Hugo Wolf und Eduard Mörike

  • Danke, lieber farinelli. Ich stimme Dir in allem ohne jede Einschränkung zu. Vor allem in Deiner gleichsam bilanzierenden Feststellung: "In der "Äolsharfe" finde ich Brahms unübertrefflich".


    Wie Du Dir wahrscheinlich denken kannst, habe ich auch einen Vergleich angestellt. Ich habe mich dabei um eine möglichst große Objektivierung meiner Feststellungen bemüht und deshalb meinen subjektiven Eindruck in einem zweiten Beitrag zusammengefasst. Es ist alles sprachlich nicht so brillant wie bei Dir. Gleichwohl füge ich den ersten Teil jetzt einfach mal an Deinen Beitrag an und liefere den zweiten später nach (bin noch nicht ganz fertig damit).


    (Oh, und jetzt sehe ich: Ich bin auf die nächste Seite geraten, und Dein Beitrag ist optisch abgetrennt von meinem. Das tut mir leid! Bitte an die Leser dieses Thread also: Farinellis voranstehenden Beitrag in Einheit mit meinem hier lesen!)

  • Es wäre unsinnig, einen Vergleich beider Vertonungen unter einem irgendwie gearteten Qualitäts-Gesichtspunkt anzustellen. Dafür fehlten ganz einfach hinreichend solide Kriterien. Darüber hinaus wäre es so finde ich jedenfalls - auch ein wenig heikel, Musik von Brahms und Wolf unter qualitativen Aspekten zu vergleichen, weil deren Verhältnis, wie oben dargestellt, - gelinde gesagt – gespannt war. Ich weiß übrigens nicht, ob Wolf das Lied von Brahms gekannt hat. Möglich wäre das jedenfalls gewesen, denn die Veröffentlichung lag ja zum Zeitpunkt der Komposition des Werkes von Wolf schon 26 Jahre zurück.


    Was sich in einem Vergleich beider Vertonungen des Mörike-Gedichts an soliden Aussagen machen lässt, sind solche, die das dahinterstehende liedkompositorische Konzept betreffen. Und diesbezüglich möchte ich, ohne noch einmal auf die liedanalytischen Details zurückzugreifen, die sich in den obigen Beiträgen finden, meinen Eindruck, der sich beim unmittelbaren Hintereinander-Hören beider Lieder einstellt, wie folgt beschreiben.


    Liedhaft-klangliche Schönheit liegt in beiden Fällen vor. Aber eine, die sich aus verschiedenen Quellen speist. Im einen Fall, bei Brahms nämlich, ist es die weiträumig phrasierte, ganz entfernt von Geist des Schubertliedes noch gespeist wirkende und in vollkommener Einheit mit der Harmonik sich entfaltende Melodik. Im anderen Fall, bei Wolfs also, entspringt die klangliche Schönheit der hochdifferenzierten Weise, in der Musik den lyrischen Text und seine Bilder ausleuchtet und deutet.
    Womit der Unterschied zwischen Brahms und Wolf im Verständnis von Liedkomposition zumindest in seinen wesentlichen Aspekten auf seinen Nenner gebracht sein dürfte.


    Mit einigen Detailbeobachtungen soll das noch konkretisiert und untermauert werden. Beide Lieder weisen eine Zweigliederung nach dem kompositorischen Bauprinzip „Rezitativ und Arie“ vor. Sie ist ja auch vom lyrischen Text gleichsam nahegelegt. Das wiederholte „Fang an“ lädt geradezu dazu ein. Interessant und überaus aufschlussreich ist jedoch der Unterschied in der Anlage – und damit auch in der „Funktion“ – dieses rezitativischen Teils.


    Bei Brahms hat dieser Teil in der Art seiner kompositorischen Anlage tatsächlich die Funktion einer musikalischen Eröffnung. Die Steigerung in der ansteigenden melodischen Linie bei dem zentralen Vers „Fang an, fange wieder an“ und das Innehalten in hoher Lage bei dem Wort „Klage“ legt diese Empfindung nahe.


    Ganz anders Wolf. Er geht nicht „zielorientiert“ im Sinne einer Ausrichtung der Musik auf den zentralen Vers vor, sondern – und das ist eben typisch für ihn – er lässt sich schon hier auf die musikalische Ausleuchtung der lyrischen Bilder und der Aussagen des Textes ein. Erkenn- und vernehmbar ist das an den vielen Pausen, die er in den Gang der melodischen Linie legt. Jede lyrische Wortgruppe bekommt ihren eigenen Ton: Die „alte Terrasse“ weist einen anderen auf als die „luftgeborne Muse“.


    Und schon gar nicht bringt er eine melodische Steigerung in das „Fang an, fange wieder an“ hinein. Im Gegenteil: Die melodische Linie verharrt lange auf einem „a“, bevor sie im letzten Moment einen Sprung macht, aber um danach gleich wieder herunterzusteigen. Denn es geht ihm ja nicht um eine Art musikalische Exposition. Die letzten Worte – „Deine melodische Klage“ – erfordern auch seine ganze kompositorische Zuwendung. Das zentrale lyrische Wort „Klage“ muss musikalische Expressivität entwickeln. Und diese ist auch in den langen Dehnungen der melodischen Linie und ihrem Sekundabfall am Ende tatsächlich zu vernehmen.


    Man könnte – und das gilt tatsächlich jeweils für das ganze Lied – sagen: Während Brahms gleichsam musikalisch gestisch denkt, verfährt Wolf punktuell interpretierend. An vielen Stellen seines Liedes kann man dies hören. Sie wurden bei der Besprechung des Liedes dargestellt. Verwiesen sei nur noch einmal auf diese:
    - Beim Bild vom „frisch grünenden Hügel“ wird der elegische Unterton der Verse Mörikes musikalisch besonders herausgearbeitet;
    - bei „Wohlgerüchen“ steigt die melodische Linie nach einem Sprung in hohe Lage langsam herab;
    - die Worte „wie süß“ werden, abweichend vom lyrisch Text vier Mal gesungen, bei deutlicher Steigerung der Expressivität in der melodischen Linie;
    - bei den Worten „angezogen von wohllautender Wehmut“ verharrt die Vokallinie wie insistierend auf hoher tonaler Ebene, um bei den letzten Silben einen mit einer melodischen Dehnung versehenen Sekundfall zu machen;
    - die Worte „wachsend im Zug meiner Sehnsucht“ erfahren, weil es um das stark evokative Wort „Sehnsucht“ geht, eine in diesem Lied herausragende Steigerung der Expressivität der melodischen Linie durch Dehnung in sehr hoher Lage.


    Vollends deutlich wird der Unterschied im liedkompositorischen Konzept bei der musikalischen Gestaltung der beiden Schlussverse. Während Brahms die Wirkung des lyrischen Bildes mit einer einzigen faszinierend phrasierten, weit gespannten und am Ende abfallenden melodischen Linie einzufangen vermag, so dass man das wie einen Höhepunkt des Liedes empfindet, wirken die gleichen Verse bei Wolf wie ein Ausklang des Liedes.


    Ihm geht es nicht um lyrischen Geist dieser letzten Verse, sondern um die musikalische Gestaltung des Bildes von den zu Füßen geschüttelten Rosen selbst. Dieses Bild hat etwas Idyllisches an sich. Und genau dieses bringt Wolfs Musik an dieser Stelle zum Ausdruck.

  • Auch wenn ich oben meinte, es sei unsinnig, einen auf Objektivität im Urteil abzielenden Vergleich der beiden Lieder unter dem Gesichtspunkt ihrer kompositorischen Qualität anzustellen, so darf man natürlich als ihr Hörer sehr wohl den subjektiven Eindruck, den sie auf einen machen, das Angesprochen-Werden durch sie also, zum Ausdruck bringen.


    Ich habe zwei Äußerungen dieser Art gefunden. Sie gehen sogar noch ein wenig weiter, indem sie die Subjektivität ihres Urteils mit objektiven Kriterien zu stützen versuchen. Gleichwohl kommen sie zu einem ganz unterschiedlichen Resultat.


