Hugo Wolf und Eduard Mörike

  • Die Klage um die verlorene Liebe durchdringt dieses Lied bis in seine äußersten Winkel. Ein Ton von Müdigkeit und Schwermut prägt alle Strophen. Moll dominiert, Chromatik drängt sich hinein, und nur an zwei Stellen - im dritten Vers der zweiten und im dritten der vierten Strophe – klingt vorübergehend mal ein Dur auf. Es kann sich nicht halten. Schon beim nachfolgenden Vers versinkt die melodische Linie wieder im Moll.


    „Ziemlich langsam, schwermüthig“ lautet die Vortragsanweisung. Ganz wesentlich geprägt wird der Klangcharakter des Liedes durch die immer wieder im Klavierbass aufklingende None. Schon im ersten Takt des Vorspiels ist sie zu vernehmen, gefolgt von einem Sekundfall, der ihre klangliche Tristesse nur noch verstärkt. Und als wäre es damit noch nicht genug, gesellen sich dann auch noch chromatisch geprägte Akkorde im Diskant dazu. Man erwartet nach diesem schwermütig trüben Klangbild des Vorspiels von der Singstimme eigentlich nichts anderes mehr als die Klage.


    Und schon mit dem ersten Takt der ersten Melodiezeile ist sie auch schon da. Langsam und wie von tiefer Müdigkeit geprägt, fällt die Vokallinie ab. Das Klavier folgt dieser Bewegung mit Terzen im Diskant, während im Bass in ostinater Weise die Nonen aufklingen. Zwar erhebt sich die melodische Linie im Kehrreim noch einmal, aber danach geht es in z.T. verminderten Sekunden wieder abwärts. Und dies alles in Moll harmonisiert.


    Im Grunde ist die melodische Linie dieses Liedes in ihrer Struktur einfach gebaut. Und das entspricht auch voll und ganz dem lyrischen Text, atmet dieser doch von seiner Sprachmelodie und den lyrischen Bildern her den Geist des Volksliedes. Der von Mörike ganz bewusst eingesetzte Kehrreim setzt diesbezüglich einen deutlichen Akzent. Und die Schlichtheit der lyrischen Sprache, die ein wenig an das „Verlassene Mägdlein“ erinnert, wird von Wolf auf eine musikalisch höchst kunstvolle Weise kompositorisch aufgegriffen und umgesetzt.


    Das geschieht vor allem dadurch, dass sich die Singstimme in Form von kleinen Tonschritten in Linien auf- und abwärts bewegt. Melodische Sprünge über größere Intervalle ereignen sich nicht. Der Vokallinie scheint jegliches Leben zu fehlen. Und wenn einmal, weil ein Bild vom fröhlichen Landleben gestreift wird („Schnitterinnen singen“) doch Dur-Harmonik und mit ihr ein wenig Leben in sie kommt, holt sie das „Aber ach“ der realen Lebenssituation wieder in das triste Moll der Klage zurück.


    Es ist übrigens auf den ersten Blick nicht so recht einsichtig, warum Wolf die musikalische Faktur der zweiten Strophe für die vierte übernommen hat. Das stört insbesondere bei den schon erwähnten, in Dur harmonisierten dritten Versen. Das lyrische Ich weint an dieser Stelle der vierten Strophe. Das tut es aber auf der gleichen melodischen Linie, die auf dem Vers mit den Worten „Schnitterinnen singen“ liegt. Mit einem winzigen Unterschied freilich: Im zweiten Fall findet sich eine Triole in derselben. Soll diese das Weinen melodisch zum Ausdruck bringen?


    Ich meine, dass sich dieser auffällige Sachverhalt der musikalischen Faktur aus dem von Wolf intendierten Volksliedcharakter erklären lässt. Das ist ein schlichtes Mädchen aus dem einfachen Volk, das da singt, eine Försterstochter. Sie verfügt nur über zwei melodische Motive des Singens. Und die legt sie auf je zwei der vier Strophen ihres Liedes und bringt darin ihre Klage zum Ausdruck. Fröhlich singende Schnitterinnen sind dabei so weitab von ihrer eigenen existenziellen Situation, dass ihnen keine eigener Ton zugestanden wird. Der der Klage überdeckt alles in diesem Lied.
    Aus dem Volkslied kennt man dergleichen auch.


    (Anm.: Der Text des Liedes findet sich, samt Kommentar, am Ende der vorangehenden Seite)

  • Dieses Gedicht Mörikes ist – wie es schon im Fall von „An eine Äolsharfe“ der Fall war - ebenfalls von Johannes Brahms vertont, - als fünftes Lied seines Opus 59. Und um es gleich vorweg zu sagen: Konnte man bei „An eine Äolsharfe“ – wie oben näher begründet - durchaus dem Lied von Brahms den Vorzug geben, so neige ich hier – nicht nur vom unmittelbaren Höreindruck her, sondern auch mit Blick auf die spezifische Faktur – eher dem Lied Wolfs zu: Es wird aus meiner Sicht dem Gedicht Mörikes in seiner dichterischen Aussage deutlich mehr gerecht, als dies die Komposition von Brahms vermag.


    Gleichwohl stellt diese ein gelungenes und sehr wohl hörenswertes Lied dar. Sie atmet musikalisch sogar weitaus mehr „Volksliedton“, als dies bei Wolf der Fall ist, der einen vergleichsweise hochreflektierten Zugang zu Mörikes Lyrik genommen hat. Und dies deshalb, weil er sich musikalisch stärker und detaillierter auf den lyrischen Text und seine Aussage in den einzelnen Strophen einließ. Die Konsequenz daraus war ein voll durchkomponiertes Lied.


    Das ist dieses von Brahms nicht der Fall, - genauer: Nicht ganz! Es hat durchaus Strophenliedcharakter, und zwar deshalb, weil die melodische Linie der Singstimme von Strophe zu Strophe in ihrer Struktur durchgehend gleich bleibt. Eine leichte Modifikation erfolgt jeweils beim dritten Vers der Strophen und dem zugehörigen Kehrreim. Die Grundgestalt der melodischen Bewegung bleibt dabei aber erhalten. Was sich – wiederum von Strophe zu Strophe – aber wandelt, ist der Klaviersatz. Brahms leuchtet also die spezifische dichterische Aussage der einzelnen Strophen mit diesem aus, - nicht mit der Vokallinie. Diese hält er in ihrem volksliedhaften Charakter konstant, - weil er auf diese Weise dem volksliedhaften Ton des Mörike-Gedichtes musikalisch gerecht werden wollte.


    Wie Wolfs Komposition, steht auch die von Brahms im Dreivierteltakt. Aber sie weist eine andere Vortragsanweisung auf: „Con moto“. Und in der Tat: Im Vergleich zu Wolfs Lied wirkt dieses in seiner Rhythmik und in der Bewegung der melodischen Linie lebhaft. Diese setzt beim ersten Vers in hoher Lage ein und bewegt sich in syllabisch exakter Deklamation rasch um das tonale Intervall einer Quinte nach unten. Der Kehrreim besteht aus einer rhythmisierten Aufwärtsbewegung in Gestalt einer Sekunde und eines nachfolgenden Abfalls um eine Terz. Das ist melodisch alles von einer bewusst volksliedhaften Einfachheit.


    Auch beim dritten Vers bewegt sich die melodische Linie aus einer um eine Sekunde höheren Lage abwärts. Bei den Worten „wär mein Lieb“ macht sie einen Terzsprung hinauf zu einem hohen „f“ und fällt danach wieder um eine Terz ab. Die Worte „blieben treu“ werden mitsamt ihrem Kehrreim auf der gleichen melodischen Figur wie bei ersten Mal gesungen, allerdings in höherer Lage. Bei den Worten „sollte mir nicht bangen“ bewegt sich die melodische Linie im tonalen Raum einer Quinte lebhaft auf und ab. Diese Worte werden wiederholt, wobei allerdings nun eine Abwärtsbewegung der Vokallinie hinab zur Quarte als Ruhepunkt erfolgt.


    Bei der ersten Strophe begleitet das Klavier die Singstimme in Form von genau der Deklamation folgenden Akkorden. Bei der zweiten besteht der Klaviersatz aus einem zwischen Bass und Diskant alternierenden Wechsel von Achtelakkorden. In der dritten Strophe umspielen Terzen die Singstimme, und in der vierten schließlich wird der melodischen Linie durch chromatisch fallende Achtelakkorde ein ausgeprägter Klageton verliehen. Zwischen den Strophen erklingen jeweils kurze, aber unterschiedlich angelegte Zwischenspiele.

  • Es ist immer wieder von neuem faszinierend, zwei oder mehrere Liedkompositionen auf den gleichen lyrischen Text miteinander zu vergleichen. Faszinierend deshalb, weil man dabei nicht nur verfolgen kann, in welch unterschiedlicher Weise jeweils Lyrik rezipiert wurde, sondern auch, weil man anhand eines konkreten Beispiels das jeweilige Verständnis von Liedkomposition sehr gut zu erfassen vermag.


