Ist Beethoven überschätzt?

  • Die Mehrheit der Leute, die Beethovens 9.te bewundert, tut das, weil sie sich von der "humanistischen Botschaft" angesprochen fühlt. An der ist aber, man verzeihe mir, nicht viel dran. Weder hat Beethoven danach gelebt noch die Mehrzahl der Leute, die diese Musik präferieren. Und da wird dann die Grenze zum Kitsch für mich überschritten - Ergriffenheitsmusik für den Feierabend.


    Bester Felix,


    wo nimmst Du das denn her? Die humanistische Botschaft stammt schließlich von Schiller und die Mehrheit der Leute von der Du sprichst könnte sich genauso gut vom Text angesprochen fühlen.
    Ergriffenheitsmusik für den Feierabend? Ist der 3. Satz der Neunten kitschiger als das Adagietto aus Mahlers Fünften?
    Na gut, Feierabend, hören wir nur noch Strawinski. Träne im Knopfloch ist nichts für harte Männer.


    Ein Wort noch zu Beethovens Charakter. Es gab gewiss unschöne Dinge in seinem Leben, die Vormundschaft über seinen Neffen, das Bedürnis, sich mit dem Adel zu frottieren und Einiges mehr. Doch schließlich, wer hat schon die Kraft, stets seinen Idealen treu zu bleiben?


    Das Heiligenstädter Testament ist doch jedenfalls kein medialer Trick, es wurde schließlich erst nach Beethovens Tod gefunden. Genug Entlastungsmaterial würde ich doch sagen.


    Ich finde, Du machst es Dir zu einfach. Sicher würde ein Teil der sogenannten Beethovenverehrer gerne auf die ersten drei Sätze verzichten und erst wieder bei der Ode auf Sendung schalten. Die Regel aber, glaube ich, ist es nicht.
    Im Forum ist mir diese Einstellung bisher noch nicht begegnet.

  • Die Ursache für die Aussage, das Beethoven überschätzt ist, dürfte immer in der Person begründet sein, die diese trifft.


    Für mich ist es der Versuch, das eigene Versagen in der Sinnsuche in der Musik Beethoven`s zu begründen.


    Oder Zusammenhänge in der Musik sich nicht erklären zu können, also wird behauptet, er würde überschätzt.


    Damit die Verantwortung für das eigene "Versagen" durch eine anonyme , nicht näher benennbare Gruppe übernommen wird.


    Stellt man dieses "Überschätzen" auf einen objektiven Prüdstand bricht es schnell in sich zusammen.


    "Ich kann mir die Musik nicht erklären oder sie gefällt mir nicht also ist sie überschätzt".


    Einen solchen Gedankengang man eigentlich nur mit Verachtung strafen.

  • Beethovensche Instrumentation wird ja typischerweise eher von der Warte Berlioz bis Spätromantik kritisiert. Abgesehen davon, dass ich das als Laie auch nur bedingt beurteilen kann, ist es kein Gebiet, dem ich allzu große Bedeutung zumesse. (Meistens stehen mir Komponisten, die angeblich toll instrumentiert haben, wie Berlioz, Strauss, Debussy ferner als solche, die es angeblich nicht gut konnten, wie Schumann und Brahms.) Nachvollziehen kann ich die Vorwürfe meistens nicht und ich finde hier einige Geniestreiche bei Beethoven und für mich auch einen Fortschritt gegenüber Haydn und Mozart, dergestalt, dass Stimmungskontraste durch die Instrumentation verstärkt werden (auch wenn es das besonders bei Mozart auch schon gibt.)
    Man nehme zB den Beginn des Violinkonzerts mit Pauken und Holzbläsern, was seinerzeit sehr ungewöhnlich gewirkt haben muss. Die extremen Gegensätze im vierten Klavierkonzert, mit der Reduktion auf Streicher im Mittelsatz und Trompeten und Pauken erst im Finale. Oder, in einem Satz, den ich heute manchmal stellenweise etwas plakativ finde, nämlich dem ersten des 5. Klavierkonzerts, die Differenzierung der Gestalten des Seitenthemakomplexes: Streicher (+ Klavier) für die "Trauermarschvariante", dann mit prominenten Hörnern usw.

    Für mich ist die Farbigkeit und Geschmeidigkeit der Instrumentierung bei Orchesterwerken schon sehr wichtig, was vielleicht nicht ganz zu meiner Begeisterung für Streichquartette passt. Beispielsweise schätze ich Saint-Saens sehr, nicht zuletzt wegen der vielleicht unerreichten Transparenz und Fantasie seiner Instrumentationskunst. Ich würde aber keineswegs so weit gehen zu sagen, die beethovenschen Instrumentierungen wären schlecht, aber sie sind eben nur selten so geglückt wie in der Pastorale. Klarerweise hatte er aber viele gute Ideen, wie deine Beispiele zeigen. Das ist ja an Beethoven überhaupt das Faszinierendste: dieser unglaubliche Drang neues zu schaffen.



    Vielleicht ist dafür auch der von mir verlinkte "sprödeste Komponist, den ich kenne"-thread geeignet. Der Punkt mit den Stimmen ist wohlbekannt und wurde schon mehrfach, auch im Forum geäußert (wobei ich frustrierter SängerInnen hier aber keine neutralen Richter finde...) Ein Kritikpunkt ist ja auch (oder erst recht) berechtigt, wenn er sich auf Absicht, nicht auf mangelnde Fähigkeiten bezieht.

    Ja, vielleicht werde ich dort ein paar Anmerkungen machen. Ich finde aber, dass der Kritikpunkt "er kann was nicht" schwerer wiegt als "er will was nicht" bei der Einschätzung eines Komponisten. Ersteres ist eine "objektivierbare" Schwäche, das andere ein rein ästhetischer Einwand.

  • wo nimmst Du das denn her? Die humanistische Botschaft stammt schließlich von Schiller und die Mehrheit der Leute von der Du sprichst könnte sich genauso gut vom Text angesprochen fühlen.
    Ergriffenheitsmusik für den Feierabend? Ist der 3. Satz der Neunten kitschiger als das Adagietto aus Mahlers Fünften?
    Na gut, Feierabend, hören wir nur noch Strawinski. Träne im Knopfloch ist nichts für harte Männer.

