2013 - Wer war denn eigentlich dieser Richard Wagner?

  • Wagner und noch immer kein Ende - das Thema ist noch heiß. David C. Large gibt in seinem Buch "The Political Background of the Foundation of the Bayreuth Festival" (1976, Seiten 162-172) für mich einige neue Informationen:


    Wenn man sich vor Augen führt, dass Wagner durch den Sieg über Frankreich 1871 durch preußische Vorherrschaft überzeugt war, sein eigenes künstlerisches Schicksal beim neuen „Deutschen Reich“ zu sehen, dann kann es nicht verwundern, dass es ihn schwer traf, von Bismarck abgelehnt zu werden. Wagner hatte nämlich das neue Kaiserhaus über den Kanzler Bismarck immer wieder mit salbungsvollen Worten um finanzielle Unterstützung für seine Festspielideen gebeten. Er hatte sogar die Premiere des „Ring“ als


    „Lustral=Feier des im Jahre 1871 abgeschlossenen ruhmreichen Friedens mit Frankreich“


    quasi als Gegenleistung für kaiserliche Finanzierung zur Aufführung angeboten. Bei dem „Eisernen Kanzler“ prallte Wagner jedoch ab - Bismarck konnte den Komponisten nicht ausstehen, und er stellte sicher, dass keine finanzielle Unterstützung durch das Reich nach Bayreuth floss. Bismarck blieb auch den Festspielen fern (wie auch die „Architekten des Sieges über Frankreich“, die Generäle Roon und Moltke), und Kaiser Wilhelm I. trat nur sehr kurz in Erscheinung, verließ die Aufführung zugunsten eines angesetzten Manövers.


    Jetzt musste Wagner feststellen, dass er die Festspiele nicht zu einer Art „Schwester der deutschen Reichseinigung“ definieren konnte. Interessant ist in diesem Zusammenhang, wie Wagner reagierte: er kam zu dem Schluss, dass die Deutschen seiner nicht würdig sind und überlegte ernsthaft, nach Minnesota zu gehen. Dort lebten deutsche Auswanderer, die angeboten hatten, ein „New World Festspielhaus“ zu finanzieren.


    Mal gesponnen, Wagner wäre in den amerikanischen Mittelwesten gezogen: wäre das dortige „Bayreuth“ anders geworden, als das fränkische? Umgekehrt gefragt: wäre das Erbe des Komponisten dort im Sinne eines weniger rassistischen Nationalismus besser aufgehoben gewesen, als im richtigen Bayreuth?


    Antworten können nur spekulativ sein, weiß ich auch...


    :hello:

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    MUSIKWANDERER

  • Hallo musikwanderer,


    sehr schön! :hello: Das ist wirklich göttlich komisch! Für den Kaiser ist Wagner ganz einfach nur eine Oper und nicht die "Wirklichkeit". Wagner dagegen glaubt, die politische Wirklichkeit in Operntheater verwandeln zu können und zeigt sich hier als opportunistischer Pervenü, dem es höchst eigennützig nur um seine "Wirkung" geht - um Macht und Einfluß seiner Kunst und Person.


    Schöne Grüße
    Holger

  • (...) Das ist wirklich göttlich komisch! Für den Kaiser ist Wagner ganz einfach nur eine Oper und nicht die "Wirklichkeit". Wagner dagegen glaubt, die politische Wirklichkeit in Operntheater verwandeln zu können und zeigt sich hier als opportunistischer Pervenü, dem es höchst eigennützig nur um seine "Wirkung" geht - um Macht und Einfluß seiner Kunst und Person (...)

    Nicht wahr - wie sich Wagner aber auch nur so irren konnte!? Nur: der Parvenu trat hier ja nicht zum ersten Mal in Erscheinung; für mich ist Wagner von Anbeginn an ein solcher, es ist seine zweite Haut sozusagen. Vielleicht wäre er auch nicht der geworden, der er wurde, hätte er nicht dieses Gen in sich gehabt.


    Ein anderer Gedanke kam einem Mitleser, der mich eben anrief: Wäre Wagner tatsächlich nach Minnesota ausgewandert, dann hätte er den gleichen Gedanken gehabt wie sein späterer Anhänger, der Europa in Schutt und Asche legte: Die Deutschen sind meiner nicht würdig! Ist auch was dran...


    :hello:

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    MUSIKWANDERER

  • Die historische Lage scheint mir allerdings noch komplexer.


    Zum einen hat Bismarck ja Ludwigs II. Monomanien (und damit sozusagen auch die Wagnerleidenschaft) indirekt mitfinanziert; und zwar, um Bayern staatspolitisch zu schwächen. Das Bonmot vom "Lolus" Wagner war allzu berechtigt - nicht bloß wegen der aktiven Einflußnahme auf bayerische Personalien; sondern weit mehr noch wegen der entfalteten Wirksamkeit auf Ludwigs II. weltfremdes Gemüt.


    Dennoch erscheint mir hier die Häme Wagner gegenüber kaum angebracht. Wenn es einen Parvenü auf dem Thron gab, dann den hoffährtigen Wilhelm II. von Hohenzollern mit seinem dünkelhaften Gottesgnadentum. Was er unter "Wirklichkeit" verstand, kann man im monströsen Berliner Dom bestaunen. Die säbelrasselnde Dramatik jener Epoche - ich nenne Ernst von Wildenbruch - ist nicht so weit von einem pietätlos gelesenen Wagner entfernt:


    Die Rheines-Adler mit lastendem Flug,
    sie zogen den schwebenden Kreis,
    als Heinrich kam auf Schloß Hammerstein,
    Kaiser Heinrich, ein flüchtender Greis.
    Der Abendsonne verscheidende Glut
    lag zitternd auf Tälern und Höh'n;
    Kaiser Heinrich sah in den strömenden Rhein:
    »O Deutschland, wie bist du so schön!
    Ihr Berge mit rebendurchglühter Brust,
    du herdenbewandelte Trift,
    ihr steht mir geschrieben tief in das Herz
    wie eine heilige Schrift.
    Wie ein rauschendes Buch voll Märe und Lehr',
    Deutschland, so liegst du vor mir;
    deine Kaiser machten zum Griffel das Schwert
    und schrieben den Inhalt dir.


    Die Burg Hohenzollern als historisches Projekt ist von Hohenschwangau und selbst Neuschwanstein nicht derart weit entfernt. Das Chimärische einer erfundenen und verklärten Vergangenheit voll pompöser Großartigkeit faute de mieux begegnet im Gründerzeit-Berlin auf Schritt und Tritt. Und das NS-Regime identifiziert ja beide Strömungen - die preußische und die wagnersche Anmaßung - mühelos miteinander (ob zu Recht oder nicht, sei dahingestellt). Jedenfalls wurde Bismarcks Vereitelung dadurch hinfällig.