    Weil sich Brahms als Liedkomponist sehr stark am Volkslied orientierte, versuchte er selbst bei lyrischen Texten, die alles andere als „Volkspoesie“ atmen, den melodischen Geist des Volksliedes so gut wie möglich zu erhalten. Dies um so mehr natürlich bei einem Gedicht wie Mörikes „Agnes“, das sowohl vom sprachlichen Gestus als auch von der lyrischen Szenerie und dem Lebensgefühl des lyrischen Ichs her Nähe zum Volkslied aufweist.


    Von Brahms ist die Aussage überliefert:
    Es ist nicht genug, sie (=die Volkslieder) in geeigneter Stimmung mit Enthusiasmus einmal zu singen. Das Lied segelt jetzt so falschen Kurs, daß man sich ein Ideal nicht fest genug einprägen kann. Und das ist das Volkslied“.
    Mit dem „falschen Kurs“ dürfte er vor allem Hugo Wolf im Auge gehabt haben. Dieser polemisierte denn auch heftig gegen das Brahmssche Verständnis von Liedkomposition, indem er ihm ein „Liebäugeln mit der schlichten Einfalt des Volksliedes“ vorwarf. Einen Weg zurück zu diesem, wie Brahms ihn in Gestalt einer Orientierung an dessen Melodik (nicht Harmonik!) kompositorisch beschritt, konnte es für Wolf von seinem ganzen Verständnis von Liedkomposition her nicht geben.


    Im Falle der Brahms-Komposition „Agnes“ ist diese Orientierung am Volkslied sehr deutlich zu vernehmen. Vor allem in der Einfachheit, mit der die melodische Linie sich bewegt, in der weitgehenden Wahrung des strophischen Prinzips und in der musikalisch markanten Hervorhebung des Kehrreims, der in seiner melodischen Struktur nicht nur sehr einprägsam ist, sondern in seiner Eingängigkeit dadurch noch verstärkt wird, dass der dritte und vierte Vers der Strophen jeweils wiederholt wird. Zwar werden dabei einzelne Worte des dritten Verses ausgelassen, der Kehrreim bleibt aber davon unberührt.


    Da die melodische Linie der ersten Strophe mit nur geringfügigen Modifikationen im wesentlichen durchgehalten wird, vermag sie sich sehr gut einzuprägen. Sie prägt den Charakter des Liedes als eine vom Geist des Volksliedes getragene Komposition sehr stark. Der Preis dafür ist, dass sie sich nicht auf die Aussagen des lyrischen Ichs in den einzelnen Strophen einzulassen vermag. Das muss dann der Klaviersatz übernehmen. Aber er kann dies auch nur in der Form leisten, dass er den Geist der lyrischen Aussage der ganzen Strophe mit klanglichen Mitteln aufgreift. Dies tut er allerdings auf eine höchst beeindruckende Weise.


    Wenn man nach der kompositorischen Intention fragt, die jeweils den beiden Liedern zugrundeliegt, so könnte man im Falle von Johannes Brahms feststellen:
    Die Musik folgt primär mit den klanglichen Mitteln des Klaviersatz der lyrischen Aussage der einzelnen Strophen und bringt die seelische Grundbefindlichkeit des lyrischen Ichs in der Gesamtheit ihrer verschiedenen Äußerungen musikalisch zum Ausdruck. Die Chromatik, die sich in die fallenden Akkorde bei der letzten Strophe einschleicht, ist gleichsam die klangliche Quintessenz dieses kompositorischen Ansatzes.


    Ganz anders Hugo Wolf. Er will nicht allein die seelische Befindlichkeit des lyrischen Ichs mit den Mitteln der Musik zum Ausdruck bringen, sondern er begibt sich mit diesen – und zwar sowohl den melodischen wie den harmonischen – in detaillierter Form in den einzelnen Vers und leuchtet aus, in welchen Einzelaussagen das lyrisch Ich seine seelische Befindlichkeit artikuliert. Das muss von diesem Ansatz her ein grundsätzlich anderes Lied ergeben. Die Melodik des Volksliedes ist dafür ungeeignet; sie muss durch eine melodische Linie mit weitaus größerer Binnendifferenzierung und komplexerer Harmonisierung ersetzt werden. Wobei das kompositorische „Kunststück“ darin besteht, den Geist der Ländlichkeit, der die lyrischen Bilder beherrscht, musikalisch dennoch zu wahren. Das dürfte Wolf gelungen sein.


    Dass beide Komponisten jeweils etwas anderes wollen und dafür andere kompositorische Mittel einsetzen, wird dem aufmerksamen Hörer schon bei der Klaviereinleitung bewusst. Bei Brahms besteht sie aus einer schlichten Abfolge von sechs Akkorden, die in ihrer Rhythmisierung und ihrer melodischen Struktur die Bewegung der melodischen Linie des ersten Verses vorwegnehmen. Ihm genügt also die klangliche Eröffnung der Szenerie, in der die Singstimme sich melodisch artikuliert.


    Wolf will hingegen schon vom ersten Takt an musikalisch interpretieren. Er will mit klanglichen Mitteln zum Ausdruck bringen, in welcher seelischen Verfassung dieses lyrische Ich sich befindet, das nun gleich zu singen anfängt. Daher dieser so überaus expressive, in einen chromatisch verfremdeten Akkord mündende Nonen-Sprung, der sich im fünftaktigen Vorspiel gleich zweimal ereignet. Er wirkt klanglich schmerzhaft. Und in dieser Seelenlage befindet sich ja auch das lyrische Ich. Für Wolf ist offensichtlich dessen zentrale Aussage „Aber ach, mir kranken Blut // Will nichts mehr gelingen“ die Keimzelle seiner Komposition.


    Von ihr ausgehend, folgt er allen lyrischen Aussagen mit seinen musikalischen Mitteln so textnah wie möglich. Und dabei will er ihre seelische Tiefenschicht klanglich ausloten.


    Man muss nur einmal hören, wie er die Verse „Schleiche so durchs Wiesental, so durchs Tal, als im Traum verloren“ in Musik setzt. Im Pianissimo fällt die melodische Linie, in Moll harmonisiert, wie müde langsam ab. Zweimal macht sie eine Aufwärtsbewegung im Sekundschritt, dies aber nur, um, wie auf einer tonalen Ebene schwebend, die Traumverlorenheit des lyrischen Ichs zum Ausdruck zu bringen. Das Wort „verloren“ wird dabei auf klanglich überaus expressive Weise in Musik gesetzt: Ein Terzsprung in Form von Achteln auf der Silbe „lo“ mündet dabei in einen verminderten Sekundfall. Auf der Silbe „ren“ liegt dabei aber eine Viertelnote. Das lyrische Wort „verloren“ beginnt sich dabei klanglich tatsächlich zu verlieren.


    Das ist ganz große Lied-Kompositionskunst!

  • Zu diesem Beitrag ist noch eine Ergänzung angebracht. Sie ist es deshalb, weil in ihm ja das grundlegende Verständnis von Liedkomposition bei Hugo Wolf angesprochen wurde. Man kann sogar weiter gehen und sagen: Das grundlegende Verständnis von Musik überhaupt.


    In ihm setzt sich Wolf radikal von Brahms ab und versteht sich darin ausdrücklich als „modern“. Das Verhältnis zum Volkslied, in dem sich beide in sehr tiefgreifender Weise unterschieden, ist diesbezüglich gleichsam eine Art Indikator. Für Brahms war es in Sachen Liedkomposition eine Art ideales Leitprinzip. Dahinter steht bei ihm die Überzeugung, dass der Musik eine genuine, sich selbst genügende künstlerische Aussagekraft innewohne. Infolgedessen war für ihn, wie sein Schüler Jenner bekundete, das Strophenlied mitsamt dem diesem inhärenten Prinzip der Periodisierung eigentlich das Ideal von Lied überhaupt.


    Wolf hielt das für ein Übel, ja eigentlich sogar für eine Form von kompositorischer Barbarei. Dies deshalb, weil er darin das Wesen der Musik, so wie er es verstand, verkannt sah: Ihre gleichsam elementare Sprachbezogenheit. Er bekannte einmal: „Die Poesie ist die eigentliche Urheberin meiner musikalischen Sprache. (…) Da liegt der Hase im Pfeffer.“


    Und für die Liedkomposition von Brahms hatte er nur solche Kommentare übrig wie etwa diesen:
    „Welch ein Meister des Dudelsacks (=eine Anspielung auf die Quinten als musikalisches Element des Volksliedes) und der Ziehharmonika ist doch Brahms .(…) Aechter als er schrieb keiner Gestrampfte, und doch, trotz aller Strampfer, Gassenhauer. (…) Und so in der bekannten edlen Volkstümlichkeit jodelt es bis zum Schluß.“

  • Lieber Helmut,


    herzlichen Dank erst einmal besonders für die instruktiven ästhetischen Ausführungen zu Wolf und Brahms! Nach den Feiertagen habe ich nun ein Momentchen Zeit ergattert, um mich wieder ein wenig in diesen Liederkosmos einzuhören.