    Klar stammt die Botschaft von Schiller, aber in Töne gesetzt hat sie nun einmal Beethoven. Abgesehen davon gefällt mir auch der pure Text Schillers nicht, den ich für pathetisch und plakativ halte. Selbstverständlich bin ich nicht der Meinung, man solle nur emotional neutrale Musik wie Strawinsky schreiben. Traurige oder angreifende Musik soll ihren Platz im Musikleben haben, allerdings ist es ein Unterschied, ob ein Komponist sein Seelenleben schildert oder ob er zu einer besseren Welt aufruft. Ersteres kann man in sich aufnehmen, wenn man will, oder auch nicht. Zweites aber ist auch ein Appell an den Zuhörer, der gewissermaßen verpflichtet. Man kann doch nicht am Abend bei "Seid umschlungen Millionen" feuchte Augen der Rührung kriegen und danach wieder die übliche Gleichgültigkeit oder übliche Misanthropie seinen Mitmenschen gegenüber an den Tag legen. Wie du selber ausführst war Beethoven nun einmal kein Mensch, der auch nur versucht hätte seine Mitmenschen "zu umarmen". Es gäbe noch viele weitere Besipiele, wie das jämmerliche Verhalten Niedrigergestellten, wie seinen Haushälterinnen, gegenüber. Bei Beethoven scheint mir bei der 9.ten Symphonie eher messianisch-narzisstische Selbsüberschätzung vorzuliegen. Allerdings ist das natürlich kein Einwand gegen die kompositorische Qualität des Werkes, sondern gegen den ideellen Gehalt.



    Das Heiligenstädter Testament ist doch jedenfalls kein medialer Trick, es wurde schließlich erst nach Beethovens Tod gefunden. Genug Entlastungsmaterial würde ich doch sagen.

    Habe ich auch nie behauptet. Das HT ist ein genuiner Ausdruck seiner Verzweiflung und kein medialer Trick. Überhaupt kann man Beethoven, der stets so kompromisslos seine Ideen verfolgt hat, schwerlich als Medienfritze bezeichnen.



    Ich finde, Du machst es Dir zu einfach. Sicher würde ein Teil der sogenannten Beethovenverehrer gerne auf die ersten drei Sätze verzichten und erst wieder bei der Ode auf Sendung schalten. Die Regel aber, glaube ich, ist es nicht.
    Im Forum ist mir diese Einstellung bisher noch nicht begegnet.

    Ich habe nicht behauptet, dass das hier im Forum die Regel wäre, aber in der Einschätzung Beethovens in der breiten Bevölkerung nehmen "ideologische" Aspekte einen zu hohen Stellenwert ein.

  • Bester Felix,


    es ist natürlich eine Gewissensfrage, ob man von einem Künstler verlangen soll, dass seine Werke mit seiner Persönlichkeit einhergehen. Es scheint auch so, dass von einem Dichter oder Komponisten mehr moralische Integrität erwartet wird, als z.B. von einem Maler oder Bildhauer.
    Vielleicht wäre es am Besten, man forscht nicht nach.
    Puschkin war ein unerträglicher Chauvinist, Wagner ein rücksichtsloser Egomane, Beethoven ein burduser und überheblicher Eigenbrötler und Goethe unterschrieb als Minister ein Todesurteil gegen eine sogenannte Kindsmörderin.
    Zugegeben, mich stört es auch und am liebsten würde ich vergessen, was ich darüber weiß.


    Eine andere Sichtweise wäre aber denkbar. Gesetzt den Fall, es stellte sich heraus, dass Emile Zola ein Befürworter des Sklavenhandels gewesen war (eine Fiktion natürlich), würde diese Kenntnis sein berühmtes "J´accuse" entwerten?


    Wie verhalten wir uns gegenüber all den genialen "Spinnern", die ohne ihre Genialität als unbequeme oder anangenehme Menschen betrachtet würden?
    Carlos Kleiber, Glenn Gold, Bobby Fisher, Klaus Kinski, Celibidache waren nicht gerade Repräsentanten edler Menschenfreundlichkeit.
    Soll ich Toscanini aus dem Regal nehmen, weil er die Orchestermusiker schikanierte?


    Diese Fragen kann natürlich jeder nur für sich selbst entscheiden.


    Zurück bleibt nur die Verwunderung: wie konnte Beethoven mit den beschriebenen persönlichen Eigenschaften eine Musik wie den 3. Satz aus der Neunten komponieren?


    Grüße aus Stockholm
    hami1799

  • Ich weiß es nicht, aber es kommt mir so vor, als würde Beethoven hier als "Schlechter" Mensch beschrieben. War er das? Besonders verwundert hat mich, dass ein Kollege hier sogar anprangerte, dass er sehr gegen den Adel eingestellt war. (Ich halte das für die damalige Zeit als sehr begrüßenswerte Haltung).
    Aber war es nicht grundsätzlich so, dass Beethoven im Innern ein Mensch war, der gern geliebt hätte, gern geliebt worden wäre, dem das aber nur sehr beschränkt gelang, der daraufhin nach außen verbitterte, im Inneren aber sich sehnte nach Freude, Liebe und Nähe.
    Wenn jemand der Umarmungen entbehrt, der sucht doch die Schuld daran eher in der Außenwelt als bei sich selber.


    Insofern erscheint mir die obige Diskussion obsolet.


    Tschö
    Klaus

    ich weiß, dass ich nichts weiß. Aber ganz sicher bin ich mir da nicht.

  • Ich halte für ausgeschlossen, dass in der Wertschätzung Beethovens "ideologische" Elemente eine maßgebliche Rolle spielen.
    Was für eine "Ideologie" sollte das sein? Schillers Trinklied (!) stellt weder systematisch Lebensregeln auf noch propagiert es eine "Ideologie" (wie Adlige an die Laternen hängen oder Kirchen plündern).
    (Sehr viel eher könnte man das von der "Johannespassion", dem "Messiah" oder Mendelssohns "Lobgesang" behaupten) Es ist weder Beethovens noch Schillers Schuld, dass das Stück seither für Staatsfeierlichkeiten verwendet wurde


    Ganz abgesehen davon halte ich es für extrem unwahrscheinlich, dass selbst bei Komponisten wie zB Wagner oder Schostakowitsch, meistens ohnehin nur sehr vage Inhalte stärker wirken als die Musik. Die Wirkung der Musik ist IMMER viel stärker. Es mag mal nachträgliche Rationalisierungen geben, weil der Befragte keine Ahnung von Musik hat, nicht ausdrücken kann, was ihn bewegt und er deswegen auf Ideen oder Inhalte verweist.