    Neben Wagner dem Avantgardisten, der Baudelaire begeisterte, steht ja auch Wagner der Angebiederte, eine Dekoration im Schloßpark der Weltgeschichte, dem Sensationsnaturalismus der Salonmalerei nahestehend, ein Produzent hoh(l)er Gefühle. Für mich wirkt die Plazierung zwischen Nationaler Enttäuschung und Exilträumen bestens zur Biographie. Wagner war ein Realist vom windigen und korrupten Schlag guter Diplomaten, der seiner Sache vieles geopfert hätte, ohne die Kunst doch zu verraten.


    :hello:

    Zerging in Dunst das heilge römsche Reich


    - uns bliebe gleich die heilge deutsche Kunst!

  • Die historische Lage scheint mir allerdings noch komplexer.


    Dennoch erscheint mir hier die Häme Wagner gegenüber kaum angebracht. Wenn es einen Parvenü auf dem Thron gab, dann den hoffährtigen Wilhelm II. von Hohenzollern mit seinem dünkelhaften Gottesgnadentum. Was er unter "Wirklichkeit" verstand, kann man im monströsen Berliner Dom bestaunen. Die säbelrasselnde Dramatik jener Epoche - ich nenne Ernst von Wildenbruch - ist nicht so weit von einem pietätlos gelesenen Wagner entfernt:


    Die richtigen Bemerkungen zu Wagner unbenommen, entspricht das Bild Wilhelms II. nicht dem Forschungsstand und gibt lediglich die seit 100 Jahren aus den westlichen Nationen herüberwabernden Klischees wieder! Man darf sich also nicht wundern, wenn man lediglich bei englischen Historikern abschreibt ...



    Die historische Lage ist nämlich tatsächlich komplexer ...

  • Lieber Yorik,


    da ich nicht aus Röhl "zitiere", weder verschleiert noch als Bauernopfer, sondern bloß kunstgeschichtlich argumentiere, verstehe ich deinen Einwand nicht ganz.


    Röhl betreffend, kenne ich bloß den ersten Band und würde dir insofern Recht geben, als der Autor gegen die Quellen ein allzu positives Bild von Wilhelms Mutter zu zeichnen trachtet, infolgedessen die großelterliche "preußisch"-militaristische Linie allzu schematisch schlecht weg kommt. Allerdings liefert Röhl selbst ausführlich genügend Quellen, um seine Urteile zu hinterfragen.


    :hello:

    Zerging in Dunst das heilge römsche Reich


    - uns bliebe gleich die heilge deutsche Kunst!

  • Das Bild, das farinelli in seinem Beitrag, Wilhelm II. betreffend, zeichnet, entspricht dem "Forschungsstand". Wilhelm war in der Tat ein "Parvenu auf dem Thron", der ein "dünkelhaftes Gottesgnadentum" vertrat. Röhl würde diesem Bild nicht widersprechen. Seine Leistung als Historiker und Biograph besteht in der Korrektur des Bildes, das man sich zuvor von der Rolle Wilhelms in der Politik während der Zeit vor Beginn des Ersten Weltkrieges machte und insbesondere von seiner Verantwortung für den Ausbruch desselben.

  • Lieber Yorik,


    da ich nicht aus Röhl "zitiere", weder verschleiert noch als Bauernopfer, sondern bloß kunstgeschichtlich argumentiere, verstehe ich deinen Einwand nicht ganz.


    Röhl betreffend, kenne ich bloß den ersten Band und würde dir insofern Recht geben, als der Autor gegen die Quellen ein allzu positives Bild von Wilhelms Mutter zu zeichnen trachtet, infolgedessen die großelterliche "preußisch"-militaristische Linie allzu schematisch schlecht weg kommt. Allerdings liefert Röhl selbst ausführlich genügend Quellen, um seine Urteile zu hinterfragen.

    Lieber Farinelli, ich wollte dich auch nicht angreifen; mir ist schon klar; wie Wilhelm ikonographisch Eingang in die Geschichte gefunden hat - darum geht es mir aber gar nicht, mir geht es um das "Säbelrasseln", das auch bei Röhl immer wieder vorgeschoben wird; aber auch um die allzuvielen Fehlurteile und vorsätzlichen Falschdeutungen, die sich aus einer germanozentrischen Perspektive für alle Unbill des 20. Jahrhunderts ergeben. Er arbeitet gründlich, interpretiert aber in "bester" antideutscher Tradion viel zu einseitig. Wer hier etwa für die Zeit vor 1914 eine sachliche Darstellung lesen möchte, den verweise ich auf das Buch hier:



    Und natürlich liefert Röhl genügend Quellen, um ihn selbst zu widerlegen; aber wer tut das schon, wer ist dazu schon in der Lage? Die meisten Leser sitzen verständlicherweise der Darstellung auf ...

    Das Bild, das farinelli in seinem Beitrag, Wilhelm II. betreffend, zeichnet, entspricht dem "Forschungsstand". Wilhelm war in der Tat ein "Parvenu auf dem Thron", der ein "dünkelhaftes Gottesgnadentum" vertrat. Röhl würde diesem Bild nicht widersprechen. Seine Leistung als Historiker und Biograph besteht in der Korrektur des Bildes, das man sich zuvor von der Rolle Wilhelms in der Politik während der Zeit vor Beginn des Ersten Weltkrieges machte und insbesondere von seiner Verantwortung für den Ausbruch desselben.

