danach einen Sprung um eine Sexte nach oben, - ein Tonschritt, der erschreckend leer wirkt.


    In diesem Lied ist Liszts Fähigkeit hörend zu erfahren, mit dem kompositorischen Mittel der Harmonik die evokative Kraft eines lyrischen Bildes musikalisch adäquat einzufangen. Das ist ihm hier auf großartige Weise gelungen. Einsamkeit, die in der Vision einer unerreichbaren Ferne erfahren wird, die sich ihrerseits in bedrückender Weise als ein „Trauern auf brennender Felsenwand“ enthüllt, in Musik zu setzen, ist eine große Herausforderung.


    Liszt ist ihr gerecht geworden. Das kompositorische Mittel, das er dabei genial handhabt, ist das immer wieder aufs Neue Sich-Verirren-Lassen der melodischen Linie in den Wirrnissen einer sich in abwegige Regionen bewegenden, zwischen Dur und Moll und Chromatik changierenden Harmonik.

  • Lieber
    Helmut,




    da
    bin ich ganz Deiner Meinung:




    „dass zu intensiv betriebene
    Liedanalyse die Gefahr der Verzettelung in sich birgt“.



    Auch
    das kann passieren und sollte nicht passieren:




    „Ein Außenstehender, der einfach
    nur mit dem Liedschaffen Liszts ein wenig vertraut werden und die Eigenart und
    spezifische Schönheit der Lieder dieses Komponisten kennenlernen möchte, hat
    nichts davon, wenn man diese Lieder analytisch detailliert unter die Lupe
    nimmt. Er wird eher abgeschreckt. Und das ist dann das Gegenteil von dem, was
    ich mit diesem Thread bewirken möchte.“




    Aber
    es gibt eben auch den umgekehrten Fall, dass der Hörer den Zugang nicht
    unmittelbar findet. Und da kann es auch für den Musikliebhaber etwas bringen,
    in Einzelfällen etwas ästhetische Analyse zu betreiben.




    So
    denke ich auch, völlig einverstanden:




    “Es kommt, so meine ich, letzten Endes nicht darauf an, die kompositorischen
    Details der verschiedenen Fassungen einzelner Lieder hier penibel
    herauszuarbeiten, sondern wichtig ist, aufzuzeigen und damit für einen Leser
    dieses Threads deutlich werden zu lassen, was das Besondere an Liszts Liedern
    ist und warum es sich lohnt, sie sich anzuhören.“




    Warum
    ich mir „Der du von dem Himmel bist“ noch einmal vernehme, hat einen ganz einfachen Grund: Die Erstfassung war
    mir bislang gar nicht zugänglich. Die Aufnahmen von Sängern, auf die wir
    zurückgreifen, sind naturgemäß „wählerisch“, was die verschiedenen Fassungen
    angeht. Fischer-Dieskau singt die dritte Fassung. Warum wählt nun Diana Damrau
    ausgerechnet die erste? Sie wird sie offenbar doch besonders „schön“ gefunden
    haben, was aber in einem gewissen Wiederspruch zur Bewertung in diesem Thread
    wie auch der von Wolfgang Huschke steht, die hier schon mehrfach zitiert wurde, wo stets die Letztfassung bevorzugt wird.
    Beim Hören muss auch ich ganz persönlich sagen, dass die Erstfassung ihren
    „Reiz“ hat. Ich empfinde sie als durchaus hörenswert, um nicht zu sagen: Sie
    übt auf mich eine gewisse Faszinationskraft aus. Woran kann das liegen? Und
    warum weicht meine „Intuition“ von der Bewertung etwa Huschkes ab? Das möchte
    ich gerne ergründen – und vielleicht hilft es ja auch anderen.




    Was
    sagt Huschke, der das Beispiel „Der du von dem Himmel bist“ als exemplarisches
    Beispiel für Liszts Entwicklung in bezug auf seine Liedvertonungen nimmt? Seine
    Kernaussagen zur Erstfassung:




    1. 1. Die Vertonung entspricht nicht der Klassizität
    Goethes.



    2. "
    2. Liszt wählte den Untertitel
    „Invocation“. Dieses „Feuer“ zerstöre die Form des schlichten Nachtliedes



    3.
    3. Die Deklamatorik der Melodie
    passt nicht zum Text (Darauf gehe ich nicht ein, das hat man schon Wagner gerne
    vorgeworfen, ist also ziemlich anachronistisch.).



    4.
    4. Die Vertonung der Zeile „Süßer
    Friede, komm ach komm in meine Brust“ in „mehrfacher Textwiederholung“ sei
    „floskelhaft nichtssagend“, welche man deshalb nur als „ein unbekümmertes, sich
    emotional austobendes „Drauflos-Komponieren“ werten“ könne.





    Von wegen Nachtlied:





    Die ursprüngliche Fassung (in einem Brief an Charlotte von Stein
    beigefügt mit Unterschrift 12. Febr. 1776 vom Ettersberg in Weimar) lautet so:




    Der du von dem Himmel bist,


    Alle Freud und Schmerzen stillest,


    Den, der doppelt elend ist,


    Doppelt mit Erquickung füllest;


    Ach, ich bin des Treibens müde!


    Was soll all die Qual und Lust?


    Süßer Friede,


    Komm, ach komm in meine Brust!





    Die Änderungen wurden dann umgesetzt für die Göschen-Ausgabe von 1789. Dort hat
    Goethe die Emphase deutlich reduziert: Die dramatische Gegensatz „Freude und
    Schmerzen“ wurde getilgt und durch „Leid und Schmerzen“ ersetzt, Worte, die
    derselben Befindlichkeit zugeordnet sind und das aufwühlende Wort „Qual“ wird
    durch das neutralere „Schmerz“ ausgetauscht. Das ist eine deutliche
    „Beruhigung“ einer durchaus „leidenschaftlicheren“ Urfassung. Goethes Retuschen
    haben also die dramatischen Konflikte, die in der ursprünglichen Fassung
    durchaus vernehmbar waren, getilgt, um damit mehr Ruhe und Ausgeglichenheit
    herzustellen. Liszts Vertonung kehrt genau diese Unausgeglichenheit hervor (das
    ungestüme „Ergriffensein“), welches der nach 13 Jahren deutlich „reifere“
    Goethe zu verbergen suchte durch seine Korrekturen. Liszts „Einfühlung“ spürt
    gewissermaßen die Befindlichkeit auf vom Zeitpunkt des Entstehens des Gedichtes
    – ganz so falsch, wie Huschke glauben machen will, liegt er mit seinem „Feuer“
    also nicht.



    Nun zu den Wiederholungen:



    Das Klavier wiederholt ohne Worte die erste Zeile, schließt also
    diesen Teil ab, bevor die Klage dramatisch gesteigert wird:



    „Ach, ich bin des Treibens müde!


    Was soll all der Schmerz und Lust?“



    Wiederholung nicht nur der Zeile sondern auch einzelner Wörter –
    eine hochdramatische Klimax, die dann abbricht in eine Art Totenstille.



