SCHÜTZ, Heinrich: LUKAS-PASSION


  • Heinrich Schütz (1585-1672):


    HISTORIA DES LEIDENS UND STERBENS UNSERS HERRN UND HEILANDES JESU CHRISTI NACH DEM EVANGELISTEN ST. LUCAM

    Passionsmusik für Soli und vierstimmigen Chor a-capella, SWV 480



    GESANGSSOLISTEN


    Der Evangelist (Tenor)
    Jesus (Baß)
    Petrus (Tenor)
    Pilatus (Baß)
    Zwei Knechte (Tenor und Baß)
    Zwei Schächer (Tenöre)
    Eine Magd (Sopran)
    Ein Centurio (Baß)



    INHALTLICHE INFORMATIONEN


    Die Passion beginnt mit dem vierstimmigen, polyphon vertonten Chorsatz


    „Das Leiden unsers Herren Jesu Christi,
    wie uns das beschreibet der heilige Evangeliste Lukas“,



    der auf den Hörer wie eine Programm-Ankündigung wirkt. Er steht - wie auch die übrigen Chöre - in der lydischen Tonart und schwankt nach unserem heutigen Tonartengefühl zwischen F-Dur und C-Dur. In Takt acht beispielsweise schreibt der Komponist anstelle des beim intendierten F-Dur zu erwartenden „b“ ein „h“ und entläßt den Hörer mit dem Gefühl einer fehlerhaften Harmonik. Eine weitere Auffälligkeit ist auch, daß Heinrich Schütz den Namen „St. Lukas“ durch ein musikalisches Motiv mit Oktavsprung notiert, als wolle er den Evangelisten-Namen in Noten ausdrücken.


    Für den Evangelienbericht wechselt Schütz in die ionische Tonart, die wir heute als „modernes Dur“ empfinden. Die tenorale Erzählung verharrt dabei in einer Mittellage und bleibt verhalten neutral, sieht keine besonderen deklamatorischen Ausbrüche vor. Das erinnert an Schütz' Vorwort zur wesentlich älteren „Auferstehungs-Historie“, in der dem Evangelisten aufgetragen wird, „frei und fließend“ und im Zeitmaß „natürlicher und ungezwungener Rede“ über Jesu Leiden zu singen. Dabei kommt dem geforderten Vortragsstil zugute, daß Lukas seinen Bericht mit einprägsamen, lebensnahen Episoden schildert und nicht den theologisch-tiefgründigen Ton des Johannes aufgreift. Lukas fast nüchtern zu bezeichnender Stil läßt vor dem „inneren Auge“ des Hörers schnell Bilder über die Ereignisse und Orte des Geschehens entstehen:


    - die Hohenpriester und Schriftgelehrten trachten Jesus nach dem Leben, möchten aber unbedingt Aufruhr im Volk vermeiden; da kommt ihnen Judas Ischarioth gerade recht (in den, wie Lukas erklärt, der „Satan“ fuhr), und der den Hohenpriestern anbietet, ihnen seinen Meister zu „überantworten“;


    - um mit seinen Jüngern in Jerusalem das Osterlamm zu essen, sendet Jesus die „Zwölfe“ zu einer Herberge mit einem „gepflasterten Saal“ und verkündet ihnen dort in seiner Bilder-Sprache seinen Tod; dabei spricht er zum Abendmahl jene Worte, die als Grundlage in den Abendmahlsgottesdiensten bzw. den Eucharistiefeiern zitiert werden:


    Das ist mein Leib, der für euch gegeben wird, das tut zu meinem Gedächtnis
    Das ist der Kelch, das neue Testament in meinem Blut, das für euch vergossen wird;



    - Erstaunen und Betroffenheit löst bei den Jüngern der von Jesus noch angefügte Satz aus:


    Doch siehe, die Hand meines Verräters ist mit mir über Tische,
    und zwar des Menschen Sohn gehet hin, wie es beschlossen ist,
    doch wehe demselbigen Menschen, von welchem er verraten wird.