    Das ist alles so grundfalsch, dass ich mich wundere, wie jemand, der selbst einmal lehrte; Jahrzehnte hinter dem Forschungsstand hinterherhinken kann. Da muss man sich über die aberwitzigen Geschichtskenntnisse unserer Schüler nicht wundern. Wilhelm war weder ein Emporkömmling noch war er dünkelhafter als all seine Vettern auf den anderen europäischen Thronen. Schwierig im Charakter und politisch vielleicht nicht immer klug, unterscheidet er sich dennoch von den anderen Monarchen nur dadurch, dass er von Beginn an zur Zielscheibe vor allem englischer antideutscher Propaganda und in einer Mischung aus Furcht und Spott lächerlich gemacht wurde. Er ist im Grunde das erste Opfer der modernen Medien und der erste große Politiker des 20. Jahrhunderts, über dessen Bild man mehr weiß als über dessen wirkliche Person. Politisch und vor allem wirtschaftlich ist das alles leicht zu erklären: Ein Blick auf die Diplomatiegeschichte seit 1871 und damit auf die gesamteuropäische und internationale Mächtekonstellation macht eines deutlich: England (wie auch Frankreich) als die Großmacht bis dahin achtete stets auf eine so genanntes Gleichgewicht der Kräfte auf dem Kontinent und damit war im Grunde nicht anderes gemeint, als den Koloss in der Mitte möglichst ruhig und also zersplittert zu erhalten. Das klappte spätestens seit Friedrich II. und seinen Gesetzen zu Gunsten der Reichsfürsten im 13. Jahrhundert recht gut und setzte sich mit dem Deutschen Bund von 1815 sogar über das Ende des Alten Reiches 1806 fort. Mit der Reichsgründung von 1871 aber wurde die Lage für Großbritannien prekär und es verdankt sich nur Bismarcks vorsichtiger Politik, dass die Lage nicht früher eskalierte. Mit dem nunmehr vereinigten Deutschen Reich prosperierte geopolitisch brisant eine Nation, die doppelt so viele Einwohner wie das Stammland des Vereinigten Königreiches besaß und die dennoch Jahr für Jahr weiter wuchs; eine Nation, die im Begriff war, wirtschaftlich-technologisch und auch naturwissenschaftlich zu enteilen; eine Nation also, die ihren „natürlichen“ Grundlagen und nun auch den Gesetzen der freien Wirtschaft und des freien Marktes nach zur Hegemonialmacht bestimmt schien! Gegen diese „logische“ Entwicklung der Dinge haben sich England und Frankreich immer genauso irrational zur Wehr gesetzt, wie sie den fortschreitenden Machtgewinn der beiden Randmächte USA und Sowjetunion und deren Einflussnahme auf Europa verkannt haben. Die vereinte Auslösung des 1. Weltkrieges erzwang nur eine Pattsituation, die politisch-diplomatische Erniedrigung Deutschlands aber drängte jenes, viel stärker etwa als alle wirtschaftlichen oder militärischen Zwangsmaßnahmen, in eine Märtyrerrolle hinein, die nichts Gutes gebären konnte. Die historiographische Focussierung auf Deutschland als Alleinschuldigen und Wilhelm II. als den Oberbösen lenkt von der gemeinsamen Verantwortung aller beteiligten Nationen ab. Der letzte deutsche Kaiser wird hier zum Sündenbock gemacht, indem man willkürlich antipreußische Ressentiments mit einem Scheuklappenblick auf die weltweiten imperialen Tendenzen verbindet. Man muss nur einmal die 20 Jahre vor dem 1. Weltkrieg betrachten und was sich allein das Empire und Frankreich international so erlaubten, um einen einigermaßen objektiven Blick auf das Geschehen zu erhalten. Symptomatisch könnte ich hier die Flottenpolitik referieren; ein Lehrbuchbeispiel für Geschichtsklitterung. Schauen wir dann noch ein paar Jahrhunderte zurück, wird es ganz lächerlich ...

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  • Die zentrale Frage, um die es in diesem Thread geht, ist ja die nach dem Menschen Richard Wagner. Sie ist, wie mir gerade angesichts der hiesigen, nichts anderes als sattsam bekannte Sachverhalte enthaltenden Belehrungen über Wilhelm II. vorkommt, ein wenig aus dem Blickfeld geraten.


    Nun bin ich kein wirklicher Wagner-Kenner, weil seine Werke für mich nie wirklich Gegenstand einer intensiven Beschäftigung mit ihnen waren. Gleichwohl ist er mir bei der Beschäftigung mit anderen Komponisten – Liedkomponisten nämlich – immer wieder „über den Weg gelaufen“. Und das erscheint mir symptomatisch für das „Phänomen Richard Wagner“. Wohl kaum ein Komponist war so prädominant im musikalischen und allgemein kulturellen Leben seiner Zeit, wie Wagner es war. Man kam einfach nicht an ihm vorbei, auch wenn man es wollte. Und man musste sich als Musiker und Komponist mit ihm auseinandersetzen.


    Bei Franz Liszt ist mir dieser Sachverhalt zum ersten Mal begegnet. Und Wagner bietet dabei – vor allem als Mensch – kein so gutes Bild. Aber eben stoße ich, bei der Beschäftigung mit der Biographie von Hugo Wolf, wieder auf dieses gleichsam Wagner-spezifische Phänomen: Da kämpft einer mit einer historisch mächtigen Gestalt. Er bewundert sie, ist gar fasziniert von ihr, und ringt dabei mit sich selbst, weil er sich als Komponist in seinem Eigensein zu bewahren und eine eigene Musiksprache zu finden versucht. Wenn die Frage nach dem Wesen dieser historischen Gestalt Richard Wagner gestellt wird, so sollte, wie ich meine, dieser Aspekt auch mitbedacht werden. Er scheint mir in diesem Zusammenhang höchst relevant, weil historisch singulär zu sein.


    Wolf war zum Bespiel tief erschüttert, nachdem er Nietzsches Pamphlet „Der Fall Wagner“ gelesen hatte. Dieser Sachverhalt ist sozusagen ein historischer Beleg für das, was ich „das Phänomen Wagner“ nennen würde: Die Tatsache seiner Prädominanz zu Lebzeiten – und noch danach – und die damit zusammenhängende Entstehung des „Wagnerianismus“, der für viele zum Lebensinhalt wurde und sich in Gestalt von unzähligen „Wagner-Vereinen“ niederschlug.


    Bezeichnend für dieses historische Phänomen scheinen mir solche Äußerungen wie diese von Hugo Wolf zu sein:
    „Wagner ist und bleibt doch der Obergott, wenn er seinen Anbetern vielleicht auch mehr Furcht, oder wenn Sie wollen, Ehrfurcht als Liebe einflößt.“
    Irre ich mich, - oder ist das tatsächlich eine für die Fragestellung dieses Threads maßgebliche Äußerung eines Zeitgenossen? Wagner als Mensch, der seinen „Anbetern“ mehr „Furcht“ als „Liebe“ einflößt.


    Wenn man einmal davon absieht, dass dies das Bekenntnis eines Wagner-Verehrers war, so bleibt doch am Ende die Tatsache, dass der Mensch und Komponist Richard Wagner eine überaus wirkungsmächtige historische Person war, die es vermochte, aus welchen Gründen auch immer, die Menschen um sie herum zu einer Haltung ihr gegenüber förmlich zu nötigen, ja zu zwingen.
    Ich kenne keinen Komponisten, von dem ich dieses in gleicher Weise sagen könnte.

