Deutschsprachige Komponisten der "klassischen Moderne"

  • Da mir Alfreds "Ohrenschmausthread" zu unklar ist, und die Threads für das gesamte 20. Jahrhundert ein zu weites Spektrum abdecken, habe ich ein Mittel gesucht, Empfehlungen weniger bekannter Komponisten in sinnvolle Threads zusammenzufassen. Daher habe ich einmal die Frage in den Raum geworfen:
    Was versteht Ihr unter "klassische Moderne"?
    um das Ergebnis als Grundlage für länder-/sprachspezifische Einzelthreads zu verwerten.


    Rund um den ersten Weltkrieg wurde (mindestens) zweimal mit der Tradition gebrochen: Die "Wiener Schule" Schönbergs entledigte knapp vorher sich der Tonalität und in Paris bildete sich knapp nachher das Zentrum einer frechen antiromantischen Musik mit dem Zentralgestirn Strawinsky. Daneben existiert das, was aus der Romantik geworden war, weiter und alle denkbaren Zwischenpositionen werden ausprobiert.


    Im deutschsprachigen Raum ist die Opposition der beiden modernen Strömungen besonders deutlich, da die Wiener Schule eben hier stattfand und Schönberg, der unangefochtene "Gott" seiner Schüler, einen recht kompromisslosen Weg vorgab. Zudem erscheint der tonale Neoklassizismus hier in der Regel weniger frech als in Paris und somit für heutige Ohren deutlich weniger modern als das Atonale aus Wien, da die Zentralfigur Hindemith durch den Bachbezug eine besonders "seriöse, ordentliche" Spielart betreibt und für Deutschland typenbildend etabliert.


    Außerdem ist dank Strauss und Pfitzner das Fortleben der Romantik sehr prominent, sodass alle möglichen Mischformen (auch Strauss pflegte seine Klassizismen) zu erwarten sind - und dank der gegenwärtigen Einspielungspolitik der CD-Labels können wir vieles entdecken, das zumindest interessant ist ...

  • Der Begriff des Neoklassizismus ist ja leider etwas böse, da er nicht zur Abgrenzung zur anderen Moderne jener Zeit taugt - schließlich widmet sich Schönberg in seinen frühen zwölftönigen Werken der 20er Jahre auch den historischen Formen und produziert somit atonale, zwölftönige, neoklassizistische Werke (Suite für Klavier, Bläserquintett). Normalerweise ist der Neoklassizismus aber tonal, genauer bi- oder polytonal, und von Komponisten geschrieben, die Atonalität für eine Verirrung halten. Stattdessen interessieren sie sich aber oft für den Jazz (schon vor dem breiten Auftreten des Neoklassizismus - also vor 1920 - schrieb Strawinsky Ragtimes) und überhaupt für das Motorische.


    Wenn wir also die Interessen
    1) Barock/Frühklassik mit besonderer Verehrung Bachs
    2) Jazz und allgemein Tanzmusik
    3) Motorik, Ostinati
    gemeinsam betrachten, können wir ein paar auch heute noch sehr prominente Komponisten zusammenfassen zu jener einen Moderne, die der atonalen anderen Moderne Schönbergs gegenüberstand:


    Paul Hindemith
    Carl Orff
    Kurt Weill


    Die Komponisten Krenek, Eisler und Dessau beteiligten sich an beiden Modernen, die sich in ihren Werken manchmal etwas merkwürdig gegenüberstehen. Dabei steckte


    Hanns Eisler


    in der Zwickmühle, einerseits Schönbergs Fortschrittsprinzip verfolgen zu wollen, andererseits aber als glühender Kommunist die Massen zu bewegen. Das ging nur tonal. Allerdings bietet die Zwölftontechnik auch die Möglichkeit, tonale Ergebnisse zu liefern und seine Deutsche Sinfonie ist eine Synthese des zwölftönigen Materialstands mit der sentimentalen zum Kampf rufenden Musik, die wir heute sofort mit dem Kommunismus identifizieren.


    Neben diesen Stars gab es natürlich unzählige weitere Komponisten, die man dieser stilistischen Richtung zuordnen kann, und die in Folge "dem Vergessen entrissen" werden sollen.

