Felix Mendelssohn-Bartholdy und seine Lieder

  • Du fragst, lieber Felix:
    „Ist Dir vielleicht bekannt, ob es zwischen Mendelssohn und Schumann einen folgenreichen Austausch über liedästhetische Vorstellungen gegeben hat?“

    Nein, davon weiß ich nichts. Jedenfalls kenne ich keine schriftlichen Quellen, die auf einen solchen „Austausch“ hindeuten. Man darf aber vermuten, dass es solche Gespräche über Liedkomposition zwischen beiden gegeben hat.


    Denn sie hatten ja – wie Dir sicher bekannt ist – recht guten Kontakt zueinander. Mendelssohn kam am 30. August 1835 nach Leipzig. Während einer Probe von „Meeresstille und glückliche Fahrt“ mit dem Gewandhausorchester stellte ihm Henriette Voigt einen etwas scheu wirkenden Musiker vor, - eben Robert Schumann. Dieser hielt von der Begegnung schriftlich fest:


    Ich sagte ihm, daß ich alle seine Compostionen gut kenne. Er antwortete etwas sehr Bescheidenes darauf. Der erste Eindruck der eines unvergeßlichen Menschen.“ (so bei Alfred Dörffel: „Geschichte der Gewandhausconcerte“, Leipzig 1884).


    Danach trafen sich Mendelssohn und Schumann regelmäßig. Am 13. September spielte er Clara Schumann zu ihrem sechzehnten Geburtstag eine Bach-Fuge vor und imitierte dabei den Stil Lizsts und Chopins.
    Ich gehe einfach einmal davon aus, dass es bei diesem engen Kontakt auch zu einem Austausch über Liedkomposition kam. Belegen kann ich dies freilich nicht.

  • Lieber Helmut,


    vielen Dank für Deine Antwort! Ich habe bisher leider auch nichts zu dieser Frage gefunden. Mir war natürlich bekannt, dass Schumann und Mendelssohn einander ab 1835 sehr oft - zeitweise beinahe täglich - sahen, doch so fleißig Schumann auch seine Beobachtungen und Gespräche mit Mendelssohn in irgendeiner schriftlichen Form festhielt, gerade über das Thema "Lied" ist mir keine einzige Aussage Schumanns zu Mendelssohn bekannt. Umgekehrt auch nicht, aber Mendelssohn äußerte sich meines Wissens gegenüber Dritten nicht sehr häufig über Schumann.
    Im allgemeinen haben die Liederstile Schumanns und Mendelssohns ja kaum Ähnlichkeiten - nur bei den genannten Beispielen erscheinen sie mir frappant.

  • Zit. Felix Meritis.: "...gerade über das Thema "Lied" ist mir keine einzige Aussage Schumanns zu Mendelssohn bekannt. "
    Mir scheint das gar kein Zufall zu sein.
    Nach all dem, was mir - rein biographisch - über die beiden und ihren dialogischen Verkehr miteinander bekannt ist, ereignete sich dieser in erster Linie auf der Ebene der Orchestermusik und ihrer Komposition. Das war ihnen wichtiger und bedeutsamer als das Thema Lied.


    Wundert einen nicht, - musikhistorisch betrachtet. Selbst für einen Schubert oder Hugo Wolf, beide eigentlich ihremWesen nach geborene Liedkomponisten, war die große Bühne, die Orchestermusik und die Oper, ihr eigentliches kompositorisches Lebensziel. Von Schumann und Mendelssohn gar nicht zu reden!

  • Zit. Felix Meritis.: "...gerade über das Thema "Lied" ist mir keine einzige Aussage Schumanns zu Mendelssohn bekannt. "
    Mir scheint das gar kein Zufall zu sein.
    Nach all dem, was mir - rein biographisch - über die beiden und ihren dialogischen Verkehr miteinander bekannt ist, ereignete sich dieser in erster Linie auf der Ebene der Orchestermusik und ihrer Komposition. Das war ihnen wichtiger und bedeutsamer als das Thema Lied.


    Wundert einen nicht. Musikhistorisch betrachtet.


    Es könnte auch eine gewisse Missbilligung am Liederstil des jeweils anderen daraus sprechen. So sehr Schumann Mendelssohn schätzte, sogar verehrte, so wenig kann ihm das altmodische Schema, dem die meisten Lieder Mendelssohns (gerade die veröffentlichten!) folgen, wirklich zugesagt haben. Konnte Schumann Mendelssohns "Lieder ohne Worte" noch als romantische Novität würdigen, so sah er dessen Klavierlieder wohl als Relikt an (vielleicht mit wenigen Ausnahmen wie "Neue Liebe" aus Op. 19 oder eben "Das Waldschloss"). Mendelssohn, hingegen, versperrte sich gegenüber einer romantischen Liedästhetik. Er sprach sich sogar in einem Brief an eine Verwandte klar gegen Balladenvertonungen á la Loewe aus.


    Heute kann man deshalb nicht umhin, Mendelssohns Lieder im Rang hinter die Schumanns und, erst recht, die Schuberts zu stellen, wobei ich aber betonen möchte, dass gerade der subtile Charme der mendelssohnschen Lieder doch sehr speziell und, wenn gut vorgetragen, anrührend ist. Für mich klingt die Musik so, als wäre sie für gute Amateure mit guten aber nicht großen Stimmen geschrieben. Manche Lieder wie etwa "Morgengruß" oder "Der Mond" klingen so natürlich als wären sie gar nicht komponiert sondern aus dem Volksliedgut entnommen worden. Ich weiß aus einem diesbezüglichen Thread natürlich, dass der Begriff "Volkslied" kontroversiell und uneindeutig ist. Was ich meine ist, dass viele Mendelssohns Lieder völlig ohne Klavierbegleitung ebenso bestehen könnten.

