Haydn, Joseph: Sinfonie Nr 100 in G-dur "Militärsinfonie"

  • Liebe Forianer,


    Haydns Sinfonien sind voller überraschungen - Wer je auf die Idee kam zu behaupten, alle Sinfonien Haydns wären ähnlich, oder Haydns Musik wäre "gemütlich" - der kam wahrscheinlich taub auf die Welt oder war ein notorischer Lügner.


    Das Gegenteil ist der Fall.


    Ein weiteres Beispiel für Haydns Einfallsreichtum und seiner konsequenten Verwirklichung ist diese Sinfonie Nr 100 in G-dur mit dem Beinamen "Militär-Sinfonie", die schon bei Ihrer Uraufführung in London für eine Spaltung der Kritik und des Publikums sorgte, und zwar durch
    die überraschend einsetzende "Janitscharenmusik" an zwei Stellen dieser Sinfonie, gut vergleichbat mit jener des "Paukenschlags" :D
    "Grand, but very noisy" war das Urteil eines Londoner Konzertbesuchers der Uraufführung, das uns überliefert ist.


    Aus heutiger Sicht ist die Nr 100 eine der Schönsten Sinfonien Haydns, spannend und mitreissend.


    Ich habe mir einige Versionen vergleichsweise angehört und werde im Laufe des Threads noch meine Meinung dazu schreiben. Vorerst interessiert mich jedoch Eure.


    Freundliche Grüße aus Wien


    Alfred "der Echte" :baeh01:

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Hallo echter Alfred


    Ja, wunderbare Sinfonie. Einspielungen habe ich von Beecham, Bernstein, Karajan (Digital), Harnoncourt.


    Am meisten greife ich zu Harnoncourt:


    Concertgebouw, in verschiedenen Ausgaben erhältlich


    Harnoncourt hat nicht nur das nötige Feingefühl sondern läßt es an den beiden militärischen Stellen auch richtig martialisch Krachen - nicht aus Freude am Radau sondern um das Militär als solches Übel darzustellen, das es nun mal meistens ist.


    Gruß, Markus

  • Salut,


    die C ist natürlich auch meine Liebste - schon immer gewesen. Ich mag das sinnvolle Lärmen, ohne dass es Krach macht!


    Alfred, bist Du sicher, dass Haydn "Janitscharen-Musik" meinte?


    bien cordialement
    Ulli

    Die Oper muss Tränen entlocken, die Menschen schaudern machen und durch Gesang sterben lassen.
    (Vincenzo Geilomato Hundini)

  • Hallo Ulli,


    Nein natürlich bin ich nicht sicher, daß Haydn Janitscharenmusik meinte - seine Zeitgenossen meinten es. Ein Komponistenkollege (Reichardt ??) spottete sogar darüber.Nikolaus Harnoncourt vertrat die Ansicht, Haydn habe in dieser Sinfonie die Schrecken des Krieges aufzeigen wollen, andere Autoren widersprachen dem, bzw zweifelten es an.


    Tatsache ist, daß auch etliche abendländische Marschmusik verarbeitet wurde. Ein Konzertfüher will sogar den "Radetzkymarsch" geortet haben - was ja wohl schon Zeitlich nicht möglich wäre :D


    Türkische Kriegsmusik war allerdings im 18. Jahrhundert groß in Mode, kein Wunder, daß etliche Komponisten sich hier anhängten.


    Allerdings enhält die Sinfonie auch "westliche Marschmusik, inklusive Querpfeifern, ja sogar ein englisches Tanzlied "Lord Cathcart" wurde von Haydn im 4. Satz verarbeitet.


    Freundliche Grüße aus Wien


    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Hallo!


    Zitat


    Türkische Kriegsmusik war allerdings im 18. Jahrhundert groß in Mode, kein Wunder, daß etliche Komponisten sich hier anhängten.


    Ich glaube, das ist der Hauptgrund für die ungewöhnliche Instrumentierung. Das würde ich aber keinesfalls negativ auslegen.


    Die Nr. 100 ist nicht meine Lieblingssymphonie von Haydn, aber gerne hören tue ich sie auf jeden Fall!
    Dabei kann ich folgende Aufnahme empfehlen:


    Da hätte ich noch eine "schlaue" Anmerkung: Das Thema des zweiten Satzes entnahm Haydn einem seiner zuvor komponierten Lyra-Konzerte, die heutzutage keiner (?) mehr kennt.


    Viele Grüße,
    Pius.

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  • Zitat

    Hallo!




    Ich glaube, das ist der Hauptgrund für die ungewöhnliche Instrumentierung. Das würde ich aber keinesfalls negativ auslegen.


    Salut,


    ich empfinde die Instrumentation keineswegs "ungewöhnlich", es sind lediglich ein paar Becken und anderes Geschepper dabei - gewöhnliches Instrumentarium. Auch empfinde ich [die Betonung liegt auf empfinde] diese Sinfonie keineswegs als Janitscharen- oder Türkenmusik... ich bin noch am nachdenken...


    bien cordialement
    Ulli

    Die Oper muss Tränen entlocken, die Menschen schaudern machen und durch Gesang sterben lassen.
    (Vincenzo Geilomato Hundini)

  • Hallo, Ulli!


    Zitat


    ich empfinde die Instrumentation keineswegs "ungewöhnlich", es sind lediglich ein paar Becken und anderes Geschepper dabei - gewöhnliches Instrumentarium.


    Die Instrumente an sich haben nichts ungewöhnliches! Allerdings ist diese Symphonie sehr ungewöhnlich instrumentiert, wenn man sie mit den anderen Haydn-Symphonien vergleicht. Das wollte ich damit sagen.


    Viele Grüße,
    Pius.