    Wenn ich "Agnes" von Wolf und Brahms nacheinander höre, dann fällt mir erst einmal die Gemeinsamkeit auf, daß es dort einen tragenden, alles durchziehenden Rhythmus gibt, den das Klavier spielt. Doch wie unterschiedlich wird das realisiert! Bei Wolf ist das so eine Art Berceuse, die ungemein psychologisch einfühlsam alle Facetten einer fahlen verhaltenen Stimmung einfängt - dabei etwas Melancholisches hat von einer venezianischen Trauergondel. Das Wasser ist mal dunkel, mal gibt es helle Reflexe - aber das Dunkel überwiegt. Was macht dagegen Brahms daraus? Eine Humoreske! Da singt ein Mädchen naiv-fröhlich ein Liedchen von verflossener Liebe, mit einem gewissen neckischen Ton sich im Besitz unbesiegbarer Jugend fühlend, nach dem Motto: Das Liebesleid wird schon vorübergehen - der nächste Liebhaber kommt bestimmt! Das ist in der Tat sehr "volkstümlich". Bei Wolf ist das Subjekt tief verletzt und getroffen - bei Brahms dagegen keine Spur von irgend welchem Tiefsinn. Der Wind spielt mit dem Rosenband - für Brahms offenbar ein eher fröhlich stimmendes Bild. Die Liebe als eine Art Spiel im Wind - mal gewinnt man, mal verliert man.


    In "Im Frühling" gibt es auch wieder diese alles durchziehende Bewegung des Klaviers. Der Ton des Nachsinnens und Träumens ist finde ich wirklich kongenial getroffen. Da braucht man wahrlich Zeit zum Einhören, ein wunderbares Wolf-Mörike Lied!


    Das soll und muß für heute als Eindruck zwischen den Feiertagen genügen....


    Schöne Grüße
    Holger

  • Deinen Beitrag, lieber Holger, habe ich mit großem Interesse gelesen, - und mit Freude. Ich bin dankbar für jede sachbezogene Stellungnahme hier, weil ich in meinem Urteil über die einzelnen Lieder oft sehr unsicher bin und nicht weiß, ob ich dabei richtig liege. Um so schöner, wenn man eine Bestätigung bekommt und da und dort auch der eigene Blick geweitet, ergänzt oder auch korrigiert wird.


    Du sagst: "Bei Wolf ist das Subjekt tief verletzt und getroffen - bei Brahms dagegen keine Spur von irgend welchem Tiefsinn. Der Wind spielt mit dem Rosenband - für Brahms offenbar ein eher fröhlich stimmendes Bild. Die Liebe als eine Art Spiel im Wind - mal gewinnt man, mal verliert man."


    In der Tat: Das "tiefe Verletzt- und Getroffensein" des Subjekts ist bei Wolf musikalisch deutlich zum Ausdruck gebracht. Was Brahms anbelangt, so meine ich, dass Du mit dieser Formulierung dem Lied nicht ganz gerecht wirst. Bedenke: Der melodischen Linie wohnt eine gewisse Wehmut inne. Sie weist eine fallende Grundstruktur auf und ist in Moll harmonisiert. Und vor allem: Die Abwärtsbewegung der chromatisch geprägten Akkorde im Klaviersatz der letzten Strophe signalisiert musikalisch durchaus eine gewisse innere Betroffenheit des lyrischen Ichs.


    Zudem: Beim ersten Mal liegt in der letzten Strophe auf den Worten "dem Winde" eine fallende kleine Sekunde (nach einem Quartsprung). Das ist der gleichsam "klassische" Klageton im Lied. Und bei der Wiederholung, also den letzten Worten in diesem Lied überhaupt, wird auf diesen Worten zweimal ein "a" gesungen, und danach folgt ein großer Sekundfall. Für mich klingt das so, als hätte das lyrische Ich am Ende resigniert und sich mit allem abgefunden.


    Ich höre in dem Lied von Brahms die im Volkslied so oft vernehmliche Verhaltenheit, ja Distanziertheit des Klagetons, die aus einer Art stillem Leiden zu kommen scheint, das sich nicht laut nach außen hin artikulieren darf. Dieser Ton ist - in gleichsam naturhafter Weise - geprägt von dem Bewusstein: "So ist das halt eben auf dieser Welt". Wenn man in die "Deutschen Volkslieder" von Brahms hineinhört, begegnet einem dieser verhaltende Klageton immer wieder. Etwa in "Da unten im Tale". Ich meine - und ich deutet das ja an - , dass Brahms dabei auf die genuine Expressivität der melodischen Linie vertraut, die - ohne dass sie sich dabei auf die einzlenen lyrischen Elemente des Verses einlässt - die jeweilige seelische Befindlichkeit des lyrischen Ichs "in toto" auszudrücken vermag.

  • Lieber Helmut,


    da hast Du mit allem natürlich recht! Ich habe vielleicht den Fehler gemacht, erst Wolf und dann Brahms zu hören. Im Kontrast wirkt Brahms dann etwas "unbeschwert". Sicher ist das auch eine Frage der Interpretation und die der Qualität des Sängers. Auf Fischer-Dieskau kann ich leider nicht zurückgreifen, der natürlich Sinn für solche Zwischentöne hat. Deine Schlußbemerkung über den Volksliedton bei Brahms finde ich besonders aufschlußreichund und einleuchtend - und zuletzt das mit dem Ausdruck "in toto". Da muß ich mir dann wohl einfach Zeit nehmen zum nachhören! :)


    Schöne Grüße
    Holger

  • Wenn man die beiden Lieder in der Reihenfolge hört, wie Du das getan hast, lieber Holger, dann kann sich dieser Eindruck, den Du schildertest, in der Tat einstellen.


    Übrigens: Fischer-Dieskau hat meines Wissens beide Lieder nicht interpretiert. Das sind "Frauenlieder", - und auf solche hat er sich als Sänger aus grundsätzlichen Erwägungen nicht eingelassen. Ich habe die "Agnes"-Lieder für diese Besprechung gehört in der Interpretation von Joan Rodgers (Wolf) und Jessye Norman (Brahms).


    Allgemein hast Du natürlich in dem, was Du zu Fischer-Dieskau anmerkst, recht. Ich habe diese Mörike-Lieder von keinem anderen Interpreten auch nur annähernd so gut, weil dem Wesen des Wolf-Liedes gerecht werdend, gehört, wie ich das eben jeden Tag in der Aufnahme der Lieder mit Fischer-Dieskau und Daniel Barenboim erlebe.


    (Hoffentlich habe ich mit diesen "leichtfertigen" Anmerkungen jetzt nicht eine "Interpreten-Debatte" angestoßen. Da hätte ich - von der Zielsetzung dieses Threads her - einen schweren Fehler gemacht!)

  • Lieber Helmut,


    die unten abgebildete Philips-Brahms-Lied-CD von Jessye Norman habe ich - "Von ewiger Liebe" gleich zu Anfang ist einfach unglaublich gesungen, da bekommt man wahrlich eine Gänsehaut. Aber "Agnes" ist bei diesem Programm nicht dabei, leider:



    Welche Aufnahme hast Du denn - ist das die mit Barenboim?


    Schöne Grüße
    Holger

  • "Agnes" ist tatsächlich hier drauf, habe ich gerade recherchiert:



    Die CD werde ich mir vormerken! :) Beim "Hörschnipsel" fällt mir auch hier die gewisse Nonchanlance auf - mischt sich aber mit einer traurig-schönen Stimme. Du hast die Schicksalsergebenheit angesprochen, lieber Helmut. Ist das etwa Heiterkeit aus Fatalismus? Da muß ich noch weiter drüber nachdenken....

    Schöne Grüße
    Holger

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  • Lieber Holger,
    ich bitte - mit Verweis auf den Nachsatz in Klammer meines letzten Beitrags - um Verständnis dafür, dass ich mich zu den hier von Dir hier eben eingebrachten Aspekten nicht äußern möchte.


    Mein Thema - und der Gegenstand, mit dem ich mich mühsam beschäftige und auseinandersetze - sind die Lieder selbst. Nicht ihre Interpreten. So sehr ich auch zu schätzen weiß, ja mich auch in das zu verlieben vermag, was diese musikalisch zu sagen haben.

  • Lieber Helmut,


    das verstehe ich - das würde glaube ich den Rahmen wirklich sprengen. Ich bin auch jemand, der Interpretationsvergleiche wenn schon dann sehr ernst anstellen möchte und nicht wie zumeist oberflächlich. Schön ist natürlich, wenn man erfährt, wie man seine CD-Sammlung mit herausragenden Aufnahmen vervollständigen kann!


    Schöne Grüße
    Holger

  • In ein freundliches Städtchen tret ich ein,
    In den Straßen liegt roter Abendschein.
    Aus einem offnen Fenster eben,
    Über den reichsten Blumenflor
    Hinweg, hört man Goldglockentöne schweben,
    Und eine Stimme scheint ein Nachtigallenchor,
    Daß die Blüten beben,
    Daß die Lüfte leben,
    Daß in höherem Rot die Rosen leuchten vor.