  • Lieber Helmut,


    das hast Du treffend beschrieben: Wagner blieb und bleibt niemandem gleichgültig, sondern man ist gezwungen, sich mit ihm auseinanderzusetzen. Und Wagner ist nicht von seiner Wirkungsgeschichte zu trennen (dem "Wagnerianismus") - in den positiven und negativen Dingen gleichermaßen. Ich glaube auch, daß Farinelli recht hat: In künstlerischen Dingen machte Wagner keine Kompromisse - obwohl manches "kompositionstechnisch" dann doch nicht so radikal ist, wie seine ästhetische Theorie. Aber es ist ja auch schwer, das praktisch umzusetzen, selbst für ein solches musikalisches Genie wie Wagner.


    Schöne Grüße
    Holger

  • Tamino Beethoven_Moedling Banner
  • Kann man Wagners Antisemitismus militant nennen? Schon im Urtext der Schrift über das Judentum in der Musik von 1850 wird von dem Juden gesagt, dass er gesellschaftlich „bereits mehr als emanzipiert“ sei, „er herrscht“. Wagner als Revolutionär und gesellschaftskritischer Linkshegelianer fordert deshalb – hier durchaus im Einklang mit Bruno Bauer und Karl Marx und dessen These „Die gesellschaftliche Emanzipation des Juden ist die Emanzipation der Gesellschaft vom Judentum“ – für eine „Emanzipation von den Juden zu kämpfen (Hervorhebung von mir). Wagner führt allerdings nicht näher aus, mit welchen Waffen dieser Kampf gekämpft werden soll und worum es in diesem Kampf eigentlich geht. Zwar findet sich auch in Karl Marx´ Schrift Zur Judenfrage von 1844 – Karl Marx ist wohlgemerkt selber Jude (!) – das antisemitische Klischee vom gesellschaftlichen Juden als dem „Schacherer“, der für die Geldherrschaft steht. Marx ist jedoch kein xenophobischer und militanter Antisemit, sondern ein radikaler Gesellschaftskritiker: Die Geldherrschaft des Juden kann nach Marx nur beendet werden, wenn die auf dem Merkantilismus beruhende bürgerliche Gesellschaft als solche abgeschafft wird, welche dem Juden diese Stellung überhaupt erst einräumt. Wagner unterscheidet von Marx das Entscheidende, was radikale Gesellschaftskritik, welche die gesellschaftliche Stellung des Juden mit umfasst, von wirklichem Antisemitismus trennt: Während Marx sein allgemeines emanzipatorisches Ziel durch eine revolutionäre Handlungsmaxime konkretisiert, bleibt diese Konkretisierung bei Wagner bezeichnend völlig vage und unbestimmt, so dass es letztlich der Phantasie des Lesers überlassen bleibt, die politisch-praktischen Konsequenzen aus seiner eher „theoretischen“ Analyse gesellschaftlicher und kultureller Verhältnisse zu ziehen. Damit bietet sich Wagners Schrift für verschiedenste „gleichgesinnte“ Leser – wozu eben auch die wirklich militanten Antisemiten gehören – zum Objekt der Identifikation und Verbrüderung geradezu an, wozu sie auch, wie die Rezeptionsgeschichte belegt, ausgiebig genutzt wurde. Jeder von ihnen wird darin schließlich etwas von seinen nationalistischen und rassistischen Träumen und Wünschen wiederfinden können, indem er die Lücke, welche Wagner offengelassen hat, selber schließt. Wenn von „Emanzipation“ die Rede ist und zwar einer solchen von den Juden, dann geht es im wesentlichen um die Erlangung von Freiheit in der Beseitigung von Herrschaft. Da kaum anzunehmen ist, dass die Herrschenden auf ihre Herrschaft freiwillig verzichten, kommt unweigerlich die Frage nach möglichen Gewaltmitteln ins Spiel. Gewalt kann sich einmal als revolutionäre Tat gegen die bestehende Gesellschaft als solche richten mit dem Ziel, sie grundlegend zu verändern. Dies ist der Weg von Karl Marx. Die andere – militant antisemitische – Möglichkeit besteht nicht in der revolutionären Abschaffung grundlegend verkehrter gesellschaftlicher Verhältnisse, mithin der Beseitigung des bürgerlichen Merkantilismus als solchen, vielmehr einer Reform der Gesellschaft durch die Entfernung derjenigen sozialen Gruppierung, welche angeblich für ihre Misere verantwortlich ist. Politische Emanzipation wird in der Regel erlangt durch die Einräumung von Rechten durch die staatliche Gesetzgebung. Da es sich beim Kulturleben angefangen von der freien Presse bis hin zum Konzert- und Opernbetrieb jedoch nicht um staatlich geregelte Institutionen handelt, sondern freie gesellschaftliche Aktivitäten, bedeutet die Beendigung der vermeintlichen Judenherrschaft konkret und praktisch nichts anderes als Gewalt, nämlich eine regulierende Einflussnahme des Staates, welche die Freiheit gesellschaftlichen Lebens einschränkt durch das Erteilen von Berufsverboten, welche einer gesellschaftlichen Gruppe – hier den Juden – das Recht nehmen, eine maßgebliche Rolle im gesellschaftlichen Leben zu spielen.


    Muss man also bereits Wagners Ausführungen von 1850 mangelnde Offenheit vorhalten, die fatalen politisch-gesellschaftlichen Konsequenzen seines Antisemitismus statt sie ausdrücklich zu bedenken einfach zu verschweigen, so wird diese Unehrlichkeit in den erweiterten Ausführungen von 1869 zur Heuchelei, zum taktischen Spiel mit dem Gegensatz von offen Gesagtem und heimlich Gemeintem. Wagner geht es um nichts weniger als „die große deutsche Kunstwiedergeburt“, die nur möglich ist „im ungestörten deutschen Kulturleben“. Vor der praktischen Konsequenz, diese „Kunstwiedergeburt“ konkret zu erreichen, wenn die Störenfriede, um die es natürlich geht, die agitierenden Juden (Wagner spricht von der „Agitation der Juden“, die gesellschaftlich verheimlicht werde), aus dem Kulturleben eliminiert werden, schreckt Wagner jedoch zunächst einmal mehr zurück. Die 1850 publizierte Schrift endete mit einer Vision des Untergangs des gesellschaftlichen Juden, jedoch in einem vornehmlich kulturpessimistischen und romantizistischen Sinne, wonach das Judentum als Teil des Verwesungs- und Zersetzungsprozesses eines todkranken gesellschaftlichen Organismus dazu verurteilt ist, mit diesem unterzugehen:


    „Nehmt rücksichtslos an diesem durch Selbstvernichtung wiedergebärenden Erlösungswerke teil, so sind wir einig und ununterschieden! Aber bedenkt, dass nur Eines eure Erlösung von dem auf euch lastenden Fluche sein kann: die Erlösung Ahasvers, – der Untergang!