  • Salut,


    "ungewöhnlich" ist wieder so ein Wort wie "gemein". Die "gemeine Stubenfliege" hat nichts niederträchtiges an sich [natürlich gehört sie in die Kategorie der "lästigen Insekten"]. Aber: Das Wort "gemein" hat sich im Laufe der Zeit von der Bedeutung her gewandelt. Die "gemeine Stubenfliege" ist als "allgemeine", also als Gewöhnliche, Unbedeutende zu verstehen. Ebenso verhält es sich mit dem Wort "ungewöhnlich"; es ist heutzutage m. E. eher negativ verhaftet. In der Kombination allerdings könnte man Haydns C-Sinfonie als ungemein beeindruckend bezeichnen...


    Die Benützung dieser Schlaginstrumente hat natürlich für einen besonderen Effekt gesorgt. Besonders, wenn deren Verwendung nicht vorangekündigt und damit nicht zu erwarten war, war es sicherlich eine große schockähnliche Überraschung, die dann in verspitze Freude überging. Typisch für Haydn. Haydn hat sicherlich schrecklichen Spaß dabei gehabt und wir heute auch noch... oder?


    bien cordialement
    Ulli

    Die Oper muss Tränen entlocken, die Menschen schaudern machen und durch Gesang sterben lassen.
    (Vincenzo Geilomato Hundini)

  • Zitat

    Original von Pius


    Die Instrumente an sich haben nichts ungewöhnliches! Allerdings ist diese Symphonie sehr ungewöhnlich instrumentiert, wenn man sie mit den anderen Haydn-Symphonien vergleicht. Das wollte ich damit sagen.


    Nicht nur das zusätzliche Schlagzeug (und das Trompetensignal, das die "Romanze" unterbricht) wurden damals als "militärisch" verstanden, sondern z.B. auch der Beginn des Allegros mit Flöten und Oboen ohne Begleitung (Pfeifen) oder die prominenten Klarinetten in der Romanze (damals recht neu als der Mlitärmusik importiert). Der "Radetzkymarsch" ist übrigens das Nebenthema des ersten Satze (dada-damm, dada-dat dat dadididi damm usw.)


    viele Grüße


    JR

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Salut,


    in Wien erworben:


    Franz Josef HAYDN


    Symphony No. 100 in G major, "Military"
    Symphony No. 101 in D major, "The Clock"


    St. Petersburg Radio & Symphony Orchestra
    Stanislav Gorkovenko


    [Label: Mazur Media - nicht mehr auffindbar]


    Nachdem ich die Haydn-Sinfonien [bezogen auf mein noch recht junges Leben] eine kleine Ewigkeit nicht mehr gehört habe, war ich erstaunt, wie "modern" diese Sinfonien gegenüber den Werken anderer Komponisten bis Ende 1790 sind. Zugleich haben mir manche Wendungen dieser Sinfonien [wie auch bei 103 & 104] richtig Angst eingeflösst... subjektive Empfindung?


    Ich fand die Militaire früher immer sehr lustig, besonders die Einsätze der Piatti, Triangolo etc. - zumindest in dieser Einspielung kam es alles weniger lustig und frisch herüber, als ich es in Erinnerung hatte - wie gesagt, hat es mir ein wenig am Mut gekratzt...


    Trés amicalement
    Ulli

    Die Oper muss Tränen entlocken, die Menschen schaudern machen und durch Gesang sterben lassen.
    (Vincenzo Geilomato Hundini)

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  • Zitat

    dada-damm, dada-dat dat dadididi damm usw.


    Naja - zugegeben - ähnlich. Oder gibt es einen definitiven Bezug dazu?


    Trés amicalement
    Ulli

    Die Oper muss Tränen entlocken, die Menschen schaudern machen und durch Gesang sterben lassen.
    (Vincenzo Geilomato Hundini)

  • Zitat

    Original von Ulli


    Naja - zugegeben - ähnlich. Oder gibt es einen definitiven Bezug dazu?


    Ich glaube nicht, dass Strauß Haydn bewußt zitiert, wenn Du das meinst. Nur dass Motive des Kopfsatzes der Militärsinfonie gewissen Floskeln der Militärmusik ähneln, auf die vielleicht sowohl Haydn als auch Strauß mehr oder weniger bewußt zurückgreifen.


    viel Grüße


    JR

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    (Bob Dylan)

  • hallo,


    die aufnahme mit der philharmonia hungarica mag ich nicht so recht, da ich insbesondere die bläser zu hausbacken empfinde. mein vorschlag ist die einspielung des concertgebouw unter sir colin davis (philips, ADD). das orchester ist in allen gruppen sehr stark. die interpretation berücksichtigt durchaus HIP-erkenntnisse, und klingt trotzdem sehr 'organisch' (typisch für davis). aufnahmetechnisch exzellent.



    gruß, siamak

    Siamak

  • Salut,


    bevor der Thread verjährt und die Sinfonie der Vergessenheit anheimfällt... :rolleyes:


    Die 100. Habe ich heute verstärkt gehört, weil ich etwas nachprüfen wollte. Dabei habe ich mich wieder einmal darüber geärgert, dass Haydn den Überraschungseffekt bereits im 2. Satz vorwegnimmt! :motz: |Absolut| betrachtet aber, ist dieser Satz ja nicht übel. :D Jedenfalls habe ich mich unter Verwendung einer Einspielung des St. Petersburg Radio & TV Symphony Orchestra, Stanislav Gorkovenko, verstärkt auf den 4. Satz konzentriert: Der kommt mir ganz im Gegensatz zu meinen Kindheitserinnerungen mittlerweile richtig unheimlich vor. In dieser Einspielung jedenfalls erklingt das Paukensolo [triolischer Paukenwirbel in der DF] nicht wie gewohnt erschreckend und plötzlich, sondern er ertönt dumpf und verschwommen [die Pauken sind ansonsten ganz hervorragend!] aus irgendwelchen Schwefelschwaden... und danach, nachdem die Oboen etwas im Vordergrund stehen, erkenne ich durch denselben Nebel ganz kurz die Geharnischten aus Mozarts Zauberflöte, die wie aus avalonischen Nebeln auf einer Barke schwebend kurz auftuachen. Es ist so herzzerreißend, daß Haydn die gerade beginnen wollende Fuge nicht ausführt... Das ist so unscheinbar und so genial! Wie gerne höre ich diese Stelle! Aber sie löst sich sofort wieder in Nichts auf, als wäre sie nie dagewesen...