  • Zit. Felix Meritis: „Heute kann man deshalb nicht umhin, Mendelssohns Lieder im Rang hinter die Schumanns und, erst recht, die Schuberts zu stellen, wobei ich aber betonen möchte, dass gerade der subtile Charme der mendelssohnschen Lieder doch sehr speziell und, wenn gut vorgetragen, anrührend ist.“


    Dieser Feststellung kann man wohl zustimmen. Wenn man Mendelssohns Liedschaffen unter liedhistorischen Gesichtspunkten betrachtet, so ist es ein Faktum, dass er dem Kunstlied keinen neuen Schub gegeben hat, - in dem Sinne, dass er – wie dies etwa bei Schubert, Schumann oder Hugo Wolf der Fall war - ihm durch innovative Elemente seiner Faktur neue Ausdrucksmöglichkeiten erschloss.


    Fischer-Dieskau, der in seinem kurzen Abriss „Das deutsche Klavierlied“ (Berlin 2012) Mendelssohn nicht nur kein eigenes Kapitel widmete, sondern ihn noch nicht einmal erwähnte, meinte ja an anderer Stelle:
    „Kraft, Originalität oder Kompliziertheit sind nicht spezifische Kennzeichen der Lieder (Felix Mendelssohns)“.


    Ich habe mich oben, in Beitrag 80 (vom 24.Juni 2012), mit dieser These auseinandergesetzt. Dabei kam ich zu dem Schluss, dass dieses Urteil wohl zu pauschal ist und dem Liedschaffen Mendelssohns nicht voll gerecht wird. Ich erlaube mir, mein eigenes abschließendes Urteil hier noch einmal wiederzugeben:


    Mendelssohn sah seine Aufgabe als Liedkomponist darin, die „Vieldeutigkeit“ (Ein Begriff von ihm) des lyrischen Textes mit dem Instrumentarium der Musik in eine für alle Menschen gleichermaßen verstehbare künstlerische Aussage umzuwandeln. Das war ihm aber nur möglich, wenn er an die Fähigkeit und Kraft der Musik glaubte, das evokative Potential des lyrischen Wortes auffangen und gleichsam auf einen expressiven Nenner bringen zu können.


    Ich meine, dass dies die Erklärung für die ganz spezifische Eigenart des Mendelssohn-Liedes ist: Die Aussage des lyrischen Textes allein mit dem expressiven Potential der Melodie einzufangen und in musikalische Aussage zu verwandeln, ohne dass dabei, wie bei Schubert oder Schumann etwa, das Klavier in der Rolle eines eigenständigen Partners hinzugenommen werden muss.


    Man hat dies als ein „Schwäche“ des Mendelssohn-Liedes gesehen. Als eine Art „Zurückbleiben“ hinter dem, was sein Zeitgenosse Robert Schumann in der Ausschöpfung der Komplementarität von Melodik und Klaviersatz liedkompositorisch zukunftsweisend zustande gebracht hat. Und rein liedhistorisch betrachtet ist das ja auch zutreffend.


    Der klangliche Zauber so vieler Lieder Mendelssohns bleibt davon freilich ganz und gar unberührt. Und durchaus vielsagend ist ja, dass derselbe Fischer-Dieskau, der sich so kritisch über Mendelssohns Liedschaffen äußerte, diesem eine ganze Kassette mit schlechterdings überwältigend schönen Interpretationen widmete.

  • Lieber Helmut,


    ich gehe mit Deiner Einschätzung völlig d'accord! Es tut mir allerdings leid, dass ich Dein Resümee in Beitrag Nr. 80 nicht mehr parat hatte und Dich zu einem "redundanten" Beitrag zwang.


    Abschließend möchte ich noch hinzufügen, dass Mendelssohns Lieder, "Lieder ohne Worte" und Chorlieder quasi Denkmäler einer bürgerlichen Musizierpraxis sind, wie es sie heute leider kaum mehr gibt. Dementsprechend sind diese Genres, die Professionisten nicht genug bieten, um glänzen zu können, relativ uninteressant für die musikliebende Öffentlichkeit geworden. Verschwinden, freilich, werden sie nie (viellicht müssen sie in Ostasien überwintern...).

  • Zit. "...und Dich zu einem "redundanten" Beitrag zwang."


    Nein, lieber Felix, so war das nicht. Ich habe Deinen Beitrag als wllkommenen Anstoß genommen, mich mit dieser Frage noch einmal zu bechäftigen. Und ich denke auch, dass wir uns in der Einschätzung von Medelssohns Liedern völlig einig sind. Mir hat das intensive Mich-Einlassen auf sie sehr viel Freude und eine große Bereicherung gebracht. Es wäre ein großes Manko im historischen Bestand des deutschen Kunstliedes, wenn es sie nicht gäbe!

  • "Gedankenaustausch" - so es sich denn um einen wirklichen handelt - ist für mich so ziemlich das Schönste, was dieses Forum seinen Mitgliedern zu bieten hat. Also nichts zu danken, lieber Felix!

  • Die Frage nach dem Rang der Lieder Mendelssohns im Zusammenhang mit Schubert und Schumann beschäftigt mich. Ich bin mir recht unsicher, ob ich den hier gemachten Einschätzungen zustimmen, widersprechen oder nur teilweise zustimmen möchte. Den hier gemachten analytischen Aussagen kann ich jedoch nur zustimmen, insbesondere der Aussagen Helmuts zur "Vieldeutigkeit" in Beitrag 125.


    Analyse und persönliche Bewertung sind ja nun zwei verschiedene Einfallswinkel, obschon sie doch ein bisschen miteinander verwoben sein mögen.


    Ich bin grundsätzlich ein starker Gegner eines zeitgeistigen Relativismus in der Musik, und meine hier dennoch, dass man das angeführte Kriterium, Mendelssohn habe dem Kunstlied keinen Schub gegeben, relativieren muss. Kann man diesen Aspekt wirklich für eine Rangeinstufung gelten lassen?