    Wagners Formulierung enthält das Paradox, von einem „Erlösungswerk“ zu sprechen, das sich als ein Prozess der „Selbstvernichtung“ einerseits der Einflussnahme durch handelnde Individuen entzieht, so etwas wie ein den Menschen von oben herab verhängtes „Schicksal“, eine geschichtliche Notwendigkeit, darstellt. Andererseits soll der Künstler „rücksichtslos“ – was die Charakterisierung für eine Art des Handelns ist – an der Erlösung als ein doch von ihm irgendwie hervorzubringendes „Werk“ teilnehmen. Worin genau besteht nun aber dieses rücksichtlose, die Erlösung der Kultur und Gesellschaft von der vermeintlichen Herrschaft des Judentums bewirkende emanzipatorische Handeln? Wagner richtet sich hier konkret an alle möglichen antisemitischen Mitstreiter, gerade auch jüdische wie seinen verstorbenen Freund Ludwig Börne, den er ausdrücklich anspricht. Es ergeht also im Prinzip die Aufforderung an einen jeden Juden, sich ohne Rücksicht auf seine jüdische Herkunft von seinem Judentum vollständig loszusagen im Sinne einer vollständigen Assimilation an die nichtjüdische Gesellschaft. Dieser Appell wirkt allein schon deshalb nicht besonders glaubwürdig, als Wagners völkischer Nationalismus individuelle Identitätsfindung an das Leben in einer Volksgemeinschaft knüpft. Seiner nationalen Entwurzelung wegen kann sich der Jude deshalb gar nicht kulturell assimilieren, ohne seinerseits wiederum das Kulturleben der Gesellschaft seinem merkantilistischen Verständnis entsprechend umzumodeln.


    Der spätere Zusatz von 1869 knüpft zunächst an diesen kulturpessimistischen Fatalismus an. Wagner bezeugt „den vollständigen Sieg des Judentums auf allen Seiten; und wenn ich mich jetzt noch einmal laut darüber ausspreche, so geschieht dies wahrlich nicht in der Meinung, ich könnte der Vollständigkeit dieses Sieges noch in etwas Abbruch tun.“ Deshalb erscheint es auch nur konsequent, wenn Wagner bekräftigt, das Ziel der Veröffentlichung dieser Schrift sei allein und ausschließlich ein „aufklärerisches“ und keineswegs ein militant-kulturpolitisches gewesen. Es ginge ihm um nichts anderes als „die Einsicht in den unvermeidlichen Verfall unsrer Musikzustände“ und es ist „die innere Nötigung zur Bezeichnung der Ursachen“, welche ihn dazu nach eigenem Bekunden zwingt. „Gewiß hatte ich schon bei der Abfassung und Veröffentlichung jenes Aufsatzes nichts weniger im Sinne, als den Einfluß der Juden auf unsre Musik mit Aussicht auf Erfolg zu bekämpfen (...).“ In Wagners offensichtlich der Beschwichtigung dienender Formulierung steckt allerdings eine peinlich zweideutige Semantik: Wird das militante Zurückdrängen jüdischen Einflusses im Prinzip ausgeschlossen oder etwa doch nur opportunistisch deswegen, weil es keinerlei Aussicht auf Erfolg hat? Dass Wagner selbst mit dieser Zweideutigkeit spielt, macht seine kurz darauf folgende – nun wahrlich haarsträubende – Ausführung deutlich:


    „Ob der Verfall unsrer Kultur durch eine gewaltsame Auswerfung des zersetzenden fremden Elementes aufgehalten werden könne, vermag ich nicht zu beurteilen, weil hierzu Kräfte gehören müssten, deren Vorhandensein mir unbekannt ist.“

    Wagner spielt hier – in der Unverbindlichkeit des reinen Gedankenexperiments – zynisch offen das rassistische Gedankenspiel einer gewaltsamen „Säuberung“ mit dem Ziel der Beseitigung des jüdischen Einflusses auf die Kultur. Dass er dieses Gedankenspiel überhaupt zu spielen bereit ist, bezeugt die unverhohlene Sympathie mit solchem Gedankengut, von dessen Inhalt er sich in keiner Weise distanziert. Mit der absolut menschenverachtenden Sprache, derer sich Wagner hier bedient, werden sich denn auch die aggressiv-antisemitischen Adepten seiner Schrift im wilhelminischen Kaiserreich und später im Nationalsozialismus nur allzu gerne identifizieren, den experimentellen Gedanken Wagners eifernd in politische Tat umsetzen und damit diejenigen Wagner selbst noch „unbekannten“ Kräfte der Menschheit bekannt machen, sie schließlich zur Katastrophe für das Judentum und die Menschheit entfachen, wie die Geschichte des 20. Jhd. leidlich zu berichten weiß.

  • Die oben stehende Argumentation ist meines Erachtens und nach der Meinung vieler anderer Wissenschaftler nicht schlüssig! Wer sich gründlich und weniger einseitig mit dem Themenkomplex beschäftigen will, sei nach wie vor auf den derzeit einzigen seriösen Experten verwiesen, der sich wirklich gründlich mit der Materie auseinandergesetzt hat und trotz aller Vorbehalte gegen Wagner zu einem ausgewogenen Urteil und einer angemessenen Bewertung gelangt. Im größeren Kontext der Wirkungsgeschichte auch in seinem neuen Buch:


  • Ich vermag nicht zu sehen, inwiefern mein methodischer Ansatz in irgendeiner Weise grundsätzlich im Widerspruch zu Jens Malte Fischer steht. Wer das anders sehen will, der möge das bitte konkret zeigen und belegen.

  • Methodisch mag es Gemeinsamkeiten geben, Erkenntnisinteresse und Schlussfolgerungen divergieren jedoch deutlich. Aber es soll sich ganz richtig jeder selbst ein Bild machen, die Texte liegen vor; ob hier im Forum oder als Publikation.

  • Methodisch mag es Gemeinsamkeiten geben, Erkenntnisinteresse und Schlussfolgerungen divergieren jedoch deutlich. Aber es soll sich ganz richtig jeder selbst ein Bild machen, die Texte liegen vor; ob hier im Forum oder als Publikation.