    Der Wolf-Biograph Kurt Honolka meint:
    „Die Elegie >An eine Äolsharfe< läßt Brahms´ geglückteste Mörike-Vertonung durch ihren dem mythischen Instrument – Wolf kannte es damals noch gar nicht! – helleseherisch abgelauschten Stimmungszauber hinter sich.“

    Und Dietrich Fischer-Dieskau urteilt:
    „Die allzu deklamatorische Singstimme erreicht bei Wolf bei weitem nicht jene vollendete Verschmelzung von Wort und Ton, die Brahms gelingt.“


    Ich selbst – ich deutete es schon in meiner Stellungnahme zum Beitrag farinellis an – neige eher dem Urteil Fischer-Dieskaus zu. Bei meiner Besprechung des Liedes von Hugo Wolf dürfte schon angeklungen sein, was ich bei ihm weniger gelungen finde als bei Johannes Brahms. Ich meinte dort:


    Man hat vom Klangbild her den Eindruck, als habe sich Wolf derart in die musikalische Ausleuchtung der einzelnen Bilder vertieft, dass ihm das Ganze des Liedes, seine musikalische Geschlossenheit also, ein wenig aus dem Blick geraten ist.


    Dieses melodische In-sich-geschlossen-Sein liegt bei der Komposition von Johannes Brahms nun in vollkommener Weise vor. Bei seinem Lied hat mich immer schon die weiträumige Phrasierung der melodischen Linie und ihre überaus gelungene Strukturierung und Ausrichtung auf einen Höhepunkt fasziniert. Es ist der Schluss, diese wirklich melodisch und harmonisch in Bann schlagende kompositorische Gestaltung der beiden Schlussverse:
    „Und hier – die volle Rose streut, geschüttelt,
    All ihre Blätter vor meine Füße.“

  • Dieses melodische In-sich-geschlossen-Sein liegt bei der Komposition von Johannes Brahms nun in vollkommener Weise vor.

    Lieber Helmut,


    das frappiert in der Tat bei Brahms - die geschlossene melodische Linie. Für meinen Teil lasse ich erst einmal Brahms Brahms sein und Wolf Wolf. Beide Vertonungen finde ich höchst eindrucksvoll. Bei Wolf fasziniert, wie er das Absterben und Aufleben des Windes am Schluß gestaltet - bei Brahms bleibt das alles sehr melodisch gefaßt. Du hast es ja angedeutet - zwischen beiden liegt der Graben zwischen Brahmsianern und Neudeutschen. Das ist einfach eine ganz andere Ästhetik. Für den Wagner-Kreis bedeutet "Ausdruck", die geschlossene Linie aufzubrechen. Ein völlig anderes musikalisches Denken.


    Schöne Grüße
    Holger

  • Zit.: "Bei Wolf fasziniert, wie er das Absterben und Aufleben des Windes am Schluß gestaltet - bei Brahms bleibt das alles sehr melodisch gefaßt. "


    O ja, lieber Holger. Jetzt, wo ich diese Bemerkung von Dir lese, fällt mir auf: Der erste Teil dieses Satzes ist - so denke ich - von mir hinreichend reflektiert und auch beschreibend dargestellt.


    Aber über den zweiten Teil muss ich noch einmal nachdenken. Das Prinzip des "melodischen Gefasst-Seins" scheint mir ein wichtiger Aspekt zu sein, der etwas über das Wesen der Liedkomposition von Hugo Wolf aussagt, - im Unterschied zu der von Johannes Brahms.

  • Aber über den zweiten Teil muss ich noch einmal nachdenken. Das Prinzip des "melodischen Gefasst-Seins" scheint mir ein wichtiger Aspekt zu sein, der etwas über das Wesen der Liedkomposition von Hugo Wolf aussagt, - im Unterschied zu der von Johannes Brahms.

    Lieber Helmut, da hast Du vielleicht Brahms und Wolf vertauscht? ;)


    Schöne Grüße
    Holger

  • Nein, das habe ich nicht, lieber Holger! Mich nur unglücklich ausgedrückt.


    Es geht um die Rolle der Melodik aus Ausdruckselement der Liedkomposition. Brahms und Wolf unterscheiden sich grundlegend in ihrem Verständnis vom Wesen der Musik. Wolf ist diesbezüglich sehr stark von Wagner beeinflusst. Das gilt insbesondere für das Verhältnis und Interdependenz von lyrischer Sprache und Musik. Aber das weißt Du ja!


    Der Begriff des "melodischen Gefasst-Seins" war in meinem letzten Beitrag übergreifend verwendet. Bezog sich also sowohl auf Brahms, wie auch auf Wolf. Für beide bestehen diesbezüglich tiefgreifende Unterschiede.
    Darüber wollte ich - in bezug auf dieses gerade besprochene Lied - noch einmal nachdenken.


    Aber Du hast recht. Mein letzter Beitrag war sprachlich nicht hinreichend präzise formuliert. Ich saß, als ich Dir hier antwortete, gerade über der Interpretation eines Mörike-Gedichts und kam mal wieder nicht voran.
    Ich staune über die Rasanz, mit der neuerdings hier im Forum über Musik und Dichtung geschrieben wird. Da kann ich einfach nicht mithalten!

  • Lieber Helmut,


    wenn ich an "Auf eine Christblume 1" denke, so haben wir hier durchaus ein Äquivalent zu Brahmsscher Gefaßtheit und Kontur auch im Melodischen (mit einer schier unfaßlichen Sensibilität für Schwebungen und Nuancen). Wolf ist, insofern, vielseitiger als Brahms und experimenteller. Und macht aus Mörike manchmal - nicht stets - einen beinahe symbolistischen Dichter.


    :hello:

    Zerging in Dunst das heilge römsche Reich


    - uns bliebe gleich die heilge deutsche Kunst!

  • Zit.: "wenn ich an "Auf eine Christblume 1" denke, so haben wir hier durchaus ein Äquivalent zu Brahmsscher Gefaßtheit und Kontur auch im Melodischen..."


    Völlig richtig, lieber farinelli. Meine Aussagen bezogen sich ja auch nur auf das Lied "An eine Äolsharfe". Obwohl, - diese sind - was Wolfs Liedkomposition betrifft - durchaus verallgemeinerbar. Ich werde in meinem nächsten Beitrag, an dem ich gerade schreibe, noch einmal darauf eingehen.


    Der Hinweis auf "Auf eine Christblume I" ist vollkommen berechtigt. Ich werde mich später - es handelt um Lied 20 des Opus! - zu diesem Lied hier noch äußern. Aber es gibt ja noch mehr Lieder, in denen Wolf gleichsam "brahmsische" Melodik zu entfalten vermag: "Verborgenheit" zum Beispiel, oder "Gebet" oder "Gesang Weyla´s".


    Ich habe fest vor, mich auf alle Mörike-Lieder hier einzulassen. Also auch auf diese.


    Dass Hugo Wolf "experimenteller" ist als Johannes Brahms, ist eine ebenfalls zutreffende Feststellung Deinerseits. Seine Liedkomposition weist in vielen Fällen in die Moderne und besitzt - für seine Zeit - durchaus kühne Züge. Bei seinen Mörike-Liedern kann man durchaus von einem umfassenden musikalischen Ausloten des lyrischen Werks sprechen.

  • Ich möchte mich, weil ich hier kein Lehrbuchwissen verbreiten will, nicht auf den – wirklich äußerst heftigen! – Streit zwischen „Brahmsianern“ und „Neudeutschen“ einlassen. Ich deutete ja schon an, dass Hugo Wolf, der sich den letzteren zuzählte, in seinem Verständnis von Musik und damit auch von Liedkomposition stark von Richard Wagner beeinflusst war. Beim Vergleich zwischen den beiden Vertonungen von Mörikes „An eine Äolsharfe“ dürfte der Unterschied im Verständnis von Liedkomposition bei der analytischen Betrachtung der Faktur eigentlich deutlich geworden sein. Hier also nur noch grundsätzliche Anmerkungen und im Anschluss daran eine beispielhafte Konkretisierung.


    Wo Brahms ein Anhänger der „absoluten Musik“ war, also die Auffassung vertrat, dass diese sich in ihrer künstlerischen Aussagefähigkeit gleichsam selbst genüge, vertrat Hugo Wolf, in Anlehnung an Richard Wagner, die These, dass Musik und dichterisches Wort in elementarer Weise aneinander gebunden und aufeinander angewiesen seien, um eine künstlerische Aussage zustandebringen zu können. Musik und Sprache bilden also eine genuine Einheit. Musik ist nicht dazu da, das mit anderen Mitteln zu wiederholen, was die Sprache aussagt, sondern ihre Aufgabe ist es, in die Sprache gleichsam hineinzuhören und das mit ihren Mitteln zum Ausdruck zu bringen, was in deren semantischer Tiefenschicht verborgen ist und allererst „ans Tageslicht gebracht“ werden muss.