    Die höchst komplexen Wiederholungen der Zeile:



    „Süßer Friede,


    Komm, ach komm in meine Brust!“



    sind nun geradezu exzessiv und beziehen weitere Zeilen des
    Gedichtes ein „Ach, ich bin des Treibens Müde!“ und „Der du von dem Himmel
    bist“. Ist das nun einfach „floskelhaft nichtssagend“ und unbedarftes
    „Drauflos-Komponieren“? Es verwundert doch sehr, dass sich ausgerechnet Huschke
    nicht mehr über den Untertitel „Invocation“ Gedanken macht. Wiederholungen sind
    erst einmal ein Kunstmittel der Rhetorik: Der Redner wiederholt das, was er für
    wichtig und bedeutend hält, um es dem Hörer gleichsam einzuhämmern. Solche
    Rhetorik steht traditionell freilich in dem schlechten Ruf, auf bloße Wirkung
    zu zielen und wird von Huschke auch entsprechend als „floskelhaft“ abwertend
    bezeichnet. Nur: Was ist denn eigentlich eine Invokation („Hineinrufung“)? Es
    handelt sich hier ursprünglich um eine magische Praktik, ein Geist wird
    beschworen, der in einem Körper einkehren soll. Daß die Zeile



    „Süßer Friede,


    Komm, ach komm in meine Brust!“



    bei Liszt zur unendlich wiederholten „Floskel“ wird, ist deshalb
    überhaupt kein Zufall. Sie wird – offenbar auslösender Anlass für den
    Untertitel – zur invokativen Beschwörungsformel. Und Beschwörungsformeln – das
    gehört zur magischen Praktik – werden nun mal wiederholt und wiederholt! Die
    Rhetorik der Wiederholung verwandelt sich bei Liszt also in ein psychologisch
    motiviertes Geschehen, die Nachzeichnung einer Seelenbewegung, für deren
    Ausdehnung sich die dichterische Form als zu eng erweist: Die rhetorische
    Bekräftigung bekommt hier den psychologisch-einfühlsamen Sinn der
    Autosuggestion. Der Frieden, den das Subjekt innerlich nicht hat, er wird mit
    aller Macht und suggestiven Kraft heraufbeschworen, soll von Körper und Seele
    Besitz ergreifen. Friede soll einkehren in die des „Treibens“, des
    Umherwanderns in der Welt, müde Brust. Und das ist ein durchaus dramatischer
    Prozess der Anverwandlung, eine Wiederholungsbewegung, die eben die wirksame
    „Verdrängung“ von „Qual“ bzw. „Schmerz“ und „Müdigkeit“ als gleichsam
    hartnäckig „eingefleischte“ Befindlichkeiten einschließt, weswegen auch diese
    Zeile des Schmerzes wiederholt wird wie auch die Anrufung des Himmels, als
    Bitte um Erlösung vom Leiden. Liszts Vertonung schildert also letztlich
    psychologisch sehr eindringlich ein „Besitzergreifen“ himmlischer Mächte von
    einer leidgeplagten irdischen Seele: Das Subjekt wird vom Inhalt der Invokation
    ergriffen, ein Ergriffenwerden, welches wiederum einen ekstatischen
    Bewusstseinszustand, eine Haltung des Enthusiasmus, zur Vorraussetzung hat.
    Natürlich: Eine solche Vertonung ist „antiklassisch“ – aber psychologisch
    völlig einleuchtend, dabei der Empfindsamkeit eines nicht nur klassischen,
    sondern eben auch stürmenden und drängenden Goethe durchaus nicht fremd und
    zudem eine auf den Expressionismus vorausweisende Haltung: Die Form wird
    gesprengt, indem sie zum Ausdruck eines Inhalts wird in Gestalt einer Seelenbewegung,
    welche die Musik in sie einfühlt.


    P.S.: Fischer-Dieskau mit "Die drei Zigeuner" ist wahrlich beeindruckend, er "erzählt" die Musik!


    Beste Grüße
    Holger

  • Franz Liszt und Heinrich Heine kannten einander, - sie kannten einander sogar sehr gut. Und die Tatsache, dass es von Liszt sieben Lieder auf Gedichte von Heine gibt, immerhin zwei mehr als auf Gedichte von Goethe, ist Beleg dafür, dass dieser nicht nur den Menschen Heine geschätzt hat, sondern sich auch von seiner Lyrik angesprochen fühlte. Zwei von diesen Liedern sind bereits hier vorgestellt worden. Auf die anderen soll nur in Auswahl eigegangen werden.


    Liszt lernte Heine während der allgemeinen künstlerischen Aufbruchstimmung im Pariser Sommer 1830 kennen, als er tief in die Künstler- und Literatenszene der Stadt eintauchte, allen bedeutenden Köpfen derselben begegnete und die Bücher zum Beispiel eines Victor Hugo oder Alexandre Dumas regelrecht verschlang. Lina Ramann schrieb in ihrer 1880 erschienen Biographie über diese Zeit: „Er las ein Lexikon in derselben unersättlichen rastlosen Weise wie einen Dichter.“


    Während ich von Liszt keine irgendwie abfälligen oder spöttischen Bemerkungen über Heine kenne, gibt es von diesem über Liszt eine ganze Reihe derselben. Er verfolgte die Karriere Liszts mit einer Art wohlwollendem Spott und prägte in diesem Zusammenhang das Schlagwort von der „Lisztomanie“.


    „Es will mich manchmal dünken“, so bemerkt er, „die ganze Hexerei ließe sich dadurch erklären, daß niemand auf dieser Welt seine Sukzesse, oder vielmehr die mise en scène derselben so gut zu organisieren weiß, wie unser Franz Liszt.“ So ganz unrecht hatte er damit nicht. Wohl aber mit der Vermutung, Liszt habe sogar „Mietenthusiasten“ engagiert, die für den frenetischen Beifall in seinen Konzerten sorgen würden. Die „Lisztomanie“ sei nichts anderes als ein großer Schwindel.


    Liszt hatte derlei Schwindel aber gar nicht nötig, da sein Klavierspiel, wie zum Beispiel ein solcher Kenner wie Chopin bezeugt hat, in der Tat einzigartig war. Und es kommt mir zuweilen so vor, als sei Heine ein wenig neidisch gewesen auf die gewaltige Publizität, die Liszt während seiner Zeit als Starpianist genoss. Von Liszt hingegen kenne ich nur positive Äußerungen über Heinrich Heine. So schrieb er am 4. März 1833 an Marie d´Agoult:


    „Ich glaube, Madame, Sie baten mich neulich abends, Sie zu unserem berühmten Landsmann Heine zu fahren und ihn Ihnen vorzustellen. Er ist einer der distinguiertesten Männer von Deutschland“.

    Zum Bruch zwischen Liszt und Heine kam es übrigens aus einem Grund, den in erster Linie dieser zu verantworten hatte, obgleich dieser Grund nicht so sehr moralischer Art war, sondern der ganz gewöhnlichen wirtschaftlichen Not unter Literaten und Künstlern geschuldet: Heine verlangte Geld für einen belobigenden Artikel über Liszts Freund Franz.

  • Das ist eines von den großen und bedeutenden Liedern Liszts, das völlig zu Unrecht in der Schatten der Vertonung dieses Heine-Gedichts durch Friedrich Silcher geraten ist, die sich gegenüber dieser von Liszt regelrecht blass und unbedeutend ausnimmt. Es liegen von diesem Lied auch wieder drei Fassungen vor. Die erste entstand schon 1841, die zweite dann zwischen 1856(?) und die letzte 1860. Der folgenden Besprechung liegt die zweite Fassung zugrunde.


    Dabei ist die Bezeichnung „Lied“ ja nicht ganz zutreffend: Es ist eine Ballade in Gestalt eines Konzertstücks für Singstimme und Klavier. Wenn man es mit wenigen Worten charakterisieren sollte, müsste man von einer kompositorisch höchst gelungenen Kombination aus rezitativischen, lyrischen und dramatischen Elementen sprechen.


    Die kompositorische Größe dieses Liedes kann man zwar auf Anhieb hörend wahrnehmen, man erkennt sie aber erst wirklich richtig, wenn man etwas genauer auf die musikalische Faktur blickt. Liszt greift nämlich die Anfangszeile „Ich weiß nicht, was soll es bedeuten“ musikalisch damit auf, dass er zunächst völlig unbestimmt lässt, welches nun die dominierende Tonart sein soll. Zunächst ist ein g-Moll zu hören, die melodische Linie der Singstimme setzt aber mit e-Moll ein. Die am Anfang angezeigte Haupttonart, G-Dur nämlich, wird erst mit Takt 107 erreicht.


    In der Klaviereinleitung sind Anklänge an Wagners „Tristan“ zu hören. Die Singstimme setzt rezitativisch ein, im Klavier nur von arpeggierten Akkorden getragen. Aber schon bei „Daß ich so traurig, so traurig bin“ erhebt sie sich mit einem leichten Klageton in hohe Lagen. Allegretto, ein wenig stockend in der Vokallinie und mit tänzerischen Achteln im Klavier, erklingen die nächsten beiden Verse („Ein Märchen aus uralten Zeiten…“).