    Allerdings dürften Aspekte der Biographie Beethovens gewiss einen Einfluss auf die Rezeption seiner Musik gehabt haben. Da ist er zwar kein Einzelfall, aber unbestritten gibt es die Wahrnehmung Beethovens als "Helden" analog zu der heldenhaften Musik einiger seiner Werke. Ich finde das durchaus nachvollziehbar. Dabei glaube ich aber nicht, dass seine Musik von daher für besser oder schwächer geschätzt wird. Es passt eben nur ganz gut zusammen. Es gibt ein ganzes Buch dazu, das ich allerdings noch nicht kenne:


    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Nach allem was ich gelesen habe, war Beethoven, ungeachtet der Schicksalsschläge durchaus nicht verbittert und zynisch. Seine Musik wirkt ohnehin nie so und auch aus Briefen spricht keine endgültige Verbitterung und von seinem ingesamt aufbrausenden und launischen Charakter scheint er auch in den späten Jahren oft recht umgänglich, freundschaftlich und humorvoll gewesen zu sein. Von der unvermeidlichen Einsamkeit des Tauben abgesehen, pflegte er durchaus Freundschaften und soziale Kontakte.
    Was ich durchaus bewundernswert finde.
    Gewiss, bei der Geschichte mit dem Neffen hat er sich total falsch verhalten, aber das ist gerade angesichts der Einsamkeit und der Tatsache, dass er eben keine eigene Familie hatte, durchaus nachvollziehbar. Wir brauchen uns wohl kaum weit umzusehen, um heute in Scheidungskriegen ähnliche tragische Situationen zu finden, ohne dass schwere Charakterfehler (oder taube, geniale und schon mit dem üblichen Alltag überforderte Musiker) involviert werden.

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Ja, vielleicht werde ich dort ein paar Anmerkungen machen. Ich finde aber, dass der Kritikpunkt "er kann was nicht" schwerer wiegt als "er will was nicht" bei der Einschätzung eines Komponisten. Ersteres ist eine "objektivierbare" Schwäche, das andere ein rein ästhetischer Einwand.


    Die "rein" ästhetische Beurteilung ist aber doch die Entscheidende, oder? Ob ein "handwerklicher Fehler" stört oder nicht, hängt von der ästhetischen Beurteilung ab, vermutlich sogar, was überhaupt als handwerklicher Fehler bewertet wird. In einem Thread zu Brahms im Forum wird von einem ehemaligen User mit Kompositionsstudium behauptet, Brahms habe objektiv schlecht instrumentiert, es klinge stumpf oder was auch immer. (Ein anderer User mit Kompositionsstudium hat das Urteil meiner Erinnerung nach in dieser Form nicht geteilt.)
    Solch ein Urteil ist aber offenbar von einem bestimmten Klangideal geprägt, auch wenn es vielleicht mittels Obertonspektren von Instrumenten ausbuchstabiert werden könnte. Eher würde der Vorwurf der schwachen Instrumentation einleuchten, wenn eine Stimme, die aufgrund der Logik von Stimmführung und Harmonik wichtig ist, "untergeht", weil sie ungeeigneten Instrumenten gegeben wurde. Selbst dann ist aber meistens nicht völlig klar, ob das so gewollt oder nicht gekonnt gewesen ist.

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Ob ein "handwerklicher Fehler" stört oder nicht, hängt von der ästhetischen Beurteilung ab, vermutlich sogar, was überhaupt als handwerklicher Fehler bewertet wird.

    Dazu könnte man noch die angeblichen handwerklichen Fehler Mussorgskijs nennen. Doch was wären die schon gegen die urwüchsige Kraft seiner Kompositionen?

  • Es geht mir nicht darum Beethoven als einen üblen Charakter darzustellen. Meiner Meinung nach war er, abgesehen von seiner genialen musikalischen Begabung, sicher nicht besser oder schlechter als die meisten von uns. Das steht für mein Gefühl aber sehr im Gegensatz zum heroischen Bild von ihm, zum Titanen, den man aus ihm gemacht hat.


    Ich finde, JR greift zu kurz, wenn er meint, Beethoven würde nur aufgrund der Qualität seiner Musik so hoch geschätzt. Natürlich, als einer der allerbesten Komponisten hätte er auch ohne jegliches Zutun viele Anhänger. Trotzdem, mehr als hundert Jahre nationalistischer Heldenverehrung (für die B. natürlich nichts kann), die alle Schichten der Gesellschaft und auch die Gelehren mitgetragen haben, wäre das Beethovenbild wohl ein anderes. Beethoven wurde zum Sinnbild des deutschen Übermenschen schlechthin stilisiert, zum kriegerischen Titanen, und somit zum deutschen Nationalkomponisten Nr. 1. Als eine solche Identifikationsfigur spielt(e) er in der gesellschaftlichen Wahrnehmung eine ganz andere Rolle als andere Komponisten seines Formats (Bach, Haydn, Mozart). Gewisse "kriegerische" Vorstellungen von Beethoven scheinen heute auch noch heute Einfluss auf die Beethovenrezeption zu haben, wie z.B diese recht rezente Rezension der Op. 18 Streichquartette zeigt (Rondo, Jürgen Otto, zu Streichquartet Op. 18/1):


    "Seltsam. Obwohl man das Werk doch kennt, zur Genüge sich mit ihm
    beschäftigt hat, hört man es und staunt. Immer wieder aufs Neue
    frappiert die kühn-kecke Grandiosität dieses ersten Entwurfs für die
    Gattung aus des Komponisten Feder. Nur ein Titan vermochte dergleichen.
    Einer wie Beethoven. Sein F-Dur-Streichquartett op. 18/1 ist ein
    Meilenstein der Musikgeschichte. Und zugleich ein Akt der Zertrümmerung,
    eine Art ästhetischer Vatermord. Kein Stein bleibt mehr auf dem anderen
    sitzen. Haydn und Mozart werden nachgerade suspendiert, obschon er doch
    alles von ihnen weiß und hat. Nur nutzt Beethoven es, um sie zu
    vertreiben aus jenem Raum, den er nun öffnet; einen Raum, der vor allem
    aus Kanten, Rissen, Brüchen und Akzenten besteht, die so oder ähnlich
    nur einer neben ihm wagte: Schubert."