    Das hat übrigens alles rein gar nichts mit "türkischer Kriegsmusik" zu tun, wie ich hier lese, sondern vielmehr spielt die sinfonie auf den Krieg zwischen Frankreich und England an, der seit Februar 1793 tobte. So ruhmessicher Haydn die Sinfonie zu Ende bringt, so erfolglos ist Englands Beteiligung an diesem Krieg.


    Viele Grüße
    Ulli

    Die Oper muss Tränen entlocken, die Menschen schaudern machen und durch Gesang sterben lassen.
    (Vincenzo Geilomato Hundini)


  • Ich habe alle Londoner Symphonien vom Concertgebouw unter Sir Colin Davis, die unter Harnoncourt und von Bernstein mit dem New York Philharmonic.
    Davis ist mir am liebsten, er bietet über alle 12 Symphonien IMO die plausibelsten Interpretationen in Bezug auf Tempi (bei Harnoncourt z.B. variieren die tatsächlichen Tempi bei gleicher Angabe enorm, auch Bernstein dirigiert sehr subjektiv), und wird dabei auch nie langweilig. Natürlich sind alle Pauken- und Trompetenstellen bei Harnoncourt wiederum einzigartig :D


    :hello:
    Stefan

    Viva la libertà!

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  • Haydn höre ich nur selten. Beim gestrigen Stöbern im Inhaltsverzeichnis stolperte ich jedoch über diesen Thread – und siehe da, ich hatte Lust, die Militär-Sinfonie wieder einmal zu hören. Das Ergebnis verblüffte mich, hatte ich doch über ein diffuses "hörenswert" hinaus keine konkrete Erinnerung an die Sinfonie und wurde ich daher von ihrem Inhaltsreichtum aufs Schönste überrascht.


    Ulli hat anschaulich beschrieben, wie sich seine Wahrnehmung der Sinfonie seit Kindheitstagen geändert hat. Mir ist es nicht anders gegangen. Auch ich habe den militärischen Teil der Sinfonie früher als etwas Lustiges wahrgenommen, als Spielzeug-Militarismus, ähnlich dem Auszug der beiden Helden in Cosi fan tutte. Heute sehe ich das anders. Heute stelle ich erstaunt fest, dass Haydn nicht nur Soldaten beim spielmannszugartigen fröhlichen Parademarsch in Galauniform darstellt, sondern ganz offensichtlich auch die Schrecken der Schlacht.


    So schrieb das Londoner Tageblatt „Morning Chronicle“ am 09.03.1794 (zitiert nach dem sehr informativen Booklet der Mackerras-CD):


    „[Es] ist das Hineinmarschieren in den Kampf; und der Marsch der Männer, das Erklingen des Schlachthorns, das Gedonner des Losstürmens, das Geklirr der Waffen, das Stöhnen der Verwundeten und was man als den höllischen Lärm des Krieges bezeichnen kann, alles steigt zu einem Höhepunkt schrecklichster Erhabenheit an!“


    Der Bookletautor der Mackerras-CD merkt an: „Es ist möglich, dass der vielleicht als tragisch zu betrachtende Frohsinn dieses Satzes, wo sich ein spielerischer Kampf zwischen Spielsoldaten in ein echtes Schlachtfeld mit echten Männern verwandelt, ein frühes Beispiel für ironische Musik ist. Mich überzeugt das nicht. Der anfängliche Frohsinn lässt mich eher an die Kriegsbegeisterung zu Beginn des ersten Weltkriegs denken – auf die dann der Horror des Stellungskrieges folgte.


    Für mich ist das größte Wunder dieser Sinfonie, dass sich der militärische Komplex – sieht man von dem Überraschungsmoment ab – bruchlos in das einfügt, was ich als normale Welt der Haydn-Sinfonie ansehe: herrlich dahinperlende sangliche Melodien, gute Laune bzw. Beschwingtheit, Ausflüge in die harmonische Welt und immer wieder Überraschungen.


    Drei Aufnahmen des Werkes besitze ich.


    Die Aufnahme von Solti mit dem London Philharmonic Orchestra aus dem Jahre 1983 ist enttäuschend. Dumpf und massig wälzt sich das Orchester durch das Stück, ohne jede Heiterkeit, aber auch ohne jeden Schrecken.


    Die Aufnahme von Sir Colin Davis mit dem Royal Concertgebouw Orchestra aus dem Jahre 1977 ist oben bereits zu Recht gerühmt worden. Brillant und glänzend präsentiert uns Davis mit einem wunderbaren Orchester Haydn als Klassiker.


    Nicht recht nachvollziehen kann ich die Auffassung AcomAs, dass die Interpretation HIP-Erkenntnisse durchaus berücksichtige. In meinen Ohren klingt das Concertgebouw Orchestra wie ein ganz normales Sinfonieorchester, steht es den Brandenburgischen Konzerten von Karajan sehr viel näher als denen von Pinnock, ähnelt es eher dem Mozart von Böhm als dem von Harnoncourt. Weder benutzt das Concertgebouw alte Instrumente, noch nimmt es in der Spielweise oder in der Besetzungsstärke Rücksicht auf die Zeit der Uraufführung – das Uraufführungsorchester bestand aus etwa 41 Musikern.