    Mit einem Zwischenspiel aus fallenden Arpeggien wird zu den lyrischen Bildern der folgenden Strophen übergeleitet. Den Klavierzwischenspielen kommt dabei eine große Bedeutung zu. Sie verbinden nicht nur die einzelnen, in ihrer musikalischen Faktur recht unterschiedlichen Teile des Liedes, sie sind eigentlich sein musikalisches Fundament.


    Die zweite Strophe setzt mit einem musikalischen Motiv ein, das überaus lyrisch wirkt, von einem wiegenden Rhythmus getragen ist und sich auf der Stelle einprägt. Es stellt sich heraus, dass es wie eine Art Leitmotiv fungiert. In weit ausgreifender Bewegung der melodischen Linie, die in der Wiederholung dann absinkt, wird das Bild vom „Abendsonnenschein“ musikalisch beschworen.


    Die dritte Strophe wird von triolischen Achtelakkorden im Klavierdiskant klanglich geprägt. Es zeigt sich also immer wieder, dass – wie eigentlich immer in Liszts Liedern – auch hier das Klavier „den Ton angibt“. Die Singstimme setzt wieder mit dem Leitmotiv ein, dieses Mal aber in leicht abgewandelter Form. Das Bild von der „schönen Jungfrau“, die ihr „goldenes Haar“ kämmt, entfaltet sich mit großer lyrischer Emphase. Die melodische Linie der Singstimme greift in hohe Lagen aus, das Klavier kommt von den Achtelakkorden ab und entfaltet gewaltige Arpeggien. Das steigert sich sogar zu regelrechter Dramatik im nachfolgenden Zwischenspiel („Allegro agitato molto“), das das lyrische Bild von der „gewaltigen Melodei“ aufgreift.


    Vor dem Beginn der fünften Strophe, in der es um den „Schiffer im kleinen Schiffe“ geht, setzt ein triolisches Pochen im Klavierdiskant ein, und auf dessen Grundlage erklingt eine stockende, chromatisch nach oben drängende melodische Bewegung, die ihren Höhepunkt ganz sinngemäß bei den Worten „in die Höh“ erreicht. Danach folgt ein regelrechter Wirbel im Klavierbass, von akkordischen Aufwärtsbewegungen im Diskant begleitet. Die melodische Linie der Singstimme steigt darüber, in stockendem Ton syllabisch exakt deklamierend, mit einer Art Klageton langsam herab, in großen und kleinen Sekundschritten, über eine ganze Oktave hin, und sie landet schließlich bei dem Wort „Kahn“ auf ihrem tiefsten Ton, einem „es“.


    Der zweitletzte Vers, wird, deutlich von der Dramatik des Zwischenspiels abgehoben, in schlichtem Erzählstil gesungen, - eher rezitiert, von einfachen Akkorden getragen. Der Schluss des Liedes, der aus einer mehrfachen Wiederholung der beiden letzten Verse besteht, ist von liedhafter, fast unschuldig wirkender Schlichtheit. Das musikalische Leitmotiv liegt ihm zugrunde, und es wird kompositorisch in mehrfach abgewandelter Form eingesetzt. Der Reiz liegt dabei darin, dass die zauberische Lieblichkeit von Melodik und in Triolen aufklingender Harmonik ja eigentlich Kommentar zum Untergang des Schiffers ist.

  • Lieber Helmut,


    wieder einmal hast Du dieses Lied - eins der eindrucksvollsten von Liszt überhaupt, finde ich - sehr schön auch ohne Musik nachvollziehbar beschrieben. Alle Aufnahmen, die ich habe, bevorzugen offenbar die 2. Fassung. Dank verdienen natürlich auch die biographischen Notizen!


    Beste Grüße
    Holger

  • Ja. Du hast recht, lieber Holger, wenn Du Liszts "Loreley" als eines seiner eindrucksvollsten Lieder bezeichnest: Er kann hier all eine kompositorischen Fähigkeiten entfalten und zeigt, ähnlich wie bei dem Lied "Ich möchte hingehn" (Text Herwegh), das ich oben schon besprochen habe, großes Einfühlungsvermögen in den lyrischen Text.


    Die zweite Fassung ist nicht genau datierbar: Im Werkverzeichnis wird 1854-59 angegeben. Liszt hat übrigens auch auch Version für Klavier solo (1843, überarbeitet 1861) und für Sopran und Orchester vorgelegt (1860).


    Es gibt unzählige Vertonungen dieses Gedichts. Eine davon stammt von Clara Schumann. Ich habe mal einen Vergleich mit der Vertonung von Liszt angestellt und werde darüber berichten.


  • Es gibt unzählige Vertonungen dieses Gedichts. Eine davon stammt von Clara Schumann. Ich habe mal einen Vergleich mit der Vertonung von Liszt angestellt und werde darüber berichten.

    Lieber Helmut,


    das wäre wirklich sehr spannend! Ich freue mich! :)


    Beste Grüße
    Holger

  • Wenn Holger, Liszts Lied "Loreley" betreffend, feststellt: "Alle Aufnahmen, die ich habe, bevorzugen offenbar die 2. Fassung. "


    ... so gibt er einen Sachverhalt wieder, er nicht nur für seine CD-Sammlung zutrifft. In der Tat wird in der Regel die zweite Fassung von Liszts "Loreley" gesungen. Das liegt daran, dass hier, wie in so vielen Fällen, die Neufassung des Liedes eine deutlich stärkere Annäherung der Musik an die lyrischen Bilder hören lässt. Sie ist als Lied ganz einfach die bessere!


    Die erste Fassung trägt noch stark die Züge einer Arie. Die melodische Linie der Singstimme bewegt sich in weiten und zu großen Höhen ausgreifenden Bögen. Interessant ist aber, dass das musikalische Motiv, das in der zweiten Fassung mit der Überleitung zur zweiten Strophe aufklingt und eine Art Leitmotiv-Funktion hat, auch in der ersten Fassung schon vorhanden ist. Es beherrscht in der Klavierbegleitung dort die ganze zweite und auch einen Teil der dritten Strophe. Es wundert nicht, dass Liszt es in die Neufassung des Liedes übernommen hat, denn es ist ja wirklich überaus eingängig.

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  • Heines Gedicht wurde u.a. auch von Clara Schumann vertont. Ich mache wieder einen Hörvergleich in der Absicht, Liszts spezifische Liedsprache auf diese Weise noch besser fassen zu können.


    Clara Schumanns Vertonung unterscheidet sich, das ist unüberhörbar, ganz wesentlich von der Liszts dadurch, dass sie eine deutlich geringere musikalische Binnendifferenzierung aufweist. Dahinter steht offensichtlich eine andere, das Wesen der Liedkomposition betreffende Grundhaltung, die der Schuberts und Schumanns näher ist als die Liszts. Wo dieser durch die Vielfalt der lyrischen Bilder sich inspiriert fühlt, eine entsprechende Vielfalt der musikalischen Ausdrucksmittel einzusetzen und das Lied damit zu einem komplexen Gebilde mit großer innerer klanglicher Vielfalt werden zu lassen, will Clara Schumann die in sich geschlossene „Einheit des musikalischen Gebildes Lied“ möglichst weitgehend wahren. Sie tut das, indem sie ihm einen durchgehenden klanglichen Grundcharakter verleiht.


    Dieser klangliche Grundcharakter klingt schon am Anfang auf. Nicht etwa in der Klaviereinleitung, denn eine solche gibt es nicht, - auch das ein bemerkenswerter Unterschied zu Liszts Vertonung. Dieser das Lied durchgehend prägende klangliche Charakter ist schon in den ersten Takten im Zusammenspiel von Singstimme und Klavier zu vernehmen. Das Lied weist einen triolischen Rhythmus auf, der sehr stark an Schuberts „Erlkönig“ erinnert und dem Lied eine ausgeprägte Dramatik und hohe Dynamik verleiht.