  • Die "rein" ästhetische Beurteilung ist aber doch die Entscheidende, oder? Ob ein "handwerklicher Fehler" stört oder nicht, hängt von der ästhetischen Beurteilung ab, vermutlich sogar, was überhaupt als handwerklicher Fehler bewertet wird. In einem Thread zu Brahms im Forum wird von einem ehemaligen User mit Kompositionsstudium behauptet, Brahms habe objektiv schlecht instrumentiert, es klinge stumpf oder was auch immer. (Ein anderer User mit Kompositionsstudium hat das Urteil meiner Erinnerung nach in dieser Form nicht geteilt.)
    Solch ein Urteil ist aber offenbar von einem bestimmten Klangideal geprägt, auch wenn es vielleicht mittels Obertonspektren von Instrumenten ausbuchstabiert werden könnte. Eher würde der Vorwurf der schwachen Instrumentation einleuchten, wenn eine Stimme, die aufgrund der Logik von Stimmführung und Harmonik wichtig ist, "untergeht", weil sie ungeeigneten Instrumenten gegeben wurde. Selbst dann ist aber meistens nicht völlig klar, ob das so gewollt oder nicht gekonnt gewesen ist.

    Ich meinte mit "objektive Schwäche" eher die Unfähigkeit gewisse formale Standards zu erfüllen, z.B eine Fuge oder einen brauchbaren Sonatenhauptsatz schreiben zu können (es gäbe naürlich viele Beispiele mehr). Verzichtet ein Komponist freiwillig darauf ist das anders zu bewerten als wenn er dabei scheitert eben diese Standards zu erfüllen. In unserem Fall heißt das: Beethoven wollte nicht anders intsrumentieren als er es tat, obwohl er es hätte können (siehe Pastorale). Als solches hat er eine Entscheidung getroffen, die mir gefallen kann oder nicht ("ästhetischer Einwand"). Mir ist natürlich bewusst, dass alle musikalischen Formen und Normen ästhetisch hinterfragt werden können, aber so weit wollte ich hier gar nicht ausholen.


    Zur Instrumentierung: ich denke, die Instrumentierung hat doch einen gewaltigen Einfluss, wie das Werk auf uns wirkt. Oder anders gesagt, sie hat eine große poetische Kraft. Rein strukturell könnte man Beethovens Smphonien ja auch vierhändig am Klavier spielen.



    p.S: mit Brahmsens Instrumentierungen hatte ich noch nie ein ungutes Gefühl - im Gegensatz zu Tschaikowsky, der mir mit seinem Streicher- und Blechklang, den letzten Nerv raubt.

  • Das Schwierige ist, in einen Thread nach 2 Tagen wieder einzusteigen, nachdem so viel bereits gesagt wurde, auf das man im Einzelnen nicht eingehen kann. Wie schon bei Mozart ist der Threadtitel rein fiktiv - kaum jemand der mit Klassik befasst ist, wird Beethoven für überschätzt einstufen. Allerdings gibt es da schon einige Besonderheiten auf die ich hinweisen möchte. Von den vier Wiener Klassikern, eignen sich nur zwei für diese Threadserie, nämlich Mozart und Beethoven.
    Mozart vielleicht aus dem Grund, weil man in der Musikgeschichte zwar kaum einen Zeitgenossen finden wird, der ihm in allen Sparten "ebenbürtig" war, jedoch viele einzelne Komponisten des 18. Jahrhunderts , von denen zumindest die musikkundigen Zeitgenossen annahmen, sie seien in ihrem Spezialgebiet Mozart ebenbürtig. Die allgemeine Ansicht der Nachwelt ist zumindest weitgehend eine andere, Mozarts Rivalen sind für gut zweihundert Jahre in weitgehend in der Versenkung verschwunden - und werden erst in den letzten Jahren wieder ausgegraben.
    Beethoven indes hatte, was die Kompositionen angeht, nie ernstzunehmende Rivalen - und das durch all die Jahrhunderte - bis heute. Immer wurde er auf ein Podest gestellt - aus den verschiedensten Gründen. Als Titan, als Revolutionär, als "Kämpfer für irgendwelche Ideale" - und natürlich seiner Musik wegen, die mehr oder weniger einzigartig in der Musikgeschichte dasteht.
    Einen Thread: "Ist Schubert überschätzt" kann ich mir eigentlich nicht vorstellen, denn Schubert war sicher zu keiner Zeit "überschätzt"- Das gilt bis zum heutigen Tag.
    Der vierte im Bund wäre Joseph Haydn. In meiner Jugend hochgeschätzt, und mit Mozart auf eine Stufe gestellt, wurde er dennoch weniger oft gespielt. Zahlreiche Projekte mit Gesamtaufnahmen seiner Sinfonien wurden mangels akzeptabler Verkaufszahlen abgebrochen. (Mir fallen spontan Goodman und Hogwood ein, ob die Serie mit Fey je vollendet wird steht in den Sternen) Erst in den letzten Jahren - vermutlich durch die HIP Bewegung - gewinnt er wieder an Bedeutung, bzw wird seine Bedeutung ällmählich wieder erkannt.


    Sollte ich diese Serie "Ist XY überschätzt?" fortführen - und die Beteiligung der ersten beiden Folgen rät mir, dies zu tunn, würde ich Gustav Mahler als Kandidaten wählen.