    Das Buch des Theaterwissenschaftlers Jens Malte Fischer (erschienen vor 13 Jahren) ist längst vergriffen, also nur noch in der Bibliothek zu bekommen, wenn man denn Glück hat. Von daher haben Forums-Leser von solch einem Hinweis nicht unbedingt etwas, können sich also schwer ein Bild machen von einem Buch, das sie gar nicht kennen und deshalb auf Meinungen darüber hören müssen, die sie nicht überprüfen können. Ich ziehe es deshalb vor, auf die Quelle - Wagners Text - zurückzugehen, da kann sich jeder selber überzeugen, was dort geschrieben steht.


    Beste Grüße
    Holger

  • Das Buch des Theaterwissenschaftlers Jens Malte Fischer (erschienen vor 13 Jahren) ist längst vergriffen, also nur noch in der Bibliothek zu bekommen, wenn man denn Glück hat. Von daher haben Forums-Leser von solch einem Hinweis nicht unbedingt etwas, können sich also schwer ein Bild machen von einem Buch, das sie gar nicht kennen und deshalb auf Meinungen darüber hören müssen, die sie nicht überprüfen können. Ich ziehe es deshalb vor, auf die Quelle - Wagners Text - zurückzugehen, da kann sich jeder selber überzeugen, was dort geschrieben steht.


    Also Holger, wir können uns nun aber nicht auch noch darum kümmern, wie die Leute an die Bücher kommen; das hieße, die didaktische Aufgabe ein wenig zu übertreiben! Das Buch ist antiquarisch erhältlich, in den Bibliotheken sowieso! Natürlich soll der Leser auch ruhig auf Wagner selbst zugreifen, das habe ich ja schon vor Wochen gefordert - wie kompliziert aber Analyse und Deutung sind, zeigen ja deine von mir nicht geteilten Interpretationen; ein wenig Hilfe durch sachkundige Sekundärliteratur ist also anzuraten. Wen es wirklich interessiert, der wird sich schon kümmern.

  • Das zweite Buch Fischers scheint jedenfalls normal erhältlich zu sein. Ich werde es mir bestellen, um mir ein Bild zu machen. Ich nehme sehr stark an, dass Elemente der früheren Arbeit auch in Fischers neuem Buch Eingang gefunden haben. Et audiatur altera pars....

  • Das zweite Buch Fischers scheint jedenfalls normal erhältlich zu sein. Ich werde es mir bestellen, um mir ein Bild zu machen. Ich nehme sehr stark an, dass Elemente der früheren Arbeit auch in Fischers neuem Buch Eingang gefunden haben. Et audiatur altera pars....

    Wie ich weiter oben schon erwähnte! :)

  • Beides als Einführung geeignet, das erstere noch sachlicher als das zweite; aber beide umkreisen prägnant die Grundproblematik und werfen die Fragen auf, auf welche JMF meines Erachtens die besten Antworten gibt.


    2 Mal editiert, zuletzt von Yorick ()

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  • Fischers Zielsetzung (in der Vorbemerkung):


    Das Buch „will zunächst einmal den unheilvollen Text, den der Antisemitismusexperte Jacob Katz ein >anti-jüdisches Traktat, das mit Recht zu den antisemitischen Klassikern gezählt wird<, nannte, in seinen beiden Versionen vorstellen. (...) Das zweite Ziel des vorliegenden Buches ist, eine Auswahldokumentation jener Reaktionen vorzulegen, die die Schrift hervorgerufen hat, sowohl der vereinzelten Reaktionen im Jahr 1850 wie auch der zahlreichen von 1869. Die Auswahl versammelt alle repräsentativen Stimmen und Argumente und versucht, ein ausgewogenes Bild der Diskussion zu geben.“ (S.16, 17.)


    Fischers Interpretation der heiklen Textstelle von 1869,
    Zitat Wagner:


    „Ob der Verfall unsrer Kultur durch eine gewaltsame Auswerfung des zersetzenden fremden Elementes aufgehalten werden könne, vermag ich nicht zu beurteilen, weil hierzu Kräfte gehören müssten, deren Vorhandensein mir unbekannt ist.“


    Dazu Fischer:


    „Man könnte anmerken, dass schon viele frühere Autoren (...) auf eine gewaltsame Entwicklung angespielt hätten. Liszt aber und viele andere, soweit sie eben nicht Antisemiten waren, hatten das als düstere Zukunftsvision geschildert, vor der zu warnen war. Bei Wagner aber findet sich keine wie immer geartete Distanzierung oder Kritik an der eventuellen >gewaltsamen Auswerfung<. Neben der gesteigerten Aggressivität halte ich diesen Schlusspassus für die entscheidende Verschlimmerung gegenüber der Erstfassung. Zum ersten Mal bei Wagner wird die Möglichkeit einer gewaltsamen Lösung, die ja bei den aggressivsten Frühantisemiten der ersten Jahrhunderthälfte auch schon immer wieder angepeilt wurde, nicht ausgeschlossen – der Satz >vermag ich nicht zu beurteilen< ist nichts anderes als eine salvatorische Klausel und ändert nichts an der Tatsache, dass hier eine
    gewaltsame Lösung am Horizont ernsthaft in Betracht gezogen und keineswegs gleich wieder verworfen wird. Was Wagner konkret mit dem Ausdruck >gewaltsame Auswerfung< meinte, ist, wie so oft bei ihm, der ein Meister der raunenden Andeutung war, nicht exakt zu bestimmen. (...) Wagner hat sich zu diesem Punkt nie deutlich geäußert, wohl auch deshalb, weil er sich selbst
    nicht darüber klar war, was eigentlich zur Lösung der >Judenfrage< wünschenswert wäre, und sicher auch, weil er innerlich vor der letzten Radikalität zurückscheute. Alle Versuche, konkrete Hinweise auf die Ermordung der deutschen Juden (nur über diese Personengruppe dachte er nach) aus seinen Schriften oder Äußerungen herauszufiltern, sind zum Scheitern verurteilt, weil selbst er an eine solche Lösung nicht denken wollte und konnte.“
    (S. 109)


    „Man wird Verständnis haben für Wagner Forscher, die in solchen Äußerungen eine unmittelbare Handlungsanweisung für den Völkermord erblicken – ich kann mich dem demnach so nicht anschließen. Immer noch scheint mir seine Vorstellungskraft über eine, allerdings radikale Vertreibung der Juden nicht hinauszugehen, im Sinne aktueller Formulierungen handelt es sich also um einen eliminatorischen Antisemitismus, nicht um einen exterminatorischen.“ (S. 110.)