    Die melodische Linie der Singstimme ist sehr eng an die lyrische Sprache angebunden. Das „Ich weiß nicht, was soll es bedeuten…“ wird so rasch deklamiert, wie man es bei einem Vortrag des Gedichts sprechen würde. Dann folgt ein Klavierzwischenspiel, bei dem die Triolen so aufklingen, wie man sie aus Schuberts „Erlkönig“ kennt, - natürlich anders harmonisiert.


    Die folgenden Verse (Ein Märchen aus uralten Zeiten…“) sind im Klangcharakter, in der Melodik und der Harmonik also, nicht wesentlich von dem des ersten Verspaares abgehoben, obwohl lyrisch doch etwas anderes angesprochen wird. Das ändert sich aber bei lyrischen Bild vom „Gipfel des Berges“: Die melodische Linie fließt jetzt ruhiger – bei weiterhin triolischem Grundrhythmus allerdings - , und bei dem Wort „Abendschein“ hält die Singstimme sogar ein hoher Lage kurz inne, und ein Klavierzwischenspiel folgt nach.


    Dieses weist nun einen tänzerischen, ja heiteren Rhythmus auf. Damit wird zum Bild von der „schönen Jungfrau“ übergeleitet. Sehr lebhaft wirkt die melodische Linie jetzt. Die dramatische Innenspannung des Liedes kehrt aber wieder zurück bei dem lyrischen Bild von dem „Schiffer im kleinen Schiffe“. Bei dem Wort „Weh“ erfolgt ein melodischer Sprung in große Höhe, der fast wie ein Klageschrei wirkt. Klagend geht es dann auch weiter. Das „Ich glaube, die Wellen verschlingen“ wird in hoher Lage deklamiert.


    Wie eine einfache Feststellung kommen die Schlussverse „Und das hat mit ihrem Singen…“ melodisch daher, und zwar deshalb, weil sie aus dem fortlaufenden Rhythmus artikuliert und nicht besonders akzentuiert werden. Sie werden aber als einzige Verse des Liedes wiederholt: Jetzt in Form einer fallenden, mit deutlichem Klageton versehenen melodischen Linie.


    Der Vergleich mit der Vertonung des Heine-Gedichts durch Clara Schumann lässt erkennen, dass Liszt das kompositorische Grundmodell des Liedes, wie es Schubert und Schumann vorgelegt haben – und woran Clara Schumann sich orientiert - , für sich nicht mehr als richtungweisend gelten lassen will. Es würde ihm die Freiheit nehmen, sich im Sinne seines Konzepts von der „Dichtung in Tönen“ gleichsam ungehindert von der evokativen Kraft der lyrischen Bilder inspirieren zu lassen.

  • Lieber Helmut,


    hochspannend! Besten Dank! Sehr eindrucksvoll, Clara Schumanns Vertonung! Einheit des Charakters - Vielheit der Charaktäre könnte man den Gegensatz zu Liszt beschreiben!


    Ich habe noch ein Problem mit den verschiedenen Fassungen: Bei Mignons Lied steht bei Margeret Price (1856 Searle 468 ) bei Brigitte Faßbänder nur "Erste Fassung". Du hast glaube ich die Version besprochen, die M. Price singt. Die Wiederholungen bei B. Faßbänder sind schlichter. (Hildegard Behrens bekomme ich die Tage auch noch!) Um welche handelt es sich also genau?


    Beste Grüße
    Holger

  • Ja, Clara Schumanns Lied ist eindrucksvoll, lieber Holger. Ich rätsele nur immer noch an der Frage herum,, warum das Lied diese unüberhören Anklänge an Schuberts "Erlkönig" aufweist. Clara Schumann muss Schuberts Lied gekannt haben. Nachweisen kann man dies zwar nicht, aber es ist hochwahrscheinlich.


    Ich vermute: Sie will den "Vorgang" der Verführung des "Schiffers" und seinen nachfolgenden Untergang in die Nähe dessen rücken, was im"Erlkönig" geschieht. Ich glaube, dass dies ein ganz bewusster kompositorischer Akt war. Im deutlichen Unterschied zu Liszt, liest sie in Heines Ballade die dichterische Gestaltung einer fundamentalen existenziellen Gefährung des Menschen. So hört sich dieses Lied auch an!


    Auf Deine Frage zu Liszts "Mignons Lied" gehe ich aus formalen Gründen gesondert ein.

  • Zunächst einmal: Ich schrieb in meiner Besprechung des Liedes (Betrag Nr.50): "Auch dieses Lied, von dem es zwei Fassungen (von 1842 und 1860) gibt, …"


    Das ist falsch. Es gibt drei Fassungen: Eine von 1842, die nächste von 1854 (?, nicht genau datierbar) und die letzte von 1860. Den Fehler machte ich, weil auf meinen Noten steht: „Erste Fassung 1843“ und ich damals noch nicht das Werkverzeichnis von Liszt zur Hand hatte.


    Besprochen habe ich aber diese erste Fassung. Von der zweiten habe ich die Noten nicht, wohl aber von der dritten. Auf diese möchte ich aber jetzt nicht mehr im einzelnen eingehen, - aus den oben genannten Gründen (ich möchte die Sache nicht ins Endlose ausufern lassen).


    So viel aber zur dritten Fassung. Die melodische Linie der Singstimme ist in ihrer Grundstruktur mit der der ersten Fassung weitgehend identisch. Deutlich anders aber ist die Klavierbegleitung angelegt. Man könnte generalisierend sagen: Sie ist in ihrer Struktur einfacher.


    Das beginnt schon mit der Einleitung. In der letzten Fassung besteht sie aus Einzeltönen, die aus dem Klavierbass in den Diskant aufsteigen und erst im fünften Takt in einen arpeggierten Akkord münden. An der Stelle „Dahin dahin…“ finden sich zum Beispiel fallende Triolenfiguren.


    Der Schluss des Liedes enthält auch in der letzten Fassung Wiederholungen. Er lautet dort:


    Kennst du ihn wohl? / Kennst du ihn wohl? / Kennst du das Land? / Kennst du das Haus? / Kennst du den Berg? / Kennst du sie wohl? / Dahin, dahin geht unser Weg / o Vater, laß uns zien! / Dahin, dahin, dahin geht unser Weg / o Vater, o Vater, dahin laß uns ziehn! / Dahin laß uns ziehn! / Dahin geht unser Weg, o Vater / o mein Beschützer / Geliebter, dahin! / Dahin!“


  • Lieber Helmut,


    was Du über Clara Schumann vermutet, da liegst Du glaube ich völlig richtig! Herzlichen Dank auch für die Ausführungen zu den verschiedenen Fassungen beim Mignon-Lied! :) Im CD-Klappentext bei beiden Aufnahmen ist der Wortlaut so abgedruckt, wie er tatsächlich gesungen wird - und nicht Goethes Original. Offenbar war die Wiederholung in der 1843er Version schlichter. Aufschlußreich finde ich auch Goethes umgebenden Text. Mignon unterbricht, Wilhelm ansprechend, nachdem sie das Lied zweimal gesungen hat, sie wiederholt es also in einer Art Endlosschleife. Offenbar hat Liszt versucht, das Gelesene in der Vertonung einzufangen, worauf Du ja schon hingewiesen hattest. Das scheint mir auch plausibel.




    Liszt Fassung
    1856 (Searle 468 ), gesungen von M. Price



    Kennst du das Land? Kennst du den Berg mit seinem Wolkensteg?
    Das Maultier sucht im Nebel seinen Weg,
    In Höhlen wohnt der Drachen alte Brut,
    Es stürzt der Fels und über ihn die Flut,
    Kennst du ihn wohl?
    Kennst du das Haus?
    Kennst du den Berg? Kennst du sie wohl?
    Dahin! Dahin geht unser Weg, o Vater laß uns ziehn!
    Dahin geht unser Weg, o Vater,
    O mein Beschützer, Geliebter, dahin!



    Liszt Erstfassung, gesungen von B. Fassbänder



    Kennst du den Berg mit seinem Wolkensteg?
    Das Maultier sucht im Nebel seinen Weg,
    In Höhlen wohnt der Drachen alte Brut,
    Es stürzt der Fels und über ihn die Flut,
    Kennst du ihn wohl?
    Kennst du das Land, das Haus, den Berg?
    Kennst du sie wohl?
    Dahin! Dahin geht unser Weg, o Vater laß uns ziehn!