    Deshalb lehnt Hugo Wolf auch den Begriff „Vertonung“ ab. Er musste es tun, denn Liedkomposition ist ja für ihn nicht das In-Musik-Setzen von lyrischer Sprache, sondern deren Ausleuchtung und Ausdeutung mit den Mitteln der Musik. Konsequenterweise meinte er deshalb einmal, Schubert habe mit seinen Vertonungen der Gedichte Goethes diesen überhaupt nicht verstanden und Begriff seine eigenen Kompositionen auf die Gesänge aus Wilhelm Meister ausdrücklich als Kritik an Schubert.


    Ich möchte an einem kleinen Beispiel aus dem gerade besprochenen Lied „An eine Äolsharfe“ noch einmal zeigen, welche Folgen dieses unterschiedliche Verständnis von Liedkomposition ganz konkret hat. Ich wähle dazu die folgenden vier Verse:


    Ihr kommet, Winde, fern herüber
    Ach! Von des Knaben,
    Der mir so lieb war,
    Frisch grünendem Hügel.


    Die melodische Linie auf diesen vier Versen ist bei Hugo Wolf deutlich komplexer, als bei Brahms. Und dies ganz einfach deshalb, weil er mit ihr in differenzierter Weise auf die einzelnen sprachlichen Elemente und Bilder im Sinne einer musikalischen Auslotung derselben reagiert. So fügt er in die Vokallinie eine melodische Dehnung bei dem Bild von den „Winden“ ein, um das Von-fern-Herüberkommen musikalisch zum Ausdruck zu bringen. Bei dem „Knaben“ beschreibt die Vokallinie in hoher Lage einen Bogen mit triolischem Abfallen, weil der Aspekt des Lieb-gewesen-Seins musikalisch akzentuiert werden soll. Und ebenso ist es dann bei dem Bild von dem „grünenden Hügel“: Auch hier eine Dehnung in hoher Lage mit triolischem Herabsteigen der melodischen Linie.


    Brahms – so könnte man es auf einen schlichten Nenner bringen – vertraut hier ganz einfach auf die Aussagekraft der Melodik als Element der Musik. Wobei es allerdings entscheidend darauf ankommt, dass diese in eben dieser Aussagekraft der Sprachmelodie und der Aussage des lyrischen Textes adäquat ist. Aus diesem Grund kann er diese vier Verse mit einer einzigen, allerdings in sich strukturierten Melodiezeile einfangen.


    Wenn man sie auf sich wirken lässt und zur Überprüfung des klanglichen Eindrucks noch einmal in die Noten schaut, dann stellt man rasch fest, dass sie – obwohl sie drei Pausen aufweist – wie eine melodische Bewegung angelegt ist, die auf dem letzten Vers kulminiert und in abfallender Linie zur Ruhe kommt. Dieser Eindruck des Kulminierens hängt ganz wesentlich damit zusammen, dass es genau eine Oktave ist (ein „as“), die die Bewegung der melodischen Linie von ihrem Ansatz bei dem Wort „Ihr“ bis zu ihrem Höhepunkt bei dem Wort „frisch“ nimmt.


    Die Komposition von Brahms wirkt also – wenn man einmal das Schubertlied als Maßstab zugrundelegt – „liedhafter“ als die von Hugo Wolf. Ganz einfach deshalb, weil sie die dichterische Aussage mit einer weit phrasierten melodischen Linie und einer entsprechenden Harmonisierung derselben im Klaviersatz gleichsam musikalisch einfängt.
    Wenn Fischer-Dieskau feststellt:
    Die allzu deklamatorische Singstimme erreicht bei Wolf bei weitem nicht jene vollendete Verschmelzung von Wort und Ton, die Brahms gelingt“ …
    … dann spricht er genau diesen Sachverhalt an, der u.a. in den von mir eben noch einmal besprochenen vier Versen zu hören und zu erkennen ist.

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  • Lieber Helmut,


    das hast Du wirklich sehr schön anschaulich auf den Punkt gebracht! :) Faszinierend wird dann für mich die weitere Entwicklung, wenn romantische Gedichte aus der Distanz und nicht mehr im Einklang mit dem romantischen Geist, aus dem sie entsprungen sind, "vertont" werden. Wie sie es trotzdem schaffen, das in Musik umzusetzen (Vertonen ist dann in der Tat ein problematisches Wort), ohne die Ausage des Gedichts zu zerstören. Auch in dieser Hinsicht finde ich den Vergleich Brahms-Wolf ungemein lehrreich.


    Beste Grüße
    Holger

  • Danke, lieber Holger. Ich bemühe mich, merke aber immer wieder, wie schwierig es ist, sich auf solche Fragen, wie die von Dir eben angesprochene, wirklich einzulassen. Man stößt immer wieder an seine Grenzen. Das sind nicht nur intellektuelle, es sind sehr oft auch solche der Verbalisierung.
    Es ist ungemein schwierig, am konkreten Beispiel genau zu erfassen, wie Hugo Wolf - etwa im Unterschied zu Johannes Brahms - kompositorisch an ein Gedicht herangeht. Jedenfalls für mich!


    Dennoch: Es macht auch Freude. Ich habe jedenfalls erst wirklich etwas über das Kunstlied gelernt, seitdem ich mich selbst all den Zwängen ausgesetzt habe, die sich daraus ergeben, hier im Forum darüber zu schreiben. In Worte fassen zu müssen, was man verstanden zu haben glaubt, ist die wahre Quelle der Erkenntnis.


    Könnte in den Thread "Quellen der Freude für Taminos" passen.

  • Es ist ungemein schwierig, am konkreten Beispiel genau zu erfassen, wie Hugo Wolf - etwa im Unterschied zu Johannes Brahms - kompositorisch an ein Gedicht herangeht. Jedenfalls für mich!


    Dennoch: Es macht auch Freude. Ich habe jedenfalls erst wirklich etwas über das Kunstlied gelernt, seitdem ich mich selbst all den Zwängen ausgesetzt habe, die sich daraus ergeben, hier im Forum darüber zu schreiben. In Worte fassen zu müssen, was man verstanden zu haben glaubt, ist die wahre Quelle der Erkenntnis.


    Könnte in den Thread "Quellen der Freude für Taminos" passen.

    Lieber Helmut,


    so geht es mir auch! Es ist ein großes "Abenteuer", so etwas in Worte zu fassen. Wenn es dann doch irgendwie gelingt, ist man um so glücklicher! Manchmal geht einem ganz spontan ein Licht auf... :)


    Beste Grüße
    Holger

  • Laß, o Welt, o laß mich sein!
    Locket nicht mit Liebesgaben,
    Laßt dies Herz alleine haben
    Seine Wonne, seine Pein!


    Was ich traure weiß ich nicht,
    Es ist unbekanntes Wehe;
    Immerdar durch Tränen sehe
    Ich der Sonne liebes Licht.


    Oft bin ich mir kaum bewußt,
    Und die helle Freude zücket
    Durch die Schwere, so mich drücket
    Wonniglich in meine Brust.


    Laß, o Welt, o laß mich sein!
    Locket nicht mit Liebesgaben,
    Laßt dies Herz alleine haben
    Seine Wonne, seine Pein!


    Eigentlich ein seltsamer, ein wenig rätselhafter Titel für ein Gedicht. Er ist sprachlich recht abstrakt. Und er ist zugleich dunkel. Er weist ja nicht auf etwas, das „verborgen“ ist, sondern spricht gleichsam einen Zustand an, ohne dass zunächst klar ist, wer oder was das Subjekt ist.


    Schon mit dem ersten Vers wird klar: Es ist das lyrische Ich. Es will sich in der „Verborgenheit“ gehalten wissen. Ganz und gar auf sich selbst zurückgeworfen und mit sich selbst eins, - verborgen vor der Welt draußen. Selbst „Liebesgaben“, die von dort kommen und es hinauslocken wollen, möchte es nicht haben. Es will mit sich selbst allein sein.
    Warum?


    Es ist der Mensch und Dichter Mörike, der hier selbst ausspricht, mit dem lyrischen Ich in diesem Falle identisch. Eine Neigung zur Weltabgewandtheit und zum Rückzug in die Innenwelt war ihm von jeher eigen und ist wohl auch die Quelle seiner von tiefer Innerlichkeit geprägten Lyrik, die gleichwohl Welt zu reflektieren vermag.


    Das „Wehe“, das dieses lyrische Ich bewegt, ist ein „unbekanntes“. Es geht nicht um ein konkretes Leides, vielmehr eine existenzielle Befindlichkeit, die zum „Wehe“ wird, weil sie eine Öffnung des Ich für das große Freud und Leid der Welt draußen beinhaltet, das bewältigt werden will und nicht so einfach bewältigt werden kann.