    Man wird sehen.....
    Beethoven war übrigens kein Feind des Adels - er hätte dazu auch keinen Grund gehabt, da er nicht nur protegiert, sondern auch finanziell unterstützt wurde. Aber er fühlte sich auch nicht als "Untertan" und betonte, daß er, Beethoven aus eigener Leistung berühmt wurde - nicht durch den Zufall eine adeligen Geburt. Eine besonderes Verhältnis hatte er zu Prinz Louis Ferdinand von Preußen (1772 - 1806) über dessen Klavierspiel er sagte, Louis Ferdinand spiele nicht "königlich" oder "prinzlich", sondern wie ein tüchtiger Klavierspieler. Zudem widmete er ihm das 3. Klavierkonzert.


    mit freundlichen Grüßen aus Wien
    Alfred

    Die Tamino Moderation arbeitet 24 Stunden am Tag - und wenn das nicht reicht - dann fügen wir Nachtstunden hinzu.....




  • Hallo Felix Meritis,


    danke für dieses Zitat.


    Erschreckend.


    Komisch, das bei Beethoven manche Leute ihre "Bodenhaftung" verlieren und der Drang zur Übersteigerung gegeben ist. Merken diese Leute gar nicht, das sie über jegliches Ziel hinausschießen und dem Komponisten mehr schaden als nutzen?


    Grüße Thomas

  • Zitat von Felix:
    "Es geht mir nicht darum Beethoven als einen üblen Charakter darzustellen. Meiner Meinung nach war er, abgesehen von seiner genialen musikalischen Begabung, sicher nicht besser oder schlechter als die meisten von uns. Das steht für mein Gefühl aber sehr im Gegensatz zum heroischen Bild von ihm, zum Titanen, den man aus ihm gemacht hat."


    Nicht besser oder schlechter als die meisten von UNS? Wer ist UNS? Du, ich, der Alfred Schmidt oder hami? Oder wer sonst? Darum geht es nun wirklich zu allerletzt. Wie kommst Du darauf, Beethoven auf diese Ebene herunterhieven zu wollen? Beethoven, einer von UNS? Du machst ihn dadurch ganz ganz klein. In einem anderen Beitrag von Dir las ich sinngemäß, er, Beethoven, habe auch nicht nach der Botschaft seiner 9. Sinfonie gelebt. Warum auch? Solche Erwartungen zu stellen, ist kleinbürgerlich bis abwegig. Er hat die Neunte geschrieben, ob nun der Text gefällt oder nicht - und das reicht doch. Er hat sie nicht geschrieben um danach zu leben.


    Es ist einer der weit verbreiteten Grundirrtümer der Betrachtungsgeschichte, in schaffenden Künstlern immer auch den guten Menschen ausmachen zu müssen, eine humanistische Botschaft der Werke, in Rechtschaffenheit des Schaffenden umzumünzen. Sie sollen - um es mal sehr salopp zu sagen - komponieren oder dichten und nicht gute Menschen sein. Diese gymnasialen Erwartungen aus dem 19. Jahrhundert haben zu jenen Verklärungen oder Verhunzungen der Biographien geführt, die ihnen wie auch im Falle Beethoven noch immer anhaften wie Pech. Wertfreie Forschung, auch zu den biographischen Details, die nichts ausklammern darf, ist etwas anderes.


    Rheingold

    Es grüßt Rüdiger als Rheingold1876


    "Was mir vorschwebte, waren Schallplatten, an deren hohem Standard öffentliche Aufführungen und zukünftige Künstler gemessen würden." Walter Legge (1906-1979), britischer Musikproduzent

  • Nicht besser oder schlechter als die meisten von UNS? Wer ist UNS? Du, ich, der Alfred Schmidt oder hami? Oder wer sonst? Darum geht es nun wirklich zu allerletzt. Wie kommst Du darauf, Beethoven auf diese Ebene herunterhieven zu wollen? Beethoven, einer von UNS? Du machst ihn dadurch ganz ganz klein. In einem anderen Beitrag von Dir las ich sinngemäß, er, Beethoven, habe auch nicht nach der Botschaft seiner 9. Sinfonie gelebt. Warum auch? Solche Erwartungen zu stellen, ist kleinbürgerlich bis abwegig. Er hat die Neunte geschrieben, ob nun der Text gefällt oder nicht - und das reicht doch. Er hat sie nicht geschrieben um danach zu leben.

    Ich verstehe die Kritik nicht ganz. Ich schrieb doch "abgesehen von seiner genialen musikalischen Begabung", oder? Keiner käme auf die Idee, den Menschen (!) Joseph Haydn zum Übermenschen zu machen, trotz seiner ebenso prometheischen kompositorischen Leistungen.
    Bezüglich "Gutmenschentum": ist nicht eher der Schillertext und seine Vertonung eher Ausdruck desselbigen? Außerdem, mit der Vertonung dieses Texts spricht nicht der Komponist sondern der Mensch Beethoven zu uns. Das muß man anders bewerten.

  • Ja, das ist definitv schädlich - am wenigsten vielleicht noch für Beethoven, der hält alles aus. Am meisten wohl für Leute, die sich Beethovens Musik offen und vorurteilsfrei nähern wollen. Ich muss zugeben, dass der Titanenkult mich zunächst sehr misstrauisch machte und abschreckte als ich als Teenager begann mich bewusst mit klassischer Musik zu beschäftigen. Inzwischen habe ich das überwunden, aber es hat mich einige Jahre gekostet.

  • Man sollte das etwas gelassener sehen ...


    Gelassen beim Beethoven? Abscheulicher, wo denkst Du hin? :)


    Im Zeitalter digitaler Demenz ist Titanenkult allerdings out. Vieles ist auch maßlos übertrieben und, wie schon erwähnt, der Beurteilung Beethovens nicht immer dienlich.


    Doch der Überwindung widerlichster Lebensumstände haftet jedenfalls etwas Heroisches an. Trotz Taubheit und schier unerträglicher Schmerzen hatte Beethoven bis zuletzt Pläne für die Zukunft.
    Die Analyse seiner Haare ergab, dass Beethoven dazu noch auf Betäubungsmittel (Opiate) verzichtete, vermutlich mit der Absicht, die Qualität seiner geplanten Kompositionen nicht zu beeinträchtigen.
    Mag man es Heldentum nennen oder nicht, eine fast unglaubliche Selbstüberwindung gehört jedenfalls dazu.