    Beste Grüße
    Holger

  • Von diesem Lied auf ein Gedicht von Heinrich Heine gibt es drei Fassungen. Die erste entstand 1843, die zweite (deutlich veränderte) 1856, und die dritte, die nur noch leichte Veränderungen gegenüber der zweiten aufweist, wurde 1860 veröffentlicht. Die zweite Fassung, die hier besprochen werden soll, zeigt wieder die Wandlung in der kompositorischen Grundhaltung Liszts, wie sie schon mehrfach hier dargestellt wurde: Die stärkere Berücksichtigung der sprachlichen Gestalt und der Semantik des lyrischen Textes in der musikalischen Faktur.


    Im Rhein, im schönen Strome,
    da spiegelt sich in den Wellen
    mit seinem großen Dome
    das große, das heil´ge Köln.


    Im Dom, da steht ein Bildnis
    Auf goldnem Leder gemalt:
    In meines Lebens Wildnis
    hat´s freundlich hineingestrahlt.


    Es schweben Blumen und Englein
    Um unsre liebe Frau,
    die Augen, die Lippen, die Wänglein,
    die gleichen der Liebsten genau.


    Gleichwohl ist auch dieses Lied eine typische Liszt-Komposition: Text und Musik sind nicht mehr in der engen Weise miteinander verschmolzen, wie man das von Schubert oder Schumann her kennt. Vielmehr wirkt der dichterische Text in der Form prägend auf die Musik ein, dass diese das einzelne lyrische Bild in seiner spezifischen evokativen Kraft aufgreift und mit ihren Mitteln zum Ausdruck bringt.


    Schon die Klaviereinleitung zeigt ein typisches Merkmal des Liszt-Liedes: Sie enthält ein musikalisches Thema, das das ganze Lied prägt und beherrscht. Bei Liszt ist, wie man schon an diesem kompositorischen Strukturmerkmal erkennen kann, die Musikalisierung des Kunstliedes in vollem Umfang erreicht. Das Thema schält sich klanglich aus wogenden Sechzehntel-Triolen heraus, die ganz unüberhörbar von dem für Liszt zentralen Bild des „schönen Stromes“ hergeleitet sind.


    Darüber bewegt sich die Singstimme in zunächst ruhigem Erzählton, mit nur kleinen Intervallen in ihrer Bewegung. Eine Veränderung tritt mit dem Bild „das große, das heil´ge Köln“ ein. Die Klaviertriolen halten inne, es erklingen drei Akkorde, und die Singstimme bewegt sich über ein deutlich größeres Intervall hinauf zum hohen „fis“. Die drei, im Fortissimo die fließenden Triolen ersetzenden Akkorde greifen, wie das eben für Liszt ganz typisch ist, dieses singuläre lyrische Bild auf.


    Danach folgt ein dreitaktiges Zwischenspiel, in dem die Triolen mit dem eingelagerten musikalischen Leitmotiv des Liedes wieder einsetzen. Auch die Singstimme wiederholt, mit leichten Varianten, die melodische Linie, die auf den beiden ersten Versen liegt. Bei dem Wort „freundlich“ („…hineingestrahlt“), das wiederholt wird, macht die Vokallinie eine bogenhafte Bewegung mit eingelagertem Melisma. Dieses Wort soll eben in seinem semantischen Gehalt musikalisch ausgeleuchtet werden.


    Einen ausgeprägt lieblichen Ton nimmt die Musik bei dem Bild von den „Blumen und Englein“ an. Alles erklingt im Pianissimo: Die wiederum bogenförmig angelegte melodische Linie ebenso, wie die in hoher Lage sich entfaltenden Arpeggien im Klavierdiskant. In markanter und vom bisherigen Klangbild deutlich abweichender Weise sind die Verse: „die Augen, die Lippen, die Wänglein, die gleichen der Liebsten genau“ kompositorisch gestaltet. Zugrunde liegt hier ein Wechselspiel zwischen Singstimme und Klavier. Immer, wenn der eine sich artikuliert, schweigt der andere, - und umgekehrt. Die Vokallinie bewegt sich dabei in Sekundschritten aus hoher Lage abwärts, und im Klavier erklingen Akkorde mit einer melodischen Aufwärtsbewegung im Bass.


    Wie bei Liszt eigentlich zu erwarten, wird dieses letzte Bild des Gedichts musikalisch voll ausgekostet: Die Verse und Wortelemente aus ihnen werden mehrfach wiederholt, wobei aus den Wänglein“ „Wängelein“ werden und über dem Wort „Liebsten“ ein groß angelegtes Melisma in der Vokallinie erklingt. Das Nachspiel wiederholt das musikalische Leitmotiv, dieses Mal aber in akkordischer Form.

  • Lieber Helmut,


    das hast Du wieder einmal sehr präzise und lebendig beschrieben! Ein Vergnügen zu lesen. Bemerkenswert finde ich die Schlußstrophe. Die Identifikation der heiligen Jungfrau mit den Zügen der Geliebten, bei Heine pure Ironie, nimmt Liszt ernst. Dafür gibt es wohl auch einen Grund. Der französische Liszt-Forscher Serge Gut bemerkt zum Klavierstück "Sposalizio", daß die Züge Marias auf Raffaels Bild denen Marie d´Agoults gleichen und Liszt da eine bewußte Identifikation vorgenommen habe. Dafür spreche auch, daß Liszt das Stück für Chor und Orchester setzte und mehrfach mit "Ave Maria" versah, eine Anspielung auf seine damalige Geliebte. Diese Parallele erklärt einiges, finde ich. Überhaupt scheinen die romantischen Heine-Vertonungen - dasselbe gilt wohl für Schumann - für Heines Ironie kaum empfänglich gewesen zu sein.


    Beste Grüße
    Holger

  • Ich würde, lieber Holger, bei diesem Gedicht Heines weniger von "Ironie" als von einem subtilen assoziativen Gedankenspiel mit dem Anflug von Blasphemie sprechen. Gleichwohl hast Du recht: Liszt ist weit davon entfernt, dieses in Musik umzusetzen. Hinter seiner Musik zu diesem Bild steht großer Ernst.


    Wie Serge Gut auf diese Idee kommt, es habe Ähnlichkeiten zwischen dem Madonnenbild und Marie d´Agoult gegeben, ist mir ein wenig rätselhaft. Die Bilder, die ich von der Dame kenne, und die Schilderungen ihres Aussehens laufen alle darauf hinaus, dass sie alles andere als eine madonnenhafte Erscheinung war. Dazu war sie im übrigen auch viel zu resolut! Was eher wahrscheinlich ist: Liszt war 1838 mit Marie d´Agoult am Comer See, und danach ging es weiter nach Mailand, Florenz und Rom. Liszt war verliebt. Ich gehe mal davon aus, dass er, wie so mancher Verliebte, die Realität ein wenig ausgeblendet und deshalb in der Madonna seine Marie gesehen hat.


    Keine der Vertonungen des Gedichts, die ich kenne, greift diesen Anflug von Blasphemie musikalisch auf. Weder Schumann, auf den ich noch einmal eingehen werde, noch Robert Franz. Letzterer hat dieses Gedicht in eine Liedkomposition von durchgehender Lieblichkeit und sanfter Heiterkeit umgesetzt. Die melodische Linie ist in der ersten und der dritten Strophe volksliedhaft schlicht. Nur in der zweiten schleichen sich vorübergehend Molltöne ein, und zwar bei den Worten "in meines Lebens Wildnis". Aber schon bei "Hat´s freundlich hineingestrahlt" dominieren wieder Dur-Klänge. Ein sehr zarter Ton herrscht in der dritten Strophe vor: Bei "Wänglein" erhebt sich die melodische Linie zum höchsten Ton des ganzen Liedes. Das "die gleichen der Liebsten genau" wird mit großem, bedeutsamem Ernst gesungen. Nichts von Ironie oder Blasphemie!