    Auch Fischer benennt klar und kritisch das Problem von Wagners hermeneutischer „Unbestimmtheit“, dass sie es gerade möglich macht und für den Autor ungestraft erlaubt, in der Rezeption zur Projektionsfläche radikalster und militantester antisemitischer Vorstellungen zu werden:


    „Was die Passage aus >Erkenne dich selbst< betrifft, bleibt festzuhalten, dass Wagner hier nur andeutet, der Phantasie des Ahnungsvollen weiten Spielraum lässt, einen Spielraum, in dem alles möglich ist, für das der Autor dann aber die letzte Verantwortung nicht übernehmen muß. Dies ist ein Beispiel für das typische wogende Geraune des späten Wagner, das auf seine Anhänger, soweit sie diese Schriften überhaupt lasen, so intensive Wirkung gehabt hat. Noch der NS-Propagandafilm >Der ewige Jude< zitiert 1940 wörtlich und mit Angabe des Autors die Formulierung Wagners vom >plastischen Dämon des Zerfalls der Menschheit<.“ (S. 111)


    Zum Problem der Nachwirkung:


    „Daß >Das Judentum in der Musik< ein zentraler Text des europäischen Antisemitismus ist, darüber besteht in der Forschung kein Zweifel. Er ist dies nicht etwa wegen der verblüffenden Neuheit seiner Argumente, sondern vor allem aufgrund der Tatsache, dass er in der Version von 1850 der erste Versuch war, den bisher schon gängigen Frühantisemitismus konsequent auf das Gebiet der Kultur und speziell der Musikkultur zu übertragen, und er ist dies dann in der zweiten Version von 1869 dadurch, dass zum ersten Mal ein europaweit berühmter Komponist und ein Musikdramatiker-Genie eine Geisteshaltung zu erkennen gibt und diese wortreich verteidigt, die man bisher entweder verachtet oder geteilt hatte, aber auf jeden Fall in Kreisen verbreitet und von Autoren propagiert sah, die auf keinen Fall die Achtung intellektueller Kreise genossen. Spätestens 1869 hatte sich das durch und in Richard Wagner grundlegend geändert, und durch ihn erfuhr der Frühantisemitismus eine verhängnisvolle Nobilitierung. Der Bayreuther Kreis widmete sich mit seiner Hauszeitschrift, den >Bayreuther Blättern<, auch nach dem Tod Wagners mit Inbrunst der Verbreitung der von ihm propagierten Ideen und Vorstellungen, und dazu gehörte in vorderer Reihe der Antisemitismus.“ (S. 112.)


    Jens Malte Fischer formuliert auch eine klare und entschiedene Meinung zu Wagners historischer Verantwortung:


    „Richard Wagner konnte in der Tat nicht wissen, dass Adolf Hitler ein Wagnerianer werden würde und darüber hinaus hauptverantwortlich für den Mord an den europäischen Juden. Gerade aber ein Künstler seines Ranges, der sich für so vieles außerhalb seiner künstlerischen Profession zuständig fühlte und sich zu so vielem autoritativ geäußert hat, mit der erklärten Absicht, eine möglichst große Gruppe von Menschen auf seine Vorstellungen vom vergangenen und künftigen Weltlauf einzuschwören, gerade er kann nicht von der Verantwortung dafür entbunden werden, wie mit seinen provozierenden Äußerungen umgegangen wurde. Wagner kann sich nicht freimachen von einem Begründungszusammenhang, der zwischen 1869 und 1933 traditionsstiftende Wirkung aufweist. Er hat mit dem Gewicht seiner weltweiten Berühmtheit einer schändlichen Gesinnung Umriß und Stimme gegeben, er hat eine Bierkellerideologie zur Salon- und Kulturfähigkeit geadelt. Von dieser Verantwortung können ihn auch jene nicht entlasten, die die unbezweifelbare Größe und Macht seiner Musik und der mit dieser Musik transportierten dramatischen Entwürfe verspüren und sich ihre Ergriffenheit nicht nehmen lassen wollen. Die Verbissenheit der Wagner-Verteidiger bis heute rührt aus der menschlich verständlichen Unfähigkeit, beides gleichzeitig auszuhalten: die Gewalt der Musik und die Gewalttätigkeit der Ideologie. Das eine ist aber ohne das andere nicht zu haben, bedingt sich gegenseitig.“ (S. 131, 132.)


    Beispielhaft für einen Wagnerianer, der diesen Widerspruch nicht leugnet, sondern austrägt und aushält, bezieht sich Fischer zum Schluss auf Thomas Mann. Thomas Mann hörte im Juni 1948 den 3. Akt der Meistersinger von der Schallplatte und notiert in sein Tagebuch: „>Teilweise entsetzt über die Demagogie. Das Schelmische, das Biedere, das National-Pomphafte, vermischt mit Parodie und schönster Musik. Es ist immer wieder ein schwieriger, anziehender und abstoßender Fall.<“ (S. 132, 133.)


    Beste Grüße
    Holger

  • Vielen Dank, Holger, für das Reinstellen dieser sehr aufschlussreichen Passagen! Das einzige also, was Fischer nicht durch Wagners Schriften belegt sieht, ist der Wunsch nach der physischen Vernichtung der Juden. Aber eliminatorischer Antisemitismus - also bereits eine sehr starke Form des Judenhasses - sei bei Wagner eindeutig verortbar. Dem möchte ich hinzufügen, dass selbst die offizielle Nazipolitik nie die Ermordung der Juden propagierte, sondern der Bevölkerung Lügenmärchen über Deportationen nach Madagaskar auftischte. Ein läppische Lüge, gewiss, aber Hitler hat nicht ganz unrichtig bemerkt, dass gerade die größten Lügen am bereitwilligsten geglaubt werden.

  • Das einzige also, was Fischer nicht durch Wagners Schriften belegt sieht, ist der Wunsch nach der physischen Vernichtung der Juden.

    Es ist bei weitem nicht das Einzige, wer das Buch ganz liest, wird das verstehen! Aber selbst dieser Punkt ist ja nun entscheidend und straft alle diesbezüglichen Interpreten Lügen!

  • Die Verbissenheit der Wagner-Verteidiger bis heute rührt aus der menschlich verständlichen Unfähigkeit, beides gleichzeitig auszuhalten: die Gewalt der Musik und die Gewalttätigkeit der Ideologie. Das eine ist aber ohne das andere nicht zu haben, bedingt sich gegenseitig.“


    Eine andere Verbissenheit ist allerdings auch nicht zu übersehen, nämlich die, keine Gelegenheit auszulassen, von aktuellem Geschehen abzulenken.

