Fanny Mendelssohn-Hensel und ihre Lieder

  • In einem eigentlich ganz anderen Zusammenhang habe ich gestern dieses Lied "Italien" mehr zufällig gehört, dem oben Gesagten ist nichts hinzuzufügen, aber auf meiner CD (Interpretin Christina Högman) folgt unmittelbar danach die Aufnahme "Fichtenbaum und Palme", und zumindest der Beginn dieses Liedes bietet ein echtes Kontrastprogramm zu dem "Italien-Lied", es kommt fast schwermütig daher, um dann nach der vierten Textzeile urplötzlich und unerwartet ein hüpfendes und beschwingtes Kavierzwischenspiel anzubieten.


    In der ersten Strophe wird auf meiner Aufnahme anstatt "auf kahler Höh´!" "kahlen Höhn" gesungen.


    In der ersten Strophe wird nur die Textstelle "mit weißer Decke umhüllen ihn Eis und Schnee" einmal von der Singstimme wiederholt, während die letzten vier Zeilen zum Teil sogar mehrfach wiederholt werden.


    Natürlich liest man auch das Booklet sorgfältig durch und da war ich dann doch etwas erstaunt, in einer Produktion von 1995 folgendes zu lesen:


    "Fanny Mendelssohn-Hensel, die älteste Schwester Felix Mendelssohns, hatte wie ihr berühmter Bruder den Familienzug des Fleißes und der Produktivität geerbt, was erklärt, daß sie die stattliche Zahl von 250-300 Liedern (je nach dem wie man zählt) komponierte."


    Fichtenbaum und Palme


    Ein Fichtenbaum steht einsam
    Im Norden auf kahler Höh'!
    Ihn schläfert; mit weißer Decke
    Umhüllen ihn Eis und Schnee.


    Er träumt von einer Palme,
    Die fern im Morgenland
    Einsam und schweigend trauert
    Auf brennender Felsenwand.


    Heinrich Heine

  • Die Überschrift zu diesem Lied stammt von Fanny Hensel, denn Heinrich Heines Text, der Teil des „Lyrischen Intermezzos“ ist, weist keine solche auf. Es entstand 1838 und fand sich in Fanny Hensels Nachlass.


    Auffällig an ihm ist die hohe musikalische Expressivität, die in der harmonischen Modulation, dem wechselnden Einsatz des Tongeschlechts, dem Einsatz von Chromatik und im Arbeiten mit dem kompositorischen Prinzip der Wiederholung wurzelt. Damit will die Komponistin ganz offensichtlich die im starken Kontrast der Metaphorik sich artikulierende Expressivität des lyrischen Textes aufgreifen.


    Mit einem klopfenden Einzelton im Diskant, der in im Viervierteltakt angeschlagene Akkorde mündet, setzt das Lied ein. Die melodische Linie der Singstimme steigt in silbengetreuer Deklamation langsam an und mündet bei dem Wort „Höh“ in eine Moll-Harmonisierung, in der sie bis zum Ende der ersten Strophe verbleibt. Diese belässt Fanny Hensel nicht in der von Heine vorgegebenen Form, sondern fügt nach dem vierten Vers noch hinzu: „Mit weißer Decke umhüllen ihn Eis und Schnee“. Diese Worte werden bedeutungsschwer auf nahezu einer Tonhöhe deklamiert, wiederum ganz und gar in Moll-Akkorde gekleidet.


    Vor der zweiten Strophe erklingen im Klavierdiskant überraschend helle Dur-Akkorde, in die sich Arpeggien einlagern. Spielerisch wirkende Klangfiguren aus Einzeltönen leiten zum Einsatz der Singstimme über. Diese steigt aus hoher Lage langsam herab, teilweise in chromatischer Linienführung. Bei den Worten „einsam und schweigend trauert“ ist sie wieder in eine Moll-Harmonisierung gebettet. Auch der letzte Vers („Auf brennender Felsenwand“), der auf ansteigender melodische Linie gesunden wird, die aber nicht auf dem Grundton, sondern auf der Quinte endet, ist in Moll harmonisiert.


