Johann Sebastian Bach (1685-1750):
GOLDBERG-VARIATIONEN BWV 988
Ballett von Heinz Spoerli
Uraufführung am 7. März 1993 im Opernhaus Düsseldorf durch das Ballett der Deutschen Oper am Rhein (DOR) in der Ausstattung durch Keso Dekker.
ROLLEN
18 Tänzerinnen, 16 Tänzer
INHALTSANGABE
Nur einige Seitenvorhänge mit Silberkugeln, ansonsten dekorationslose Bühne. Tänzer und Tänzerinnen tragen Trikots in unterschiedlichen Farben.
Aria: Das vollständige Ensemble führt auf nur schwach ausgeleuchteter Bühne Dehn- und Streckbewegungen aus. Dann bewegen sich bis auf drei alle Tänzer zur linken Bühnenseite und stellen sich in einer Reihe auf. Zwei Tänzer hocken im Spagat auf dem Boden, der dritte steht dahinter. Während sich das Bühnenlicht erhellt, wird in der
Variation 1
durch den stehenden Tänzer ein Solo vorgeführt, und die beiden anderen Tänzer von der Bühne gehen, einer aber immer wieder zurückkehrt, und die Bewegungen des Solisten aufnimmt. In der
Variation 2
bilden die beiden auf der Bühne verbliebenen Tänzer ein Duett, in das sich ein dritter zum Trio einfügt. Danach treten zu drei Tänzerinnen in der
Variation 3
zwei Tänzer, die sich jedoch erst am Ende der Variation zu einer Einheit zusammenfinden.
Die Bühne leert sich und die
Variation 4
ist ein reines Männersolo, höchst virtuos angelegt.
Variation 5: Ein Paar bewegt sich unabhängig voneinander auf der Bühne. Einer der Vorhänge hebt sich in der
Variation 6
und lässt eine größere Gruppe hervortreten, die eine nach vorn ausgerichtete Reihe bildet, und sich nach und nach zugunsten kleinerer Teile auflöst. Danach stehen Tänzerinnen den Tänzern gegenüber, ein Solist agiert zwischen den beiden unterschiedlichen Gruppen.
Variation 7: Der Solist aus der vorangegangenen Variation geht von der Bühne, dafür kommen zwei andere Tänzer zu einem Duett, zu denen nur für einen kurzen Moment ein dritter tritt, der sich wieder zurückzieht, und bei seiner erneuten Rückkehr mit einem der auf der Bühne verbliebenen Tänzer zu einem Synchron-Tanz vereinigt. Nachdem sich alle zurückgezogen haben, erhält in der
Variation 8
eine Tänzerin ein brillantes, mit vielen Drehungen gespicktes Solo; darauf wird sie in der
Variation 9
von zwei Männern umkreist, die sie allmählich zum Abgang drängen, und in ihrem Duett eine stark aufeinander bezogene Aktion bieten. Diese abgestimmten Tänze werden auch in der
Variation 10
fortgesetzt, finden aber eine grandiose Steigerung durch den Sprung einer Tänzerin aus der Kulisse in die Arme der beiden Tänzer, die sie stützen und mehrmals heben. Abrupt gehen die beiden Tänzer ab, lassen die Tänzerin für die
Variation 11
allein auf der Szene. Das Licht erlischt bis auf einen Strahl, der von rechts hinten nach links vorn verläuft. Auf diesem Kegelstrahl führt die Tänzerin diese Variation solistisch aus, wird dann von einem hinzukommenden Tänzer hochgehoben und gestützt.
Variation 12: Hier agiert zunächst ein Solotänzer, zu dem sich ein zweiter gesellt; sie tanzen erst solistisch, dann in mehreren Perioden immer länger zusammen. Für die
Variation 13
erhellt sich die Bühne mit vollem Licht; ein Mann und eine Frau tanzen abwechselnd lyrische Sequenzen, wobei die Tänzerin den männlichen Partner mehrmals umkreist. Ein dritter Tänzer kommt schließlich am Ende hinzu und führt die Frau von der Bühne. Dafür kommen drei andere Tänzer zur
Variation 14
auf die Szene; während ihres Tanzes gesellt sich noch ein Vierter dazu, der sich mehrmals durch das Trio bewegt, ehe sich alle zu einem Quartett vereinen.