    Und es ist ja nicht nur ein Leiden. Die übergroße Sensibilität für die Welt da draußen, die sich nur aus der Innenwelt zu speisen vermag, weshalb „Liebesgaben“ von draußen eher störend wirken, kann ja zugleich zur „hellen Freude“ werden, die „wonniglich durch die Brust zückt“.


    Es ist die künstlerische Existenz, die „Wonne und Pein“ zugleich beinhaltet und als menschliche Erfahrung im Status der „Verborgenheit“ zu bewältigen ist. Nur so kann die Quelle der Werke werden, die die Welt draußen zu beglücken vermag.


    Wolf sah sich in dieser Erfahrung und Erkenntnis Mörike zutiefst verwandt.

  • Dieses Lied hat schon zu Wolfs Zeiten einen solchen Bekanntheitsgrad erreicht und wurde in fälschlicher Weise affektiv aufgeladen interpretiert, dass Wolf behauptete, es sei gar nicht von ihm komponiert. Ganz wesentlich zu dieser – noch heute weiterbestehenden – Beliebtheit trägt die Tatsache bei, dass sich Wolf hier als Melodiker präsentiert, dass das Lied einen relativ einfachen strophischen Aufbau nach dem Schema a-b-a besitzt und die erste Strophe, die dann als da capo wiederkehrt, eine zauberhaft innige Kantilene aufweist.


    „Mäßig und sehr innig“ lautet die Vortragsanweisung dieses im Viervierteltakt stehenden Liedes. Mit einem leicht wiegenden, durch die auf punktierte Viertel nachfolgenden Achtel und die Quinten im Bass bedingten Rhythmus setzt das Vorspiel ein. Der innige Grundton des Liedes ist damit schon vorgegeben.


    Mit einer in kleinen Sekunden und einer verminderten Terz ruhig fallenden und danach sich wieder erhebenden melodischen Linie setzt die Singstimme ein. Auch wenn größere Intervalle in sie eintreten, wie bei zweiten Vers der ersten Strophe, bleibt diese ruhig-besinnliche Kantabilität der Vokallinie erhalten. Beim zweiten Verspaar bekommt sie noch einen bittenden Tonfall, der sich zunächst in Form eines Verbleibens auf einer Tonebene artikuliert und dann noch eine Steigerung durch einen Quartsprung mit Dehnung und nachfolgendem Sextfall erfährt.


    Mit der zweiten Strophe kommt etwas mehr Dynamik in das Lied. Dies nicht nur durch die Aufeinanderfolge von Crescendi und Decrescendi und die Steigerung ins Forte bei den Worten „unbekanntes Wehe“, sondern auch durch das Auftreten von Achtel-Akkord-Repetitionen im Klaviersatz. Die melodische Linie steigt dabei zu einer in der ersten Strophe nicht erreichten Höhe auf. Höchst expressiv ist dabei die melodische Figur des langsamen Herabsteigens aus hoher Lage im Sekundschritt. Es ereignet sich gleich zweimal hintereinander bei den Worten „Immerdar durch Tränen sehe…“. Bei den Worten „liebes Licht“ macht die Vokallinie einen ausdrucksstarken Quartsprung und verharrt dann auf einem hohen „des“, derweilen Achtel-Akkorde in hoher Diskantlage nachklingen.


    „Nach und nach belebter und leidenschaftlicher“ steht über der dritten Strophe. Und in der Tat: Hier ereignet sich eine Steigerung der Dynamik in nur fünf Takten vom Pianissimo bis zum Fortissimo. Das lyrische Wort „Schwere“ zieht die melodische Linie langsam aber beharrlich in die Fortissimo-Höhe eines zweigestrichenen „des“ hinauf. Dabei setzt sie zunächst in silbengetreuer Deklamation auf einer mittleren tonalen Ebene an. Aber schon bei dem Wort „bewußt“ macht sie einen Quintsprung, und danach geht es weiter in die Höhe, die erstmals bei dem Wort „Freude“ erreicht wird.


    Wolf verleiht diesen beiden lyrisch zentralen Worten „Freude“ und „Schwere“ nicht nur dadurch musikalisches Gewicht, dass er sie auf einen hohes „ges“ legt, sondern auch dadurch, dass er der zweiten Silbe einen tonalen Akzent verleiht. Bei dem lyrischen Wort „wonniglich“ steigt die melodische Linie in eindrucksvoller Weise von einem hohen „g“ über mehr als eine Oktave zu einem tiefen „es“ herab und verharrt dort bei dem Wort „Brust“ sehr lange.


    Ein Es-Dur-Quartsextakkord leitet zum Da capo der ersten Strophe über. Sie erklingt mit identischer melodischer Linie, aber leicht modifiziertem Klaviersatz durchweg im Pianissimo. Nach vorübergehendem Ausbruch in heftige seelische Regungen ist die Innigkeit in das Lied zurückgekehrt.

  • Das Lied entstand am 13. März 1888. Erik Werba meint, es habe sich mit seiner „glühenden Resignation in Dur“ die Welt erobert. Es wurde noch zu Lebzeiten Wolfs in der Tat so rasch beliebt, dass ihm das unangenehm wurde. Wenn er es, etwa neben „Gesang Weyla´s“, als einziges auf den damals bunt zusammengestellten Programmen von Liederabenden fand, soll er gesagt haben „Die (<Verborgenheit<) ist gar net von mir“.


    Fischer-Dieskau kommentiert das mit den Worten:
    „…was insofern der Wahrheit nahe kommt, als das Lied nicht zu Wolfs besten, schon gar nicht zu den überfeinerten Eingebungen späterer Tage zählt.“ Vermutlich dürfte hier auch das Motiv für Wolfs Reaktion zu suchen sein. Es ist – für seine Verhältnisse – schon allein wegen des in der Melodik unmodifizierten - Da capo-Aufbaus ein in seiner Faktur „einfaches“ Lied.


    Aber – ich sagte es schon mehrfach – Einfachheit im Sinne von Simplizität findet man in Wolfs Liedkomposition nicht. Wenn sie – wie hier – auftaucht, so entpuppt sie sich bei näherem Hinschauen alsbald als kompositorischer Reflex der Struktur des lyrischen Textes und seiner Sprachmelodie. Und zudem , wie das hier besonders beim Da capo-Prinzip deutlich wird, auch der dichterischen Aussage des lyrischen Werkes insgesamt.


    Denn Wolf hat es – obwohl er es ansonsten mied – ja nicht nur deshalb bei diesem Lied zum Einsatz gebracht, weil Mörike die erste Strophe ja selbst gleichsam als Rahmen seines Gedichts einsetzte. Er hat auch – wieder gegen seine sonstigen Gepflogenheiten – eine Modifikation der ersten Strophe bei ihrer Wiederholung deshalb vermieden, weil er die Eindringlichkeit, die bei Mörike in diesem „Laß, o Welt, o laß mich sein“ zum Ausdruck kommt, musikalisch intensivieren wollte. Diesem Prinzip der „wörtlichen“ Wiederholung einer melodischen Linie mitsamt dem zugehörigen Klaviersatz zum Zwecke der Intensivierung der musikalischen Aussage begegnet man in der Liedkomposition sehr oft. Liszt hat es in schon fast exzessiver Weise eingesetzt.


    Und es gibt einen weiteren Sachverhalt, der die unveränderte Wiederholung der ersten Strophe als kompositorisch überaus sinnvoll erweist. In den Strophen zwei und drei ereignet sich ja ein Bekenntnis des lyrischen Ichs, in dem sich das Innerste der Seele ausspricht. Wolf setzt dies mit einer permanent sich steigernden Expressivität in Musik um. So legt er zum Beispiel bei dem kleinen Sekundfall auf dem Wort „Wehe“ eine volle Viertelnote auf die zweite Silbe, um den Gehalt dieses Wortes in akzentuierter Weise musikalisch zum Ausdruck zu bringen. Ähnlich verfährt er bei den Worten „Tränen sehe“.