    Auch jetzt wird wiederholt: „Einsam und schweigend trauert / Auf brennender Felsenwand“. Auf dem Wort trauert liegt dabei ein melodischer Bogen mit einer langen
    Dehnung, und bei dem Wort „Felsenwand“ ist ein Melisma in die Vokallinie eingelagert.


    Aber das Lied ist damit noch nicht zu Ende. Erneut deklamiert die Singstimme: „Er träumt von einer Palme, die fern im Morgenland / Einsam und schweigend trauert / Auf brennender Felsenwand / Auf brennender Felsenwand.“ Die melodische Linie weist dabei einen ausgeprägt wehmütig-lyrischen Ton auf. In zweimaligem Ansatz bewegt sie sich in kleinen Schritten, von Moll-Harmonien getragen, aus hoher Lage nach unten. Die Worte „auf brennender Felsenwand“ werden dann wieder auf einer Tonhöhe bedeutungsvoll deklamiert. Und in der Wiederholung steigt dann die melodische Linie in den Schritten eines Dur-Akkords silbengetreu über eine ganz Oktave an.


    Das ist ein Lied, das dem wehmütig-sehnsuchtsvollen und zugleich von Hoffnungslosigkeit geprägten Grundton der Metaphorik von Heines Gedicht in beeindruckender Weise musikalischen Ausdruck verleiht.


    Das Gedicht wurde auch von Franz Liszt vertont. Eine Besprechung findet sich im zugehörigen Thread (Beitrag 123, vom 10.12.2011).

  • Wenn man in einem Hörvergleich die beiden Vertonungen von Heines Gedicht „Ein Fichtenbaum steht einsam“ durch Fanny Hensel und Franz Liszt klanglich auf sich wirken lässt, so wird einem, ohne dass man dabei in die Binnenstruktur der kompositorischen Faktur vordringen muss, ein Sachverhalt bewusst, auf den man bei Fanny Hensels kompositorischem Umgang mit der Lyrik Heines schon mehrfach gestoßen ist. Auf einen Nenner gebracht könnte man ihn so in Worte fassen: Fanny Hensel verweigert sich gerne der für Heine so typischen zuweilen schroff-kontrastiven Metaphorik.


    Diese ist ja in diesem Gedicht augenfällig. Der einsame, im Norden „auf kahler Höh´“ stehende Fichtenbaum träumt. Er träumt von einer Palme, wie es zu Beginn der zweiten Strophe heißt. Aber dieser Traum enthüllt sich mit Beginn des dritten Verses der zweiten Strophe regelrecht schroff, weil unvermittelt an den zweiten Vers angeschlossen, in seiner ganzen Trostlosigkeit: Auch die Palme ist einsam, und sie trauert auf einer lebensfeindlichen, weil „brennenden“ Felsenwand.


    Liszt schöpft, das ist im Vergleich mit Fanny Hensel ganz unmittelbar hörend zu vernehmen, die Expressivität der lyrischen Bilder voll aus. Das wird schon bei den ersten Versen deutlich: „Ein Fichtenbaum steht einsam / Im Norden auf kahler Höh´“. Zunächst verharrt die melodische Linie, Silbe für Silbe deklamierend, auf einem einzigen Ton, einem „f“. Nur bei der Silbe „ein-„ (-„sam) bewegt sie sich um eine Terz nach oben. Die Klavierbegleitung besteht dabei aus lose arpeggierten Moll-Akkorden. Das „einsame Stehen“ wird hier klanglich mit großer Intensität suggeriert.


    Die Steigerung dieser Einsamkeit durch das nächste Bild gestaltet Liszt dadurch, dass er die melodische Linie von einem hohen „d“ in Terzen chromatisch über mehr als eine Oktave fallen lässt. Das Klavier begleitet jetzt mit Einzelakkorden. Es ist nicht zu viel hineininterpretiert, wenn man dieses hohe Ansetzen einer melodischen Linie mit dem Bild vom „(hohen) Norden“ musikalisch in Verbindung bringt. Schmerzvoll ist diese chromatische Fallbewegung allemal, weil sie über solch große Intervalle erfolgt.