    aufgeregt fragen sie alle in die Runde „bin ichs?“
    - die Erkenntnis, daß Jesus in den Tod gehen wird, läßt Petrus mutig werden und seine Bereitschaft ausdrücken, mit dem Meister in den Tod zu gehen, doch Jesus holt Petrus auf den Boden der Realität zurück:


    Petre, ich sage dir, der Hahn wird heute nicht krähen,
    ehe denn du dreimal verleugnet hast, daß du mich kennest;



    - wir hören, daß ein zutiefst ängstlicher Jesus an den Ölberg gehen, um zu Gott zu beten, gibt aber dabei sein großes Vertrauen in den himmlischen Vater zum Ausdruck:


    Vater, willst du, so nimm diesen Kelch von mir,
    doch nicht mein, sondern dein Wille geschehe.



    und daß der himmlische Vater ihm einen Engel zur Stärkung schickt;


    - daß Jesus bei seiner Rückkehr die Jünger schlafend vorfindet und sie ermahnt


    Was schlafet ihr? Stehet auf und betet, auf daß ihr nicht in Anfechtung fallet;



    - daß die Gefangennahme Jesu durch Judas' Hilfe mit dem Kuß die Identifizierung des den Hohenpriestern verhaßten Predigers vereinfacht;


    - wir hören von der Verzweiflungstat eines ungenannten Jüngers, der einem der Knechte ein Ohr abschlägt, das Jesus durch „Anrührung“ wieder heilt;


    - wir erfahren, daß Jesus zum Haus des Hohenpriesters gebracht wird, und hier Petrus die Verleugnung seines Herrn „ehe denn der Hahn dreimal krähete“ ausspricht;


    - Lukas schildert die Verhandlung vor Kaiphas (der bei ihm allerdings nicht namentlich genannt wird), der ihn wegen Gotteslästerung zu Pontius Pilatus bringen läßt, der aber keine Schuld feststellen kann und ihn lediglich züchtigen, dann aber freilassen will;


    - die darüber wütenden Proteste des Volkes, das den „Volkserreger“ am Kreuze, Barabas aber durch Pontius Pilatus freigelassen sehen will;


    - schließlich die Kreuzigung, die von dem anwesenden „Volkshaufen“ und den „Weibern“ beweint wird, denen Jesu aber noch rät:


    Ihr Töchter von Jerusalem, weinet nicht über mich. sondern weinet über euch selbst
    und über eure Kinder. Denn siehe, es wird die Zeit kommen, in welcher man sagen wird:
    Selig sind die Unfruchtbaren und die Leiber, die nicht geboren haben.



    - und Jesu Grablegung in das Felsengrab eines gewissen Joseph von Arimathia, der als ein „frommer Ratsherr“ beschrieben wird, der „auch auf das Reich Gottes wartete“;


    das alles sind einprägsame Bilder, die mit aufwühlender Realität und großer Anteilnahme geschildert werden, und die durch die unbegleiteten Rezitative eine archaische Wirkung erzeugen. Man kann der Aussage, hier wirke noch der Gregorianische Gesang nach, durchaus zustimmen.


    Die Worte Jesu haben bei aller Feierlichkeit, bei aller Würde, dennoch eine großartige rhetorische Gewalt, die sich aus den bildhaften Aussagen ergeben. Dabei moduliert Schütz immer wieder zwischen den verschiedenen Kirchentonarten, um harmonische Spannungen zu erzeugen. So wird das von tiefer Traurigkeit gekennzeichnete Gebet Jesu im Garten Gethsemane aus dem vom Evangelisten-Rezitativ vorgegebenen F-Dur plötzlich in ein „modernes“ g-Moll verwandelt, kehrt dann aber wieder mit resignativer Wirkung in die Ausgangstonart zurück.


    Während Schütz bei der Zuordnung der Stimmlage für Jesus einen Baß auswählt und sich damit an die Vorbilder hält, ist er bei den anderen Soliloquenten nicht so traditionell: So wird der „Fels“ Petrus einem Tenor, Pilatus und der Centurio den Bässen, die beiden Schächer den Tenören und zwei Knechte je einem Tenor und Baß zugewiesen. Die eigentliche Dramatik aber erreicht Schütz in den meist recht kurzen Turbae-Sätzen, den Volkschören, die gegenüber den in späteren Zeiten vertonten Werken zwar wesentlich schlichter, aber nicht weniger aufwühlend auf den Hörer wirken.