  • Der Neoklassizismus entwickelte sich vom frechen Bilderstürmerstil zum seriösen staatstragenden - das ist ein internationaler Trend. In den 40er Jahren setzte ein verstärktes Interesse für die Gattung der Sinfonie ein, viele Komponisten, die bislang 0-1 Stück geschrieben hatten, beginnen nun Serien. Oft (wenn auch nicht immer) steht (zumindest vorübergehend) die Bewältigung der politischen/geschichtlichen Ereignisse im Vordergrund. Hier steht in Deutschland an erster Stelle


    Karl Amadeus Hartmann


    der zwar auch bei Webern studiert hatte, dennoch einen neubarock gekräuselten tonalen aber stark dissonanten Stil pflegte. Im atonalen Zwölftonbereich müssen Schönbergs Überlebender aus Warschau, Wolpes Battle Piece und Kreneks Lamentatio Jeremiae Prophetae genannt werden. Letztes Werk entstand so wie das meiste von Hartmann vor Ende des 2. Weltkrieges ohne Aussicht auf Aufführung.

  • Wenn ich schon mehrere Einführungsbeiträge schreibe, die der möglichen Schubladisierung dienen sollen, muss ich auch noch einen über die Wiener Schule machen.


    Arnold Schönberg


    komponierte knapp vor 1910 die ersten atonalen Werke und fand damit international rasch Nachfolge. Während viele Komponisten sich nur kurz im Atonalen versuchten, um dann wieder tonale Konstruktionen zu bevorzugen, gab es für Schönberg keinen Weg zurück, Strawinsky und andere "Moderne" (Schönberg verwendete diesen Begriff eher als Schimpfwort, da er sich als notwendigen Fortentwickler der Tradition sah) lehnte er ab, eher respektierte er Komponisten, die den mahlernahen Stil, von dem auch Schönberg ausgegangen war, beibehielten. Um 1920 geriet seine freie Atonalität in die Krise und er suchte kompositionstechnische Orientierung. Diese fand er in der Zwölftontechnik die der atonalen Musik eine neue Konstruktions- eventuell auch Harmonielehre und Stütze bieten sollte. Das Konstruktive Element entfaltet seinen ästhetischen Reiz am deutlichsten bei Schönbergs Schüler


    Anton Webern


    während der andere ganz prominente Schüler


    Alban Berg


    sich mehr für mögliche Verbindungen zur tonalen Musik interessierte (Reihe des Violinkonzerts). Über Eisler schrieb ich schon, die anderen Mitglieder der Wiener Schule sind vergleichsweise in Vergessenheit geraten und sollen in künftigen Beiträgen hier Würdigung erfahren (oder Kritik, oder was immer).

  • Hugo Wolf starb 1903, Gustav Mahler 1911, Max Reger 1916. Als "letzte Ritter der Romantik" wanderten Richard Strauss und Hans Pfitzner (beide 1949 gestorben) ins Musiklexikon - ob man ihre Spätwerke zur "klassischen Moderne" zählen soll, oder nicht, müssen wir hier nicht diskutieren. Aber das, was mit Mahler und Reger begann, musste sich nicht zwangsläufig ins Atonale entwickeln oder durch Neoklassizismus konterkariert werden. Die chromatisch überzüchtete Spätromantik, die Extasen der Salome, feierten weiterhin in der Oper Erfolge, die Romantik eroberte die Filmmusik.


    Franz Schreker
    Alexander Zemlinsky
    Erich Wolfgang Korngold


    So, jetzt kann's aber losgehen!

  • Erwin Schulhoff (1894-1942, deutschsprachiger Prager Jude) gehört auch noch in die Gruppe der von Jazz/Motorik, aber auch einer Reihe andere Strömungen beeinflussten und später politisch orientierten Komponisten.

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Oje, bei den tschechischen Komponisten weiß ich gar nicht, wer als Muttersprache deutsch hatte ...
    Martinů, Finke, Petyrek, Hába, Ullmann, Haas, Krása - wer sprach was?
    Und in Polen:
    Marek, Steuermann, Rathaus - ?

  • (1883 - 1959)
    geht vom frei atonalen Schönberg aus und entwickelt unabhängig und etwas früher eine eigene Zwölftonsprache. Während schon seine frei atonalen Werke verhaltener sind als die Schönbergs und einen etwas spirituelleren Ausdruck haben, klingt Hauers Zwölftonstil ganz anders als der stets expressiv-explosive seines großen Konkurrenten: ein Schweifen durch eher harmonische Klänge, ein richtungsloses Treiben. Technisch läuft das so: Begonnen wird mit einem Septakkord, dann wird immer nur ein Ton geändert, die anderen 3 bleiben. Die sich ändernden Töne bilden eine Zwölftonreihe - wie dann mit der Reihe verfahren wird, habe ich vergessen, spielt aber für den Höreindruck keine große Rolle. Das Überraschendste an Hauer ist die Tendenz, immer mehr Anteile des Kompositionsvorganges zu automatisieren, unter die Kontrolle des Prinzips zu stellen. Hauer versteht sich dabei womöglich mehr als Wissenschaftler oder Priester, der die Geheimnisse der "Tropen" ans Licht bringt. Dabei wurde er natürlich immer wunderlicher und unter Kompositionskollegen immer inakzeptabler. Seine Lehre scheint auch zu eng gefasst, um Nachfolge zu erlauben - umso interessanter, dass Herbert Henck einen Hauer-Nachfolger auf CD herausgebracht hat - ihn werde ich später versuchen, vorzustellen. Schönbergs Verfahren ist wesentlich einfacher und wandlungsfähiger, somit verwertbarer. Hauers Konzept dagegen ist hochinteressant als Vorbild für die Zurücknahme der Willkür des Komponisten, für Kompositionsautomaten sozusagen, und damit heute aktueller als Schönbergs. Schon Cage interessierte sich sehr für Hauer. Zum anderen sollte Hauers kosmisches Kreisen mit seinem herben Wohlklang in unserer postmodernen Zeit mit ihrer Suche nach abstrakter Spiritualität nicht mehr so verstörend fremdartig klingen, wie es wohl früher der Fall war.