    Hierzu ein kleiner Exkurs:
    In der letzten Woche habe ich die für mich jedesmal starke Erfahrung gemacht, dass es bei der harmonischen Analyse eines Bachchorals an der Musikhochschule möglich war, musikalische Qualität aus dem zeitgeistigen, relativistischen und gleichmacherischen Raum herauszuholen und tatsächlich analytisch zu beweisen. Bei dem angesprochenen Choral waren es 3 bis 4 sich teilweise überlappende modulatorische Analysezeilen. Man brauchte zwischen den doppelten Notenlinien viel Platz, um überhaupt die Fülle der gleichzeitig stattfindenden musikalischen Gedanken auf dem Papier mit Symbolen wie T, Ts, Ss, D,....usw. darzustellen. Was auf dem Papier stand, konnte auch mit dem Ohr problemlos nachvollzogen werden. Die für mich nachgewiesene Genialität bestand für mich in der "Kompliziertheit" (siehe Fidi`s Aussage im Thread) im Sinne von Gedankenfülle, aber gleichzeitig eben auch in der unfassbaren Balance, im Ausdrucksreichtum und in der Tatsache, dass alles leicht fasslich, fliessend, gar nicht kompliziert, aber immer nach Qualität klang. Angesichts der relativ einfachen Melodie fragte ich mich: "Wie konnte er nur darauf kommen"?
    Ebenso rätselhaft, aber dabei ungleich schwerer musikanalytisch nachzuweisen, erscheint mir die Qualität der Melodien bei Mozart...


    Doch nun zurück zum Rang der Mendelssohn-Lieder. Subjektiv, und mit weniger Hintergrundwissen wie etwa Helmut ausgestattet, empfinde ich Schumann und Mendelssohn hier als eher gleichrangig, weil ich einen progressiveren Ansatz, der die jeweilige Gattung weiterführt, nicht grundsätzlich als höherrangig einschätzen möchte. Ich fühle mich da ein wenig an die alte Wagner vs. Brahms-Diskussion erinnert. Ersterer gilt unzutreffend vereinfachend gesagt als Weiterentwickler, der andere eher als Klassizist. Als Gegner jeder Gleichmacherei muss ich auf diesem Niveau jedoch sagen, dass diese Musiken für mich gleich - wertig sind, und dass ich eine scheinbar konservative Richtung der musikalischen Entwicklung nicht zwangsläufig als im Rang niedriger ansehen kann, denn es hat ja auch im Falle von Brahms als Symphoniker eine sehr persönliche und ausdruckstarke Entwicklung in seiner scheinbar nicht nach vorne weisenden Richtung gegeben, die jedoch zu einem die Musikwelt unschätzbar bereichernden Personalstil führte.


    Wenn Mendelssohn im Ausdruck hochexpressiv und romantisch war, sich aber ansonsten stärker der Form verpflichtet fühlte, diese also nicht zunehmend aufbrach (oder auch nicht die Rolle des Pianisten erweiterte), dann ist es eben die Frage, ob man das schon als im Rang niedriger ansehen kann. Wenn man so will, kann man ja auch anführen, dass in der selbstauferlegten Beschränkung mehr von der eigentlichen Kunst als im Uferlosen enthalten wäre, weil die ausgeprägtere Formstrenge den nach Expressivität gierenden Komponisten zu einem konzentrierteren und vielleicht stilreineren Ausdruck zwang.
    Ich kann und will das hier jedoch nicht festlegen.


    Auf keinen Fall kann ich auf die Lieder Mendelssohns, Schuberts und Schumanns verzichten! Natürlich gilt Schubert als DER Liedkomponist schlechthin, und das zurecht.
    Er vermag es z.B. beim Liederzyklus "Die Winterreise" oder auch dem "Schwanengesang" die Hörer zu erschüttern und die Lyrik mit ihren Affekten musikalisch sehr plastisch zu interpretieren und fühlbar zu machen.
    Bei Schumanns "Im wunderschönen Monat Mai" klingt die sehr eigenständige Klavierbegleitung so, dass man nicht nur eine zauberhafte Wiese mit sich öffnenden Blumen sieht, sondern auch die romantische Verbindung zum Aufgehen der Liebe im Herzen genau spüren kann - es ist tatsächlich genial.


    Jedoch ist -jedenfalls mir- Mendelssohns Weg nicht weniger lieb und gilt mir wohl auch deshalb nicht als rangniedriger i.S.v. weniger wertig einzustufen. Helmut sprach vom unbeschreibar Zauberhaften und hat damit recht. Warum wirkt denn "Auf Flügeln des Gesanges" oder "Der Mond" so zauberhaft? Da bin ich wieder bei Mozart: Bei ihm fällt die Erklärung, warum seine oft simplen Melodien derart genial und zauberhaft wirken, ebenfalls schwer, mir jedenfalls schwerer, als die Vorzüge eines Bachschen Choralsatzes nachzuweisen. Bei Mendelssohn scheint es mir auch in diese Richtung zu gehen, denn was optisch in den Noten stattfindet, kann wie bei Mozart schnell erklärt werden. Der Zauber jedoch, den diese Musik bei einer guten Interpretation auslösen kann, entzieht sich in seiner Gesamtheit dem gut gemeinten Erklärungsversuch. Ein nicht zu beweisendes Qualitätskriterium ist er für mich jedoch schon, ebenso die Tatsache, dass ich diese Musik relativ oft hören kann.


    Ich schätze viele der Mendelssohn-Lieder oft nicht weniger als Lieder von anderen Komponisten und verspürte in der Vergangenheit - ganz ehrlich- beim Blick ins CD-Regal besonders häufig den Wunsch, mir gerade diese Lieder herauszusuchen. Gerade jetzt, wenn der Frühling kommen wird, werde ich wohl öfter zu Mendelssohns Liedern greifen. Man will ja auch nicht immer als "geprügelter Hund" nach dem Hören von dannen ziehen (wie z.B. nach der Winterreise...) , sondern sich vom eigenen Zauber der Liedwelt Mendelssohns auf eine andere Art subtil berühren lassen...