    Und so geht das weiter. Im Grunde – und das ist der zentrale Aspekt des Hörvergleichs - akzeptiert Liszt die Hoffnungslosigkeit, auf die Heines Gedicht in seiner dichterischen Aussage letzten Endes hinausläuft. Er tut dies weit radikaler als Fanny Hensel, deren Lied ja in eine aufsteigende, die ganze Oktave harmonisch ausfüllende und in Dur harmonisierte melodische Linie mündet. Und auch der Liedanfang fängt bei ihr ja nicht eigentlich das Bild des einsamen Fichtenbaumes in seiner lyrischen Expressivität als solcher ein. Die melodische Linie wirkt hier eher musikalisch deskriptiv.


    Das „ihn schläfert“ wird bei ihr so in die Vokallinie einbezogen, dass es nicht als Aussage über die „Befindlichkeit“ des Baumes musikalisch zur Geltung kommt, sondern wie fast beiläufig berichtend, also auch wieder musikalisch deskriptiv wirkt. Das ist bei Liszt ganz anders. Hier wird die Einsamkeit des Fichtenbaumes in seiner nordischen Kälte musikalisch hörbar.


    Das gilt auch für den Schluss von Liszts Lied, dem eigentlichen lyrischen Schrecknis von Heines Gedicht. Mit fast bohrender Beharrlichkeit, wird der Vers „Auf brennender Felsenwand“ auf einem einzigen Ton syllabisch exakt deklamiert. Erst bei der Silbe „-wand“ geht es, klanglich genauso bohrend, um eine kleine Sekunde nach oben, und danach kommt eine zweitaktige Pause für die Singstimme.


    Was nachfolgt, in der Wiederholung des letzten Verses, die übrigens – bemerkenswert für Liszt – weniger exzessiv ist als bei Fanny Hensel, ist ein wirkliches klangliches Schrecknis. Man vernimmt hörend eine chromatisch langsam fallende melodische Linie, die auf dem Wort „trauert“ dann bedrückend lange verharrt, um dann in eine überaus leere und klanglich fahle Deklamation des Wortes „Felsenwand“ zu münden. Und das nicht auf dem Grundton, sondern auf der gleichsam klanglich ins Leere verweisenden Terz.


    Das alles ist um so erschreckender, weil man noch im Ohr hat, in welch lieblichen und von einer Art Glockengeläut im Klavier getragenen melodischen Tönen zuvor die ersten beiden Verse der zweiten Strophe erklangen: „Er träumt von einer Palme…“

  • Dieses Lied auf ein Gedicht von Nikolaus Lenau ist das zweite von Fanny Hensels Opus 10. Es steht im Viervierteltakt. Der „Vorwurf“ richtet sich an den, der sich darüber beklagt, dass alles vergänglich ist in dieser Welt, und der darüber in Wehmut verfällt. Er möge die eigene Wandelhaftigkeit seines Wesens bedenken, - so lautet der „Vorwurf“.


    Du klagst, daß bange Wehmut dich beschleicht,
    Weil sich der Wald entlaubt
    Und über deinem Haupt
    Dahin der Wanderzug der Vögel streicht.


    O klage nicht, bist selber wandelhaft.
    Denkst du der Liebesglut?
    Wie nun so traurig ruht
    In deiner Brust die müde Leidenschaft.


    Es ist der Komponistin gelungen, den Ton des „Vorwurfs“ auf eindrucksvolle Weise musikalisch einzufangen. Das gelingt ihr vor allem dadurch, dass dies ein stilles Lied ist, wenngleich es Passagen aufweist, die in den Forte-Bereich vordringen.


    Kompositorisch sehr gelungen – weil dem lyrischen Text gerecht werdend - ist der Einstieg. Im Klavierbass und – diskant klingt im Unisono ein melodischer Bogen auf. Die Singstimme setzt mit einem Vorhalt ein und wird schon im nächsten Takt in die fallende Linie dieses Bogens, den das Klavier wiederholt, einbezogen. Der Ton des „Vorwurfs“ bekommt durch dieses Unisono in allen Bereichen des Liedes eine starke musikalische Eindringlichkeit.