    Lang hielt ich staunend, lustbeklommen.
    Wie ich hinaus vors Tor gekommen,
    Ich weiß es wahrlich selber nicht.
    Ach hier, wie liegt die Welt so licht!
    Der Himmel wogt in purpurnem Gewühle.
    Rückwärts die Stadt in goldnem Rauch;
    Wie rauscht der Erlenbach, wie rauscht im Grund die Mühle!
    Ich bin wie trunken, irrgeführt –
    O Muse, du hast mein Herz berührt
    Mit einem Liebeshauch!



    Was sich in diesem Gedicht ereignet – ja in diesem lyrischen Gedicht gibt es, wie der erste Vers andeutet, tatsächlich eine narrative Komponente - erschließt sich in seinem Wesenskern erst ganz am Ende: Es ist die Verzauberung des lyrischen Ichs durch die Begegnung mit der Schönheit in der Gestalt von Musik. Die Muse hat sein Herz berührt.


    Das den Leser so in Bann Schlagende an diesem Gedicht ist die Teilhabe an diesem „Berührt-Werden“ durch die Muse. Es vollzieht sich in einer wachsenden sprachlichen „Verzauberung“ der Metaphorik. Diese wird im genuinen Sinne poetisch. Womit gesagt sein will: Ihr sprachlich evokatives Potential steigert sich kontinuierlich. Das Gedicht setzt mit seinem ersten Vers eigentlich noch sprachlich mit beinahe epischer Normalität ein. Nicht ganz freilich, denn das Präsens signalisiert Lyrik: „In ein freundliches Städtchen tret ich ein…“. Was nachfolgt, bleibt lyrisch-sprachlich ebenfalls noch auf der Ebene von narrativer Deskription: Roter Abendschein liegt auf den Straßen, und eine Stimme kommt aus dem offenen Fenster.


    Aber schon hier setzt die Verzauberung durch musikalische Schönheit ein: Die Stimme wird im Augenblick der Aufnahme dessen, was sie zu sagen hat, zu einem „Nachtigallenchor“. Und nun ereignet sich - in der lyrischen Diktion auf fesselnde Weise übergangslos – eine Verzauberung des lyrischen Ichs, die sich in als metaphorische Potenzierung seiner Wahrnehmung von Welt artikuliert: Blüten beginnen zu „beben“, „Lüfte leben“ und die Rosen leuchten mit einem Mal In höherem Rot“.


    Diese Verzauberung enthebt das lyrische Ich der realen Welt. Die der Schönheit ist eben eine andere. Es weiß nicht mehr, wie es vor das Stadttor gekommen ist. Aber diese ekstatische Erfahrung von Schönheit wirkt fort. Auch draußen vor der Stadt „liegt die Welt licht“. Die Bilder, die sich ihm bieten, sind in ihrer scheinbaren Irrealität die einer seelischen Trunkenheit: Der Himmel in „purpurnem Gewühle“ und die Stadt beim Blick zurück in „goldenem Rauch“. Bilder, die in ihrer die Realität transzendierenden sprachlichen Gestalt Ausdruck eines Erfasst-Seins vom ekstatischen Potential der Erfahrung von Schönheit ist.


    Mörike hat dieser Erfahrung lesend nachvollziehbare lyrische Gestalt verliehen und damit ein großes Gedicht geschaffen.

  • Wie „Im Frühling“ ist auch diese Komposition ein musikalisches Werk, das die herkömmliche Gattung Lied transzendiert: Sie hat gleichsam symphonische Elemente in sich aufgenommen. Herausgekommen ist ein Meisterwerk.


    Was an diesem Lied so beeindruckend ist, das ist die – dem lyrischen Text geschuldete – Vielfalt an höchst expressiven musikalischen Elementen, die gleichwohl zu einer Einheit verschmolzen sind. Das liegt daran, dass es Wolf gelungen ist, sie alle gleichsam aus einer situativ bedingten und zentralen lyrischen Empfindung hervorgehen zu lassen. Und nicht ohne Grund ist diese in der musikalischen Faktur exponiert, weil eingebettet in ein fünftaktiges Vorspiel und ein dreitaktiges Nachspiel: „Lang hielt ich staunend, lustbekommen“.


    Wobei bemerkenswert ist, dass in der entsprechenden Passage des Liedes dieses „lustbeklommen“ noch einmal durch eine Pause abgesetzt ist und dadurch einen eigenen Akzent erhält. Das Klavier beschränkt sich an dieser Stelle auf das Anschlagen reiner Akkorde, so dass die Aussage der Singstimme um so deutlicher hervortritt. Sie ist das lyrische Zentrum des Liedes, aus dem die Vielfalt seiner musikalischen Aussagen wie aus einer Quelle hervorsprudelt.


    Das Wort „sprudeln“ ist hier sehr wohl angebracht. „Leicht bewegt“ lautet die Vortragsanweisung. Und das Klavier gibt in seinem Vorspiel aus tänzerisch rhythmisierten, weil in Form von Achteln und Sechzehnteln aufeinanderfolgenden Akkorden vor, von welchem Geist das ist, was nachfolgt. Es ist der Geist einer emphatischen Verzückung durch das Augenblickserlebnis von Schönheit.


    Wenn von dem Eindringen von symphonischen Elementen in das Lied gesprochen wurde, so zeigen gleich die ersten beiden Melodiezeilen, was damit gemeint ist. Im Grunde ist das ja eine musikalische Exposition, was man da vernimmt. Die melodische Linie skizziert, gestützt auf die aus dem Vorspiel sich weiter bewegenden Achtel-Klangfiguren eine lyrische Situation. Das geschieht auf großartige Weise, denn die zweite Melodiezeile ist deutlich von der ersten abgesetzt. Nicht nur durch die Pause dazwischen, sondern auch dadurch, dass auf die lebhaft emporsteigende erste Linie eine erst einmal dunkler wirkende, auf einer tieferen Ebene verbleibende zweite folgt. Der „rote Abendschein“, der auf den Straßen liegt, färbt auf die melodische Linie ab.


    Immer wieder staunt man, in welch expressiver Weise die Musik die Aussage der lyrischen Bilder aufzugreifen und in einer gleichsam intensivierten Weise zum Ausdruck zu bringen vermag. Bewegt sich die melodische Linie gerade eben noch, bei dem Bild vom „reichsten Blumenflor“ lebhaft bogenförmig nach oben und unten, so kommt bei den „Goldglockentönen“ ein schwebender Ton in sie, und bei dem Wort „Nachtigallenchor“ überlässt sie sich einer langen, Verzückung ausdrückenden Dehnung, die dann aber in eine rasche Abwärtsbewegung hin zum Grundton mündet. Ein neues Bild steht bevor, und deshalb der Grundton und die nachfolgende Pause in der Bewegung der melodischen Linie.


    Große Emphase kommt bei den letzten drei Versen der ersten Strophe in das Lied („Daß die Blüten beben…“). „Glühend“ vermerken an dieser Stelle die Noten. Mit einem großen Oktavsprung setzt die melodische Linie ein. In ihrer bogenförmigen und von kurzen Pausen unterbrochenen – eigentlich damit ja gesteigerten! – Bewegung greift sie immer weiter nach oben aus, um bei dem Wort „höheren“ den Gipfel zu erreichen.


    Ein ungewöhnlich langes (15 Takte) Klavierzwischenspiel folgt nach. Es leitet zur zweiten Strophe über. Nach im Fortissimo aus großer Höhe herabflutenden Oktaven ereignet sich in diesem Zwischenspiel eine formenreiche Variation des melodischen Motivs, das im Vorspiel aufklang und das hier jetzt durch verschiedene Tonarten und chromatische Modifikationen geführt wird.


    Auch danach begleitet dieses tänzerische Motiv die melodische Linie der Singstimme und kommentiert sie musikalisch, - etwa, wenn das lyrische Ich in durch Pausen markant hervorgehobener Weise feststellt: „Lang hielt ich staunend / Lustbeklommen“. Und auch, wenn es bekennt, es wisse nicht, wie es vor das Tor gekommen sei, kommentiert dies das Klavier vier Takte lang im vierfachen Piano mit jenem Motiv, das ja den „Eintritt“ in das „freundliche Städtchen“ begleitet, - in freilich reduzierter Form. In nahezu originaler Form taucht es wieder im Nachspiel des Liedes auf und will wohl damit andeuten, dass das lyrische Ich noch einmal zurückblickt.


    Zuvor ereignen sich aber noch mehrere Phasen emphatischer Steigerung im Ausdruck der melodischen Linie. Bei den Worten „Wie rauscht der Erlenbach“ verbleibt sie auf einer hohen tonalen Ebene. Und die behält sie auch beim zweiten Teil des Verses bei, so dass man das Gefühl hat, dem „wie“ würde durch diese Wiederholung der melodischen Figur gesteigerte Expressivität verliehen. Bei „Ich bin wie trunken, irrgeführt“ macht die Vokallinie einen Quintsprung mit nachfolgendem Sextfall, verbunden mit einer harmonischen Rückung. Es ist, als würde sie trunken taumeln.