    Letzteres tut jedoch Charles Mackerras in seiner Aufnahme mit dem Orchestra of St. Luke´s aus dem Jahre 1991 – meiner Lieblingsaufnahme:


    Gekauft habe ich mir die Aufnahme aufgrund einer fantastischen Besprechung von Attila Csampai in einer Hifi-Zeitschrift. Und wie Recht Csampai hatte! Mackerras Orchester besteht aus 40 Musikern, die zwar keine Originalinstrumente spielen, aber hörbar HIP-geschult sind. Weil nicht ein geballter Orchestersound zu hören ist, sondern der Fokus stärker auf einzelnen Instrumenten liegt, kommen die Klangfarben der Instrumente – besonders des Holzes – sehr schön zur Geltung. Natürlich erreicht das Orchester nicht die Brillanz und den Glanz des Concertgebouw. Dafür ist das Orchesterspiel deutlich transparenter und sind die Einsätze sehr viel markanter, was insbesondere dem Militärteil zu Gute kommt. Die Schrecken des Krieges, die bei Davis fast untergehen, weil sie zu schön sind, werden bei Mackerras erfahrbar. Gleichwohl wird die Einspielung nicht zu einem dieser unappetitlichen, anstrengend zu hörenden HIP-Produkte, sondern bleibt klangschön. Die Aufnahmequalität ist hervorragend.


    Gruß, Thomas

  • Hallo Thomas,


    deine perfekte Analyse mit dem Blick auf drei verschiedene Aufnahmen gefällt mir und macht mir Appetit auf das Hören der Sinfonie Nr.100.


    Jetzt folgt bei Dir nicht nur der genaue Blick auf die Schostakowitsch-Sinfonien ;), sondern auch Haydn ist dran - schön.


    Bei mir war das Interesse für Haydn bisher nicht so groß, sodaß ich bislang nur auf die Karajan-Aufnahmen der Londoner Sinfonien zurückgreifen kann.
    Zudem hatte ich noch einen schlechten Haydn-Start in der Vergangenheit mit mehreren Solti-Aufnahmen der Haydn-Sinfonien, denn ich hatte mich von der Stereoplay - Kritik blenden lassen, die zwar für diese Aufnahmen höchstwertig die 10 (4mal) zur Bewertung hatte. Aber wie ich inzwischen weiss war diese Bewertung doch stark überzogen und Solti´s Sicht für Haydn scheint eben nicht die Angemessenste zu sein, wie man aus Deinem Beitrag auch wieder erkennt.
    Nicht alles kann bei Solti perfekt sein, den ich sonst bei den Klassikern und Spätromantikern bekanntlich sehr schätze.


    :) Ich werde die Sinfonie Nr.100 in Kürze hören und meine Eindrücke bezüglich der militärischen Inhalte bei der Karajan-Aufnahme schildern.


    :wacky: Auf die Dauer werde ich auch nichrt umhinkommen noch andere Aufnahmen auszuwählen. Das Tamino-Forum bietet dazu inzwischen genug Material.

    Gruß aus Bonn, Wolfgang

  • Hallo Wolfgang,


    nun lass die Kirche mal im Dorf. Von einer perfekten Analyse ist das oben Stehende meilenweit entfernt. Bei Schostakowitsch kenne ich mich überdies weit besser aus als bei Haydn. Wenn meine Zeilen dir aber Lust gemacht haben, die Sinfonie zu hören, freut mich das.


    Auf deine Eindrücke bin ich gespannt. Die oben von ThomasBernhard empfohlene Harnoncourt-Einspielung gibt es mittlerweile als Teil einer günstigen 5-CD-Box. Ich habe sie mir gestern bestellt.


    Lieben Gruß
    Thomas

  • Gerade kennengelernt und in höchste Be- und Verwunderung versetzt: die Einspielung mit dem Orchester der Wiener Staatsoper unter Hermann Scherchen aus den 50ern: Ja, es stimmt:


    [zitat]Original von ThomasNorderstedt
    Für mich ist das größte Wunder dieser Sinfonie, dass sich der militärische Komplex – sieht man von dem Überraschungsmoment ab – bruchlos in das einfügt, was ich als normale Welt der Haydn-Sinfonie ansehe: herrlich dahinperlende sangliche Melodien, gute Laune bzw. Beschwingtheit, Ausflüge in die harmonische Welt und immer wieder Überraschungen.[/zitat]
    Daß Fröhlichkeit und militärischer Lärm hier so scheinbar harmonisch sich fügen, empfinde ich, folge ich der Lesart Scherchens (und ich folge ihr willig), als unheimlich und erschreckend. Zum Beispiel die Stelle am Schluß des 2. Satzes, wenn die Trompetenfanfare ansetzt, als ob plötzlich Mahlers Fünfte hereinbräche, und dann das, ich möchte sagen, grausige Abflauen danach - das zeigt deutlich, wie sehr der gemütliche Papa H. in den Hintergrund getreten und einem Bewußtsein gewichen ist, dem nicht nach Witzen, sondern nach bitterer Verfremdung zumute ist.


    Gibt es nicht auch eine Haydn-Messe, in der er Kriegstrommeln mit der Bitte nach Frieden verbindet? Oder verwechsle ich etwas?

  • Zitat

    Original von Gurnemanz
    Gibt es nicht auch eine Haydn-Messe, in der er Kriegstrommeln mit der Bitte nach Frieden verbindet? Oder verwechsle ich etwas?