    Auf den Versen „Weil sich der Wald entlaubt“ und „Und über deinem Haupt“ liegen zwei ähnlich strukturierte bogenförmige und durch eine Pause voneinander getrennte melodische Linien. Mit schrittweise herabsteigenden, wieder durch eine Pause voneinander abgesetzten melodischen Achtelfiguren wird das Bild vom Wanderzug der Vögel musikalisch gestaltet. Das „Dahin“ wird dabei wiederholt.


    Wiederholt wird dann auch noch einmal die ganze Gruppe von vier Versen. Unter Auslassung allerdings der Passage „daß bange Wehmut dich beschleicht“. Bei der Wiederkehr des Bildes vom „Wanderzug der Vögel“ steigt die Singstimme in Form eines melodischen Bogens mitsamt Dehnung zu großer Höhe auf.


    Forte wird das „O klage nicht“ gesungen, und zwar auf einer melodischen Linie, die nach dem „O“ einen Sextfall macht. In höherer Tonlage wird das noch einmal wiederholt. Wiederholt wird auch, und das gleich zweimal auf fallender melodischer Linie, die im zweiten Fall höher ansetzt, der Vers „Denkst du der Liebesglut?“ Auf dem Wort „Liebesglut“ liegt dabei am Ende dann eine lange Dehnung in hoher Lage (ein „dis“ mit Fermate).


    Im Unisono von Singstimme und Klavier erklingen die Worte „Wie nun so traurig ruht / In deiner Brust…“. Einzeltöne sind das, Silbe für Silbe aus hoher Lage langsam, fast bedächtig herabsteigend und dem zentralen Wort Traurig“ einen starken musikalischen Ausdruck im verleihend. Auch dieses Verspaar wird wiederholt, nun aber von Akkorden im Klavier getragen. Auf den Worten „die müde, müde Leidenschaft“ liegt jetzt eine langgestreckte, sich nur im Bereich einer Terz in mittlerer Lage bewegende melodische Linie.


    Müde klingt das Lied aus, in Moll harmonisiert und mit wenig Bewegung in der Vokallinie. Erst auf der letzten Silbe des Wortes „Leidenschaft“ treten Dur-Harmonien in das Lied ein, das mit einem schlichten Akkord im Klavier schließt.

  • Dem dritten Lied aus Opus 10 liegt ein Gedicht von Nikolaus Lenau zugrunde. Es weist einen Sechsachteltakt auf und die Tempoanweisung „Andante con moto“.


    Friedlicher Abend senkt sich aufs Gefilde;
    Sanft entschlummert Natur, um ihre Züge
    Schwebt der Dämmerung zarte Verhüllung, und sie
    Lächelt, die Holde;


    Lächelt, ein schlummernd Kind in Vaters Armen,
    Der voll Liebe zu ihr sich neigt, sein göttlich
    Auge weilt auf ihr, und es weht sein Odem
    Über ihr Antlitz.


    Aufsteigende und wieder fallende Achtelakkorde klingen in der Klaviereinleitung auf. Die melodische Linie der Singstimme bewegt sich in raschen Bewegungen von Achteln auf- und abwärts, in größeren Intervallen. Das verleiht ihre eine musikalische Lebendigkeit, die das ganze Lied prägt, - eigentlich überraschend bei diesem Thema.


    Aber auf diese Weise soll wohl die Lieblichkeit der lyrischen Bilder musikalisch aufgegriffen werden. Auf den ersten drei Versen liegt jeweils eine Melodiezeile, wobei freilich für eine harmonisch-melodische Anbindung gesorgt ist, so dass eine musikalische Einheit entsteht.


    Abgesetzt davon sind die Worte „und sie lächelt, die Holde“. Die melodische Linie macht bei dem Wort „lächelt“ einen Septfall, bewegt sich dann schrittweise Silbe für Silbe nach oben, um danach – nach einer Viertelpause – die Worte „die Holde“ auf einem kleinen Bogen in tieferer Lage noch einmal zu wiederholen. Diesem Wort wird auf diese Weise ein gewisser klanglicher Zauber verliehen.


    Rasch bewegt sich die Vokallinie bei den ersten drei Versen der zweiten Strophe. Sie wirken in keiner Weise musikalisch voneinander abgesetzt, Erst bei dem Bild „es weht sein Odem über ihr Antlitz“ kommt ein wenig Ruhe in die Bewegung der melodischen Linie: Sie weist in hoher Lage größere Dehnungen auf.