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  • Das freut mich! Ich habe schon als Teenager sein Violinkonzert üben wollen - man hat mir dann abgeraten, und es wurde schließlich Weberns op. 7 das erste Stück, das ich mit Ausdruck und Engagement auf der Violine gespielt habe, die ich vorher eher als lästige Pflichtübung betrachtet hatte.


    Eigentlich soll hier jeder beitragen wie er mag, Komponisten vorstellen, Einspielungen empfehlen, Komponisten kritisieren, Rankings machen, von den persönlichen Erfahrungen berichten - unser Forum ist ja kein Lexikon.
    :hello:

  • Um diesen Thread nicht einschlafen zu lassen, mal ein Wort zu Schönberg, der ja durchaus auch seine romantische erste Phase hatte und erst danach dahin gelangt ist, was man heute so als Ursprung der Wiener Schule bezeichnet.
    Wenn ich darüber nachdenke, empfinde ich Webern eigentlich als den "Radikalsten" der heute noch Bekannten dieser Schule, weswegen er womöglich in der Tonträgerwelt zumeist auch hinter seinem Lehrer Schönberg und seinem "Mitschüler" Berg zurücksteht.

    "Die Glücklichen sind neugierig."
    (Friedrich Nietzsche)

  • Dass Webern der radikalste war, derjenige, dem man am wenigsten Tradition anhört, liegt aber nicht daran, dass er weniger tonales Frühwerk hatte, sondern daran, wie er sich dann entwickelte. Sein tonales Frühwerk kenne ich im Gegensatz zu Schönbergs aber kaum, es gilt ja auch nicht als so bedeutend ("Im Sommerwind").


    Was ich an Webern besonders modern empfinde, ist vielleicht neben der ohnehin klaren Strukturbetonung des Spätwerks so etwas wie die Faszination der klanglichen Kleingestalt. Beides zusammen wird ja dann zur punktuellen seriellen Musik führen. Man sollte dabei aber nicht den unbedingten Ausdruckswillen übersehen (wie die Serialisten der 50er).

  • Habe ich doch wieder was gelernt...mit Weberns tonalem Frühwerk bin ich nämlich überhaupt nicht vertraut...gilt es denn als nicht so bedeutend, weil es so konträr zu seiner späten Entwicklung ist oder war es auch schon zu seiner Zeit nur Mittelmaß? Weit entfernt von Schönbergs Tonal-Phase?

    "Die Glücklichen sind neugierig."
    (Friedrich Nietzsche)

  • Webern selbst hat ja seine Opus-Zählung erst mit der (noch tonalen) Passacaglia beginnen lassen, hat also den Sommerwind als nicht vollgültiges Studienwerk deklariert. Die Passacaglia dürfte dagegen eines der erfolgreichsten Werke Weberns sein, die ist aber nicht mehr sehr romantisch und die Tonalität schon recht erweitert.


    Schönberg gehörte ja einer älteren Generation an und seine tonalen Stücke sind entsprechend mehr und gewichtiger (schließlich war er kein Spätzünder wie Bruckner).


    Ich nehme aber an, dass die meisten Komponisten der klassischen Moderne ihre romantischen Wurzeln haben. Früher Hindemith klingt z.T. noch sehr nach Reger - ich kenne mich da nicht aus, aber habe gerade etwas in sein 1. Streichquartett op. 2 (1915) reingehört. Weills Frühwerk kenne ich noch garnichter, immerhin findet man seine Cellosonate (1920) auf CD, die auch noch im spätestromantischen Fahrwasser rudert. Früher Orff (1911 mit 16 komponiert) klingt laut englischer Wikipedia nach Richard Strauss. Was Hartmann unter der Anleitung des Reger-Schülers Joseph Haas (von dem ich ein paar Weihnachtslieder kenne) in seiner Jugend komponiert hat, habe ich auf die Schnelle nicht herausfinden können. Achja, was man alles noch kennenlernen könnte, wenn man zu viel Zeit hätte!