    Gruss
    Glockenton

    "Jede Note muss wissen woher sie kommt und wohin sie geht" ( Nikolaus Harnoncourt)

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  • Lieber Glockenton,


    vielen Dank für diesen einsichtsvollen Beitrag! Ich stimme Dir weitgehend zu. Meine Einschätzung der Schumannlieder als denen Mendelssohns überlegen berief sich vor allem auf die viel tiefergehende Textausdeutung und den "lautmalerischen" Einsatz des Klaviers. Meiner Meinung nach geht Schumann deutlich tiefer auf den Text ein als Mendelssohn, der eher Stimmungen vertont. An der Schönheit von Mendelssohns Lieder kann hingegen nicht gezweifelt werden! Ganz im Gegenteil, so wie Du höre ich sie oft und sehr gerne - öfter als Schumann. Der Vergleich mit Mozart ist hier mMn zutreffend, denn viele Melodien wie z.B. "Der Mond" klingen nicht so als wären sie "erdacht" sondern "von irgendwo her gekommen". Ich liebe dieses Lied auch sehr!

  • Es ist schön, begrüßenswert und erfreulich, dass Du, lieber Glockenton, den Blick wieder einmal auf Mendelssohns Lieder gelenkt hast. Es ist hier ein wenig still um sie geworden, und dabei verdienen sie es, dass man immer wieder einmal ihre Existenz ins Bewusstsein ruft. Sie gehören, worauf Du ja dankenswerterweise hingewiesen hast, zum kostbaren Schatz des deutschen Liedgutes.


    Den zentralen Aspekt der Beurteilung der Lieder Mendelssohns hast Du mit den Worten angeschnitten:


    Wenn Mendelssohn im Ausdruck hochexpressiv und romantisch war, sich aber ansonsten stärker der Form verpflichtet fühlte, diese also nicht zunehmend aufbrach (oder auch nicht die Rolle des Pianisten erweiterte), dann ist es eben die Frage, ob man das schon als im Rang niedriger ansehen kann.“


    Ich habe mich in meiner Einleitung zu diesem Thread, aber auch in vielen Liedbesprechungen und in der Nachbetrachtung mehrfach mit diesem Fragenkomplex auseinandergesetzt. Man muss, so denke ich – und sehe mich mit Dir darin einer Meinung – den spezifischen strukturell liedkompositorischen Aspekt, der sich an der historischen Entwicklung des Kunstliedes ausrichtet, deutlich von der Frage nach der musikalischen Qualität der Lieder unterscheiden. Das eine ist nicht zwangsläufig konstitutiv für das andere.


    Für den strukturell liedanalytischen Blick ist Schumanns Liedkomposition die „modernere“, weil sie in der musikalischen Auseinandersetzung mit dem lyrischen Text eine Fülle von progressiven musikalischen Ausdruckselementen entfaltet. Das sagt aber noch nichts über den allgemeinen musikalischen „Rang“ (um einen Begriff von Dir zu benutzen) aus. Dieser gründet sich auf die musikalisch-künstlerische Aussage, die die Lieder machen und die sich im Akt ihrer Rezeption konstituiert. Und diesbezüglich hat sich Mendelssohn keinesfalls hinter einem Robert Schumann zu verstecken.


    Es muss ja auch bedacht werden, welche Motivation bei Mendelssohn hinter diesem liedkompositorischen Ansatz steckt. Die Musikwissenschaft ist sich einig darin, dass Mendelssohn die Dichotomie von Klassik und Romantik durch einen bewussten Rückgriff auf die musikalischen Elemente der Balance und des expressiven Maßes zu überwinden versuchte.


    Im übrigen hat Martin Geck das Wesen des Mendelssohnschen Liedes wunderbar auf den Punkt gebracht, indem er davon spricht, dass sich es bei Mendelssohns Liedern um „beseelte Musik“ handele, „ein unendlich sanftes, sehnsüchtig-seliges Schweben der dem All, dem Ursprung zugewandten Seele“.


  • An Liedern von Felix Mendelssohn Bartholdy ist kein Mangel auf dem Musikmarkt. Immer mehr junge Sänger versuchen sich daran. Wobei jung relativ ist. In Texten von Booklets und in Biographien, die im Internet kursieren, findet sich in den seltensten Fällen das Geburtsjahr. Nur aus Angaben über Studienzeiten, Lehrer, Debüts, Engagements oder Gastspielen lässt sich in etwa das Alter rekonstruieren. Kurz, junge Sänger scheinen in dieser Frage oft sehr zurückhaltend, als schade Älterwerden der Karriere. Insofern müsste es richtig heißen, dass sich immer mehr gefühlt jüngere Sänger Mendelssohn zuwenden. So auch bei einer neuen Edition des englischen Labels Champs Hill Records, das die Einspielung der kompletten Lieder von Mendelssohn verspricht. Volume 1 und Volume 2 sind erschienen. Wie viele Alben noch folgen, ist nicht zu ermitteln. Mendelssohn war in diesem Genre ziemlich tüchtig. Im Werkverzeichnis sind nach meinen Informationen 129 Lieder zu finden, hinzu kommen zwölf Duette mit Klavierbegleitung. Helmut nennt in seinem Eröffnungsbeitrag noch andere Zahlen. Darauf kommt es aber ewpjl nicht so an. Die Übersicht wird nicht dadurch leichter, dass einmal nach Opus-Zahlen, das andere Mal nach dem Thematisch-systematischen Werkverzeichnis der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig von 2009 gezählt wird.