    Nach einer kurzen Pause setzt das Lied mit der ersten Strophe und deren musikalischer Faktur noch einmal ein. Am Ende aber weicht diese von der der ersten Strophe dann doch ab. Die Worte „Sie lächelt, die Holde“ werden noch einmal wiederholt. Dieses Mal in Form eines weit gespannten melodischen Bogens, der am Ende in die Terz mündet und dort seinen Ruhepunkt erreicht.

  • Dieses Gedicht von Goethe, dem sich viele Liedkomponisten gewidmet haben – u.a. Zelter und Schubert – wurdel von Fanny Hensel wie auch von ihrem Bruder Felix Mendelssohn vertont. Es soll – zum Abschluss meiner Liedbesprechungen in diesem Thread – ein kurzer Vergleich angestellt werden. Zunächst das Lied von Fanny Hensel.


    Ach, wer bringt die schönen Tage,
    Jene Tage der ersten Liebe,
    Ach, wer bringt nur eine Stunde
    Jener holden Zeit zurück!


    Einsam nähr ich meine Wunde,
    Und mit stets erneuter Klage
    Traur ich ums verlorne Glück.


    Ach, wer bringt die schönen Tage,
    Jene holde Zeit zurück.


    Schon die Klaviereinleitung, die aus einzelnen, vom Bass gestützten Achtelfiguren im Diskant besteht, lässt dieses Schillern zwischen F-Dur und d-Moll erklingen, von dem das Lied harmonisch geprägt wird: Dem sehnsüchtigen Wunsch nach Rückkehr der verlorenen Liebe ist das F-Dur zugeordnet, die Klage über die Gegenwart ist mit d-Moll harmonisiert.


    Angesichts der Tatsache, dass es sich hier um ein mit einem „Ach“ eingeleitetes und ganz vom Ton der Klage geprägtes Gedicht handelt, wirkt das Lied von Fanny Hensel rhythmisch relativ lebhaft. Zwar dominiert in der melodischen Linie die Fallbewegung, gleichwohl ist es eine, die immer wieder in hoher Lage neu ansetzt und von Achteln getragen ist. Bei „Jene Tage der ersten Liebe“ eilt die Vokallinie im Sekundschritt von einem hohen „g“ hinunter zu einem „e“ in mittlerer Lage. Es ist unüberhörbar, dass die Bilder der ersten Strophe klanglich mit einem positiven Grundton versehen sind.


    Die melodische Linie weist in der zweiten Strophe einen deutlich stärker ausgeprägten Klageton auf, - obwohl der Grundrhythmus der Bewegung beibehalten wird. Nicht nur die Harmonisierung in d- Moll trägt dazu bei, es ist vor allem die Dominanz der fallenden Linie, die diesen Höreindruck bewirkt. Der Vers „Traur ich ums verlorne Glück“ wird wiederholt, um ihm das gewünschte musikalische Gewicht zu verleihen. Danach tritt eine Pause in die Vokallinie.


    Das nachfolgende „Ach, wer bringt die schönen Tage…“ wird dann auf der gleichen melodischen Linie gesungen wie beim Liedanfang.

  • Auch bei der – später entstandenen - Komposition von Felix Mendelssohn auf dieses Gedicht von Goethe findet sich – erstaunlicherweise, oder auch nicht? – die Zuordnung von F-Dur zur ersten und von d-Moll zur zweiten Strophe, wie sie bei Fanny Hensel festzustellen ist. Die Bewegung der melodischen Linie ist aber deutlich ruhiger als im Lied von Fanny. Und vor allem: Sie weist in der ersten Strophe einen lieblich-wehmütigen Ton auf.


    Bezeichnend für die Art, wie der Komponist das Gedicht gelesen hat, ist, dass das „Ach“ am Anfang musikalisch fast flüchtig artikuliert wird. Die melodische Linie hat ihren ersten Höhepunkt auf den Worten „holden Tage“ und „jene Tage“. Die Worte „jener holden Zeit“ werden ebenfalls durch einen hohen Ansatz der Vokallinie und durch Wiederholung musikalisch besonders hervorgehoben. Und als sei das noch nicht genug, werden diese beiden letzten Verse der ersten Strophe noch zweimal wiederholt.