  • Dieses Heine-Gedicht wurde u.a. zwar auch noch von Robert Franz vertont, die berühmteste und bekannteste Liedkomposition ist jedoch die von Robert Schumann (Lied 6 in „Dichterliebe“). Sie soll hier nicht ausführlich besprochen, sondern nur aus dem Blickwinkel des Liedes von Liszt betrachtet werden.


    Es ist durchaus kein Zufall, dass Schumann aus Heines „schönem“ Strome einen „heiligen“ macht: Die musikalische Faktur seines Liedes ist in ihrem Grundton ganz und gar auf dieses Wort abgestellt. Man hört schon vom ersten Takt an deutliche Anklänge an die Orgelmusik Bachs. Die schweren, lastenden „Orgelbässe“ im Klavierbass werden im Diskant von zumeist fallenden Achtel-Figurationen umspielt, und die lyrischen Bilder des Gedichts rücken damit in die Aura des Heiligen, Numinosen.


    In der ersten Strophe folgt der Klavierbass fast durchgängig der melodischen Bewegung der Singstimme und verleiht deren Aussage dadurch besonderes Gewicht und den Beiklang von Ernsthaftigkeit. Dies besonders auch dadurch, dass die jeweiligen metrischen Schwerpunkte der Verse mit einem rhythmischen Akzent versehen werden.


    Deutlich heller und mit einem leichten Anflug von Lieblichkeit versehen wirkt das Klangbild zu Beginn der zweiten Strophe. Der Grundrhythmus bleibt zwar erhalten, die schweren „Orgelbässe“ sind aber jetzt, zumindest bei den ersten beiden Versen, durch Oktaven im Klavierdiskant und Achtel in den oberen Lagen des Basses ersetzt, die die Singstimme in der Terzlage begleiten. Nur leise melden sich dann die Bässe wieder bei den beiden folgenden Versen. Der liebliche Grundton bleibt erhalten, wird aber mit dem Akzent der Bedeutung dessen versehen, was da lyrisch gesagt wird.


    Das Zwischenspiel vor der letzten Strophe stimmt mit seinen rhythmisiert fallenden Akkorden auf die Besinnlichkeit der Betrachtung des folgenden Bildes ein. Dieses lyrische Bild der Madonna wird von Schumann mit einer faszinierend schwebenden Melodik in der Singstimme musikalisch aufgegriffen. Durch die beibehaltene Rhythmisierung in den Figuren der Klavierbegleitung wird dieser Eindruck des fast tänzerischen Schwebens noch verstärkt.


    Nur ein einziges Mal wird in diesem Lied eine Wortgruppe wiederholt, und dies geschieht auf kompositorisch großartige Weise. Im Rahmen einer fallenden, jedoch nun höher (um eine kleine Terz) ansetzenden melodischen Bewegung werden die Worte „die Lippen“ wiederholt. Zuvor ist eine Achtelpause vorgeschaltet, die wirkt, als würde die Singstimme Atem holen, um dem, was sie zu sagen hat, ganz besonderes Gewicht zu verleihen. Mit einem Ritardando wird die in sich gekehrte Besinnlichkeit des Betrachters beim Anblick des Madonnenbildes musikalisch suggeriert.


    Der Unterschied zu Liszts Komposition ist unüberhörbar. Wo dieser eine Vielfalt von klanglichen Einzelfigurationen ins das Lied bringt, die von Elementen der jeweiligen lyrischen Bilder evoziert werden, setzt die Komposition von Schumann in gleichsam in sich geschlossener Form an der Perspektive des lyrischen Ichs an und reflektiert musikalisch dessen Emotionen und Gedanken bei der Begegnung mit dem Madonnenbild. Das ist ein grundlegend anderer kompositorischer Ansatz.

  • Lieber Helmut,


    da müßte man biographisch noch einmal nachhaken: Es gibt wohl Anhaltspunkte, daß Liszt die Jungfrau Maria mit seiner Maria identifiziert hat - was zum romantischen Geist ja auch paßt. Letztlich ist das aber auch nicht erheblich für die Interpretation des Stücks. Mit fällt auf, daß die Harmonien zu Beginn im Klavier sehr verblüffend nach Rachmaninow klingen. Ob Rachmaninow dieses Liszt-Lied kannte? Schumanns Vertonung gefällt mir sehr und erinnert mich spontan an Bach - strenger Bachscher Geist als Verkörperung des gothischen Doms, das würde passen. Liszt dagegen ist "bildhaft". Mit dem lyrischen Ich habe ich dagegen Probleme. Wo ist denn das bei Heine überhaupt? Er vermeidet doch ganz bewußt die lyrische Ich-Rede, gibt einen episch-distanzierten Bericht, was ja wiederum Ausdruck ironischer Distanzierung ist. Das "Lyrische" haben die Romantiker da letztlich hineininterpretiert - Schumann und Liszt auf ganz verschiedene Weise.


    Als kleines Intermezzo eine Interpretation von "Pace non trovo" - ich finde, eine ausführlichere Besprechung zumindest eines Petrarca-Sonnets darf hier nicht fehlen. Ich hoffe, die Annäherung ist mir einigermaßen gelungen.


    Beste Grüße
    Holger

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  • Den Frieden find ich nicht und darf nicht kämpfen;
    Und fürchte, hoffe, brenne, werde Eis;
    Und schwing mich auf zum Himmel, liege am Boden;
    Fühl niemand mich verbunden und umarm die ganze Welt.


    So knechtet er mich, gibt mir weder Freiheit noch Ketten;
    Will mich nicht als sein eigen, doch löst die Bande
    nicht;

    Zwar tötet Amor nicht, doch gibt er mich nicht frei;
    Will nicht, dass ich lebe, und befreit mich nicht von
    meiner Mühsal.


    Ich lebe ohne Auge, hab keine Zunge und schrei auf;
    Sehne den Tod herbei und ruf um Hilfe;
    Mich ekelt vor mir selber, doch lieb ich andere!


    Der Schmerz erquickt mich, unter Tränen lach ich;
    Leben und Tod verdrießen mich in gleichem Maße
    Und dieser Zustand, Herrin, ist nur Eure Schuld!


    Petrarca beschreibt die Liebe hier als eine dämonische
    Naturgewalt, Amor nicht als niedliche Putte, vielmehr eine entsetzliche Furie,
    welche die Seele in Aufruhr bringt und zerrüttet. Das Subjekt verliert jeglichen
    Halt, weiß nicht mehr, wie ihm geschieht, weder ein noch aus. Nicht nur
    Ambivalenz, Widersprüchlichkeit ist der verwirrende Zustand der Liebe: Der
    Liebende fühlt sich zugleich erhitzt und zu Eis erstarrt, im Himmel und in der
    Hölle, einsam und von pantheistischem Allgefühl beseelt, gefesselt und doch
    wieder frei, stumm vor Schmerz und zugleich aufschreiend, den Tod
    herbeiwünschend und nach Hilfe rufend, treu und untreu in einem, den Schmerz
    zugleich genießend und die bitteren Tränen verlachend. Schuld daran ist der
    Gott der Liebe in Gestalt der „Herrin“, der von Petrarca angebeteten Laura. Bei
    all dem bleibt jedoch die Dichtung „gefasst“, wofür die strenge Sonnettform
    sorgt.


    Es zeigt sich nun, dass Liszts

    Vertonung genau diese Geschlossenheit des Sonnetts aufbricht. Musikalisch
    geschieht dies einmal durch die – freilich sehr frei gehandhabte – Form der
    Arie, welche die Gedichtform überlagert. Dafür spricht nicht zuletzt die Rolle
    des Klaviers. Es beginnt alleine mit sehr aufgewühlten, bizarren Akkorden, wie
    schroff in den Himmel ragende Gebirgszacken. Diese Einleitung des Klaviers
    wiederholt sich nach Abschluss der ersten Strophe. Erkennbar wird damit das für
    die Arie typische Wechselspiel Ritornell-Gesangssolo. Das Klavier vertritt hier
    gleichsam sehr „konzertant“ die Rolle des Orchesterritornells. Diese wird aber
    gleichwohl nur angedeutet und nicht fortgeführt – die folgenden Strophen bilden
    eine Einheit, das Klavier schiebt sich hier nicht mehr dazwischen. Der zweite
    Hinweis auf die Form der Arie ist die Schlusszeile In questo stato son,
    Donna, per Vui („Und dieser Zustand, Herrin, ist nur Eure Schuld!“),
    die
    musikalisch als Reprise der ersten Zeile des Gedichtes erscheint: Pace non
    trovo...
    Es ergibt sich so eine Liedform ABA mit der für die Da-capo-Arie
    typischen Raum für die freie Improvisation in der Reprise, von der Liszt am
    Schluss ausgiebig gebracht macht. Das Improvisieren auf der Schlusszeile
    gipfelt in einer raumgreifenden Kantilene, in der die bei Petrarca ungenannte
    „Laura“ beim Wort gerufen wird.