    Hallo Gurnemanz,


    stimmt: 1796 komponierte Haydn die von ihm selbst so benannte Missa in tempore belli, im deutschen Sprachraum auch als "Paukenmesse" bekannt. Hier wird insbesondere im Agnus Dei durch den Einsatz der Pauken Kriegsmusik evoziert, die dann im Dona nobis pacem besänftigt werden muss. Eine Idee, die Beethoven an gleicher Stelle in der Missa solemnis verschärft aufgenommen hat.


    Wie die Militärsymphonie nimmt wohl auch die Paukenmesse ganz konkret auf die Revolutionskriege Bezug, in diesem Fall speziell auf das Vorrücken der französischen Truppen gegen die Österreicher in Italien. (Ironischer- oder besser: tragischerweise spielte sich ja auch Haydns Todeskampf 1809 unter Geschützdonner ab - als die Franzosen Wien besetzten.)



    Da Du das Thema angesprochen hast: Ich halte es nicht für ausgeschlossen, dass der Anfang von Mahlers Fünfter sich bewusst auf die entsprechende Stelle im zweiten Satz der Haydn-Symphonie bezieht.



    Viele Grüße


    Bernd

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  • Hallo Zwielicht,


    danke für die aufschlußreiche Erläuterung; Paukenmesse und Missa Solemnis sind mir inzwischen auch schon eingefallen. Das bestätigt für mich, daß Haydn den Einsatz von Militärmusik in der Symphonie bestimmt nicht nur als Gag gemeint hat. Übrigens präsentiert die von mir erwähnte Scherchen-Aufnahme eine Art Verfremdung des Fröhlichen, dies hat für mich etwas Beklemmendes - auch hier Nähe zu Mahler, dessen scheinbare fröhliche Weisen recht schmerzvoll sein können.


    Daß Mahler hier möglicherweise Haydn zitiert, wäre nicht so überraschend: Der Schlußtakt seiner Ersten spielt, wenn ich es recht weiß, an eine Stelle aus Beethovens "Fidelio" an.


    Beim Anhören des 2. Satzes (wieder Haydn) fühlte ich mich auch stark an den 2. Satz von Beethovens Fünfter erinnert: Auch eine Anspielung? Auch bei Beethoven das Hereinbrechen von Militärfanfaren in den langsamen Satz, der in der klassischen Symphonie bekanntlich oft die Rolle der lyrischen Insel einnimmt.


    Jedenfalls scheint es mir, daß Haydn hier Beethoven nicht nur ein formales Modell liefert, sondern auch schon in der Intention seinem Schüler näherkommt, als man gemeinhin gern annimmt.


    Noch zu Scherchen: Irre, wie er mit wahnsinnigen Tempo-Extremen (furios der letzte Satz!) den ernsthaften Kern, ich möchte fast sagen, herauskratzt!

  • Zitat

    Original von Gurnemanz
    Daß Mahler hier möglicherweise Haydn zitiert, wäre nicht so überraschend: Der Schlußtakt seiner Ersten spielt, wenn ich es recht weiß, an eine Stelle aus Beethovens "Fidelio" an.



    [OT] Ja, auf den Schluss des Quartetts im zweiten Akt. Generalthema: Befreiung, Freiheit. Unüberhörbar zitiert das Fanfarenmotiv im vierten Satz auch das Finale von Schumanns Rheinischer. [/OT]



    Zitat

    Beim Anhören des 2. Satzes (wieder Haydn) fühlte ich mich auch stark an den 2. Satz von Beethovens Fünfter erinnert: Auch eine Anspielung? Auch bei Beethoven das Hereinbrechen von Militärfanfaren in den langsamen Satz, der in der klassischen Symphonie bekanntlich oft die Rolle der lyrischen Insel einnimmt.


    [...]


    Jedenfalls scheint es mir, daß Haydn hier Beethoven nicht nur ein formales Modell liefert, sondern auch schon in der Intention seinem Schüler näherkommt, als man gemeinhin gern annimmt.



    In Bezug auf "Paukenmesse" und Missa Solemnis (und auch sonst in vielen Fällen) gebe ich Dir recht.


    Aber im zweiten Satz von Beethovens Fünfter haben die Fanfaren doch eine ganz andere Funktion als in Haydns Nr. 100: Sie sind eine Vorwegnahme bzw. Präfiguration des sieghaften Tonfalls im Finale - also durchaus affirmativ. Da bewegt sich Beethoven auf den Spuren der Revolutionsmusik (im Finale ganz explizit), was Haydn niemals in den Sinn gekommen wäre.



    Viele Grüße


    Bernd

  • Zitat

    Original von Zwielicht
    Aber im zweiten Satz von Beethovens Fünfter haben die Fanfaren doch eine ganz andere Funktion als in Haydns Nr. 100: Sie sind eine Vorwegnahme bzw. Präfiguration des sieghaften Tonfalls im Finale - also durchaus affirmativ. Da bewegt sich Beethoven auf den Spuren der Revolutionsmusik (im Finale ganz explizit), was Haydn niemals in den Sinn gekommen wäre.


    Leuchtet ein. Insoweit wäre Haydn Mahler näher als Beethoven: Militärfanfaren nicht als Freiheitssignal, sondern als Bedrohung!


    Das wirft für mich die Frage auf, ob Haydn und Beethoven das Herannahen der französischen Truppen auf Wien 1809 (?) bzw. die Expansion Frankreichs generell ganz unterschiedlich erlebt und bewertet haben (auch wenn das evt. nur indirekte Schlüsse auf Nr. 100 zuließe).

  • Zitat

    Original von Gurnemanz
    Das wirft für mich die Frage auf, ob Haydn und Beethoven das Herannahen der französischen Truppen auf Wien 1809 (?) bzw. die Expansion Frankreichs generell ganz unterschiedlich erlebt und bewertet haben (auch wenn das evt. nur indirekte Schlüsse auf Nr. 100 zuließe).