    Die Edition ist mit den Angaben ziemlich frei, benutzt für die Ordnung auch thematische Einteilungen wie "The Boy Mendelssohn". Und das ist die Liste der Mitwirkenden: Benjamin Appl, Mary Bevan, Sophie Bevan, Allan Clayton, Jonathan McGovern, Paula Murrihy, Robin Tritschler, Kitty Whately. Begleitet werden sie am Klavier von Malcolm Martineau. Bis auf Appl, der sich auch oft in London aufhält, alles Briten. Mendelssohn wird ja fast schon als einer der Ihren angesehen. Insgesamt hatte er zehnmal das Königreich besucht, wo er verehrt und bei Konzerten gefeiert wurde. Sein Oratorium Elias erklang zuerst in London in Englisch. Die deutschsprachige Erstaufführung hat er nicht mehr erlebt. Champs Hill kommt nicht mit der ersten Gesamtaufnahme der Lieder und Duette. Schon die englische Hyperion hatte 144 einzelne Titel – und damit sogar mehr als mein zitiertes Werkverzeichnis ausweist - eingespielt. Emsig waren auch andere Firmen. Die Lieder sind sehr feinsinnig. Poetische Anregung fand Mendelssohn bei den bedeutendsten Dichtern – darunter viel Goethe, den er noch selbst getroffen hatte, Eichendorff, Rückert, Lenau, Tieck, Gedichte aus des "Des Knaben Wunderhorn". Heute weitestgehend vergessene Schriftsteller dürften ihn durch ganz bestimmte poetische Bilder inspiriert haben, wie sie beispielsweise in dem Gedicht Die Sterne schau’n in stiller Nacht des Balten Albert Graf von Schlippenbach aufscheinen.


    In Vol. 2 wird das Lied von Paula Murrihy gesungen. Ihr Sopran ist wie gemacht für Lieder. Der Beginn, der auch dem Titel entspricht, gelingt sehr zart und träumerisch. Wie hingehaucht. Er ist auch gut zu verstehen. Diese Wortdeutlichkeit wird aber nicht durchgehalten. Sie verliert sich, als ob die Konzentration nachlässt. Was, bitte, wird da eigentlich gesungen? Bitte etwas deutlicher! Damit offenbart sich ein grundsätzliches Problem der Edition. Nicht an der Musik, sondern an den Texten wurde nicht gründlich genug gearbeitet. Selbst der muttersprachliche Benjamin Appl, der Lieder als eine Domäne seiner Erfolg versprechenden Karriere gewählt hat, ist in der Diktion nicht perfekt. Diese Einschränkung mindert nicht die Frische des Vortrags insgesamt. Mit den Texten in der Hand, die alle im Booklet abgedruckt sind, macht es Ende Spaß, dem Vortrag zu folgen.


    Wenn sich – gefühlt junge Sänger – mit Mendelssohn Bartholdy beschäftigen, haben sie einen Vorteil. Sie brauchen sich nicht ständig an den Altvorderen messen lassen. Seine Lieder sind in den Diskographien berühmter Sängerinnen und Sänger nicht die größten Abteilungen. Mendelssohn war auf Grund seiner jüdischen Herkunft in Nazideutschland geächtet. Das wirkt nach. In der großen Liededition, die der Pianist Michael Raucheisen beim Reichsrundfunk Berlin betreute und die bis heute als beispielhaft gilt, findet sich kein Lied des Komponisten. Erst 1949 wurden mit Erna Berger zwei Lieder eingespielt. Mehr ist nicht zu finden. In der üppigen Hinterlassenschaft von Elisabeth Schwarzkopf ist mit „Auf Flügeln des Gesanges“ gerade mal ein Lied auszumachen. Die Liste ließe sich fortsetzen. Eine Renaissance von Mendelssohn-Liedern setzte in Deutschland ziemlich spät ein, woran Dietrich Fischer-Dieskau im Westen und Peter Schreier im Osten ihren Anteil hatten.


    Also diesmal keine Fortsetzung der Werkanalysen, wozu ich gar nicht fähig wäre, sondern nur ein paar persönliche Informationen zu einer Edition.

    Es grüßt Rüdiger als Rheingold1876


    "Was mir vorschwebte, waren Schallplatten, an deren hohem Standard öffentliche Aufführungen und zukünftige Künstler gemessen würden." Walter Legge (1906-1979), britischer Musikproduzent

  • Danke für diesen Hinweis, lieber Rheingold!
    Ich werde mir diese Aufnahme zulegen, trotz der Mängel, die sie da und dort aufweisen mag. Ganz einfach deshalb, weil ich dann damit alle Mendelssohn-Lieder zur Verfügung habe. Mir ist es ja ohnehin bei meinen Liedbetrachtungen zunächst einmal nicht so wichtig, wer da gerade singt. Ich brauche nur eine exakte Realisation des Notentextes. Erst wenn ich ein Lied nicht analysieren, sondern hörend genießen will, dann greife ich zu der Aufnahme, bei der die Interpreten der Liedmusik voll und ganz gerecht werden, so dass sie meine Seele erreicht.
    Bei Mendelssohn waren das bei all den Liedern, die ich hier vorgestellt habe, Dietrich Fischer-Dieskau und Wolfgang Sawallisch in der EMI-Produktion von 1970. Diese erfasst zwar voll und ganz das Wesen von Mendelssohns Liedmusik, weil sie den für sie so wichtigen Faktor der "Gestimmtheit" im angemessenen Grad berücksichtigt, aber die Aufnahme enthält eben nur vierzig Lieder.

  • Da stellt ein freundlicher, den Lied-Komponisten Mendelssohn ganz offensichtlich schätzender Tamino einen Hinweis auf eine Gesamtaufnahme von dessen Liedern in diesen Thread, und mit einem Mal ist eine Liedmusik wieder da, die für mich vor nun fünf Jahren Gegenstand intensiver Betrachtung und Reflexion war, es danach aber, wie ich verwundert feststelle, bis heute nicht mal mehr ansatzweise wurde. Nicht dass ich Mendelssohns Lieder vergessen hätte. Das beileibe nicht! Als ich über diesen Thread, den ich seit damals nicht mehr betreten habe, flüchtig lesend hinging, waren sehr viele von ihnen auf der Stelle wieder klanglich voll präsent, - Indiz der so überaus großen Eingängigkeit und Eindrücklichkeit, die Mendelssohns Liedmusik auszeichnet.


