Der Krieg ist vorbei, und das Regietheater hat gewonnen.
Blickt man auf Äußerungen in diesem Forum, so kann man gar keinen anderen Schluss ziehen. Dies gilt auch, wenn man sich noch so sehr wünschte, dass es anders wäre.
Forianer bezeugen entweder, dass es kaum noch traditionelle Inszenierungen gäbe, oder sie beklagen, dass sie keine solchen in ihrer Reichweite besuchen könnten. Die finanzielle Zukunft der Enklave Wels scheint hochgradig unsicher. Strano Sognator bestätigt, dass sich die Ausbildung junger Regisseure an den Hochschulen an den heute vorherrschenden Tendenzen in der Opernszene orientiert.
Traditionelle Inszenierungen haben Seltenheitswert. Wer wollte das bestreiten?
Unabhängig davon, wie man zum Regietheater steht, wird man zugeben müssen, dass es eine eigene autarke Kunstform ist, die sich neben die Kunst des Librettisten und die Kunst des Komponisten stellt – zuweilen sogar davor. Das Versetzen einer vorgegebenen Handlung in einen anderen Kontext ist selbstverständlich ein kreativer Akt an sich; es bedarf dafür gewisser Anknüpfungspunkte im zugrundeliegenden Libretto. Entgegen hier häufig zu lesenden Behauptungen ist es ja keinesfalls ein Akt der Hilflosigkeit oder Dummheit, wenn ein Regisseur sich zu einer solchen Verlegung entschließt. Jedenfalls liegt im Falle eines Dissens mit der zu Beginn dieses Absatzes aufgestellten Behauptung die Beweislast bei denen, die meinen, dass das Regietheater keine Kunstform sei. Ernstzunehmende Ansätze zu einem solchen Beweis sind mir jedenfalls nicht bekannt. Dies muss selbstverständlich nichts heißen, und ich wäre für diesbezügliche Informationen dankbar.
Die Gegner des Regietheaters argumentieren gerne mit den Exzessen desselben. Der Einsatz von Requisiten, die es zur Zeit der Handlung nicht gab, sexuelle Ausschweifungen, die im Libretto nicht erwähnt sind, Orgien mit allen denkbaren Körpersäften, Inszenierung von Ouvertüren und Zwischenspielen, der Einsatz einer großen und im Libretto nicht erwähnten Statisteria und einiges mehr gehören zu den Allgemeinplätzen einer an der Oberfläche verbleibenden Argumentation gegen das Regietheater. In Tat und Wahrheit bestätigen diese Pseudoargumente lediglich, dass sich diese Kunstform längst etabliert hat und auch über ein wiedererkennbares Repertoire von Stilmitteln gebietet – wie es sich für eine Kunstform gehört.
Natürlich beabsichtigt ein Regisseur, der diesem Weg folgt, keine zeit- und raumgetreue Inszenierung des vorliegenden Werkes. Darum gehen auch alle rhetorischen Fragen à la „Gab es im Spanien des 16. Jahrhunderts denn Maschinenpistolen? Meines Wissens nicht!“ ins Leere und bedürfen keiner Antwort, weil die Frage unsinnig ist: Was der Regisseur zeigen will und zeigt, ist ja schließlich nicht das Spanien des 16. Jahrhunderts.
Natürlich hat jede Kunstform ihre Exzesse. Genau wie die Opera seria in eine Sackgasse gelangte, genau wie das Virtuosentum der Paganini-Liszt-Nachfolge inhaltsleere Werke mit überladener Spieltechnik schuf, genau wie die Programmmusik zu albernen musikalischen Darstellungen führte und genau wie die serielle Musik durch die Quasi-Nichtaufführbarkeit aller Vorgaben in der elektronischen Musik ihr zum Teil unrühmliches Ende fand, so hat auch das Regietheater seine seltsamen Blüten getrieben.
Nun ist keiner dieser Richtungen die Existenz der Extreme vorzuwerfen – denn wenn man auf Grundlage der Extreme urteilen würde, müsste man auch Mozarts Idomeneo, einen Großteil der Lisztschen Klavierwerke, die Strausschen Sinfonischen Dichtungen und Etliches von Webern, Messiaen und Boulez verwerfen. Damit ist klar: Auf Grundlage von Extremen zu entscheiden ist sinnlos. Die Frage ist also: Was ist diesseits der Extreme künstlerisch wertvoll?
Viele Opernkenner berichten, dass ihnen durch Inszenierungen von Neuenfels, Konwitschny und anderen Regisseuren einige Aspekte wohlbekannter Opern klar geworden sind, die ihnen bis dato selbst nach jahrzehntelanger Opernerfahrung verschlossen geblieben waren. So frage ich:
Wenn wir die Existenz und die weitgehende Dominanz des Regietheaters als gegeben ansehen:
1) In wie weit können die Berichte langjähriger Opernkenner über positive Erfahrungen mit dem Regietheater für eine Opernpraxis der Zukunft genutzt werden?
2) Welche Stilmittel des Regietheaters können das Opernerlebnis vertiefen? Beispiele?
3) Welche Stilmittel des Regietheaters wären zu verwerfen und warum?
Ich möchte diesen Beitrag des hochgeschätzten Forianers Operus gewinnbringend für diese Diskussion nutzen und danke ihm herzlich für die damit gegebene Anregung zu diesem Thread!