Ich bin dem Sänger Ian Bostridge erstmals in einem Liederabend in Südengland begegnet. Er hatte damals noch keine CD-Einspielungen herausgebracht und war als Sänger nicht bekannt. Ein junger, grossgewachsener, hagerer Mann im Frack betrat das Podium. Der Tenor sang den Zyklus "Die schöne Müllerin". Beeindruckt haben mich seine beinahe akzentfreie Aussprache und die hohe Qualität seines Vortrages. Seine Gestaltung der Lieder überzeugte mich, denn er führte die Zuhörer durch die Seelenzustände des Müllergesellen. Seine Stimme besitzt ein Timbre, das unverkennbar ist. Ein Sänger, der etwas ausdrücken kann. Ich wusste nach dem Recital, dieser Mann hat eine grosse Karriere vor sich.
Später stiess ich auf die Hyperion Einspielung von "Die schöne Müllerin" mit den zusätzlichen Müller-Texten, die Dietrich Fischer-Dieskau sprach, einem Idol Bostridges, denn in seiner Jugend hörte er den Bariton auf Schallplatte. Ich verfolgte die Karriere des Tenors und erwarb jede Aufnahme, die von ihm erschien. Das Repertoire reicht von italienischer Renaissance (Monteverdi), Barock (Bach, Händel), Mozart, Schubert-, Schumann-, Wolf-Lieder, englischen Liedkomponisten, Janacek, Strawinsky bis zu Britten und Henze.
Ian Bostridge wird im Tamino-Forum kontrovers diskutiert. Oft stösst man sich am nicht absolut akzentfreiem Deutsch, dem charakteristischen Timbre seiner Stimme oder gewagten Projekten, etwa der filmischen Umsetzung des Schubert-Zyklus "Winterreise".
An Ian Bostridge bewundere ich die Breite seines Repertoires, das auch Werke abseits des Gängigen berücksichtigt. Er singt schwierigste Tenor-Partien. Janaceks "Tagebuch eines Verschollenen" möchte ich besonders hervorheben. Aber auch dem Gipfel des Liedgesanges, Schuberts Liedern und den Zyklen, überzeugt er mich. Britten zählt zu seinem Kernrepertoire. Die Orchesterlieder-Zyklen Brittens, die er zuerst mit Harding, später mit Rattle eingespielt hat, sind für mich Referenz. Er verfügt als Darsteller auf der Opern-Bühne über eine hohe Präsenz. Ich mag mich an eine Aufführung von Strawinskys "Rakes Progress" erinnern, wo er das Publikum in seinen Bann zog. Ian Bostridge verfasst die Booklet-Texte oftmals selbst. Der Mann hat auch in Worten zu den Werken und ihrem Gehalt etwas zu sagen, das Hand und Fuss hat. Bostridge ist ein Sänger, der seine Partien intellektuell durchdringt, jedoch die Erkenntnisse seiner Auseinandersetzung mit Gefühl und Emotion durch die Mittel der sängerischen Darstellung verbinden kann.
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