    Bei dem lyrisch emphatischen „O Muse“ erklingen arpeggierte Akkorde. Man meint, da würde das lyrische Ich in die Saiten einer Laute oder Harfe greifen, um seinen Gefühlen vollen Ausdruck zu verleihen. Und dass schließlich das Wort „Liebeshauch“ mit einer langen melodischen Dehnung auf leicht fallender Vokallinie versehen ist, empfindet man als musikalisch nur konsequent.


    Das lyrische Ich hat einen durch die Begegnung mit der „Muse“ ausgelösten rauschhaften Zustand erlebt. Und der kann nur abklingen mit einem klanglich weit gesteckten musikalischen Ausatmen.

  • Lieber Helmut,


    schön, daß es weiter geht! :) "Auf einer Wanderung" habe ich mir gleich zweimal nacheinander angehört! Die Vertonung finde ich faszinierend, weil sie so "uneinheitlich" ist. Die erste Strophe von Mörike ist ja doch eigentlich ein exemplarisches Beispiel für die Entdeckung der "Stimmung" in der Romantik. Der "rote Abendschein" durchzieht alles, taucht alles in diesen einheitlichen Ton und verstärkt - verdichtet - damit die einzelnen Töne: das Rot der Rosen wird noch roter in der roten Abendsonne. (Das erinnert mich an ein Bild von Karl Gustav Carus, das vor Jahren im Essener Volkwang-Museum zu sehen war (inzwischen haben sie es wohl wieder im Magazin verschwinden lassen): Eine Stadt-Häuserlandschaft im Abendlicht, ein warmer Ton, der wirklich alles durchzieht.) Wolfs Vertonung beginnt sehr stimmungsvoll im beschwingten Wanderrhythmus (fast schon eine Art Ritt) - eine gewisse ausgelassene Überschwänglichkeit ist zu spüren, das paßt sehr gut. Man spürt die "Begeisterung", den Enthusiasmus. Fast schon impressionistisch wird es bei den Glockentönen. Dann kommt aber ein merkwürdiger Bruch. Es wird sehr operndramatisch! Der "Rausch" hat in Wolfs Vertonung etwas Bedrohliches - das Schöne als "fascinosum et tremendum" - wobei das "tremendum" eindeutig überwiegt. Da bricht er die Einheit der Stimmung, die eigentlich in der Gedichtstrophe herrscht: Ein Dämon, meint man zu hören, der vom Subjekt Besitz ergreift. Das lange Klaviersolo unterstreicht den Durchbruchscharakter, das Bestürzende des Erlebnisses. Der frohgemute und beschwingte Wanderton ist völlig weg.


    Darauf folgt in der nächsten Strophe die "Verarbeitung" - wo ganz unterschiedliche Befindlichkeiten durchlaufen werden. Das Schöne bei Mörike - in Wolfs Vertonung wird daraus ein Erhabenes, das etwas Bestürzendes, Bedrohliches hat. Das paßt natürlich zur Ästhetik von Wagner, deren Anhänger Wolf ist - die ja eine Ästhetik des Erhabenen ist. Das finde ich vollzieht sich schon eine gewisse Tranformation. Bei Mörike finde ich eher etwas vom Geist der Frühromantik, der enthusiastischen Begeisterung. Die hat erst einmal nichts Bedrohliches in diesem dramatischen Sinne.


    Schöne Grüße
    Holger

  • Deine Feststellung, lieber Holger: „Die Vertonung finde ich faszinierend, weil sie so "uneinheitlich" ist“….


    … ist aus meiner Sicht überaus aufschlussreich und vielsagend. Denn sie ist für mich die gleichsam subjektive Reaktion auf dieses Lied von Hugo Wolf auf dem Hintergrund des Klavierliedes, wie es von Schubert und Schumann maßgeblich geprägt wurde. Diese Reaktion enthüllt also aus meiner Sicht gleichsam die Modernität des Wolf-Liedes.


    Denn „uneinheitlich“ ist dieses Lied „Auf einer Wanderung“ ja keineswegs. Allein die durchgängige Gegenwart des musikalischen Leitmotivs, das im Klaviervorspiel aufklingt, sorgt für kompositorische Einheitlichkeit. „Uneinheitlich“ ist es infolge der Polyfunktionalität seiner kompositorischen Elemente. Und genau dadurch zeichnet sich die Liedkomposition von Hugo Wolf ja aus.


    Hierauf möchte ich mich in meinem nächsten Beitrag noch näher einlassen. Ich tue das freilich in Gestalt eines reinen Sachbeitrags. Die jüngsten Erfahrungen, die ich als Leser der Beiträge in diesem Forum mit dem Hereinbrechen von präpotenter Personalität in diese gemacht habe, bestärken mich endgültig in meinem Entschluss, künftig ausschließlich reine Sachbeiträge hier einzustellen und aus der Ebene des personalen Diskurses ein für allemal auszuscheiden.

  • Fischer-Dieskau gibt es auch zu sehen mit "Auf einer Wanderung" (Videomitschnitt eines Konzerts von 1987) bei youtube:


    http://www.youtube.com/watch?v=fVn0wusgws8


    Lieber Helmut,


    was Du über die "Leitmotivik" sagst ist für mich der springende Punkt. Dieses Wolf-Lied ist für meinen Geschmack ein exemplarisches Beispiel für die Frage: Was passiert, wenn die Vertonung einer anderen Ästhetik folgt als die Gedichtvorlage? Der Komponist muß ja kein Romantiker sein, um ein romantisches Gedicht zu vertonen - ein Problem, was bei Liedvertonungen aus dem 20. Jahrhundert besonders deutlich wird. Die romantische Ästhetik ignoriert Wolf in der 1. Strophe - statt Einheit der Stimmung gibt es einen dramatischen Umschlag der Stimmung. Das widerspricht erst einmal der Gedichtvorlage. Die ästhetische Einheit wird dann aber auf einer anderen - semantischen - Ebene wiederhergestellt, nämlich durch die sich durchziehende Leitmotivik. Auch hier zeigt sich wieder einmal, daß ein Lied so etwas wie ein "Gesamtkunstwerk" ist, wo die Musik eben das Gedicht einfach nur liest, sondern interpretiert. Es entsteht auf diese Weise etwas Neues.


    Schöne Grüße
    Holger

  • Dieser Deiner Feststellung, lieber Holger, "daß ein Lied so etwas wie ein "Gesamtkunstwerk" ist, wo die Musik eben das Gedicht einfach nur liest, sondern interpretiert. Es entsteht auf diese Weise etwas Neues."


    ...hätte Wolf ganz sicher ohne jegliche Einshränkungen und Bedenken zugestimmt. So hat er das Wesen seiner Liedkomposition immer verstanden. Er verstand sich freilich, indem er mit den Mitteln der Musik Lyrik interpretiert und in ihrer dichterischen Aussage ausdeutet, zugleich als Diener des Dichters!

  • „Auf einer Wanderung“ ist eine kompositorische Meisterleistung Wolfs, in der sich in gleichsam exemplarischer Weise sein liedkompositorisches Konzept in vollem Umfang und in all seinen spezifischen Eigenarten entfalten konnte.


    Es ist das Konzept eines musikalischen Auslotens der semantischen Tiefenschicht des lyrischen Textes im Zusammenspiel von Vokallinie und Klaviersatz, wobei beide ihre je eigenen Ausdrucksmöglichkeiten voll entfalten können. Wie sehr Wolf bei seiner Liedkomposition klanglich-musikalisch denkt und vorgeht und von diesem Ansatz her dem Klaviersatz besondere Aufmerksamkeit widmet, ist bei diesem Lied daran zu erkennen, dass er bei der Komposition zunächst einmal nach der ersten Strophe gleichsam hängen blieb, weil ihm keine musikalische Überleitung zur zweiten gelingen wollte. Nach vierzehn Tagen erst verkündete er: „Heute ist mir´s eingefallen“ Er meinte das Klavierzwischenspiel, das nach am Ende der ersten Strophe aufklingt.


    Es ist ungewöhnlich lang, umfasst fünfzehn Takte. Warum war es für Wolf unabdingbarer Bestandteil seiner Komposition? Die Antwort ist im lyrischen Text zu finden. In den letzten vier Versen der ersten Strophe ereignet sich die zunehmende „Verzauberung“ des lyrischen Ichs in Form eines In-Bann-geschlagen-Werdens durch die Situation, in die es auf seiner Wanderung zufällig geraten ist. In seine sinnliche Erfahrung dringt zunehmend eine affektiv gesteigerte ästhetische Komponente ein: Eine Stimme wird zum „Nachtigallenchor“, die Blüten „beben“, Lüfte „leben“ und die Rosen leuchten in „höherem Rot“.


    Wolf greift dies musikalisch mit einer sich in drei Anläufen in immer höhere Lagen steigernden bogenförmigen melodischen Linie auf, die bei dem Wort „Rosen“ mit einer langen Dehnung in hoher Lage gleichsam aufgipfelt und danach wie mit einem großen Ausatmen abfällt. Das Klavier folgt dem und verstärkt es mit „molto crescendo“ mächtig nach oben drängenden Akkordfolgen.