  • Vielen Dank, Holger, für das Reinstellen dieser sehr aufschlussreichen Passagen! Das einzige also, was Fischer nicht durch Wagners Schriften belegt sieht, ist der Wunsch nach der physischen Vernichtung der Juden. Aber eliminatorischer Antisemitismus - also bereits eine sehr starke Form des Judenhasses - sei bei Wagner eindeutig verortbar. Dem möchte ich hinzufügen, dass selbst die offizielle Nazipolitik nie die Ermordung der Juden propagierte, sondern der Bevölkerung Lügenmärchen über Deportationen nach Madagaskar auftischte. Ein läppische Lüge, gewiss, aber Hitler hat nicht ganz unrichtig bemerkt, dass gerade die größten Lügen am bereitwilligsten geglaubt werden.


    Lieber Felix,


    aufschlußreich ist auch diese Ausführung von Fischer über den Antisemitismus in der 1. Hälfte des 19. Jhd.:


    "Es ist das Verdienst der Arbeit von Erb und Bergmann (...) gezeigt zu haben, daß bereits die erste Jahrhunderthälfte von einem sich steigernden Widerstand gegen die Emanzipation der Juden bestimmt ist, bei dem in einer Flut von später kaum noch beachteten Veröffentlichungen die wüstesten Forderungen aufgestellt wurden, die von Rechtsbeschränkungen über Vorschläge zur Ausweisung und Vertreibung bis zur zwangsweisen Ansiedlung der Juden in Kolonien, ja bis hin zu Vernichtungsvorstellungen reichten - hier drängt sich ein Vergleich zum 20. Jahrhundert geradezu auf." (S. 34.)


    Interessant ist in diesem Zusammenhang, daß Johann Christian Lobe, ein gewiß nicht unbedeutender Musiktheoretiker des 19. Jahrhunderts, in seiner Kritik von Wagners Schrift 1851 (!!!) Wagners Schlußpassage im Sinne einer physischen Vernichtung verstand. Lobe wurde später wegen seiner scharfen Kritik von Wagners antisemitischer Schrift zur Zielscheibe anitsemitischer Wagnerianer. Wagners Schlußpassage:


    „Nehmt rücksichtslos an diesem durch Selbstvernichtung wiedergebärenden Erlösungswerke teil, so sind wir einig und ununterschieden! Aber bedenkt, dass nur Eines eure Erlösung von dem auf euch lastenden Fluche sein kann: die Erlösung Ahasvers, – der Untergang!


    Lobe (im Anhang von Fischer, S, 225, 227):


    "Endlich hätte er auch deutlicher aussprechen sollen, was er unter >Aufhören Jude zu sein< eigentlich meint. Denn daß die christliche Taufe dem Juden nichts hilft, zeigt Freigedank ja dadurch, daß er Mendelssohn stets als einen Juden behandelt, der doch als Christ geboren, getauft, erzogen und begraben worden ist. (...) Also weg mit allen Juden. Wenn dann der gegenseitige, selbstvernichtende Kampf vorüber ist, wenn etwa die Juden alle erschlagen vor uns liegen, und wir übriggebliebenen Christen als triumpfierende Mörder mit blutigen Fäusten dastehen, dann sind wir wahrhafte Menschen und dann sind wir >einig und untrennbar verbunden< - untereinander und mit den Juden.


    Kann dieses Raisonnement im Ernst aus einem gesunden Menschenverstande und einer humanen Seele hervorgegangen sein?"


    (...) Was ist nun der Kern des ganzen Freigedankschen Raisonnements? - dieser: Ich hasse die Juden: ich hasse und beneide Mendelssohn und Meyerbeer; ich rate daher, alle Juden zu vernichten. Wer nicht mit mir ist, der ist ein gedanken- und gefühlloser Schlendrianer, der ist auch ein Jude, und muß mit vernichtet werden."


    Lobe kommt das alles schließlich so irreal vor, daß er bezweifelt, ob es sich bei diesem R. Freigedank um eine wirklich existierende Person handelt!


    Beste Grüße
    Holger

  • Es ist bei weitem nicht das Einzige, wer das Buch ganz liest, wird das verstehen! Aber selbst dieser Punkt ist ja nun entscheidend und straft alle diesbezüglichen Interpreten Lügen!


    Jetzt wird es wirklich zum Lachen! :rolleyes: Erst verweist Du auf Jens Malte Fischer als den derzeit "einzigen seriösen Experten" auf diesem Gebiet, um mir damit zugleich fehlende Seriosität und Kenntnis in Sachen Wagner zu unterstellen! Und mit dieser tollen "Strategie" bist Du nun auf die Nase gefallen, weil Du nicht damit gerechnet hast, daß ich das Buch gelesen habe und wie jeder sehen kann alles, was ich hier geschrieben habe, im Sinne von Jens Malte Fischer ist. Weil Dir nichts anderes mehr übrig bleibt, greifst Du nun nach dem Strohhalm, daß diese Zitate nicht ausreichten und man das Buch halt ganz lesen müsse. Ich habe das Buch von vorne bis hinten gelesen und jedes weitere Zitat macht die Situation für Dich nur noch peinlicher.


    Beste Grüße
    Holger

  • Es ist bei weitem nicht das Einzige, wer das Buch ganz liest, wird das verstehen! Aber selbst dieser Punkt ist ja nun entscheidend und straft alle diesbezüglichen Interpreten Lügen!


    Wie gesagt, ich habe das Buch bestellt und es ist gerade auf dem Weg zu mir. Sobald ich das Buch gelesen habe werde ich in die Antisemitismus-Wagner-Diskussion wieder einsteigen. Bis dahin werde ich mich zurückhalten.


  • Da gabe es einen z.B. einen großen Zwist zischen Wagner und Ludwig II, der angeordnet hat, dass ein Musikdrama Wagners (ich glaube die Meistersinger) gegen den Willen Wagners in München aufgeführt wird. Tatsächlich hat Wagner vor der Aufführung wütende Briefe an den Dirigenten der Münchner Oper geschrieben, allerdings ohne Erfolg......Das Verhältnis zwischen Wagner und Ludwig II war also ein sehr kompliziertes und keineswegs so einseitiges wie im Visconti-Film dargestellt.

  • Wie gesagt, ich habe das Buch bestellt und es ist gerade auf dem Weg zu mir. Sobald ich das Buch gelesen habe werde ich in die Antisemitismus-Wagner-Diskussion wieder einsteigen. Bis dahin werde ich mich zurückhalten.


    Das freut mich, Felix, du wirst es mit Gewinn lesen. Ich verabschiede mich aber aus der Debatte, weil meine Postings zurückgehalten werden; ich nicht auf Holger antworten kann und auch keine Lust mehr habe, meinen praktisch rechtlosen und vor allem unkommunikativen Zustand zu akzeptieren.

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