    In der dritten Strophe ereignet sich schon rein dynamisch eine – gemessen an der ersten Strophe – überaus starke Steigerung der Expressivität: Ein Crescendo vom Pianissimo bis zum Fortissimo innerhalb von nur fünf Takten; und danach im tonalen Raum von nur einem Takt ein Rückfall ins Piano und eine erneute Steigerung ins Fortissimo. Hinzu kommt der überaus ausdrucksstarke verminderte Terzsprung von einem hohen „es“ aus bei den Worten „helle Freude“. Und danach das zugleich ruhige wie bedeutungsschwere Herabsteigen der melodischen Linie aus hoher Lage über mehr als eine Oktave bei den Worten „Wonniglich in meiner Brust.“


    Gerade auf dem Hintergrund dieser fast schon ins Extrem gesteigerten musikalischen Expressivität der dritten Strophe entfaltet die Rückkehr zur ruhig sich bewegenden Melodik der ersten Strophe ihre Wirkung. Wolf verleiht dem lyrischen Rahmen Mörikes gerade durch die unveränderte Wiederholung der Faktur der ersten Strophe zusätzliches Gewicht im Sinne der dichterischen Aussage.

  • Lieber Helmut,


    ein Wolf-Mörike-Lied, das auch von der Interpretation her interessant ist, finde ich. Mit der rätselhaften "Verborgenheit" ist wohl so etwas gemeint wie ein aktives Sich-Verbergen und diese Haltung bewahren wollen, also "Verschlossenheit". Verschlossenheit neigt eigentlich eher zur Sprachlosigkeit - darüber lyrisch "redselig" zu werden, ist natürlich eine Gratwanderung. Insofern verstehe ich die Diskussionen über die Vertonung, die Du dankenswerter Weise wiedergegeben hast. Die erste Strophe kann offenbar so vom Sänger interpretiert werden, als genieße das lyrische Ich seine Weltabgeschiedenheit, mit einem gewissen Gefühl stillen Glücks. Das geht dann in die Richtung der Stimmung des Rückert-Gedichtes "Ich bin der Welt abhanden gekommen...", das Mahler vertont hat. Bei youtube habe ich noch diese Aufnahme mit Gerard Souzay entdeckt (von ihm habe ich auf CD leider nur Schubert und nicht Wolf!):


    http://www.youtube.com/watch?v=-SBV_L03a_4


    Die gefällt mir eigentlich sehr gut, weil er so einen verhaltenen, getragenen Ton in der Stimme hat, die jeglichen Überschwang vermeidet und ein gewisses zwielichtiges Dunkel wahrt. Gesang an der Grenze des Verstummens - das paßt finde ich gut zur Verborgenheit bzw. Verschlossenheit.


    Und natürlich Dank nochmals für Deine subtile Beschreibung! :)


    Schöne Grüße
    Holger

  • Ach, wie interessant, lieber Holger! Gerade, vor einer halben Stunde etwa, also noch bevor ich Deinen Beitrag kannte, dachte ich: Eigentlich solltest du in einem Nachtrag auf Rückerts Gedicht "Ich bin der Welt abhanden gekommen" eingehen.


    Ich habe es aber dann verworfen, weil ich Angst habe, mich hier zu verzetteln. Aber die thematische Nähe beider Gedichte ist natürlich auffällig. Und genauso bemerkt man rasch den zentralen Unterschied in der Art und Weise, wie das lyrische die "Abgeschiedenheit" von der Welt erlebt und artikuliert. Wo Rückert "wirklich gestorben der Welt" ist und allein in seinem Himmel lebt, "in seinem Lieben, in seinem Lied", ist bei Mörike "Verborgenheit" eine "Abgeschiedenheit", in der der Bezug zur "Außenwelt" noch nicht abgerissen ist. Es ist kein "Gestorbensein", sondern eine Art Rückzug des Ich auf sich selbst im Reflex auf die Außenwelt. Durch die Tränen kommt ja "der Sonne liebes Licht". Und das "Zücken der hellen Freude" ist letzten Endes auch ein Reagieren des Ichs auf die Welt, der es innerlich noch verbunden ist, so dass daraus ein dichterisches Wort über sie ergehen kann und wird.


    Übrigens: Die Aufnahme mit Gérard Souzay kenne ich. Ich habe damals, als er als er in seiner Bedeutung als Liedinterpret ins Bewusstsein trat, alle Schallplatten gekauft, die zu kriegen waren. Seine Interpretation dieses Liedes hast Du mit dem Begriff "zwielichtiges Dunkel" sehr treffend charakterisiert. Souzays Liedinterpretation ist sehr stark von einer Art Verinnerlichung des Singens bei gleichzeitig deutlicher Wortorientierung geprägt.

  • Lieber Helmut,


    das "Verzetteln" bringt einen ja manchmal auf den richtigen Weg (die Romantiker wußten das ... :) ). Den Vergleich mit Rückert finde ich auch spannend. Bei Rückert hört man so einen gewissen Stolz durch, eine Weltverachtung, vielleicht geboren aus trotziger Enttäuschung, nach dem Motto: Du, Außenwelt, ich brauche Dich gar nicht, ich selbst habe in mir die bessere Welt gefunden. Bei Mörike glaube ich auch, daß das lyrische Ich an der Nabelschnur der Welt noch hängt. Es ist im Grunde viel zu offen - zu schutzlos offen - und droht von dieser Offenheit verzehrt zu werden. Ein bisschen vielleicht so wie im Semele-Gleichnis bei Hölderlin: Wenn man den Göttern zu nahe kommt, verbrennt man. Deswegen beschwört er die Welt: komme mir nicht zu nahe, löse in mir diese Leidenschaft der Liebe nicht aus. Da will sich jemand im Verborgenen halten aus Angst, die Unverborgenheit nicht auszuhalten. Eine große Verletzlichkeit und Unsicherheit spricht sich da aus.


    Beneidenswert, Deine Souzay-Sammlung! Da werde ich meine - sehr bescheidene - wohl erheblich ausbauen müssen!


    Schöne adventliche Grüße :hello:
    Holger

  • Das mit dem "Verzetteln" habe ich rein technisch gemeint, lieber Holger. Ich habe noch genau einundvierzig Lieder dieses Mörike-Corpus vor mir! Bei meinem eigenen Nachdenken über Lyrik und ihre Vertonung verzettele ich mich viel zu gerne!


    Ein Nachtrag noch zur sängerischen Interpretation dieses Liedes. Es verführt ja - und das war der "Stein des Anstoßes" für Wolf - eben wegen seiner ausgeprägten Kantabilität und seiner emphatischen Steigerung ins Fortissimo in großer Höhenlage zu einem reinen "Schöngesang". Hierzu meint D. Fischer-Dieskau trocken: "Aber mit Schöngesang allein ist selbst einem so gesanglichen Stück nicht beizukommen".


    Er verweist dabei insbesondere auf die Neigung der Interpreten, bei dem Wort "zücket"(dritter Vers, dritte Strophe) das Tempo zu verlangsam, um diese Stelle gleichsam gesanglich auszukosten. Und fügt an: "... wie ich überhaupt das heute grassierende Einhalten vor Höhepunkten oder Taktstrichen als Unsitte sehe."

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  • Hier lieg ich auf dem Frühlingshügel:
    Die Wolke wird mein Flügel,
    Ein Vogel fliegt mir voraus.
    Ach, sag mir, all-einzige Liebe,
    Wo du bleibst, daß ich bei dir bliebe!
    Doch du und die Lüfte, ihr habt kein Haus.


    Der Sonnenblume gleich steht mein Gemüte offen,
    Sehnend,
    Sich dehnend
    In Lieben und Hoffen.
    Frühling, was bist du gewillt?
    Wann werd ich gestillt?


    Die Wolke seh ich wandeln und den Fluß,
    Es dringt der Sonne goldner Kuß
    Mir tief bis ins Geblüt hinein;
    Die Augen, wunderbar berauschet,
    Tun, als schliefen sie ein,
    Nur noch das Ohr dem Ton der Biene lauschet.
    Ich denke dies und denke das,
    Ich sehne mich, und weiß nicht recht, nach was:
    Halb ist es Lust, halb ist es Klage;
    Mein Herz, o sage,
    Was webst du für Erinnerung
    In golden grüner Zweige Dämmerung?
    - Alte unnennbare Tage!


    Dies ist ein Gedicht, bei dem man, im Lesen seinen Versen folgend, das Gefühl hat, dass man in den lyrischen Rausch, der sie durchweht, unwiderstehlich hineingezogen wird und „Frühling“ in einer bislang noch nicht gekannten Form imaginativ erlebt. Es sind die Bilder und ihre rhythmische Abfolge, die das bewirken. Aber das ist es nicht allein: Es ist auch die sprachlich -rhythmische Form, in der sie sich entfalten.