    Bei Mörike setzt nun der erste Vers der zweiten Strophe mit den Worten „Lang hielt ich staunend“ ein. Hier ist gleichsam ein lyrischer Perspektivwechsel erfolgt. Das lyrische Ich gibt - nun im sprachlichen Präteritum und damit aus der Retrospektive - wieder, was ihm gerade widerfahren ist. Hierfür ist, was die Form des Gedichts anbelangt, ein strophischer Absatz völlig hinreichend. Für den Komponisten Wolf, der ja ein in sich geschlossenes Lied schaffen will, erzwingt dieser lyrische Perspektivwechsel eine musikalische Überleitung, in der das, was das lyrische Ich eben gerade erlebt und erfahren hat, nachklingt und eine Überleitung zu den lyrischen Aussagen der zweiten Strophe erfolgt.


    Genau dieses „leistet“ das besagte Klavierzwischenspiel. Es ist Nachklang und Hinführung zugleich. Wenn man ihm lauscht, meint man zu vernehmen, dass diese sich gleichsam ekstatisch steigernde melodische Linie auf den letzten drei Versen der ersten Strophe („Daß die Blüten beben…“) nun in der stufenweise aus hoher Lage herabrauschenden Folge von Achtel-Oktaven im Klavierdiskant nachklingt, - und das im Fortissimo. Aber das ereignet sich ja nur in den ersten vier Takten.


    Dann, im fünften, hält diese rasante Abwärtsbewegung im Diskant mit einem Mal inne. Ein über den ganzen Takt und darüber hinaus gehaltener Akkord erklingt, und - wie nun wiederum im Nachklang - derweilen bewegen sich decrescendo Achtel im Bass abwärts, - Einzeltöne, also klanglich deutlich zurückgenommen. Das geht „diminuendo“ über fünf Takte so hin und nähert sich immer mehr dem Piano.


    Und gleichzeitig erklingt, wie sich gleichsam langsam und behutsam hineindrängend, das melodische Grundmotiv des Liedes, - jenes, das man schon vom Vorspiel her kennt und das die melodische Linie in mannigfacher Modifikation und harmonischer Modulation bislang begleitete und auch weiter begleiten wird: Jene tänzerisch rhythmisierte, fallende Abfolge von Achtel-Intervallen unterschiedlicher Größe, die am Ende in den Wechsel von Terzen und Sekunden mündet.


    Das Zwischenspiel führt also – aus dem Nachklang der Ekstase sich langsam lösend - musikalisch wieder an die Ausgangssituation des lyrischen „Ereignisses“ zurück und schafft damit eine Brücke zu seiner lyrischen Fortführung: „Lang hielt ich staunend, lustbeklommen…“. Und siehe: In der Pause der melodischen Artikulation dieses Verses und danach erklingt im Klavierdiskant wieder, leicht modifiziert und in hoher Lage, das musikalische Leitmotiv dieses Liedes.


    Es ist auch im Nachspiel zu vernehmen. Dort allerdings wie im Pianissimo klanglich langsam zerfallend. Das Berührt-Sein durch den Liebeshauch der Muse klingt nach lange nach, - im Rückblick des lyrischen Ichs auf den Ort, an dem es sich ereignete.

  • Lieber Helmut,


    die Kunstfertigkeit dieser Liedverttonung hast Du wahrlich einmal mehr trefflich beschrieben.


    Mich beschäftigt das Problem des Stimmungswechsels - die "wagnerianische" Perspektive, in der Wolf dieses Gedicht liest.


    Daß die Blüten beben
    Daß die Lüfte leben...


    Die Metaphorik ist ja sehr merkwürdig. Was sind bebende Blüten? Sinn bekommt dieses Bild nur, wenn man es nicht wörtlich nimmt, sondern im romantischen Sinne als Ahnung, als Andeutung von etwas, was sich nicht direkt aussprechen läßt: Die Abendstimmung des roten Sonnenlichts, die sich in allen einzelnen Gegenständen bricht als Reflex, alles ins Vibrieren bringt und damit das Erleben steigert zu einem Rausch. Es gibt hier überhaupt keinen Bruch in der Stimmung: im Gegenteil, harmonischer Einklang, der an Intensität nur zunimmt, wie ein Wind, der auflebt, erst die Blätter erfaßt, dann die Äste usw. und das erlebende Subjkt schließlich mitreißt.


    Eine Vertonung, die so etwas nachzeichnet - die Steigerung einer alles erfüllenden Schönheit zum Rausch, ist für mich "L´invitation au voyage" von Beaudelaire, vertont von Henri Duparc - hier gesungen von Gerard Souzay:


    http://www.youtube.com/watch?f…_detailpage&v=Ck9geoxCGkc


    Adorno mochte die Duparc-Vertonungen von Beaudelaire gar nicht - da bin ich überhaupt nicht seiner Meinung. Ich finde diese Vertonung kongenial, ungemein beeindruckend.


    Wolf macht es aber bezeichnend nicht so wie Duparc - denn er ist Wagnerianer. Wagners Ausdrucksästhetik ist darin "antiromantisch", daß für ihn nicht die Andeutung, die unbestimmte Ahnung, der Maßstab ist, sondern das Individuelle und Bestimmte einer "charakteristischen Melodie". Wagner denkt als Dramatiker, der er nun mal ist, viel "rhetorischer" als die Romantik. In diesem Geiste liest Wolf die bebenden Blüten nicht als Anzeichen, sondern als Zeichen: das Ausgesagte wird sehr direkt wörtlich genommen: Die Musik bebt bedrohlich, wie es die Worte unmittelbar sagen: Auf diese Weise beim Wort genommen kippt die freundliche Stimmung völlig ins Unfreundlich-Bedrohliche. Das glaube ich ist nun der Aussage von Mörikes Gedicht geradezu entgegengesetzt: Bei Mörike haben die einzelnen ausgesprochenen Bilder den Sinn der Intensivierung einer einheitlichen Grundstimmung, die selber unaussprechlich ist. Da gibt es überhaupt keinen Stimmungswechsel und kann es keinen geben. Wolfs Meisterschaft zeigt sich darin, daß er diese Inkongruenz letztlich doch überbrücken kann durch eine höchst kunstvolle Leitmotivtechnik. Ästhetisch betrachtet vollzieht sich damit eine Transformation ins Musikdramatische - die ihm natürlich höchst eindrucksvoll gelungen ist.


    Schöne Grüße
    Holger

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  • Die Entstehung dieses Liedes ist nicht ganz sicher zu datieren. Der Wolf-Biograph Frank Walker datiert es auf den 11. März 1888, während Ernst Decsey den 25. März nennt. Erik Werba neigt auch diesem Datum zu, „weil man kaum glauben kann, daß Hugo Wolf in einem Tage mit dieser umfangreichen und modulatorisch so dicht auskomponierten Vorlage fertig wurde.“


    Das ist ein stichhaltiges Argument, denn dieses Lied ist ein kompositorisch hochkomplexes Gebilde. Etwas auch nur annähernd Ähnliches ist von keinem der großen Liedkomponisten der Zeit davor je geschaffen worden. Fischer-Dieskau spricht in diesem Zusammenhang von einem „kunstvollen symphonischen Stil“, der sich erstmals in der „kleinräumigen Gattung“ Lied geltend machte.


    Und der Wolf-Biograph Kurt Honolka meint beim Blick auf dieses Lied, was die Neuartigkeit von Wolfs Liedkomposition anbelangt:
    „Alles schon dagewesen? Vielleicht. Die harmonischen Rückungen sicher schon bei Schubert, und im >Tristan< findet, wer sucht, ohnehin alles, was noch ein Halbjahrhundert später modern klingt. Aber im ganzen waren doch Liedkonzeptionen wie >Im Frühling< oder >Auf einer Wanderung< etwas Neuartiges, vorher weder Schubert noch Schumann Zugängliches.“

  • Eduard Mörike: „Elfenlied“


    Bei Nacht im Dorf der Wächter rief:
    Elfe!
    Ein ganz kleines Elfchen im Walde schlief –
    Wohl um die Elfe! –
    Und meint, es rief ihm aus dem Tal
    Bei seinem Namen die Nachtigall,
    Oder Silpelit hätt ihm gerufen.
    Reibt sich der Elf die Augen aus,
    Begibt sich vor sein Schneckenhaus,
    Und ist als wie ein trunken Mann,
    Sein Schläflein war nicht voll getan,
    Und humpelt also tippe tapp
    Durchs Haselholz ins Tal hinab,
    Schlupft an der Mauer hin so dicht,
    Da sitzt der Glühwurm, Licht an Licht.
    „Was sind das helle Fensterlein?
    Da drin wird eine Hochzeit sein:
    Die Kleinen sitzen beim Mahle,
    Und treibens in dem Saale.
    Da guck ich wohl ein wenig `nein!“
    -Pfui, stößt den Kopf an harten Stein!
    Elfe, gelt, du hast genug?
    Gukuk! Gukuk!