    Der Eingangschor und der „Beschluß“ sind die beiden einzigen Stücke der Partitur, die nicht aus dem Lukas-Evangelium stammen. Und der Schlußchoral, die Conclusio, ist eine leicht abgewandelte Strophe des Passionsliedes „Da Jesus an dem Kreuze stund“. Schütz hat ihn motettisch vertont, zeichnet die zum Ausdruck kommende Verheißung der göttlichen Gnade mit hellen Dur-Klängen und verabschiedet den Hörer nicht nur mit Ergriffenheit, sondern auch mit dem Gefühl, zu den klaren Worten des Evangelisten Lukas die klare und passende musikalische Auslegung gehört zu haben:


    Wer Gottes Mart'r in Ehren hat und oft bedenkt sein bittern Tod,
    des will er eben pflegen wohl
    hie auf Erd mit seiner Gnad und dort im ew'gen Leben.



    INFORMATIONEN ZUM WERK


    Die hier vorgestellte LUKAS-PASSION ist die älteste der drei Passionsmusiken von Schütz. Die Entstehungszeit läßt sich nicht eindeutig bestimmen, da das Werk nur in Abschriften überliefert ist; die Jahres-Angaben schwanken zwischen 1653 und 1662. Von besonderem Interesse ist eine außergewöhnlich kunstvolle Kopie von 1692, die ein gewisser Johann Zacharias Grundig hergestellt hat und die in Leipzig verwahrt wird. Sie enthält nämlich auch noch die Matthäus- und Johannes-Passion sowie eine nach dem Evangelisten Markus, die jedoch nicht von Schütz, sondern 1668 von dem Dresdner Kapellmeister Giuseppe Peranda nachkomponiert wurde, um die Passionsmusiken zu komplettieren.


    Die LUKAS-PASSION von Schütz löste seinerzeit die Werke seiner Vorgänger Johann Walter, Antonio Scandello und Matthäus Le Maistre ab, die noch bis in die 1660er Jahre in den Dresdner Hofgottesdiensten während der Passionszeit gesungen wurden. Als direkte Vorlage konnte eine entsprechende Komposition des Kantors Christoph Schultze aus Delitzsch bei Leipzig verifiziert werden, da sie textlich mit der Schütz-Version identisch ist.


    Der in jeder Hinsicht bescheidene Umfang dieser Passionsmusik, die mit den Werken Bachs nicht vergleichbar ist, bedeutet keinesfalls eine geringere künstlerische Wertigkeit; sie daher nur als schlichte und anspruchslose Vorläufer eben der Passionen späterer Zeiten anzusehen, greift viel zu kurz und wird auch der Bedeutung des Henricus Sagittarius nicht gerecht. Wer als Interpret aus dem einfach wirkenden Notenbild den Schluß zieht, „leicht“ zu singende Musik vor sich zu haben, der wird schnell von der geforderten individuellen Beweglichkeit der Stimmen eingeholt und muß Ensemblegeist entwickeln Der hohe künstlerische Anspruch ist in allen Werken des „parens nostrae musicae modernae“ (Vater unserer [d.h. der deutschen] modernen Musik) spürbar.