    Ohne jetzt nochmal nachgelesen zu haben:


    Manches (vor allem Musikalische) bei Haydn kann man sicher im Kontext der Aufklärung verorten, aber irgendwelche Sympathien mit der französischen Revolution hat er bestimmt nicht gehabt. Er ruhte weitgehend sicher im Schoß der katholischen Kirche und von Kaiser Franz (man beobachte, wie Haydn im Variationensatz des Kaiserquartetts die Kaiserhymne nur umspielt, aber das Thema nicht antastet!) Die Revolution und vor allem natürlich die immer näher kommenden revolutionären/napoleonischen Truppen wird er als schlimme Bedrohung empfunden haben.


    Beethoven hatte dagegen bekanntlich Sympathien nicht nur mit Errungenschaften der Aufklärung, sondern auch mit solchen der Revolution. Das heißt aber keineswegs, dass er die Revolutionskriege gutgeheißen hat - wozu ja auch die Besetzung seiner Heimatstadt Bonn gehörte. Die erfolgreichen Aktionen des jungen Bonaparte gegen die Österreicher in Italien, die Haydn zu seiner Paukenmesse veranlassten, haben Beethoven allerdings schon fasziniert (so meine ich mich zu erinnern - man mag mich korrigieren). 1809 sah das natürlich ganz anders aus, Napoleon war für ihn erledigt (dazu braucht man nicht die Anekdote mit dem Titelblatt der Eroica). Man könnte Beethovens Gegnerschaft zu Napoleon bzw. Frankreich eher auf den demokratisch-jungdeutschen Nenner bringen, Haydns dagegen auf den monarchistisch-katholischen (ganz grob gesprochen!). In diesem Sinne hat Beethoven die Befreiungskriege begrüßt (man denke an "Wellingtons Sieg"), die Haydn ja nicht mehr erlebt hat. Alle Ausführungen ohne Gewähr!



    Viele Grüße


    Bernd

  • Muß ich schon wieder eine Predigt darüber halten, daß man ebensowenig wie hinter jeder Ecke den Teufel überall Anspielungen und Zitate vermuten soll? :D


    Da Mahlers 5. mit einem (sehr leisen/entfernten) Signalmotiv beginnt, bricht da wohl kaum etwas in eine "Idylle" hinein. (Umgekehrt gibt es zwar keine idyllischen, aber wehmütigen "Inseln" im Kondukt des Kopfsatzes.) Ganz abgesehen davon, daß schon die vorhergehenden Sinfonien Mahlers geradezu gesättigt mit Signal- und Marschmotiven sind, brauchte er für die gewiß nicht Haydn als Inspiration. Diese Militärmusik war seinerzeit schlicht im öffentlichen Leben präsent... und die Verwendung der Signale hat zumindest bei Mahler ganz verschiedene Kontexte. In der ersten Sinfonie gehört das Signal (Weckruf) zum "Erwachen" des Tages wie die Vogelstimmen, in der 5. (u. 2. "Todtenfeier") haben wir es mit Trauermärschen zu tun usw. (in der Durchführung in 4,i bin ich immer versucht an Spielzeugsoldaten u.ä. zu denken)


    Aber nochmal zu Haydn. Wie ich oben schon schrieb, ist nicht nur das Signal und die folgende Tutti-Stelle mit der "türkischen" Musik militärisch, sondern auch schon die unbegleiteten Bläser im Hauptthema des Kopfsatzes und die von Klarinetten dominierte "Romanze". Von jener Stelle abgesehen vielleicht der harmloseste und simpelste Satz in allen Londoner Sinfonien. Aber die Holzbläser und der schreitende Charakter wurden vermutlich mit den marschierenden Truppen assoziiert. Scherchen nimmt die Romanze sehr (zu) langsam, was zwar den Kontrast zu dem kriegerischen Einbruch maximiert, aber eben nicht mehr sehen läßt, daß selbst das musikalisch so schlichte Romanzenabschnitt vermutlich als ungewöhnlich und mit militärischer Konnotation gehört worden ist (das "gemütliche" Marschieren vor dem Zusammenprall der Armeen).


    :hello:


    JR

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    Original von Johannes Roehl
    Muß ich schon wieder eine Predigt darüber halten, daß man ebensowenig wie hinter jeder Ecke den Teufel überall Anspielungen und Zitate vermuten soll? :D


    Da Mahlers 5. mit einem (sehr leisen/entfernten) Signalmotiv beginnt, bricht da wohl kaum etwas in eine "Idylle" hinein. (Umgekehrt gibt es zwar keine idyllischen, aber wehmütigen "Inseln" im Kondukt des Kopfsatzes.) Ganz abgesehen davon, daß schon die vorhergehenden Sinfonien Mahlers geradezu gesättigt mit Signal- und Marschmotiven sind, brauchte er für die gewiß nicht Haydn als Inspiration. Diese Militärmusik war seinerzeit schlicht im öffentlichen Leben präsent... und die Verwendung der Signale hat zumindest bei Mahler ganz verschiedene Kontexte. In der ersten Sinfonie gehört das Signal (Weckruf) zum "Erwachen" des Tages wie die Vogelstimmen, in der 5. (u. 2. "Todtenfeier") haben wir es mit Trauermärschen zu tun usw. (in der Durchführung in 4,i bin ich immer versucht an Spielzeugsoldaten u.ä. zu denken)


    Prinzipiell hast Du ja recht, aber in diesem speziellen Fall... Natürlich ist der Kontext ein anderer, aber das muss nicht gegen ein Zitat sprechen. Zudem hat Mahler gerade seine früheren Werke immer wieder sehr bewusst mit Zitaten aus der klassisch-romantischen Musikgeschichte angereichert.