    Silpeliit ist die Tochter der Feenfürstin, die den König Ulmon liebt. Sie ist ein Wesen, das infolge seiner Unschuld in der Lage ist, diesen König von der Qual seines ewigen Lebens zu erlösen. Und wo spielt das alles?: In Orplid. Diesem phantastischen Königreich, das sich Mörike mit seinem Studienfreund Ludwig Amandus Bauer (1803-1846) während ihres gemeinsamen Aufenthalts im Tübinger Stift ausgedacht hat.


    Warum ist das hier erwähnenswert? Weil es einen Wesenszug des Menschen und Lyrikers Mörike sichtbar werden lässt: Seine Neigung und die Fähigkeit dazu, sich in situativ höchst gegenständlicher und konkreter Weise in phantastischen Welten lyrisch einzuspinnen und sich darin auszuleben. Dieses „Elfenlied“ ist ein in seiner lyrisch-sprachlichen Gestalt faszinierendes Beispiel dafür.


    Man lebt dieses Missgeschick des Elfen förmlich mit, so anschaulich wird es lyrisch evoziert. Denn alles beruht ja - eben sprachlich - auf einer semantischen Doppeldeutigkeit: „Elf“, - das ist hier zweierlei. Und die Folgen davon lesend mitzuerleben, das ist wahrlich ein sprachliches Vergnügen. Mörike hatte seine Freude daran.


    Er ist ein verspielt Sprachverliebter. Wortschöpfungen wie Orplid, Ulmon, Silpelit und Weyla verraten es. Diese kindhaft-naive Verspieltheit im Umgang mit lyrischer Sprache ist – so vermute ich – der Urquell seiner Lyrik. Und aus diesem Grund haben seine Gedichte, die die Nachtseiten der menschlichen Existenz zum Thema haben, diese so singuläre Überzeugungskraft. Es ist die der Unmittelbarkeit und Ursprünglichkeit der zugrundeliegenden existenziellen Erfahrung.


    Kindhaft verspielt entfaltet sich lyrische Sprache hier. Der Elf bewegt sich talwärts wie ein „trunken Mann“, denn „sein Schläflein war nicht voll getan“. Wie bewegt er sich? „Tippe tapp“.


    Kein Wunder, dass sein dichterischer Erschaffer ihn mit der Frage konfrontieren muss: „Gelt, du hast genug?“. Und zum guten Schluss ihm auch noch ein doppeltes „Gukuk“ hinterherschickt.
    Ist es doch die ganz und gar menschliche und keineswegs nur elfenhafte Neugier und Vergnügungssucht, die hier lyrisch "auf die Schippe genommen" wird.

  • Das ist ein balladeskes Lied, in dem Wolf sich von seiner humorvollen Seite zeigen kann, - was er hörbar gerne getan hat. Das Lied steht in F-Dur und weist einen Zweivierteltakt auf. Von Koloratur-Sopranen wird es oft eine Terz höher gesungen, - und gern! Es atmet einen ganz eigenen zauberhaften melodischen Geist. Wolf muss sich wohl durch das groteske Ereignis und den schelmischen lyrischen Ton, in dem es geschildert wird, in intensiver Weise inspiriert gefühlt haben.


    In einer eigentümlichen und das Lied klanglich prägenden Weise herrscht hier der Oktavfall, - in der melodischen Linie, aber auch im Klaviersatz. Das ist eines der musikalischen Ausdrucksmittel, deren sich Wolf hier bedient. Seine Gewichtigkeit steht in einem klanglich höchst wirkungsvollen Kontrast zu den Tippelschritten, mit denen die melodische Linie der Singstimme sich bewegt, wenn es um den Elfen selbst geht. Das andere kompositorische Mittel ist die Zuordnung der Harmonik zu den lyrischen Bildern.


    So erklingt zum Beispiel der erste Vers nicht in F-Dur, der Grundtonart des Liedes. Die melodische Linie steigt, mit einem tiefen „d“ einsetzend, in raschen Schritten um eine Oktave an, hält bei dem Wort „rief“ kurz inne, um eine Erwartungshaltung zu erzeugen, und macht dann einen – wirklich wie ein Rufen wirkenden – Oktavfall von einem hohen zu einem tiefen und jeweils mit Fermate versehenen „es“. Das geschieht forte. Im Pianissimo steigt dann die melodische Linie erneut an, nun aber nicht von Oktaven im Klavier, sondern tippelig ansteigenden Sechzehntel-Terzen getragen. Bei dem Wort „elfe“, das jetzt aber die Uhrzeit meint, ereignet sich erneut ein Oktavfall. In dieser Parallelität liegt der musikalische Witz dieser Stelle.


    „Mäßig“ lautet die Vortragsanweisung für die nachfolgenden Verse: „Und meint, es rief ihm aus dem Tal…“. Die melodische Linie bewegt sich nun – immer noch lebhaft – auf einer Tonebene, derweilen im Klavier immerzu Einzeltöne einen tiefen Fall machen. Das ergibt einen eigentümlichen klanglich rhythmischen Kontrast, der die Singstimme wie in helle Glockentöne eingebettet wirken lässt. Man möchte meinen, dass Wolf auf diese Weise das Zauberische des Vorgangs zum Ausdruck bringen will.


    Und prompt ändert sich der Klaviersatz, wenn es um das Bild des sich die Augen reibenden Elfen geht. Über den nach wie vor im Bass fallenden Oktaven erklingen jetzt im Diskant Sechzehntel-Sekunden, die tatsächlich so etwas wie eine klangliche Reibung darstellen. Und weil der Elf sich – unausgeschlafen – „wie ein trunken Mann“ bewegt, macht jetzt die melodische Linie Oktavsprünge, aus denen sie sich ein wenig holprig herabbewegt. Und auch im Klavierdiskant legen jetzt die Sechzehntel in ihrem Auf und Ab größere Intervalle zurück.


    Jetzt erst hat die Harmonisierung die Tonart F-Dur erreicht. Zuvor bewegte sie sich in der Unterdominante B-Dur. Man kann das klanglich so deuten, dass der Elf seine erdverbundene Elfenwelt des Schneckenhauses verlassen hat und nun in der Oberwelt ins Tal hinab humpelt. Und während er sich dem „Glühwurm“ nähert, steigt dieses Auf und Ab der Sechzehntel im Diskant in immer höhere Lagen hinauf. Während die Vokallinie dann bei dem Wort „Licht“ in Form einer langen Dehnung auf einem hohen „d“ innehält, bewegt sich diese Sechzehntel-Figur im Diskant weiter. Nun aber in gleichförmigem Auf und Ab, als starre der Elf auf diese Lichterscheinung, die sich ihm da bietet.


    Musikalisch großartig ist Wolf die Gestaltung der Szene „Da guck ich wohl ein wenig ´nein“ gelungen. „Bedeutend langsamer“ lautet hier die Anweisung. Das Klavier schweigt an dieser Stelle, meldet sich nur mit einem einzigen Sechzehntel-Akkord bei dem Wort „wenig“. Danach aber, während nun die Singstimme schweigt, steigen, zunächst zögernd, dann aber immer schneller im Diskant Sechzehntel in die Höhe und münden in einen Akkord, dem eine Triole vorgeschaltet ist. „Pfui“ ist das einzige, was man danach hört. Eine kurze Pause folgt, bevor die melodische Linie den Vers mit den Worten „Stößt den Kopf an harten Stein“ fortsetzt.


    „Sehr zart“ soll der Schluss des Liedes vorgetragen werden. Aber es ist ein unüberhörbar spöttischer Ton in dieser Zartheit. Wieder tritt der Oktavfall in die melodische Linie, nun aber mit einem Oktavsprung kombiniert: Der Elf wird angerufen und gefragt, ob er genug habe. Der Unterton des Spotts kommt dadurch in die Vokallinie, dass die Oktavsprünge und –fallbewegungen sich auch bei dem Wort „genug“ ereignen und bei dem wiederholten „Gukuk“ danach in einen Quartfall übergehen, der von hingetupften Akkorden im Klavier wie auf schelmische Weise eingerahmt wirkt.


    Da haben sich zwei amüsiert: Ein Poet und sein Komponist.

  • Das „Elfenlied“ wurde am 7. März 1888 komponiert. Seine Beliebtheit beim Publikum und bei Sängerinnen mit heller Sopranstimme erklärt sich aus der heiteren Komik der lyrischen Szenerie, die Wolf auf großartige Weise musikalisch eingefangen hat. Die Faktur der beiden letzten Verse erstreckt sich über zwölf Takte. Dabei werden die Worte „Elfe, gelt, du hast genug“ zweimal gesungen, und danach erklingt das Gukuk noch vier Mal.


    Man kann förmlich hören, welches Vergnügen Wolf bei der Komposition dieses Liedschlusses – aber natürlich auch des ganzen Liedes! - gehabt haben muss. Der Elf selbst wird bei den Worten „Elfe,gelt“ mit einem Quartfall und nachfolgendem Quartsprung angesprochen, wobei die Singstimme vor dem Sprung in Form von drei Sechzehnteln gleichsam einen Anlauf nimmt. Das nachfolgende „Gukuk“ erklingt in Gestalt eines Quartfalls. Die letzten drei „Gukuks“ werden, durch Pausen voneinander getrennt, gleichsam ins Leere gesungen, denn das Klavier hat dabei Pause und rahmt sie nur mit je einem Sechzehntel-Akkord davor und danach ein.