  • Zitat

    Es ist einer der weit verbreiteten Grundirrtümer der Betrachtungsgeschichte, in schaffenden Künstlern immer auch den guten Menschen ausmachen zu müssen, eine humanistische Botschaft der Werke, in Rechtschaffenheit des Schaffenden umzumünzen. Sie sollen - um es mal sehr salopp zu sagen - komponieren oder dichten und nicht gute Menschen sein. Diese gymnasialen Erwartungen aus dem 19. Jahrhundert haben zu jenen Verklärungen oder Verhunzungen der Biographien geführt, die ihnen wie auch im Falle Beethoven noch immer anhaften wie Pech. Wertfreie Forschung, auch zu den biographischen Details, die nichts ausklammern darf, ist etwas anderes.


    Rheingold

    Wahre Worte! :thumbup:

  • Es geht mir nicht darum Beethoven als einen üblen Charakter darzustellen. Meiner Meinung nach war er, abgesehen von seiner genialen musikalischen Begabung, sicher nicht besser oder schlechter als die meisten von uns. Das steht für mein Gefühl aber sehr im Gegensatz zum heroischen Bild von ihm, zum Titanen, den man aus ihm gemacht hat.


    Ich finde, JR greift zu kurz, wenn er meint, Beethoven würde nur aufgrund der Qualität seiner Musik so hoch geschätzt. Natürlich, als einer der allerbesten Komponisten hätte er auch ohne jegliches Zutun viele Anhänger. Trotzdem, mehr als hundert Jahre nationalistischer Heldenverehrung (für die B. natürlich nichts kann), die alle Schichten der Gesellschaft und auch die Gelehrten mitgetragen haben, wäre das Beethovenbild wohl ein anderes. Beethoven wurde zum Sinnbild des deutschen Übermenschen schlechthin stilisiert, zum kriegerischen Titanen, und somit zum deutschen Nationalkomponisten Nr. 1. Als eine solche Identifikationsfigur spielt(e) er in der gesellschaftlichen Wahrnehmung eine ganz andere Rolle als andere Komponisten seines Formats (Bach, Haydn, Mozart).


    Mir ist nicht klar, ob Beethoven in besonderer Weise als deutscher "Nationalkomponist" wahrgenommen wurde (national ist an seiner Musik eigentlich nichts). Jedenfalls hatten Bach und sogar Schütz durchaus ähnlichen Status, später bei den Nazis natürlich auch Wagner. Gewiss kann man das heroische Beethovenbild kritisieren. Aber zum einen passt es eben tatsächlicher zur Musik, die es dominiert und erst plausibel macht. Wenn die Musik nicht heldische Züge hätte, hätte niemand Beethoven zum (m.E. nicht unbedingt nationalen) Helden hochstilisieren können. Zum anderen kann man auch kaum bestreiten, dass Beethoven in seinem Leben tatsächlich mit sehr widrigen Bedingungen zu kämpfen hatte, angefangen von der frühen Verantwortung für seine jüngeren Brüder, über die einsetzende, später endgültige Taubheit, die unglücklichen Liebschaften, der Neffe usw.


    Wir bewundern Künstler oft nicht nur aufgrund ihrer Begabung, sondern auch wegen ihrer Disziplin, ihrer Konzentrationsfähigkeit und Tatkraft, ihre ehrgeizigen Projekte auch umzusetzen. Dass Beethoven das angesichts oft außerordentlich widriger Lebensumstände getan hat, ist unbestritten und m.E. durchaus bewundernswert. Natürlich sind die Arbeitspensen von Komponisten wie Bach oder Haydn vielleicht noch erstaunlicher. Aber von denen wurde keiner taub und, so trivial das scheinen mag, wir wissen schlicht und einfach viel weniger über ihr Leben. Bei Beethoven fallen Kunst und Leben vielleicht noch nicht so eng zusammen wie bei Lord Byron u.a., aber beim Aspekt des Überwindens erdrückender Widerstände, passen sie zusammen und entsprechend entsteht das Bild des Künstlers als Held.


    "Beethoven Hero" ist ebenso ein Klischee wie der Mozart in "Amadeus". Aber Klischees sind nicht völlig aus der Luft gegriffen, auch wenn sie unterschiedlich stark verzerren (m.E. das "Amadeus" eher mehr als "Beethoven Hero"), haben sie eine Basis in der Wirklichkeit.

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Mir ist nicht klar, ob Beethoven in besonderer Weise als deutscher "Nationalkomponist" wahrgenommen wurde (national ist an seiner Musik eigentlich nichts). Jedenfalls hatten Bach und sogar Schütz durchaus ähnlichen Status, später bei den Nazis natürlich auch Wagner. Gewiss kann man das heroische Beethovenbild kritisieren. Aber zum einen passt es eben tatsächlicher zur Musik, die es dominiert und erst plausibel macht. Wenn die Musik nicht heldische Züge hätte, hätte niemand Beethoven zum (m.E. nicht unbedingt nationalen) Helden hochstilisieren können. Zum anderen kann man auch kaum bestreiten, dass Beethoven in seinem Leben tatsächlich mit sehr widrigen Bedingungen zu kämpfen hatte, angefangen von der frühen Verantwortung für seine jüngeren Brüder, über die einsetzende, später endgültige Taubheit, die unglücklichen Liebschaften, der Neffe usw.

    Beethoven selbst war natürlich nicht national, aber er diente sozusagen als Role-model für den bald virulent werdenden deutschen Nationalismus - allerdings, ich sage das noch einmal dazu, ohne selbst etwas dafür zu können. Aus der Geck Biographie über Beethoven ein paar Zitate zur Veranschaulichung


    Hans von Bülow, 1892: "Wir Musikanten mit Herz und Hirn, mit Hand und Mund, wir weihen und widmen heute die heroische Symphonie dem Bruder Beethovens, dem Beethoven der deutschen Politik, dem Fürsten Bismarck."


    Alfred Rosenberg, 1927: "Wir erleben heute die Eroica des deutschen Volkes".


    Elly Ney, 1942: "Nach einem Stuka-Angriff hörte ich abends zufällig die Eroika. Da spürte ich ganz deutlich, dass diese Musik Bestätigung unseres Kampfes ist, eine Heiligung unseres Tuns".


    Mit ein wenig Recherche könnte ich wahrscheinlich dutzende Zitate finden.