    Beim ersten Vers der zweiten Strophe steigt die melodische Linie, nun in d-Moll harmonisiert, langsam an, und die Worte „meine Wunde“ erhalten auf diese Weise einen deutlichen musikalischen Akzent. Die Verse zwei und drei werden danach in fallender melodischer Linie wiederholt. Bei der neuerlichen Wiederholung der Worte „ums verlorne Glück“ verbleibt die Vokallinie mit einem Diminuendo versehen auf einer Tonhöhe. Danach folgt eine Pause.


    Die beiden Schlussverse nimmt Felix Mendelssohn zum Anlass für ein regelrechtes musikalisches Auskosten der dichterischen Aussage mit dem kompositorischen Mittel der Wiederholung. Zunächst wird der Schlussvers wiederholt. Dann folgt das ganze Verspaar noch einmal.


    Danach weicht Mendelssohn aber vom dichterischen Text noch radikaler ab, indem er neu ansetzt: „Eine Stunde jener holden Zeit zurück“. Bei dem Wort „holden“ erklingt ein weit ausholender melodischer Bogen. Danach endet die Vokallinie auf der Tonika.


    Beim Vergleich der beiden Lieder stößt man auf einen Sachverhalt, der einem stets aufs Neue begegnet, wenn man die Lieder von Fanny Hensel und Felix Mendelssohn nebeneinander hört: Die Vokallinie ist bei Felix in der Regel einfacher strukturiert und zugleich eingängiger im unmittelbaren Höreindruck.


    Die melodische Linie, die bei Fanny Hensel auf dem ersten Verpaar liegt, wirkt vergleichsweise komplexer in ihrer Struktur als die im Lied von Felix. Verfolgt man ihre Linienführung, dann erkennt man, dass sie weitaus stärker die Struktur und die Semantik des lyrischen Textes reflektiert. Bei Felix Mendelssohn hört man hingegen stärker den „Geist“ des ganzen Gedichts heraus, den des Wissens um den Verlust der „holden Tage“. Es ist eigentlich ganz konsequent, dass er, eben weil es ihm stärker auf die subjektiv-kompositorische Expressivität geht, deutlich stärker in die Struktur des lyrischen Textes eingreift.

  • Zitat

    zum Abschluss meiner Liedbesprechungen in diesem Thread

    Da die umfangreichen Liedbesprechungen nun zum Abschluss kommen sollen, erlaube ich mir diesen Hinweis:


    Für alle Mitleser in diesem Thread ist es vielleicht von Interesse, dass es neben dem Buch von Peter Härtling "Liebste Fenchel" noch eine recht gute Quelle mit vielen sachlichen Daten und Fakten gibt (siehe Abbildung). Der Bezugspunkt ist die Ausstellung der Musikabteilung der Staatsbibliothek zu Berlin, anlässlich des 150. Todestags der beiden Geschwister im Jahre 1997. Auf 251 Seiten des Buches, das praktisch ein Katalog zur Ausstellung ist, finden sich auch viele informative Abbildungen.
    Verlag: Dr. Ludwig Reichert Verlag Wiesbaden


  • Ist Fanny Hensel eine Liedkomponistin, die einen bedeutsamen Beitrag zur Geschichte des deutschen Kunstliedes geleistet hat, - einen, der bislang in seiner Gewichtigkeit keine angemessene Beachtung fand?


    Viele ihrer Lieder wurden hier besprochen. Nicht auf alle wirklich bedeutsamen konnte eingegangen werden, aber es dürfte doch wohl ein repräsentativer Querschnitt durch ihr liedkompositorisches Schaffen vorgenommen worden sein. Ob sich daraus eine Antwort auf diese Frage in Form einer liedanalytisch fundierten Aussage herleiten lässt? Ich weiß es nicht, bin unsicher.