  • Ich müsste die mal wieder hören, aber "Im Sommerwind" und der langsame Satz für Quartett sind meiner Erinnerung nach schon ziemlich gute spätestromantische Stücke. Allein vom Umfang her natürlich nicht so gewichtig wie zB "Verklärte Nacht".

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Im Augenblick ist es so, daß ich -quasi als Strafe oder "Fegefeuer" für "Fehlkäufe" - also Käufe die ich aus Neugier getätigt habe , wohl wissend, das mir das Gekaufte nicht gefallen wird - mich mir selbst gegenüber verpflichtet habe aus diesem Pool von (vermentlich) "unanhörbaren" CDs regelmässig welche auszusuchen - zu hören - in die Datenbank einzugeben - und in die Sammlung einzureihen. Eine Sisyphusaufgabe. Gelegentlich wird man dann aber angenehm überrascht.

    Die Hauer CD - heute erstmals gehört (liegt schon seit Jahren originalversiegelt bei mir)- kommt ja schon mit dem ersten Titel drohend daher "Apokalyptische Phantasie" klingt wenig einladend. Und grade sie empfand ich dann als das interessanteste und beeindruckendste Werk, angereichert mit interessanten Effekten und durchaus anhörbar und stellenweise sogar beeindruckend. Gottfied Rabl holt hier aus dem RSO Wien das Letzte raus und die Tontechnik bringt das gut zur Geltung. Das Violinkonzert erreicht diese Eigenschaften IMO nicht ist aber durchaus akzeptabel, wogegen mich die anderen Werke zwar nicht abgestossen - aber gelangweilt haben. Das gilt insbesondere für die beiden "Zwölftonspiele" von 1957

    War diese CD also ein Fehlkauf ? Und wieso kauft man eine CD mit "ungeliebter Musik"

    Nun - Hauer war eine interessante (weil verschrobene) Persönlichkeit der Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts und hat etliche Spuren bei Zeitgenossen und in der Literatur hinterlassen-

    seine Abneigung gegen Arnold Schönberg schriftlich festgehalten, war - trotz teilwiese antisemitischer Äuserungen den Nationalsozialisten ein Dorn im Auge unn daher verboten (Entartete Musik)

    Obwohl Aussenseiter und schwieriger Charakter - oder grade deshalb bekam er im Laufe seines Lebens zahlreiche Preise und Auszeichnungen.

    • 1927: Kompositionspreis der Stadt Wien
    • 1934: Emil-Hertzka-Preis
    • 1953: Ehrenmitglied der Wiener Konzerthausgesellschaft
    • 1954: Professor
    • 1954: Preis der Stadt Wien für Musik
    • 1955: Großer Österreichischer Staatspreis für Musik

    Von einer derartig schillernden Person (siehe auch den Lebenslauf bei WIKIPEDIA) sollte man zumindest eine CD in der Sammlung haben.Eigentlich wäre ein eigener Thread angezeigt, aber ich fürchte, daß es da bei EINEM Beitrag blieben.Hut ab vor dem Mutigen, der das wagt. Zur Not könne man als Auffetung diesen hier als Kopie mit einstellen.;)


    mfg aus Wien

    Alfred


    PS: Die gezeigte CD ist inzwischen gestrichen

    POLITIKER wollen stets unser Bestes - ABER WIR GEBEN ES NICHT HER !!!



  • Diese CD besitze ich - als einzige mit Musik von Hauer - und habe ich auf jeden Fall ein einziges Mal durchgehört, Einzelnes mehrmals. Die Musik ist, meine ich, letztlich eingängiger als die strenge Zwölftönigkeit in den entsprechenden Werken Schönbergs, vielleicht auch einförmiger. Das liegt an seinem spezifischeren System - ich will hier nicht spekulieren, habe auch fast alles wieder vergessen, doch es dürfte eher in einem Fünfer-Rahmen angelegt sein. Ohne Gewähr! Man kann, so man will, nachlesen. Heute will ich nicht. :P:)


    :cheers: Wolfgang


    PS: Gerade sehe ich, dass vor langer Zeit, aber nicht sonderlich viele Beiträge weiter oben, Kurzstückmeister dazu geschrieben hat - am 16. Juli 2012. Es gibt dann noch weitere von ihm. Das reicht mir als Erinnerungshilfe durchaus.

    Lieber Fahrrad verpfänden denn als Landrat enden!