    Es ist seltsam. Dieses Gedicht weist ein die Verse ordnen wollendes Reimschema auf. Aber nicht nur, dass dieses keine innere Ordnung aufweist, die Metrik der Verse selbst und ihre jeweilige Länge sind weit entfernt davon, irgendeinem Ordnungsprinzip Genüge zu tun. Unter lyrischen Ordnungsgesichtspunkten betrachtet, ist dieses Gedicht chaotisch: Und darin gründet seine lyrische Größe.


    Man fühlt sich als Leser auf eine höchst intensive Weise wie in den innersten Raum des Fühlens und Denkens jenes lyrischen Ichs einbezogen, das da auf dem „Frühlingshügel“ liegt. „Frühlingshügel“,- was für ein Wort. Eigentlich abstrakt und doch höchst konkret zugleich. Und insofern, als es zwar geschaffen ist, und doch zugleich wie lyrisch „gewachsen“ wirkt, ist es eine für Mörike ganz typische sprachliche Schöpfung.


    Das lyrische Ich weitet sich auf faszinierende Weise. Es entäußert sich seiner Ichheit. Die Wolke wird sein Flügel, und es fliegt mit dem Vogel hinaus in die frühlingshaft weite Welt. Und doch kehrt es im selben Augenblick wieder in sich selbst zurück. Es fragt seine „all-einzige Liebe“. Dieses Weit-Hinaus und immer zugleich wieder In-sich-selbst-Zurück macht die Faszination dieser lyrischen Inspiration aus. Es ist die denkbar intensivste Form der lyrischen Evokation von Frühling.


    Das lyrische Ich öffnet sich, „der Sonnenblume gleich“, all den sinnlichen Eindrücken, die ihm auf seinem „Frühlingshügel“ begegnen. Sich-Öffnen heißt: In einen Dialog mit ihnen eintreten. Damit ist es aber zugleich ein Dialog, den das Ich mit sich selbst führt. Die Eindrücke von draußen sind dabei, wie permanente Impulse gebend, in ihn eingewoben. Die lyrischen Verse werden damit zu einer faszinierenden, weil meditativen, Innen und Außen in einer Flut von Bildern miteinander verwebenden Erfahrung von Frühling.


    Sie mündet in eine rätselhafte Bilanz: „Alte unnennbare Tage“. Für das lyrische Ich, das am Ende des Gedichts von draußen ganz in sein Inneres zurückkehrt und dort eine rätselhafte Unbestimmtheit des Sich-Sehnens vorfindet, bleibt nur die Erkenntnis, dass das Leben letztendlich „unnennbar“ ist, auf keinen begrifflichen Nennen zu bringen, aber sich im Erleben des frühlingshaften Draußen ganz und gar wiederfindend.

  • Mit der rätselhaften "Verborgenheit" ist wohl so etwas gemeint wie ein aktives Sich-Verbergen und diese Haltung bewahren wollen, also "Verschlossenheit". Verschlossenheit neigt eigentlich eher zur Sprachlosigkeit - darüber lyrisch "redselig" zu werden, ist natürlich eine Gratwanderung.


    gemeint ist wohl auch:


    Λάθε βιώσας. Lathe biōsas. „Lebe im Verborgenen!“ ["sei ein Verborgener in der Art und Weise, wie du lebst"] - mit der besonderen Pointe, Glück wie Unglück zur innerlich ausgekosteten Privatsache zu erheben. Mörike legt ja zwischen den Zeilen gleichsam nahe, daß man sogar so etwas wie die Liebe unter Ausschaltung der Intersubjektivität mit sich allein ausmachen könne.


    :hello:

    Zerging in Dunst das heilge römsche Reich


    - uns bliebe gleich die heilge deutsche Kunst!

  • Zit. farinelli: "Mörike legt ja zwischen den Zeilen gleichsam nahe, daß man sogar so etwas wie die Liebe unter Ausschaltung der Intersubjektivität mit sich allein ausmachen "


    Ja, gewiss. Diese Worte "Locket nicht mit Liebesgaben" wollen ja wohl so verstanden werden, dass das lyrische Ich nicht durch von außen kommende, gleichsam dingliche Bekundungen der Liebe aus seinem "In-sich-Ruhen" gelockt werden möchte. Und das wiederum bedeutet, dass es in sich seiner selbst genügt und einer Bereicherung seiner Existenz durch "intersubjektive Liebe" nicht bedarf.

  • Ein Lied im Sinne eines das Volkslied formal nachempfindenden Kunstwerks ist das nicht, diese Komposition „Im Frühling“. Man möchte es mehr eine musikalische Impression in Liedgestalt nennen. Geschuldet ist das einem lyrischen Text, der in seiner dichterischen Substanz ein träumerisch-meditativer ist. Wolf gelingt es auf höchst beeindruckende Weise, die lyrische Sprache und das evokative Potential dieses Gedichts in Musik zu setzen.


    „Gemächlich“ lautet die Vortragsanweisung für dieses Lied, das in fis-Moll steht und einen Sechsviertel-Takt aufweist. Fis-Moll, das ist für ein Lied mit dem Titel „Im Frühling“ ungewöhnlich. Aber man hört ja schon bei der ersten Melodiezeile: Sie setzt zwar in fis-Moll ein, aber sie mündet am Ende in ein Fis-Dur. Und die Dur-Harmonisierung dominiert im weiteren Verlauf des Liedes auch. Dennoch taucht aber immer wieder einmal dieses fis-Moll auf, und chromatische Eintrübungen mischen sich ebenfalls in die melodische Linie. Spätestens in der dritten Strophe wird klar: Das ist musikalischer Reflex des lyrischen Textes. Denn all das, was das lyrische Ich in dieser Situation „auf dem Frühlingshügel“ empfindet, ist eingebettet in die Aussage des Verses: „Halb ist es Lust, halb ist es Klage“.


    Klanglich ganz wesentlich geprägt wird das Lied durch eine musikalische Figur im Klaviersatz, die – wenn ich recht gezählt habe – dreiundfünfzig Mal auftaucht, mal im Diskant, mal im Bass, und in vielerlei Tonarten und –geschlechter getaucht ist. Sie setzt mit einem verminderten Sextsprung (von „fis“ nach „dis“) ein und kehrt nach einem Sekund-Ausweichen nach „e“ wieder zu diesem hohen „fis“ zurück. Es ist diese Klangfigur, die dem Lied seinen – dem lyrischen Text geschuldeten – meditativ-träumerischen Grundton verleiht. Die im Sechsviertel-Takt wurzelnde schwebend wiegende Rhythmik trägt das Ihre dazu bei.


    Das Lied ist so reich an faszinierenden melodischen und harmonischen Details, dass man bei einer Betrachtung gar nicht alle berücksichtigen kann. Es soll nur versucht werden, an Beispielen zu zeigen, mit welchen musikalischen Mitteln Wolf die Aussage der lyrischen Bilder und das für dieses Gedicht so typische Ineinandergreifen derselben kompositorisch bewältigt.


    Das fängt schon mit dem ersten Vers an. Die für das Gedicht konstitutive Ausgangssituation wird mit einer melodischen Linie skizziert, die das Hier“ in vollendeter Weise zum Ausdruck bringt. Sie setzt mit einem lang gehaltenen hohen „d“ ein, fällt langsam ab, überlässt sich bei den Silben „Frühlings“ einer langen Dehnung und landet schließlich auf einem tiefen „cis“. Eine Pause folgt. Die Situation ist musikalisch skizziert.


    Bei „Ach sag mir…“ kommt eine leichte Unruhe in die melodische Linie, und die Dynamik pendelt zwischen Forte und Piano hin und her. Das lyrische Ich bringt einen sehnsuchtsvollen Wunsch zum Ausdruck, und die Musik greift das auf. Manchmal werden die Pausen der melodischen Linie länger: Räume für die Entfaltung dessen, was das Klavier musikalisch zu sagen hat.


    Der Vers „Der Sonnenblume gleich…“ ist ein einziges musikalisches Bekenntnis: Die melodische Linie steigt in zugleich bedächtigen und doch zielstrebigen Schritten über eine ganze Oktave herab. Das geschieht in eigentümlich schwebender Leichtigkeit. Damit ist gesagt, was gesagt werden soll, und die Singstimme schweigt. Das Klavier kommentiert und ergänzt mit einer schwebenden Klangfigur, die Offenheit suggeriert.