    Mit liedanalytischen Aussagen allein lässt sich die historische Bedeutung eines Komponisten oder einer Komponistin nicht begründen. Es gehen in ein solches Urteil auch ästhetische Aspekte ein. Und diese wiederum sind in hohem Maße zeitgebunden und subjektiv konditioniert. Man kann aber wohl hinsichtlich des Liedwerks von Fanny Hensel mit guten Gründen festhalten:


    - Der zahlenmäßige Umfang desselben ist allein schon ein liedhistorisch bemerkenswertes Faktum;
    - das Liedwerk weist eine durchaus genuine liedkompositorische Sprache auf;
    - die Musik ist dem lyrischen Text in der Regel voll adäquat und erschließt wesentliche Aussagedimensionen desselben;
    - Melodik und Harmonik zeigen einen beachtlichen Erfindungsreichtum;
    - das Zusammenspiel von melodischer Linie und Klaviersatz ist in seiner Komplexität Resultat einer ausgeprägten kompositorischen Reflexion;
    - die Lieder haben etwas zu sagen, weil sie musikalische Expression einer reflektierten Auseinandersetzung mit dem lyrischen Text auf der Grundlage emotionaler Betroffenheit sind.


    Gerade der letzte Punkt scheint mir im Zusammenhang mit der zentralen Frage von hoher Relevanz zu sein. Fanny Hensel hat ihre Lieder wohl als Zentrum ihrer inneren „Berufung“ zur Komponistin verstanden. Diese war allerdings durch die spezifischen lebensweltlichen Bedingungen ihrer Existenz auf den Raum des Hauses reduziert und beschränkt. In ihrem kompositorischen Denken und Arbeiten fehlte die Dimension der Öffentlichkeit, die Weite des öffentlichen musikalischen Lebens, das der geschaffenen Musik die nach draußen gerichtete Expressivität zu verleihen vermag. Das Lied wird damit zum Ort der intimen, nach innen gerichteten musikalischen Artikulation seelischen Lebens.


    In einer brieflichen Antwort auf die kritische Stellungnahme ihres Bruders Felix zu ihrem Streichquartett Es-Dur von 1834 bekannte sie am 17. Februar 1835:


    Es ist nicht sowohl die Schreibart an der es fehlt, als ein gewisses Lebensprinzip u. diesem Mangel zufolge sterben meine längeren Sachen in ihrer Jugend an Altersschwäche, es fehlt mir die Kraft, die Gedanken gehörig festzuhalten, ihnen die nötige Konsistenz zu geben. Daher gelingen mir am besten Lieder, wozu nur allenfalls ein hübscher Einfall ohne viel Kraft der Durchführung gehört.“


    Aus dem Blickwinkel „Fanny Hensel als Liedkomponistin“ ist an diesem „Bekenntnis“ besonders der Begriff „Lebensprinzip“ als Angelpunkt und Zentrum der Reflexion über die eigene kompositorische Betätigung bemerkenswert. Ihr „Lebensprinzip“ war die Reduktion und Konzentration ihrer (weiblichen) Existenz auf den Raum des Hauses. Nur dort konnte sich ihr Bedürfnis nach einem Sich-Aussprechen mit den Mitteln der Musik entfalten. Das Lied war die dafür am ehesten geeignete musikalische Gattung.


    Die Behauptung, dass für die Liedkomposition allenfalls ein „hübscher Einfall“ genüge, und dass es nicht „viel Kraft der Durchführung“ brauche, ist natürlich aus der Perspektive des Dialogs mit dem großen und weltläufigen Komponisten und Künstler Felix Mendelssohn zu lesen und zu bewerten. Es braucht für die Komposition eines Liedes durchaus die „Kraft der Durchführung“, und Fanny Hensel hat hinreichend unter Beweis gestellt, dass sie über diese verfügt, denn die Faktur ihrer Lieder lässt kompositorische Reflexion, Gestaltungskraft und Zielstrebigkeit erkennen.


    Entscheidend ist darüber hinaus aber der Begriff „Einfall“, denn er benennt die durch die Begegnung mit dem lyrischen Text inspirierte musikalische Substanz eines Liedes. Man erfährt sie im Prozess der Rezeption in dem, was man mit den mehr oder weniger hilflosen Worten „emotional beeindruckend“, „melodisch und harmonisch eingängig“ und „die Seele rührend“ zu umschreiben versucht. Bei vielen von Fanny Hensels Liedern schienen mir solche Charakterisierungen und Bewertungen angebracht, weil sowohl vom Höreindruck als auch vom Studium der kompositorischen Faktur her sachlich gerechtfertigt.