    Während die Sonnettform die Gegensätze nur Zeile für Zeile
    aneinanderreiht, ergibt sich in der Vertonung der ersten Strophe eine
    dynamische Verdichtung auf das Ende hin: In den ersten beiden Zeilen gibt die
    Vertonung die Antithesen des Textes sehr rhetorisch „wortgetreu“ phrasierend
    wieder. Das ändert sich jedoch mit der dritten: Die grollenden Klavierbässe
    erwecken tonmalerisch ein Bild des Aufruhrs. Gefühl steigert sich zum
    Überschwang, der Aufschwung zum Himmel wird dramatisch überhöht und die Umarmung
    der Welt zum Ausbruch von Verzweiflung. Die Schlusszeile, welche Pantheismus
    und soziale Vereinsamung kollabierend zusammenbringt, muss auf den in seiner
    Seele zutiefst vereinsamten Weltbürger Liszt besonders assoziativ gewirkt und
    seine einfühlende Identifikation herausfordert haben, so dass die Umarmung der
    Welt zur finalen Katastrophe dieses Binnendramas der ersten Strophe wird. Die
    Musik endet abrupt mit einem Aufschrei von Schmerz – eine kurze
    expressionistische Ausdrucksgeste von elementarer Gewalt, welche die um Ausgewogenheit und
    Gleichgewicht bemühte Form des Sonnetts regelrecht sprengt.


    Nach diesem Abbruch, zu dem es

    keine Fortsetzung gibt und geben kann, kehrt die Musik zum Anfang zurück – das
    „Ritornell“ des Klaviers – sucht also einen neuen Anfang, der weiterführt. Der
    Form der Arie entsprechend gehört die zweite Strophe zum harmonisch stärker
    variierenden B-Teil, der sich bei Liszt auch die dritte und vierte Strophe –
    bis auf die Schlusszeile – bruchlos anschließen in Gestalt eines herunterzusingenden
    Strophenliedes. Dieser Abschnitt, welcher mit der Beschreibung von Amors
    göttlichem Werk beginnt, „betört“ den
    Hörer durch seine harmonische Komplexität und schön dahinschmelzendem ariösem
    Gesang, „Belcanto“ reinsten Stils. Solcher Wohllaut wird nur einmal
    unterbrochen durch das dunkel gefärbte „morte“ in „morte e vita“: Der Tod
    verweigert sich der amourösen Ästhetisierung. Die letzte Strophe steigert die
    Emphase zu einem wahren Klangrausch – erst die Schlusszeile mit ihrem Tonfall
    einer Mischung aus Wut und Trotz kehrt zum „sprechenden“ Ton der ersten Strophe
    zurück. Das Klavier improvisiert über die letzte Zeile, vertreibt wiederum den
    Ton der Anklage durch seinen Klangzauber, in welchen die Singstimme einstimmt
    durch eine betörende Kantilene in der Höhe, welche den Namen „Laura“ geradezu
    zärtlich in den Mund nimmt. Liszts Vertonung dramatisiert also nicht nur dieses
    Petrarca-Sonnett, sondern ästhetisiert zugleich. Aus der heillosen Verwirrung,
    dem Eingeständnis einer Aporie, wird eine Art apollinisch-dionysischer Rausch,
    der Genuss überwiegt, der bezeichnend in der Zeile kulminiert: „Der Schmerz
    erquickt mich, unter Tränen lach ich“.
    Das bedeutet eine „Romantisierung“
    von Petrarcas Dichtung, welche das Verstörende der Liebe zwar nicht verschweigt,
    aber letztlich ihre erlösende Dimension hervorkehrt.


    Diese Tendenz zur romantischen

    Ästhetisierung setzt sich schließlich fort in der Klavierversion, dem „Lied
    ohne Worte“ aus dem ersten Italienband des Zyklus „Années de Pèlerinage“. Das
    Klavier beginnt wiederum mit den bizarren Akkorden, die schon in der
    Liedversion zu hören waren, spart jedoch die erste Strophe mit ihren
    dramatischen Antithesen komplett aus. Das Klavierlied huldigt voll und ganz
    Amors Gesang mit all seiner harmonisch-melodischen Finesse. Die Improvisation
    der Schlusszeile In questo stato son, Donna per Vui wandelt sich in der
    Klavierfassung zum Epilog, der mit der Einleitung korrespondiert – eine
    trockene, „sprechende“ Tongebung als Resumé („der Dichter spricht“ in der Art
    von Schumann) mit einem sich anschließenden verklärenden Abgesang des zur Ruhe
    Gekommenen. In den Vibrationen des arpeggierten Schlussakkord bebt die
    seelische Erregung lediglich nach – wie das ferne Wetterleuchten eines
    Gewitters, kongenial herausgehört von Vladimir Horowitz. Liszt setzte offenbar
    voraus, dass der Pianist mit dem Inhalt des Gedichts vertraut ist, sonst hätte
    er dieses Klavierstück wohl nicht mit „Sonetto 104 del Petrarca“ überschrieben
    und die Gedichttexte aller drei Petrarca-Sonnette dem Notentext beigefügt. Der Blick auf Petrarcas Verse, er sollte den
    Pianisten vor allem eines lehren: die Antithesen sprachdeutlich
    charakteristisch herauszuarbeiten, gerade weil die das Wort gebende Singstimme
    fehlt, wie dies vorbildlich etwa Dinu Lipatti realisiert. Genau damit nämlich
    wird dieses Instrumentalstück „beredt“, zu einem Lied ohne Worte, das der Worte
    letztlich nicht bedarf.

  • Der Musikwissenschaftler Paul Raabe, der 1931 ein Werk über Franz Liszt verfasst hat, schreibt über die erste Fassung des Liedes „Im Rhein, im schönen Strome“:


    „Für Liszt war das Bild bestimmend, daß die Wellen des Stromes an dem Dom vorbeirauschen, und so ließ er denn das ganze Lied von einer fortlaufenden Triolenfigur durchziehen. Aber damit nicht genug: er fügte gleich eine zweite, etwas schwieriger zu spielende Begleitung hinzu, die aus einer ununterbrochenen Sechzehntelfigur bestand und wohl seiner Ansicht nach das Wellenrauschen noch deutlicher wiedergab. Was das Lied außerdem an >Vorgängen< enthielt, hat er in dieser ersten Fassung nicht berücksichtigt.“

    Man kann, wenn man die erste Fassung mit der zweiten vergleicht, wieder sehr schön die Entwicklung Liszts als Liedkomponist erkennen. In der ersten Fassung ist der Klaviersatz der dominierende Teil des Liedes. Er genügt sich eigentlich selbst und bedarf der Singstimme höchstens im Sinne eines Bestandteils seiner selbst.


    Man kann das an einer winzigen, aber eben doch sehr vielsagenden Kleinigkeit erkennen. Bei dem Vers „Da spiegelt sich in den Wellen“ liegt der musikalische Akzent auf der Präposition „in“. Weil Liszt primär musikalisch dachte, musste die grammatische Logik der lyrischen Sprache an dieser Stelle nun eben mal dran glauben.