    Das nimmt sich allerdings klanglich überaus witzig und schelmisch aus. Man kann gut verstehen, dass schon zu Wolfs Lebzeiten Sängerinnen mit einem schmiegsamen Sopran in dieses Lied regelrecht verliebt waren und es gerne mal eine Terz höher sangen.
    Was Wolf aber in gar keiner Weise gefiel. Er konnte es nicht ausstechen, wenn ein Interpret von der von ihm kompositorisch vorgegebenen Tonart eigenmächtig abwich.

  • Lieber Helmut,


    ein wirklicher Spaß zum Neujahr - prosit Neujahr!


    Schon der Beginn - Tonleiter schön brav rauf, wie es sich für einen Wächter übers Gesetz gehört, der Elfe macht die Oktave voll. Wirklich sehr vergnüglich und wunderbar charakterisiert, ohne jemals in platte deutsche Lustigkeit zu verfallen. Bei aller schwereloser Heiterkeit eine sehr moderne Vertonung, finde ich!


    Schöne Grüße
    Holger

  • Ja, lieber Holger, das ist ein ganz und gar vergnügliches Lied. Man kann wirklich von einem Spaß sprechen.
    Wobei man allerdings nicht übersehen sollte, dass die eigentliche Quelle dieses Spaßes in den lyrischen Bildern Mörikes zu suchen ist. Elfen sind ja eigentlich übermenschliche Wesen. Und siehe: Sie können sich genauso tolpatschig verhalten wie Menschen.


    Wie schön dieses Getrieben-Sein von Neugier und Vergnügungssucht, das am Ende mit einer Beule am Kopf belohnt wird.
    Wolf hat das alles aber nun auch wirklich großartig in Musik gesetzt. Man muss das erst einmal hinbekommen: Dass Musik schelmisch wirken kann.
    Diesbezüglich weist die Faktur dieses Liedes tatsächlich eine ausgeprägte Modernität auf.

  • Diese "Modernität" Wolfs gründet, wie ich im Nachtrag anmerken möchte, in seiner - Richard Wagner abgelauschten, aber ihn darin sogar übertreffenden! - Fähigkeit, sich mit den musikalischen Mitteln der Melodik und Harmonik auf den lyrischen Text einzulassen und dessen Metaphorik - und damit seine dichterische Aussage - in vollem Umfang musikalisch nicht nur "einzufangen", sondern auszuloten und damit zu vertiefen.


    Ich möchte versuchen, dies anhand eines weiteren Beitrags zu diesem Lied noch ein wenig zu konkretsieren.

  • Es ist dieses dem Lied ganz eigene Schillern zwischen heiterer Verspieltheit und scheinbarer Ernsthaftigkeit, das seinen klanglichen Reiz ausmacht. Der kompositorische Einsatz der Oktave spielt dabei eine zentrale Rolle. Schon der scheinbar so ernst wirkende Auftritt des Wächters am Anfang ereignet sich in Sekundschritten über eine Oktave. Der Ruf „Elfe“ artikuliert sich in der Vokallinie in Gestalt eines Oktavfalls, der vom Klavier mitvollzogen wird. Und verspielte Komik bringt Wolf dadurch zusätzlich in das Lied, dass er das zweite Auftauchen des die Uhrzeit meinenden Wortes „Elfe“ wiederum auf einem Oktavfall erklingen lässt, - eine kleine Sekunde höher freilich. Das Missverständnis, das für das folgende Geschehen verantwortlich ist, wird auf diese Weise musikalisch in den Vordergrund gerückt.


    Und der kompositorische Witz, der dieses Lied so reizvoll macht, setzt sich nun in der Form fort, dass das Klavier den Oktavfall in der Vokallinie aufgreift und ihn zunächst über zwölf Takte in Bass und Diskant wiederholt und danach noch einmal zehn Takte lang nur im Bass. Während der Elf also meint, Silpelit habe ihn gerufen, sich die Augen ausreibt und sich langsam tippetapp durchs Haselholz an den Ort seines „Unglücks“ begibt, begleitet ihn dieses Oktav-Signal, in dem sich die Wurzel des Übels gleichsam musikalisch verdichtet.


    Man kann hier sehr schön einen Blick in die kompositorische Werkstatt Wolfs werfen. Er könnte sich ja angesichts der lyrischen Bilder mit dem Einsatz klangmalerischer Mittel begnügen. Genau dieses ist ihm aber bei der Liedkomposition zu wenig. „Tonmalerei“ fand er „anrüchig“ und kritisierte an solchen Tendenzen, die er bei den „Neudeutschen“ beobachtete, die Komponisten sollten, „anstatt in Äußerlichkeiten sich zu verlieren, mehr in das Wesen der Tonkunst sich versenken.“ „Wesen der Tonkunst“, - das heißt für ihn: Musik darf nicht an der Oberfläche des lyrischen Textes ansetzen und sich mit der musikalischen Abbildung seiner Metaphorik begnügen, sie muss in deren Tiefe eindringen und sie in ihrem dichterischen Gehalt ausloten.


    Genau dieses geschieht nicht nur in solch kompositorisch „gewichtigen“ Werken wie dem zuletzt besprochenen Lied „Auf einer Wanderung“, es ereignet sich auch in einer so scheinbar harmlosen Komposition wie dem „Elfenlied“. Denn interessant ist ja, dass Wolf hier durchaus klangliche Ausdrucksmittel einsetzt. Wenn der Elf sich die Augen ausreibt, erklingen im Klavierdiskant klanglich gleichsam knirschende Sekunden in hoher Lage. Und wenn er in Tal hinabtippelt, begleiten ihn im Klavierdiskant herabsteigende Sechzehntel-Figuren.


    Aber das ist keine vordergründige Klangmalerei, sondern musikalischer Ausdruck der seelischen Befindlichkeit des Elfen in einer ganz besonderen Situation. Denn unter den klanglichen Figuren, die das Augenreiben und das Hinabtippeln im Diskant begleiten, erklingen im Bass immerfort die Oktavfälle. Soll heißen: Der Elf hat bei seinem Weg durchs Haselholz immer noch den Ruf im Kopf, der vermeintlich an ihn ergangen ist.


    Auf den Sachverhalt, dass Wolf auch die den Tonartwechsel dazu einsetzt, lyrisches Geschehen in seinen poetischen Hintergründen auszuleuchten, wurde ja schon verwiesen. Erst wenn der Elf sein Schneckenhaus verlassen hat, erreicht die Harmonisierung der melodischen Linie das F-Dur, in dem das Lied als Grundtonart steht. Zuvor bewegte sich die Vokallinie in B-Dur. Die Welt des Elfen ist also eine, die sich auch harmonisch von der realen Welt abhebt, in der er sich dann den „Kopf an harten Stein“ stößt.


    Und dies ereignet sich nun auch wieder auf musikalisch interessante Weise. Nachdem er Elf sich entschlossen hat, „ein wenig ´nein“ zu gucken, erklingen im Diskant gleichsam drei Anläufe in Form von nach oben eilenden Sechzehnteln dazu: Die ersten beiden Dreiergruppen sind durch eine Pause getrennt, dann aber rauscht es wirklich nach oben und mündet in einen harmonisch dissonant wirkenden verminderten Akkord. Erst danach ist – gleichsam in den leeren Raum hinein, weil ohne Klavierbegleitung - das „Pfui“ forte zu vernehmen.


    Und damit der Akt des Sich-Stoßens in musikalisch markanter Weise hervorgehoben wird, fügt Wolf in die Bewegung der melodischen Linie eine kleine Verzögerung ein: Auf dem Wort „stößt“ liegt der Wert einer Achtelnote, während alle folgenden deklamatorischen Schritte auf Sechzehntel-Noten erfolgen


    Es ist wohl nicht erforderlich, diese liedanalytische Betrachtung mit weiteren Aussagen zur Faktur des Liedes anzureichern. Eigentlich sollte deutlich geworden sein: Dieses Lied ist ein kompositorisch höchst komplexes und sinnreich gestaltetes, weil Lyrik interpretierendes musikalisches Werk.

  • Einerseits freut einen das natürlich, was in dem vorangehenden Beitrag zu lesen ist. Andererseits gibt es da aber ein Problem.


    Es besteht nämlich eine gewisse Gefahr, dass man mit dem analytischen Blick, wie er ich ihn da gerade mal wieder in diesem Thread praktiziere, die musikalischen Werke zerfleddert und sie mit den vielen Worten darüber zerredet.


    Dennoch meine ich, dass ich mich nicht mit einer einfachen Beschreibung des Klangeindrucks, den sie auf mich machen, zufrieden geben sollte. Vom Abbilden von CD-Covers und allgemeinem Gerede darüber gleich gar nicht zu sprechen.


    Ich meine allen Ernstes, dass man der Genialität eines Liedkomponisten wie Hugo Wolf ein wenig mehr schuldig ist.
    Freilich ist das mit Mühe verbunden!

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