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  • Lieber Helmut Hofmann, bevor ich nun ab morgen für 10 Tage laptop-los leben werde, somit auch ohne Tamino-Kontakt, stelle ich heute noch die ein oder andere Randbemerkung ein. - Fanny Hensel, wieder so ein Liedwerk, das ich im vergangenen Jahrzehnt mit wachsendem Staunen, wachsendem Respekt schätzen und lieben gelernt habe. - Ich habe in beide Threads hineingelesen, den über Felix und den über Fanny. Hier sind wir zwar im Fanny-Thread, aber mein winziger Klärungsbeitrag bezieht sich auf Felix... Hier, im Fanny-Thread, gehst Du in Kapitel 2 auf Fannys Lieder op.1 ein. Und anlässlich der dortigen Nr.3, "Warum sind denn die Rosen so blass", beziehst Du auch Felix' Fragment auf die gleiche Textvorlage ein. Du frägst Dich in Nr.39 - vollkommen nachvollziehbar -, woher die Ergänzung stammt, die auf der CD Mertens/Pirner zu hören ist. Dazu nun meine Bemerkungen.


    A) 2007 erscheint bei Breitkopf die verdienstvolle Ausgabe von Christian Martin Schmidt (einem der führenden Herausgeber der neuen Leipziger Mendelssohn-Ausgabe) "Lieder und Gesänge, neu entdeckt". Dort ist besagtes Fragment mit entsprechendem Abbruch seriös dokumentiert.


    B) 2008 schon zieht Bärenreiter nach. Eugene Asti gibt im Grunde denselben Bestand heraus, aber mit wesentlich aufwändigerem "Apparat", was das Vorwort, den kritischen Kommentar und den gesonderten Abdruck der Liedtexte betrifft. Vor allem aber ergänzt Asti auch die Fragmente. Er kennzeichnet dies absolut seriös per Kleinstich. Der Leser/Musiker wird keinen Takt lang im Ungewissen gelassen, was FMB ist und was hinzugefügt wurde.


    Wann ist die Mertens/Pirner-CD erschienen? - Daraus ließen sich dann eine oder zwei Möglichkeiten ableiten.


    C) Ehrenwerte, aber Fragen hinterlassende Variante. Mertens oder Pirner oder beide gemeinsam oder im Verbund mit Frau oder Herrn X haben selbst ergänzt, wollten aber den kreativen Anteil dran sozusagen nicht zu hoch hängen oder ihn sogar bewusst verschleiern. Das CD-Booklet müsste aber in jedem Fall erwähnen, dass ursprünglich ein Fragment vorliegt.


    D) Nassforsche (bei Interpreten aber nicht selten anzutreffende, im Urheberrechtsumgang laxe) Variante. Sie haben sich der Asti-Vervollständigung aus dem Bärenreiterheft bedient und es nicht für nötig erachtet, dies auszuweisen.


    Da ich die CD nicht kenne, kann ich besagte Beweisführung nicht selbst zu Ende bringen...


    Aber tief bestätigen will ich nochmals, für wie bereichernd ich die Beschäftigung mit Fannys und Felix' Liedern halte. Das ist schon sagenhaft - ein auf Augenhöhe komponierendes Geschwisterpaar, wo der gemeinsame Nährboden so offensichtlich (meint: -horchlich) ist wie der an fast jeder Weggabelung unterschiedlich eingeschlagene schöpferische Pfad.


    Eichendorffs Text "Nachts" (woraus bei Fanny Hensel "Nachtwanderer" wird) ist übrigens auch von Robert Franz (der 2015 sein 200. Geburtsjahr hat) und - als Duett! - von Max Reger (op. 14 Nr. 1) suggestiv vertont worden. Auch Aribert Reimanns Version von 1978 ist in diesem Zusammenhang hörenswert.


    Robert Klaunenfeld