    Dass ich ihr in all den Jahren meiner Beschäftigung mit dem liedkompositorischen Werk anderer Komponisten, wie sie in Gestalt von weiteren Threads hier sozusagen dokumentiert ist, nicht wieder begegnet bin, begegnet im Sinne eines reflexiven Bezugs, der sich in der Beschäftigung mit der Liedsprache des gerade anstehenden Komponisten einstellt, das verweist, wie ich nun denke, auf ihre liedhistorische Singularität. Mendelssohn steht mit seiner Liedsprache zwar – wie jeder andere Komponist – in einer liedmusikalischen Traditionslinie – es ist vor allem die der Berliner Schule -, aber diese hat nicht wirklich tief prägend auf ihn gewirkt. Er vermochte eine ganz eigene, und darin wirklich singuläre Liedsprache zu entfalten, darin zwar beflügelt von der Melodik des Volksliedes, diese aber in einer hochgradig artifiziellen Weise weiterentwickelnd.


    Dieses Lied ist repräsentativ dafür. Und dass es in mir sofort aufklang, als ich diesen Thread betrat, das liegt gewiss nicht nur daran, dass eben gerade Frühling ist und es dessen Geist in einer Weise musikalisch zum Ausdruck bringt, wie es kaum ein anderes Frühlingslied vermag: Den des beschwingten, ungebrochenen und unbekümmerten Aufbruchs zu neuem Leben. Es liegt vor allem daran, dass es eine von jenen Kompostionen ist, in denen sich der Geist von Mendelssohns Liedmusik ohne jegliche Brechung durch eine in ihrem evokativen Potential komplexe lyrische Metaphorik sozusagen ungehemmt entfalten kann. Die Melodik wird in ihrem aufstrebenden, und sich in den damit erreichten Höhen steigernden Gestus von einem Klaviersatz beflügelt, der eine wahre Flut von triolischen Achtelfiguren entfaltet, damit einsetzend in einem Vor- und Zwischenspiel, das den Geist des Aufbruchs klanglich in einer Weise zum Ausdruck bringt, die einen auf der Stelle in Bann zu schlagen vermag, - vor allem, weil sich die wie Fanfarenstöße wirkenden Oktaven im Bass in den Vordergrund drängen, das Ganze immer wieder in die harmonische Dominante ausgreift und am Ende, vor dem Einsatz der Singstimme ja auch in diese mündet. Und das wirkt wie eine Einladung, ja Aufforderung an die melodische Linie der Singstimme, nun bei den Worten „Es brechen im schallenden Reigen“ sich mit gleich drei rhythmisierten und von Tonrepetitionen voran getriebenen Sprungbewegungen zu einer Dehnung in hoher Lage aufzuschwingen.


    Aber das Bemerkenswerte, und für die Liedmusik Mendelssohns höchst Typische und Bezeichnende ist ja: Bei aller volksliedhaft anmutenden Dur-Seligkeit, mit der sie als Strophenlied daherkommt, geht ihr die reflexive Vertiefung der Liedmusik nicht ab. Setzt diese zunächst zwar in schlichter G-Dur-Harmonik mitsamt Rückung in die Dominante ein, so ereignet sich bereits im dritten Vers eine Rückung nach e-Moll mit nachfolgender Modulation über A-Dur nach D-Dur. Die „Frühlingsstimmen“ können nicht verschweigen, dass die Wonne so groß ist, dass sie sich durch die vorübergehende Moll-Verhaltenheit der Liedmusik Bahn bricht.


    Und dann ist da noch die wirkliche, aber überaus zarte, in keiner Weise störende, sondern die Liedmusik um die Dimension der Innigkeit bereichernde Brechung der volksliedhaften Klanglichkeit. Das Wort „Wohin“ löst sie aus. Und dass Mendelssohn ihm ein solches musikalisches Gewicht verliehen hat, indem er nicht nur eine den Takt übergreifende melodische Dehnung auf es legt, sondern das Tempo mit einem Diminuendo zurücknimmt, die Harmonik eine Rückung von der Dur- und die Moll-Dominante vollziehen lässt und schließlich den drängenden Gestus des Klaviersatzes dadurch reduziert, dass er aus dem Bass die rhythmische Sprungfigur herausnimmt und im Diskant nur noch eine Einzelton und zwei Terzen erklingen lässt, - all das zeigt und lässt vernehmen, wie sehr er bei aller liedkompositorischen Orientierung am Volkslied-Ton, mit seiner Liedmusik die Semantik des lyrischen Textes voll erfassen und in ihrer Tiefe auszuloten bestrebt ist. Wunderbar, wie er erst das reflexive Innehalten der Liedmusik mitsamt Moll-Harmonisierung bei den Worten „sie ahnen es selber kaum“ fortsetzt, dann sie aber mit einem - nun in C-Dur mitsamt Rückung über die Dominante zurück zur Tonika G-Dur harmonisierten – melodisch ruhig sich entfaltenden melodischen Bogen zu ihrem Gestus ungebrochener melodisch-liedhafter Entfaltung zurückfinden lässt, - dies bei den Worten: „rührt sie eine alter, ein süßer Traum!“.


    Der Versuchung, darüber nachzudenken, warum Mendelssohn hier das Ausrufezeichen von Carl Klingemann, dem Autor des zugrundeliegenden lyrischen Textes, ignoriert, widerstehe ich, - so reizvoll es wäre, ihr nachzugeben (denn auf diese Frage habe ich mich oben, in meiner Besprechung des Liedes in Beitrag 4 nicht eingelassen). Viel sinnvoller ist es, sich dieser so überaus mitreißenden Liedmusik hörend hinzugeben und, sie genießend, in sich aufzunehmen.
    Aus diesem Grund hier der Text und ein Link zu einer dem Lied gerecht werdenden gesanglich-interpretatorischen Wiedergabe.