    Wir bewundern Künstler oft nicht nur aufgrund ihrer Begabung, sondern auch wegen ihrer Disziplin, ihrer Konzentrationsfähigkeit und Tatkraft, ihre ehrgeizigen Projekte auch umzusetzen. Dass Beethoven das angesichts oft außerordentlich widriger Lebensumstände getan hat, ist unbestritten und m.E. durchaus bewundernswert. Natürlich sind die Arbeitspensen von Komponisten wie Bach oder Haydn vielleicht noch erstaunlicher. Aber von denen wurde keiner taub und, so trivial das scheinen mag, wir wissen schlicht und einfach viel weniger über ihr Leben. Bei Beethoven fallen Kunst und Leben vielleicht noch nicht so eng zusammen wie bei Lord Byron u.a., aber beim Aspekt des Überwindens erdrückender Widerstände, passen sie zusammen und entsprechend entsteht das Bild des Künstlers als Held.

    Ich stimme zu, dass Beethovens Charakterstärke angesichts seines Leidens und der Widrigkeiten in seinem Leben beeindruckend sind. Weshalb es aber kein Buch "Hero Smetana" oder "Hero Bach" gibt, verstehe ich nicht ganz. Bach verlor seine erste geliebte Frau, die Mehrzahl seiner Kinder, lebte unter enormen Leistungsdruck und blieb im Gegensatz zu Beethoven mehr oder minder unverstanden. Zudem wurde er in den 1740er Jahren fast blind. Smetanas Leidensweg war noch bedrückender.

  • Gutmenschentum macht Beethoven ganz klein


    - diese These übersieht, wie sehr Beethovens eigenes Schaffen vom Ethos der Überwindung selbst geprägt ist. Wie wollte man die Figur des Ringens von seiner Musik lösen (eine Figur, die Mozart etwa ganz fremd ist)?


    Indem Beethoven der Musik zumutet, Weg und Ziel eines ethischen Ringens zu sein, also die Kämpfe und die Apotheosen zugleich auszudrücken, legt er selber den Grundstein zu einer Übersteigerung der Kunst ins Humane, Menschheitsumfassende.


    Das ganze 19. Jh. hat sich in diesem Ringen wiedergefunden - ebenso wie Beethoven mit seiner conditio humana teil hat an den tragischen Verstrickungen der aufkeimenden bürgerlichen Gesellschaft.


    Privates Unglück ist immer symbolisch und zielt - etwa christlich gesehen - auf das zu überwindende irdische Jammertal. - Beethoven hatte immerhin keine Ehefrau und keine Kinder zu begraben. Es scheint mir nicht rechtens, die Teilhabe am Menschheitsjubel von den körperlichen Gebresten zu trennen. Das allzumenschliche Leiden macht Beethoven nicht klein, sondern erschließt erst die Größe einer alles Individuelle überwindenden Vision von Menschheitsglück, die als Utopie jeden Familienvater dazu bringt, sein Wohlergehen demjenigen künftiger Generationen unterzuordnen.


    :hello:

    Zerging in Dunst das heilge römsche Reich


    - uns bliebe gleich die heilge deutsche Kunst!

  • Lieber farinelli, ich bewundere stets Deine scharfsinnigen, tiefgehenden Beiträge, doch muss ich mir hier erlauben, Dir ein Missverständnis zu unterstellen:


    Das alllzumenschliche Leiden macht Beethoven nicht klein, sondern erschließt erst die Größe einer alles Individuelle überwindenden Vision von Menschheitsglück[...]


    Genau dies stellte Rheingold mit seinem Beitrag ja auch nicht in Frage, vielmehr prangerte er jenes kleinbürgerliche Gutmenschentum an, das von Beethoven einen 'braven' (mit aller engstirnig-scheinheiligen Konnotation, die diesem Wort innezuwohnen vermag) Lebenswandel einfordert, um seinen humanistischen Utopien ihre Glaubwürdigkeit zuerkennen zu können.
    Die naive Vorstellung, dass es nur dem im banalsten Alltag stets recht und richtig Handelnden zukäme, höhere Ideale einzufordern, ist es, die Beethoven klein macht, nicht sein eigenes, 'allzumenschliches' Ringen mit den Realitäten des Lebens.
    Indem man aus ihm einen von 'uns' macht, dem ja angeblich die selben trivialen Fehler und Laster anhaften, macht man Beethoven klein.


    Doch genau das Gegenteil, die, wie Du es so schön formuliertest, Größe einer alles Individuelle überwindenden Vision von Menschheitsglück, ist es, die Beethovens Größe auch außerhalb seiner kompositorischen Genialität zeigt, jene Größe, die viele Bewunderung für diesen Menschen verspüren lässt.
    Dass jemand den großen Traum der allumfassenden Humanität zu träumen vermag, auch wenn er, von den Mühen des persönlichen Schicksals gebeugt, seinen Mitmenschen gegenüber sich abweisend, mitunter ungerecht und verletzend verhält (was ihm ja auch selbst bewusst war, wie er im Heiligenstädter Testament bekundet), ist keineswegs ein Grund, den musikalischen Ausdruck einer visionären gesitigen Konzeption als unehrlichen Kitsch oder als Ergriffenheitsmusik für den Feierabend zu diffamieren.


    Misst man große Geister mit dem Maßstab des Kleingeistes, rechnet man all jenen, die tief und weit dachten, ihre vielen kleinen Fehler an, so wird kaum mehr jemand aus der Masse emporragen.

    'Architektur ist gefrorene Musik'
    (Arthur Schopenhauer)

  • Lieber Novocento,


    ich danke für die Richtigstellung, es wäre mir nicht recht, Rheingold mit seinen Äußeungen in ein schiefes Licht gerückt zu haben.


    Ich selber bin augenblicklich stark bewegt durch die Lektüre der Bruderbriefe Wilhelms von Kügelgen, ein mehr als tausend Seiten umfassendes Kompendium des bürgerlichen Lebens zwischen 1840 und 1866 (Helmut Hofmann kennt es gewiß).


    Man kommt vom programmatischen Ethos Beethovens übrigens relativ leicht zu Mahler (mutatis mutandis). Viel schwieriger stellt sich in diesem Zusammenhang das Verhältnis zur Musik von Johannes Brahms dar. Die bürgerliche "Ersatzreligion" der Kunst (zumal der Beethovenschen) fußt auf dem religiösen Fundament der bürgerlichen Erziehung und des bürgerlichen Selbstverständnisses (man macht sich gar keine Begriffe davon). - Die "Missa solemnis" ist der problematische Versuch, beides zur Deckung zu bringen. - Vielleicht darf man das "Deutsche Requiem" als eine gewisse reservierte Antwort darauf ansehen.