    Und ganz konkret: bei Haydn geht die Fanfare c-c-c-c, c-c-c-c, c-c-c-e. Bei Mahler: cis-cis-cis-cis, cis-cis-cis-cis, cis-cis-cis-e (also die um einen Halbton nach oben transponierte Mollvariante). Rhythmisch ist sie nahezu gleich notiert, außerdem folgt in beiden Fällen auf die Fanfare ein Tutti-Einsatz des Orchesters. Klar, die Dynamik ist anders: bei Haydn durchgehend forte, bei Mahler aber auch keineswegs "aus der Ferne", sondern bei jedem Fanfarenstoß ein Crescendo vom piano zum sforzato. Möglicherweise wollte Mahler die tragische Variante zum von ihm sicher nicht als tragisch empfundenen Haydn schreiben und sowohl die Traditionsbindung wie auch den völlig anderen historischen Ort seiner Symphonik demonstrieren... (man denke sich hier eine adornitische Weiterführung meines Geschreibsels :D).


    Aber ok, vielleicht haben die Trompeter der Militärkapellen in Iglau, die Mahler in seiner Kindheit gehört hat, alle c-c-c-c usw. gespielt...


    Deshalb hatte ich ja schon vorsichtigerweise geschrieben:


    Zitat

    Ich halte es nicht für ausgeschlossen, dass der Anfang von Mahlers Fünfter sich bewusst auf die entsprechende Stelle im zweiten Satz der Haydn-Symphonie bezieht.


    Bin somit also aus dem Schneider. :D



    Viele Grüße


    Bernd

  • Uraufführung: 31. März 1794, im Rahmen der „Salomon’s Concerts“


    Besetzung: 2 Flöten, 2 Oboen, 2 Fagotte, 2 Hörner in G, 2 Trompeten in C, Pauken, Triangel, Becken, türkische Trommel, Streicher


    Sätze: 1. Adagio – Allegro: 2. Allegretto: 3. Menuet. Moderato – Trio; 4. Finale. Presto


    Dieser Thread enthält schon einige sehr schöne Beiträge, so dass ich in diesem „Wachküß“-Posting einige bereits getätigte Aussagen zusammenfasse, um einen Wiedereinstieg zu vereinfachen. Man sehe mir meine laienhaften musikwissenschaftlichen Aussagen nach und nehme dieses Posting als das, was es gemeint war: als ein zartes Wachküssen...



    1. Zum Kontext der Sinfonie


    Haydn, so scheint es, war ein recht unpolitischer Künstler, zumindest was wir aus Dokumenten, fremden und eigenen, schließen dürfen. Nichtsdestotrotz gingen die historischen Ereignisse, die sich anschickten, den Kontinent zu verändern, auch nicht an ihm spurlos vorüber, so dass wir die am 31. März 1794 uraufgeführte Sinfonie durchaus im Sinne eines politischen Statements verstehen dürfen. Wie Ulli schon bemerkte, befand sich Österreich seit 1792 mit Frankreich im Krieg, England trat ein Jahr später ein, es gab also zumindest zur Uraufführungszeit ein einigendes Band zwischen Österreich und England. Der militärische Gestus dieser „Sinfonia in G“ dürfte beim Publikum also weniger Assoziationen an „Janitscharenmusik“, sondern eher „Franzosenmusik“ vermuten lassen. Sicherlich ist der herkömmliche Gebrauch der Instrumente, die diesen militärischen Charakter heraufbeschwören als „alla turca“ geläufig gewesen – und deswegen eben auch ein legitimes Stilmittel Haydns. Des Weiteren müssen wir auch davon ausgehen, dass sich in der auserlesenen Schar des Publikums auch etliche französische Adlige befanden, die vor der Revolution und den „evil revolutionaries“(1) geflohen waren, auch aus diesen Gründen ist eine Beziehung zum Krieg gegen Frankreich sehr wahrscheinlicher. Möglicherweise näherte sich Haydn niemals mehr so an historisch-politische Gegebenheiten an. Ob mit dieser Symphonie aber eine Absage an den Krieg oder eher die einende Kraft zwischen Österreich und England gemeint war, entzieht sich (zumindest) meiner Kenntnis. Ich tendiere eher zu der Meinung, dass Haydn ein versierter Komponist war, der seine kompositorischen Kräfte und vor allem den Geschmack des Publikums sehr genau einschätzen konnte. Deswegen glaube ich auch eher weniger an eine explizite politische Aussage, sondern „verdächtige“ Haydn, mit dieser Sinfonie explizit auf den Nerv des Publikums gezielt zu haben (was ich keineswegs übel nehme, denn das Ergebnis spricht für sich). Der martialische Name der Sinfonie ist übrigens autorisiert, auch wenn Haydn diesen Namen nicht auf den Autographen eingetragen hat. Anlässlich einer Aufführung im Haymarket Theatre (4. Mai 1795) vermerkt Haydn, dass die „Militär-Symphonie“ erklungen war(2).



    2. Zur Musik


    Beinahe alle Sinfonien beginnen bei Haydn abtaktig, diese macht hier keine Ausnahme. Bemerkenswert und den Charakter der Sinfonie schon gleich am Anfang kenntlich machend, tragen die Holzbläser das Vorderthema vor. In der langsamen Einleitung ist zudem schon das kommende Thema zu vernehmen. Bezüge zum Beginn des Finales sind ebenfalls in der Einleitung zu vernehmen - eine motivische Verflechtung, was man von Haydn dergestalt nicht gewohnt ist und der Symphonie ein besonderes Gewicht verleiht.