    An dieser Stelle seien noch einige erläuternde Worte zu den Begriffen „Chor“ und „Stimmung“ in den Werken des Frühbarock gegönnt, die auch auf den Kompositionen von Heinrich Schütz zutreffen: Der Chorbegriff ist sowohl instrumental wie auch vokal zu verstehen, auch in gemischter Form, weil er sich grundsätzlich auf eine „Gruppe von Musikern“ bezog. Hinsichtlich der vokalen Stärke muß man sich auch von der heute üblichen Besetzung eines gemischten Chores freimachen, denn damals wurden nur kleine Gruppen von Musizierenden für jede einzelne Stimmlage gebildet. So wird man eine adäquate Aufführung in heutiger Zeit nur in enger Anlehnung an der Originalbesetzung erreichen. Dazu kommt, daß seinerzeit der Stimmton bei a' ca. 465 hz lag, der heutige Kammerton a' bei etwa 440 hz; damit wird man die tief notierten Sätze kaum zu Klingen bringen. Das ist auch der Grund, daß die auf „Alte Musik“ spezialisierten Interpreten heute eine mitteltönige Temperatur und historische Instrumente bevorzugen.


    Für die Werke von Heinrich Schütz gibt es heute drei Gesamtausgaben: Die erste wurde 1885 von Philipp Spitta begonnen und von Arnold Schering fortgesetzt (SGA); die zweite ist die „Neue Ausgabe sämtlicher Werke“ aus dem Bärenreiter-Verlag (NSA, ab 1955); die dritte Ausgabe erscheint im Carus-Verlag (früher Hänssler-Verlag, Stuttgarter Schütz Ausgabe, SSA).


    Während die Spitta/Schering-Edition nur noch historische Bedeutung beanspruchen kann, versteht sich die von der Heinrich-Schütz-Gesellschaft intendierte und bei Bärenreiter erscheinende NSA, genau wie die SSA aus dem Carus-Verlag, als quellenkritische Edition, die sowohl für den wissenschaftlichen als auch für den praktischen Gebrauch gedacht ist. Beide Ausgaben basieren auf historischen Quellen, bieten ein modernes Notenbild und enthalten alle wesentlichen Informationen zur Werkentstehung, zur Überlieferung und zur Aufführungspraxis; bei den überwiegend geistlichen Werken von Schütz wird auch noch die liturgische Stellung erläutert.


    Erwähnt werden soll ebenfalls, daß Carus-Verlag bis zum Jahre 2017 die erste deutsche Gesamteinspielung der Werke von Heinrich Schütz auf geplanten 22 CD's herausgibt, die von Hans-Christoph Rademann und dem Dresdner Kammerchor betreut wird. Damit soll, so der Verlag, dem „ersten deutschen Komponisten von europäischem Rang ein weithin sichtbares Denkmal gesetzt“ werden.


    © Manfred Rückert für Tamino-Oratorienführer 2012
    unter Hinzuziehung folgender Quellen:
    Text der LUKAS-PASSION
    Oratorienführer von Oehlmann, Pahlen, Harenberg, Leopold
    Die Musik in Geschichte und Gegenwart
    Informationen aus dem Bärenreiter- und Carus-Verlag

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    MUSIKWANDERER

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  • Für den Musikfreund, insbesondere den Liebhaber der Musik des Henricus Sagittarius, halten die Tamino-Werbepartner Amazon und jpc einige Aufnahmen der LUKAS-PASSION von Heinrich Schütz bereit:



    Hermann Max dirigiert die Rheinische Kantorei und bietet zusätzlich noch „Die sieben Worte Jesu am Kreuz“ und verschiedene „Kleine geistliche Konzerte“;



    mit Johan Linderoth, Jakob Bloch Jespersen; Ars Nova Copenhagen, Leitung Paul Hillier;



    mit Max van Egmont, Peter Christoph Runge, Irmgard Jacobeit; der Monteverdi-Chor Hamburg, das Leonhardt-Consort, Leitung Jürgen Jürgens; gekoppelt mit „Die sieben Worte Jesu am Kreuz“;



    mit Jelden, Peter, Fehr, Ess; der ,,Zürcher Kreis der Engadiner Kantorei" St. Moritz; Leitung Hannes Reimann;



    eine Aufnahme mit Interpretationsgeschichte: Rudolf Mauersberger dirigiert; es singen Peter Schreier, Theo Adam, Hans-Joachim Rotzsch und der Dresdner Kreuzchor;



    ein 19-CD-Box, die auch die LUKAS-PASSION enthält; die Cappella Augustana leitet Matteo Messori.

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    MUSIKWANDERER