    In der zweiten Fassung ist Liszt von dieser primär am Klaviersatz orientierten kompositorischen Haltung abgerückt. Zu Beginn der dritten Strophe verschwinden die Triolen, und aufsteigende Sechzehntel-Figuren treten an ihre Stelle. Wenn die Singstimme deklamiert: „Es schweben Blumen und Englein…“, dann ereignet sich mit einem Mal ein Ineinander und Zusammen von Vokallinie und Klaviersatz, und es stellt sich tatsächlich der Höreindruck des „Schwebens“ ein.


    Hier ist Liszt vom Komponisten für Klaviermusik zum Liedkomponisten geworden.

  • Es gibt wohl von dieser Erstfassung des Liedes "Im Rhein, im schönen Strome" keine Aufnahme, lieber Holger. Jedenfalls konnte ich keine auftreiben und war mal wieder aufs reine Notenlesen angewiesen. Die Sänger bevorzugen die zweite Fassung, und das aus dem Grund, den ich oben kurz skizziert habe.


    Die zweite Fassung ist die bessere, weil sie liedhafter ist und vor allem dem lyrischen Zauber der dritten Strophe des Gedichts weitaus eher gerecht wird. Die aufsteigenden Sechzehntelfiguren bei "Es schweben Blumen und Englein..." wirken wie ein silbriger, glockenhafter Klangteppich, auf dem sich die Singstimme in hoher Lage behutsam, weil mit nur geringen Intervallen bewegt. Der klangliche Eindruck des Schwebens ist Liszt auf eindrucksvolle Weise gelungen.


    Kompositorisch großartig gestaltet ist das Bild "Die Augen, die Lippen...". Die Singstimme setzt nämlich, bevor sie diese Verse singt, erst einmal aus, und im Klavierdiskant bewegen sich akkordische Achtel nach oben. Dann setzt das Klavier aus, und die Singstimme rezitiert in einer aus großen und kleinen Sekunden gebildeten Fallbewegung eben diesen Vers. Dann wieder Klavierakkorde, und wieder die Rezitation ohne Begleitung.


    Großartig finde ich das deshalb, weil die Rezitation ohne Klavierbegleitung hör- und nachvollziehbar werden lässt, wie das lyrische ich ganz und gar im Bann des Bildes steht, das sich ihm bietet. Und das Klavier akzentuiert und interpretiert dann klanglich eben diesen Eindruck in einem eigenen musikalischen Akt.


    Interessant ist übrigens - und zeigt, wie bewusst Liszt hier vorgegangen ist! - dass bei der Wiederholung dieses Verses die Triolen des Anfangs in leicht gewandelter Form wiederkehren. Man möchte, dieses interpretierend, meinen, dass jetzt die Erinnerung an den Ort wiederkehrt, an dem das lyrische Ich sich befindet - am Rhein und im Dom eben - und sich mit diesem Bild der Madonna und dem der in ihm visionär wahrgenommenen Geliebten vermischt.

  • Lieber Helmut,


    ich finde auch, das ist eines der schönsten Liszt Lieder - Deiner "sprechenden" Beschreibung merkt man an, daß Du in dieser Musik lebst! Liszt kann wirklich "magische" Momente komponieren wie kaum ein zweiter. Haben wir eigentlich schon "Die Glocken von Marling" besprochen? Das finde ich unglaublich!


    Schöne Grüße
    Holger

  • Auf das Lied „Ihr Glocken von Marling“ , das Liszt am 14. Juli 1874 komponiert und der Fürstin Marie von Hohenlohe-Schillingsfürst gewidmet hat, möchte ich erst später eingehen. Erst möchte ich das Thema „Liszt und Heine“ abschließen und bitte dabei um Verständnis für meinen Hang, bei diesem Thread mit einer gewissen Systematik vorzugehen, lieber Holger.


    Nur so viel zu diesem Lied vorab:


    Es zeigt die Fähigkeit Liszts, mit den Mitteln des Klangs einen lyrischen Text musikalisch auszuloten, auf ganz besondere Weise. Liszt wird hier zum musikalischen Impressionisten. In der Einleitung zu diesem Lied erklingt eine schwebende Septime à la Debussy!

  • Auf das Lied „Ihr Glocken von Marling“ , das Liszt am 14. Juli 1874 komponiert und der Fürstin Marie von Hohenlohe-Schillingsfürst gewidmet hat, möchte ich erst später eingehen. Erst möchte ich das Thema „Liszt und Heine“ abschließen und bitte dabei um Verständnis für meinen Hang, bei diesem Thread mit einer gewissen Systematik vorzugehen, lieber Holger.


    Nur so viel zu diesem Lied vorab:


    Es zeigt die Fähigkeit Liszts, mit den Mitteln des Klangs einen lyrischen Text musikalisch auszuloten, auf ganz besondere Weise. Liszt wird hier zum musikalischen Impressionisten. In der Einleitung zu diesem Lied erklingt eine schwebende Septime à la Debussy!

    Lieber Helmut,


    das finde ich auch am besten so - erst den Heine zuende bringen! Danach können wir ja schauen, was noch unbedingt zu "bearbeiten" wäre! Das Glockenthema und der Impressionismus, das ist natürlich sehr perspektivenreich!


    Beste Grüße
    Holger

  • Rachmaninow kannte Liszt natürlich, lieber Holger. Er hat ja seinen ganz spezifischen Klavierstil aus der Begegnung mit Liszt, Chopin und Tschaikowsky entwickelt. Dass er die Lieder Liszts gekannt hat, halte ich allerdings eher für unwahrscheinlich, denn die galten damals als "Nebenprodukt" Liszts und waren weitgehend unbekannt.


    Es ist tatsächlich im wesentlichen Fischer-Dieskau zu verdanken, dass sie wieder "ausgegraben" wurden. Die Klavierfigur in dem Moment musical Rachmaninows ist übrigens für mein Ohr nur in der Rhythmik der aus "Im Rhein, im schönen Strome" ähnlich. In ihrer Struktur besteht sie jedoch aus einer fallenden Bewegung und ist zudem chromatisch eingefärbrt, was bei Liszt ja beides nicht der Fall ist.


    Aber zugegeben: Man fühlt sich ein wenig an dieses Lied erinnert, wenn man Rachmaninows Moment musical hört.


    (Die "Années de pèlerinage" in der Interpretation von Lazar Bermann kenne ich übrigens sehr gut. Ich kaufte mir damals die Schallplattenkassette, als sie auf den Markt kam. In der Tat großartig!


  • Lieber Helmut,


    die LP-Box von Berman habe ich damals in meiner Studentenzeit gekauft. Bis dahin kannte ich zwar Liszt, habe mich mit ihm aber nicht näher beschäftigt. Bermans Platte hat mich so begeistert, daß ich dann selbst einige Stücke aus dem Zyklus gespielt habe und mich bis heute immer wieder damit auseinandersetzte, vor allem mit den Verschränkungen von Musik, Literatur, Philosophie und Malerei. Die meisten selbst guten Interpreten scheitern am 3. Band, haben Schwierigkeiten mit der Abstraktion und Reduktion der Tonsprache beim späten Liszt. Berman gelingt das vorzüglich. Er war ja der Meisterschüler von Alexander Goldenweiser, dem "Puristien" und Kritiker des "Expressivo"-Spiels in der russischen Pianistenschule. Goldenweisers Maxime, wie Berman berichtet: "Man muß jeden Ton, den man spielt, begründen können." Ich habe Berman selbst einmal im Konzert erleben dürfen, er war ein unglaublich feinsinniger Pianist!


    Das war eine Assoziation von mir mit Rachmaninow. Stimmt natürlich, die Harmonik paßt nicht zu diesem Moment musical, klingt mir aber trotzdem irgendwie Rachmaninow verwandt. Es wäre interessant zu wissen, wie es mit der Rezeption der Lieder speziell in Rußland war. Da gibt es ja eine ganz eigene Liszt-Tradition. Rachmaninows Lieder finde ich übrigens auch sehr schön! In der Düsseldorfer Rheinoper gab es mal eine wunderbare Matinee eines russischen Bassisten, die hat mich damals sehr beeindruckt. Zudem habe ich eine tolle CD mit Nicolai Gedda und Alexis Weissenberg mal durch Zufall ergattert, die sonst nirgendwo mehr zu bekommen ist!


    Beste Grüße
    Holger

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