    Nach einer überaus emphatischen Passage (mit „leidenschaftlich“ überschrieben) mit langen melodischen Dehnungen auf den Worten „Lieben“ und „Hoffen“ wird die Bewegung der Vokallinie „wieder ruhiger“ (Anweisung). Es klingt, als wolle sie Einkehr bei sich selbst halten, und diese fallende Bewegung mündet in ein „as“, das in Disharmonie eingebettet ist. Diese Aufeinanderfolge von höchst expressiven und verhaltenen Passagen ist typisch für das Lied. Bei den Worten „Die Wolken seh ich wandeln und den Fluß“ kommt ein klanglich faszinierendes Schweben in die melodische Linie. Sie bewegt sich über den sie tragenden Akkorden überaus ruhig und mit langen Dehnungen versehen auf einer Tonebene. Bei dem Wort „Kuß“ kommt dann aber ein expressiver Bogen in sie.


    An vielen Stellen kann man Wolfs kompositorische Kunst bewundern. So etwa bei den Worten „Tun, als schliefen sie ein“. Das Wort „tun“ wird noch in die vorangehende Melodiezeile einbezogen, obwohl es doch am Versanfang steht. Die melodische Linie macht hier einen Oktavsprung und hält inne, als wolle sie offen lassen, was jetzt kommt. Über mehr als einen Takt darf das Klavier kommentieren, bevor, eine Oktave tiefer, die melodische Linie ihre Bewegung fortsetzt. Eindrucksvoll ist auch, wie nach den Worten „ dem Ton der Biene lauschet“ über sieben Takte dieser Ton zu vernehmen ist.


    Auch der Schluss des Liedes fasziniert. Bei dem Worten „halb ist es Klage“ kommen wieder in Moll harmonisierte Klagetöne in die melodische Linie. Und bevor diese in ein langes Verharren bei dem Wort „Dämmerung“ übergeht, wird dem Wort „Erinnerung“ durch kunstvolle harmonische Modulation ein starker musikalischer Akzent verliehen.


    Der letzte Vers ist deutlich abgesetzt und wird zu einer ganz eigenständigen, das Lied wie mit einem rückblickenden Kommentar abschließenden melodischen Phrase. Sie ist überaus ausdrucksstark, weil sie bei dem Wort „Alte“ mit einem verminderten Quartfall eingeleitet wird, der im Wert von halben Noten erfolgt und deshalb sehr gewichtig wirkt. Nach einer leicht abfallenden und danach wieder ansteigenden Bewegung der melodischen Linie endet das Lied mit einem mit langer Dehnung versehenen „gis“ auf der zweiten Silbe von „Tage“. Von der Harmonik her betrachtet, ist dieses „gis“ keine Note, die einen Schluss bilden kann.


    Das Lied endet offen. In ihrer Unnennbarkeit zerfließen die Tage im Grenzenlosen.

  • Mit der rätselhaften "Verborgenheit" ist wohl so etwas gemeint wie ein aktives Sich-Verbergen und diese Haltung bewahren wollen, also "Verschlossenheit". Verschlossenheit neigt eigentlich eher zur Sprachlosigkeit - darüber lyrisch "redselig" zu werden, ist natürlich eine Gratwanderung.


    gemeint ist wohl auch:


    Λάθε βιώσας. Lathe biōsas. „Lebe im Verborgenen!“ ["sei ein Verborgener in der Art und Weise, wie du lebst"] - mit der besonderen Pointe, Glück wie Unglück zur innerlich ausgekosteten Privatsache zu erheben. Mörike legt ja zwischen den Zeilen gleichsam nahe, daß man sogar so etwas wie die Liebe unter Ausschaltung der Intersubjektivität mit sich allein ausmachen könne.

    Lieber Farinelli,


    Danke, daß Du darauf hinweist! :) Das muß natürlich hierher. Wobei man natürlich sagen muß, daß die hellenistische Philosophie so etwas wie die "Innerlichkeit" noch nicht kannte. Gemeint war von Epikur zunächst, daß man sich aus dem Öffentlich-Politischen zurückziehen sollte - also dem forensischen Bereich - und ins Private begab. Die Trennung öffentlich-privat und der Sinn des Verborgenen, den das Private hatte, kann man ja schön an der Architektur der antiken Atrium-Häuser ablesen: Nach außen sind sie völlig abgeschlossen, das Leben öffnet sich ausschließlich nach innen. Da fehlt aber der Sinn einer subjektiven Haltung, wie sie die Verschlossenheit darstellt, noch völlig.


    Beste Grüße
    Holger

  • Zum hundertsten Geburtstag von Hugo Wolf merkte Joseph Marx an:
    „Wolf ist der ideale Frühlingssänger, obwohl es in seinem lyrischen Lebenswerk wohl keine Jahreszeit, keine Stimmung gibt, die er nicht vollendet gestaltete und ausschöpfte.“

    Und in der Tat: Die „Frühlingslieder“ Wolfs strahlen eine starke, den Geist dieser Jahreszeit in überaus treffender Weise einfangende klangliche Faszination aus. Neben den bereits besprochenen Liedern – „Er ist´s“ und „Im Frühling“ – wären hier noch zu nennen.
    „Zitronenfalter im April“ (eine Mörike-Vertonung, auf die später noch eingegangen wird);
    „Frühling übers Jahr“ (ein Lied auf ein Goethe-Gedicht, das im Thread „Frühling, Sommer Herbst, Winterlieder, Beitrag 34, besprochen ist);
    „Wandl´ ich in dem Morgentau“, auf ein Gedicht von Gottfried Keller.


    Ich habe mich gefragt, warum Hugo Wolf sich gerade durch solche den Frühling beschwörenden lyrischen Texte so stark angesprochen fühlte, dass ihm großartige Lieder darauf gelungen sind. Vielleicht könnte das damit zusammenhängen, dass er ja nie kontinuierlich zu komponieren vermochte, sondern immer nur phasenweise, - Phasen, die er immer als – gleichsam frühlingshaften - Aufbruch aus einer bedrückenden Zeit der künstlerischen Unproduktivität empfand.


    Typisch hierfür eine solche Stelle aus einem Brief an Kauffmann (26. April 1893):
    „In mir ist alles wie erstorben, nicht der leiseste Ton will erklingen, still und öde ist es in mir geworden, wie auf einem beschneiten Leichenfelde. Gott weiss, wie und wann das enden wird.“


    Und dann finden sich in den Briefen wieder Äußerungen wie diese (an Gustav Schur, 24.9.1890):
    „Ich spüre verdächtige Anzeichen zum Komponieren in mir und erwarte jeden Augenblick eine Explosion.“


    Es scheint mir nicht abwegig zu sein, bei einer derartigen psychischen Grunddisposition bei Wolf eine besondere Sensibilität für Frühlingsgedichte zu vermuten.

  • Lieber Helmut,


    bei diesem grau-trüben und verregneten 4. Advent sind musikalische Boten des Frühlings wohl das einzig Richtige! :angel:


    Wenn ich mir vom Adevents-Weihnachtsprogramm etwas Pause gönnen kann, werden ich mir für die Wolfsche Frühlingsbotschaft Zeit nehmen! :hello:


    Einen schönen Advent wünscht
    Holger

  • Zt.: "...bei diesem grau-trüben und verregneten 4. Advent sind musikalische Boten des Frühlings wohl das einzig Richtige! "


    Das, lieber Holger, war genau der Grund, weshalb ich mir diese Lieder alle hintereinander einmal in Ruhe angehört habe und auf mich wirken ließ. Mir war heute gar nicht nach Weihnachtsliedern. Und wie das halt so geht, habe ich mir, da mein Thema ja eben Hugo Wolf ist, mir auch so meine Gedanken darüber gemacht. Bei allen diesen Liedern wird man in das Sich-Weiten der Seele einbezogen, das Wolf gleichsam musikalisch evoziert. Nur bei dem Lied "Zitronenfalter im April" schwingt ein Ton der Klage mit, - bedingt durch die Metaphorik Mörikes. Es handelt sich um das achtzehnte dieses Mörike-Opus, und ich werde mich darauf einlassen, wenn ich soweit bin. Aber ich glaube, ich habe das schon einmal in besagtem Thread "Frühling-, Sommer-, Herbst- und Winterlieder" getan.