    Die von Felix meritis mit spitzen Fingern zitierte Identifikation von Beethoven und Bismarck kann ich recht gut nachvollziehen (sie dürfte nicht in einem Atemzug mit den Äußerungen von Elly Ney genannt werden). - Aber wer hätte sich je unterfangen, Bismarck mit Brahms zu vergleichen?


    :hello:

    Zerging in Dunst das heilge römsche Reich


    - uns bliebe gleich die heilge deutsche Kunst!

  • Doch genau das Gegenteil, die, wie Du es so schön formuliertest, Größe einer alles Individuelle überwindenden Vision von Menschheitsglück, ist es, die Beethovens Größe auch außerhalb seiner kompositorischen Genialität zeigt, jene Größe, die viele Bewunderung für diesen Menschen verspüren lässt.
    Dass jemand den großen Traum der allumfassenden Humanität zu träumen vermag, auch wenn er, von den Mühen des persönlichen Schicksals gebeugt, seinen Mitmenschen gegenüber sich abweisend, mitunter ungerecht und verletzend verhält (was ihm ja auch selbst bewusst war, wie er im Heiligenstädter Testament bekundet), ist keineswegs ein Grund, den musikalischen Ausdruck einer visionären gesitigen Konzeption als unehrlichen Kitsch oder als Ergriffenheitsmusik für den Feierabend zu diffamieren.

    Es tut mir leid deine offensichtlich religiösen Gefühle für Beethoven beleidigt zu haben!



    Misst man große Geister mit dem Maßstab des Kleingeistes, rechnet man all jenen, die tief und weit dachten, ihre vielen kleinen Fehler an, so wird kaum mehr jemand aus der Masse emporragen.

    Tja, meiner Meinung nach war Beethoven eben ein großer Komponist aber kein großer Geist. Das würde ich eher Wagner (trotz seiner Verirrungen) und eventuell Borodin oder Berlioz zugestehen.

  • Es tut mir leid deine offensichtlich religiösen Gefühle für Beethoven beleidigt zu haben!

    Die Entschuldigung ist vergebens dargeboten, stehen mir doch religiöse Gefühle für Beethoven absolut fern. Das scheinbar Offensichtliche ist hier offensichtlich ein Missverständnis. Ich schätze Beethoven aufgrund seiner künstlerischen Leistung, und die erschöpft sich für mich eben nicht im gekonnten Aneinanderreihen von Noten, sondern sie umfasst auch die Verarbeitung außermusikalischer Aspekte zu einer Gesamtheit.
    farinelli hat hierzu ja auf die Missa solemnis hingewiesen, ein sicher bekenntnishaftes Werk eines Gläubigen, der dem engen Muster der Glaubensgemeinschaft stets kritisch gegenüberstand. Von Herzen, möge es wieder zu Herzen gehen; eine Sentenz, die sicher nicht nur aus hohlen Worten besteht, stellte Beethoven sie doch einem Werk bei, das er unter physischer Selbstverachtung, unter größten geistigen Anstrengungen erdachte.


    Und die IX. Symphonie ist - das war wohl durchaus auch manch einem Derer, die der Uraufführung beiwohnten, schon unbewusst klar - ein Beispiel für jenen Funken Ewigkeit, den zu erschaffen einigen wenigen Sterblichen vergönnt ist. Nur um den Vorwurf der Götzendienerei gleich von Anfang an zu entkräften: Nicht die Person Beethovens, sondern sein Werk trägt die Züge des Immerwährenden.



    Tja, meiner Meinung nach war Beethoven eben ein großer Komponist aber kein großer Geist. Das würde ich eher Wagner (trotz seiner Verirrungen) und eventuell Borodin oder Berlioz zugestehen.

    Deine Meinung bleibt Dir unbenommen, allein, ich teile sie nicht.
    farinellis Ausführungen betreffs des programmatischen Ethos' Beethovens zeigen ja sehr deutlich, dass Beethovens Beschäftigung mit solcherlei Thematik sich nicht in einer naiven Begeisterung an der schönen Utopie erschöpfte (Alle Menschen werden Brüder), sondern sehr wahrscheinlich eine tiefgehende Auseinandersetzung mit grundlegenden Fragen, ein Zweifeln und Hoffen (Ahnest Du den Schöpfer, Welt? Über Sternen muss er wohnen) umfasste. Die Auswahl der Strophen aus Schillers Ode erfolgte ja schließlich durch Beethoven selbst, er hat nicht nur unreflektiert vertont, was andere vorgaben.


    Für eine Erklärung mit schlüssiger Beweisführung, weshalb Beethoven geistiger Größe außerhalb der kompositorischen Begabung entbehrte, bin ich freilich stets offen, so sie ausreichend fundiert ist.

    'Architektur ist gefrorene Musik'
    (Arthur Schopenhauer)

  • Ist es nicht so, dass der ungeheure Druck (ethischer Art, oder moralischer, transzendenter oder persönlicher Leidensdruck), den die großen Werke Beethovens atmen, der sie so begeisternd machen? Spüren wir nicht beim HÖren, dass hier jemand gekämpft, gelitten hat, um genau das auszudrücken, was da in ihm selber tobte?
    Und wenn das stimmt, ist es dann nicht eben doch die Person/Persönlichkeit Beethovens? Und diese Unbedingtheit gehört für mich zu den Gründen zu glauben, dass er sehr wohl ein großer Geist war.
    Ganz bestimmt hat er in seinem Leben seine hehren Ziele nicht erreicht, vielleicht sogar weniger als andere, die weniger dafür kämpften. Aber dass dieser Kampfeswille in ihm lebte und wirkte, das können wir in seiner Musik nachempfinden.
    Und daher glaube ich, dass Beethoven auch als Mensch nicht überschätzt ist. Vielleicht sogar im Gegenteil.


    Tschö
    Klaus

    ich weiß, dass ich nichts weiß. Aber ganz sicher bin ich mir da nicht.