    Es brechen im schallenden Reigen
    Die Frühlingsstimmen los,
    Sie können´s nicht länger verschweigen,
    Sie Wonne ist gar zu groß!
    Wohin, sie ahnen es selber kaum,
    Es rührt sie eine alter, ein süßer Traum!


    Und Frühlingsgeister, sie steigen
    Hinab in der Menschen Brust,
    Und regen da drinnen den Reigen
    Der ew´gen Jugendlust.
    Wohin, wir ahnen es selber kaum,
    Es rührt uns ein alter, ein süßer Traum.


    (Dieser Link will nicht, also bitte den unten drunter benutzen)


    https://www.youtube.com/watch?v=8mhisNdote8

  • Wer diese - höchst beeindruckende - gesangliche Interpretation des Liedes durch Elisabeth Grümmer (begleitet von Aribert Reimann) gehört hat, wird bemerkt haben, dass ich oben eine Strophe vergessen habe. Das Lied ist dreistrophig, und die zweite Strophe lautet:


    Die Knospen schwellen und glühen
    Und drängen sich an das Licht,
    Und warten in sehnendem Blühen,
    Daß liebende Hand sie bricht.
    Wohin, sie ahnen es selber kaum,
    Es rührt sie ein alter, ein süßer Traum!


    (Ich bitte um Entschuldigung!)

  • Lieber Helmut,

    ich habe gerade mit größtem Interesse deine vielen (oft einsamen) Beiträge zu den Liedern Mendelssohns gelesen und freue mich, dass ich nicht allein bin in meiner Liebe zu den Liedern Mendelssohns. Am meisten berührten mich deine Beiträge zu den Lenau-Liedern von op. 71. Das Schilfliedop. 71,4 ist für mich wohl das bewegendste Lied Mendelssohns - zusammen mit dem "Abschiedslied der Zugvögel" op. 63,2 (das ich bei deinen Ausführungen nicht gefunden habe):




    Lieben Gruß aus Darmstadt

    Gerd

    "When I was deep in poverty, you taught me how to give" Bob Dylan

  • Deine Liebe zu Mendelssohns Liedern kann ich gut verstehen, lieber gerdprengel, und ich teile sie mit Dir.

    Eines seiner am meisten beeindruckenden und seine Hörer unmittelbar ansprechenden Lieder ist in der Tat das "Schilflied". Wunderbar die in fis-Moll eingebettete und um das hohe „cis“ gleichsam schwebende melodische Line, mit der das lyrische Bild vom „regungslosen Teich“ am Anfang musikalisch eingefangen ist. Wunderbar auch, wie Melodik und Harmonik mit dem Bild von den am Hügel wandelnden Hirschen mit einem Mal Leben gewinnen: Die Vokallinie umgreift größere Intervalle; das fis-Moll wird von Dur abgelöst, und das wirkt klanglich wie eine Ausweitung des Horizonts vom engen Raum des Teiches in die Offenheit der Landschaft.


    Dass Du das "Abschiedslied der Zugvögel" hier in diesem Mendelssohn-Thread (Felix Mendelssohn-Bartholdy und seine Lieder) nicht finden konntest, hat einen einfachen Grund: Ich habe damals die Duette nicht in meine Liedbetrachtungen einbezogen.

    Es geht um die Liedmusik auf dieses Gedicht von Hoffmann von Fallersleben:


    Wie war so schön doch Wald und Feld!
    Wie ist so traurig jetzt die Welt!
    Hin ist die schöne Sommerzeit,
    Und nach der Freude kam das Leid.


    Wir wußten nichts von Ungemach,
    Wir saßen unterm Laubesdach
    Vergnügt und froh beim Sonnenschein,
    Und sangen in die Welt hinein.


    Wir armen Vöglein trauern sehr:
    Wir haben keine Heimat mehr,
    Wir müssen jetzt von hinnen fliehn
    Und in die weite Fremde ziehn.


    Die von Trauer und Schmerz geprägte Abschiedsstimmung wird von Mendelssohn mit einer melodischen Linie, die sich ganz und gar in Moll-Terzen (g-Moll als Grundtonart) entfaltet, auf wahrlich tief anrührende Weise musikalisch eingefangen.

  • Hier das Zugvögel Lied nochmal mit den Noten:


    Am liebsten ist mir in Takt 5 und 6 die Wendung nach B-Dur !


    Aus der gleichen Sammlung:



    Und weitere wunderbare Duette:


    Noch einmal herausgreifen möchte ich, das von Dir wunderbar beschriebene und ergreifende "Venitianisches Gondellied" op. 57:


    Helmut, du hast Dir soviel Mühe mit deinen Beschreibungen der Lieder gemacht, ohne viel Feedback bekommen zu haben. So geht es mir mit meiner Präsentation der fragmentarischen - und von mir weitergeführten - 6. Sinfonie von Mendelssohn. Hast Du Dir diese mal angehört? Gerade Deine Einschätzung wäre mir sehr wertvoll!


    F. Mendelssohn : Eine unvollendete 6. Sinfonie in C-Dur (1845)


    LG, Gerd

    "When I was deep in poverty, you taught me how to give" Bob Dylan

  • Diese sechste Sinfonie habe ich mir zwar angehört, lieber Gerd, weil ich Deinen Thread vom 24. Mai gelesen habe und neugierig wurde, ich fühlte mich aber nicht hinreichend kompetent, um darauf mit einem eigenen Beitrag dazu reagieren zu können.

    Wenn Du über ein fehlendes Feedback klagst, so ist das eine mir wohlbekannte Erfahrung. Man weckt mit einem Thread eher Interesse und bekommt eben dieses Feedback, das man sich ja doch ganz gerne wünscht, wenn dieser auf eine gleichsam an die Musik herangetragene, also sekundäre Frage ausgerichtet ist, wozu auch der Aspekt ihrer Realisierung durch Sänger, Instrumentalisten und Orchester gehört. Hat er aber die Musik selbst zum Gegenstand, und dies direkt und ausschließlich, gibt es erfahrungsgemäß wenig bis gar keine Reaktion darauf, eine in Gestalt eines dialogischen Prozesses schon gleich gar nicht.