    Wirklich begeisternd ist auch das Lied "Frühling übers Jahr" (Goethe), und zwar nicht nur, weil es von einem tänzerischen Grundrhythmus getragen ist, sondern auch, weil die ein wenig verspielten lyrischen Bilder Goethes Wolf ganz offensichtlich inspiriert haben. Unter anderem meinte ich zu diesem Lied:


    Hugo Wolf versteht es auf meisterhafte Weise, die Aussage der lyrischen Bilder in Musik umzusetzen und dabei auch dem Gestus der Sprache zu folgen. Man kann das hörend schon gleich am Anfang erfahren. Weil „das Beet sich in die Höh lockert“, steigt die melodische Linie von einem tiefen „e“ in rhythmisch akzentuierten Achteln über eine Oktave an und verharrt dort auf einem hohen „e“. Das „Wanken der Glöckchen“ spielt sich melodisch jedoch auf einer engeren Tonebene ab, wobei das „Wanken“ musikalisch dadurch suggeriert wird, dass auf der Silbe „Glöck“- eine Viertelnote liegt, auf die dann zwei Achtel nachfolgen. Das bewirkt tatsächlich in der melodischen Linie ein rhythmisches Wanken.


    Das gehört zwar nicht hierher, dennoch darf man wohl an dieser Stelle kurz darauf eingehen. Denn Wolf hat ja nicht nur Mörike meisterhaft in Musik gesetzt, sondern auch Goethe. 1888/89 entstanden einundfünfzig Lieder auf Gedichte von Goethe, - also nur zwei weniger, als das Mörike-Opus umfasst.

  • Das Lied entstand am 8. Mai 1888. Aber ist es eigentlich noch ein Lied? Erik Werba nennt es eine „Symphonische Dichtung für Gesang und Klavier“. Und diese Einschätzung und Einstufung dürfte ganz wesentlich darauf zurückzuführen sein, dass wie ein Gefüge aus musikalisch-szenischen Einzelelementen wirkt, die sich in ihrer Faktur deutlich voneinander abheben und bei denen dem Klavier herausragende und prägende Bedeutung zukommt. Sie bringt aber auch indirekt zum Ausdruck, dass diese Komposition innerhalb von Wolfs Mörike-Opus einen herausragenden Rang deshalb einnimmt, weil dieser hier sein ganzes kompositorisch-schöpferische Potential voll entfaltet und ein zukunftsweisendes Werk geschaffen hat.


    Gleichwohl meine ich, dass man hier sehr wohl noch von einem Lied im genuinen Sinne sprechen kann. Freilich ist es eins, das an die Grenze der formalen Gestalt geht, wie sie Schubert für das „Kunstlied“ gleichsam richtungsweisend vorgegeben hat. Entscheidend für seine Einstufung als Lied ist – einmal abgesehen davon, dass es aus einer musikalischen Interaktion von Singstimme und Klavier besteht - , dass seine innere Einheit und damit auch seine formale Geschlossenheit gewahrt bleibt. Gleichsam klanglich grundlegend trägt dazu jene – oben beschriebene - mit einem verminderten Sextsprung einsetzende musikalische Figur bei, die im Klaviersatz dreiundfünfzig Mal auftaucht. Aber auch die im Sechsvierteltakt wurzelnde Rhythmik trägt dazu bei. Und nicht zuletzt spielt eine wesentliche Rolle, dass, unbeschadet der vielen Pausen in der melodischen Linie, diese insgesamt in sich geschlossen wirkt.


    Der Wolf-Biograph Honolka hat das Wesen und die Eigenart dieses Liedes höchst treffend in die Worte gefasst: „Symphonische Klavierthematik ist untrennbar mit der unendlichen Melodie der Singstimme zu einem Ganzen verwoben.“ Diese „Verwobenheit“ konstituiert die innere Einheit der Komposition als Lied.


    Die Pausen heben in diesem Lied zwar die einzelnen Melodiezeilen voneinander ab, dies aber nicht im Sinne einer Trennung, sondern eher in der Funktion einer Binnengliederung der melodischen Gesamtstruktur. Man kann das sehr schön gleich an der ersten erkennen, jener fast ganztaktigen nach dem ersten Vers. Ihre Funktion ist hier die einer gleichsam die einer Markierung der lyrisch-musikalischen Exposition. Bei den nachfolgenden, jenen, die den beiden Melodiezeilen auf dem zweiten und dritten Vers folgen, hat die Pause Funktion, die jeweiligen lyrischen Bilder – die Wolke als Flügel und das „Vorausfliegen“ des Vogels – gleichsam musikalisch hervorzuheben und zu akzentuieren. Am Ende des sechsten Verses, nach der langen Dehnung, die auf dem Wort („ihr habt kein…“ ) „Haus“ liegt, empfindet man die Pause als einen melodischen Leerraum, der die Möglichkeit bietet, der Aussage des lyrischen Bildes nachzusinnen. Das Klavier lädt einen mit dem Fortklingen des das Lied tragenden musikalischen Grundmotivs regelrecht dazu ein.


    Man könnte das jetzt im einzelnen analytisch so weiterverfolgen. Aber das ist gar nicht erforderlich, denn wenn man sich ganz einfach seinem Höreindruck überlässt, so stellt man durchgängig fest:
    Die Pausen in der Struktur der Vokallinie sind nicht wirklich Brüche im Kontinuum der Melodik. Die einzelnen Melodiezeilen greifen, weil Ende und Neuansatz aneinander anschließen und der Klaviersatz harmonische Vermittlung leistet, nahtlos ineinander. Man empfindet sie hörend im Grunde als Räume des Ausklingens der mit den einzelnen Melodiezeilen lyrisch-musikalisch gemachten Aussagen und als gleichsam als Impuls, diesen nachzulauschen und sie auf sich wirken zu lassen.

  • Rosenzeit! Wie schnell vorbei,
    Schnell vorbei,
    Bist du doch gegangen!
    Wär mein Lieb nur blieben treu,
    Blieben treu,
    Sollte mir nicht bangen.


    In der Ernte wohlgemut,
    Wohlgemut,
    Schnitterinnen singen;
    Aber ach, mir kranken Blut,
    Mir kranken Blut,
    Will nichts mehr gelingen.


    Schleiche so durchs Wiesental,
    So durchs Tal,
    Als im Traum verloren,
    Nach dem Berg, da tausendmal,
    Tausendmal,
    Er mir treu geschworen.


    Oben auf des Hügels Rand,
    Abgewandt,
    Wein ich bei der Linde:
    An dem Hut mein Rosenband,
    Von seiner Hand,
    Spielet in dem Winde.


    Dieses Gedicht ist in die Handlung des Mörike-Romans „Maler Nolten“ erzählerisch eingewoben, – im Unterschied übrigens zu den anderen Gedichten des Wolf-Opus, die auch dort aufgenommen sind Die Försterstochter Agnes ist die – von ihm ein wenig vernachlässigte - Braut des Protagonisten. Ihr Gesang wird dort erzählerisch so eingeleitet:
    „Auf einmal fiel sie in ein Vorspiel ein, bedeutender als alle frühern; es drückte die tiefste, rührendste Klage aus. Agnesens Blick ruhte ernst, wie unter abwesenden Gedanken, auf Nolten, bis sie sanft anhob zu singen.“


    Und so, als sprachlich-gesanghafter Ausdruck der inneren Befindlichkeit eines Mädchens aus ländlich-einfachen Verhältnissen ist dieses Gedicht auch zu lesen. Mörike sieht sich dichterisch dieser Welt tiefinnerlich verbunden. Auch wenn er ihr längst nicht mehr angehört, vermag er doch den volksliedhaft-lyrischen Ton dafür zu finden. Man vernimmt ihn hier in der schlichten lyrisch-sprachlichen Diktion, in den die bäuerliche Welt reflektierenden Bildern und in dem formalen lyrischen Bauelement des Kehrreims.


    Aber auch die existenzielle Grunderfahrung, die sich hier lyrisch artikuliert, ist die des Volkslieds: Es ist die der Vergänglichkeit des Liebesglücks, das hier – ebenfalls ländlich-naturbezogen – als „Rosenzeit“ benannt wird. Und die Sprache, in der das geschieht, ist die des einfachen Bauernmädchens: Das Partizip ist grammatisch zu komplex; es wird zu „Wie schnell vorbei“ und „blieben treu“.


    Die lyrischen Bilder sind, gerade wegen ihrer lyrisch-sprachlichen Schlichtheit – von großer seelischer Dichte: Dem Bild von den singenden Schnitterinnen steht - überaus kontrastreich und deshalb so beeindruckend - das vom „kranken Blut“ gegenüber, dem nichts mehr gelingen will und das durchs Wiesental schleicht“.


    Aber da ist noch der große Dichter Mörike, der am Ende diesem schlichten Volksliedton – nahezu unmerklich – die lyrisch evokative Krone aufsetzt. Das geschieht im letzten Bild. Hier wird die Welt des Volkslieds lyrisch-sprachlich transzendiert und damit zu großer Kunst: Das Rosenband „von seiner Hand / Spielet in dem Winde“.

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