    Haydn verwendete für die Londoner Symphonien etliche Motive, die er Jahre zuvor in mehreren Notturni für den neapolitanischen König Ferdinand IV. verwendete. Für den zweiten Satz dieser Symphonie (Pius hat dies schon angesprochen) bediente sich Haydn aus dem dritten Orgelleier-Konzert eben jener Notturni. Möglicherweise aus Zeitnot (3). Auch diesen Satz beginnen untypischerweise die Holzbläser. Dazukommen zwei Klarinetten, die Haydn vorher erstmalig in der Symphonie 99 eingesetzt hatte. Ausgerechnet in diesen eher gesanghaften Satz bricht nun die „Janitscharenmusik“ herein. Ein von Haydn suggestiv kalkulierter Effekt, der diesen Satz zum Lieblingssatz dieser Symphonie werden ließ. Haydn selbst bearbeitete in London diesen Satz für Blasorchester. Und wenn er schon dabei war, sprangen noch ein paar Märsche für die gleiche Besetzung dabei heraus.


    Das Menuet enthält für Haydn untypische Merkmale. Zum einen werden die ersten sechzehn Takte nicht mehr wiederholt und die folgenden Takte (17 – 56) werden derart dicht verarbeitet, dass die Literatur hier von einem „Durchführungscharakter“ spricht (4).


    Das Finale kennzeichnet ein einleitendes Rondo, dass Beziehungen zur langsamen Exposition des 1. Satzes aufweist. Das Presto zitiert schwungvoll die (ebenfalls schon angesprochene) Melodie, die man in England als „Lord Cathcart“ kannte. Haydn zeichnet sich wieder als Kenner des Publikumsgeschmacks aus. Nicht zuletzt hatte er schließlich Kenntnisse über englische Volksliedmelodien (gell, Paul?). Aufgepeppt wird der Kehraus-Charakter durch typisch Haydnse ganztaktige Pausen, die den Satz stoppen und wieder anfahren lassen, sowie ein Paukensignal, dass an Gewehrschüsse gemahnt und den militärischen Charakter der Symphonie auch im letzten Satz hervorhebt. Einige sehen hier schon Beethoven am Werk. Zumindest weist diese Symphonie durchaus auf Beethoven hin. Es ist sogar wahrscheinlich, dass Beethoven selbst zurzeit der Niederschrift des letzten Satzes bei Haydn Unterricht erhielt (nur der erste Satz wurde in London geschrieben, die Sätze zwei bis vier waren in Wien entstanden) (5).


    3. Zur Wirkung der Symphonie


    Der Erfolg dieser Symphonie war immens. Selbst für Haydns Verhältnisse. In der Saison 1795/95 wurde die Symphonie neunmal aufgeführt, es gab unzählige Bearbeitungen der Symphonie für verschiedene Besetzungen und Haydn selbst bearbeitete den zweiten Satz, wie schon erwähnt, für Blasorchester. Die Kritik reagierte enthusiastisch, auch wenn einige Stimmen die „spezial effects“ als „spezial effects“ verdammten. Erwähnenswert sei noch der Vorläufer im Rahmen der von Salomon ins Leben gerufenen Konzertreihe, welches das Publikum ebenfalls heiß und innig liebte wie später die Militärsymphonie, nämlich die Symphonie (?) „The Battle“ von Ignazio Raimondi (1735 – 1813), welche Haydn 1792 in London gehört hatte (6) - (Kennt die wer und kann was dazu sagen? Mir ist der Komponist total unbekannt) -.


    Es scheint, als hätte das Londoner Publikum eine Vorliebe für martialische Themen gehabt. Und Haydn selbst hat ein Jahr später bei seinem letzten Londoner Konzert die Symphonie wieder ins Programm genommen.



    Anmerkung zum Postingtitel


    “Another new Symphony, by Haydn, was performed for the second time; the middle movement was again received with absolute shouts of applause. ‘Encore! Encore! Encore!’ resounded from every seat; the Ladies themselves could not forbear. It is the advancing to the battle, and the march of men, the sounding of the charge, the thundering of the onset, the clash of arms, the groans of the wounded, and what may well be called the hellish roar of war increase to a climax of horrid sublimity, which, if others can conceive, he alone can execute. At least he alone has hitherto effected these wonders.“


    The Morning Chronicle, 9. April 1794


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    (1) : Blackadder, Series 3, "nob and nobility", BBC
    (2) : Ulm, R. (Hg.), Haydns Londoner Symphonien, München, dtv, 2007
    (3) : Finscher, L., Joseph Haydn und seine Zeit, Laaber, Laaber-Verlag, 2000
    (4) : Ulm, R. (Hg.), a.a.O.
    (5) : Finscher, L., a.a.O.
    (6): Ulm, R. (Hg.), a.a.O.

  • Zitat

    Wer je auf die Idee kam zu behaupten, alle Sinfonien Haydns wären ähnlich, oder Haydns Musik wäre "gemütlich" - der kam wahrscheinlich taub auf die Welt oder war ein notorischer Lügner


    Wie Recht du hast! So ein Blödsinn... :angry:
    Wer je so was gesagt hat...
    Leider gibt es da gar nicht so wenige, da man Haydn lange viel zu wenig Bedeutung geschenkt hatte...


    Aber nun zur "100."


    Die beste, tollste, einfach coolste Sinfonie von Haydn...
    Unglaublich tolles Werk!!! :jubel: :jubel: :jubel:


    Unglaublich cool, der "Papa Haydn"... :stumm:


    Gruß :hello:

    Komponiert ist schon alles - aber geschrieben noch nicht. (W.A. Mozart)

  • Hallo zusammen,


    hier die wohl beste, aktuellere Einspielung.


    Auch zu Haydn hat Jansons viel zu sagen....






    Viele Grüße aus Berlin

  • Wieso 'beste'? Ist das denn überhaupt HIP?


    ?(

    Die Oper muss Tränen entlocken, die Menschen schaudern machen und durch Gesang sterben lassen.
    (Vincenzo Geilomato Hundini)

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