    Das stelle ich nicht mit dem Unterton eines Vorwurfs fest, klage auch nicht darüber, es ist einfach so. Und vermutlich hängt es damit zusammen, dass solche Threads eine hohe Anforderung stellen: Sich nämlich intensiv, in einem analytisch ausgerichteten Ansatz und damit in zeitaufwendiger Weise auf die jeweilige Musik einzulassen und - was besonders schwierig ist - auch Worte dafür zu finden, was dabei herausgekommen ist. Und wer nimmt diese Mühe schon auf sich, wenn er nicht persönlich an dieser vom Thread thematisierten Musik interessiert ist?


    Du hast ein Interesse an meiner Einschätzung dieser Sinfonie und ihrer "Weiterführung" durch Dich bekundet. Ich werde sie mir auf jeden Fall noch einmal gründlich anhören und versuchen, mir ein Urteil zu bilden, fürchte aber, dass dabei nicht viel herauskommen dürfte, was Dir irgendwie von Nutzen sein kann. Mit sinfonischer Musik habe ich mich bislang nur als einfacher Hörer, also nicht analytisch und unter Heranziehung ihrer Partitur beschäftigt.

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  • ...Man weckt mit einem Thread eher Interesse und bekommt eben dieses Feedback, das man sich ja doch ganz gerne wünscht, wenn dieser auf eine gleichsam an die Musik herangetragene, also sekundäre Frage ausgerichtet ist, wozu auch der Aspekt ihrer Realisierung durch Sänger, Instrumentalisten und Orchester gehört. Hat er aber die Musik selbst zum Gegenstand, und dies direkt und ausschließlich, gibt es erfahrungsgemäß wenig bis gar keine Reaktion darauf, eine in Gestalt eines dialogischen Prozesses schon gleich gar nicht...

    Genau das stelle ich auch immer wieder befremdet fest - man lässt sich groß über die 10te, 20te, 100te, ... Aufnahme von bekannten Werken aus, die sich in irgendwelchen Nuancen bei der Interpretationen unterscheiden (was ich eher langweilig finde) ... aber über die Werke selbst - erst recht unbekannte Werke - hört man relativ wenig und es kommt nicht - wie du sagst - zu einem qualitativen Dialog. Ich hatte diese Erfahrung vor über 10 Jahren hier gemacht und mich daher verabschiedet. Ich hatte nun gehofft, das sich das vielleicht mittlerweile geändert hätte, dem ist aber leider nicht so ...

    "When I was deep in poverty, you taught me how to give" Bob Dylan

  • Genau das stelle ich auch immer wieder befremdet fest - man lässt sich groß über die 10te, 20te, 100te, ... Aufnahme von bekannten Werken aus, die sich in irgendwelchen Nuancen bei der Interpretationen unterscheiden (was ich eher langweilig finde) ... aber über die Werke selbst - erst recht unbekannte Werke - hört man relativ wenig und es kommt nicht - wie du sagst - zu einem qualitativen Dialog. Ich hatte diese Erfahrung vor über 10 Jahren hier gemacht und mich daher verabschiedet. Ich hatte nun gehofft, das sich das vielleicht mittlerweile geändert hätte, dem ist aber leider nicht so ...

    Ich weiß nicht, welche Wahrnehmung Du hast! Hättest Du die Interpretationsvergleiche-Threads über Beethovens Klaviersonaten gelesen, so würdest Du feststellen, dass wir da immer wieder anhand der verschiedenen Interpretationen zu grundlegenden Fragen der Werkinterpretation gekommen sind. Ich erinnere nur an die Diskussion, ob das Finale der "Pathetique" als ein Kehraus-Finale aufzufassen ist oder nicht. Auf meiner Kolumnenseite gibt es u.a. einen speziellen Artikel zu Liszts Klaviersonate h-moll. Das ist eine Werkeinführung. Auch da gibt es im Diskussionsthread keine Resonanz. Zuletzt habe ich bei Liszt Ungarischer Rhapsodie Nr. 2 beides verbunden - Werkanalyse und Interpretationsvergleich. Das wird auch in meinem nächsten Artikel über die Schubert-Sonate D 960 der Fall sein - parallel zum Interpretationsthread, wo anders als in diesem genau diese Frage der Werkinterpretation stärker berücksichtigt wird, was schon Umfang her einen "normalen" Diskussionsthread überfordern würde. Da wird sich dann auch zeigen (wie schon bei der Ungarischen Rhapsodie), dass Interpretationen sich keineswegs nur in "Nuancen" unterscheiden, sondern in nicht wenigen Fällen Welten dazwischen liegen. Man sollte schon berücksichtigen, an welche Leser man sich wendet: Auf Fragen der Werkinterpretation kommt der Hörer, der kein Musikwissenschaftler ist und anhand des Notentextes Werkanalysen betreibt, zumeist durch grundverschiedene Interpretationen, die er zunächst einmal hört. Da muss dann beides zusammenkommen - das Interesse für die Interpretationen und das Werk. Wenn man da in die Tiefe geht, ist die Resonanz erfahrungsgemäß begrenzt - aus verschiedenen Gründen. Liedinterpretationen sind insofern ein Sonderfall, als die Musik an sich schon eine Interpretation eines Textes ist. Auch hier geht es nicht um "Nuancen", wenn man an verschiedene Vertonungen ein und desselben Gedichtes denkt. Wenn ich nur an die größtmögliche Resonanz und wirkliche Diskussionsbereitschaft denken würde, hätte ich etliche zeitaufwendige Artikel nicht geschrieben. Darauf zu achten, ist eher kontraproduktiv. Es gibt viele stille Mitleser - ich bekomme auch immer wieder Mails. Also weiter so, kann ich zu Helmut Hofmanns verdienstvollem Unternehmen nur sagen! :thumbup:


    Schöne Grüße

    Holger