Variation 15: Eine Tänzerin und ein Tänzer bewegen sich diagonal aufeinander zu; ihr Tanz ist bestimmt durch getragene Bewegungen. Zur Darstellung der
Variation 16
treten sechs Paare aus dem Ensemble auf die Bühne, und bilden eine Gruppe um einen einzelnen Tänzer. Die Männer der Gruppe heben ihre Partnerinnen und gehen mit ihnen ab. Jetzt kreuzen von der Seite drei Reihen zu je drei Tänzerinnen die Bühne. In der
Variation 17
agiert ein Tänzertrio mit grotesken Motionen, während in der
Variation 18
auf abgedunkelter Bühne ein Tänzer mit verhaltenen Bewegungen agiert, dem sich nach und nach zwei weitere Tänzer mit gleichen Bewegungsabläufen anschließen.
Variation 19: Zwei Männer umrahmen tanzend eine Frau, die von ihnen gehoben, getragen und gedreht wird. Dieser Tänzerin gesellt sich in der
Variation 20
ein neuer Tänzer als Partner zu, der am Ende der Variation auch solistisch hervortritt. Die
Variation 21 wird von einem Paar getanzt, wobei die Tänzerin ihrem Partner auf die Szene nachfolgt, dann von ihm gehoben und gedreht wird. Umfangreicher ist die
Variation 22
angelegt: Hier treten zum Paar aus der vorangegangenen Variation vier weitere, die synchron, aber auch nacheinander agieren. Dann laufen die hinzugekommenen Frauen ab, und ihre männlichen Partner gehen ihnen nach. Das Paar aus der Variation 21 setzt seinen Duett-Tanz fort, und beendet ihn schließlich, indem sie sich nebeneinander auf den Boden legen. Für die anschließende
Variation 23
kommen zwei Männer, die sich um das liegende Paar bewegen, das sich dann erhebt und ihr Duett, neben den beiden weiter tanzenden Männern, fortsetzt.
Variation 24: Diese beginnt mit einer Solotänzerin, der nacheinander zwei Tänzer folgen und sie zunächst heben und drehen, dann die Bühne verlassen, kurz darauf zurückkommen und die Frau davon tragen. Während dieser Aktion kommt aus dem Hintergrund ein anderes Paar, das zur
Variation 25
ein Duett mit sehr langsamen Bewegungen ausführt. Im Kontrast dazu ist die
Variation 26
für einen Solotänzer mit virtuosen Sprüngen und Drehungen angelegt; dazu kommt später eine Frau, die in langsamerem Tempo und unabhängig vom Solotänzer agiert. Die
Variation 27 zeigt zunächst nur ein individuell agierendes Tanzpaar, dem sich jedoch bald ein zweiter Tänzer zugesellt, worauf sich beide Männer aufeinander bezogen bewegen, als wäre die Frau nicht vorhanden, dann aber mehrmals eine Reihe zu Dritt bilden. Gegen Ende der Variation verlassen beide Tänzer die Bühne und die Tänzerin bleibt allein. Nun kommt das gesamt weibliche Ensemble für die
Variation 28
hintereinander hinzu und alle tanzen mit exakt herausgearbeiteten Arm- und Beinbewegungen. Für die
Variation 29
kommen neun Tänzer, die vollkommen unabhängig voneinander tanzen, auf die Bühne. Das gesamte Ballettensemble wird in der
Variation 30
eingesetzt, wobei sich im Ablauf der Musik eine Gesamtgruppe ergibt, in deren Mitte ein Tänzer seine Partnerin hebt. Die abschließende Reprise der
Aria
wirkt zunächst wie eine Wiederholung des am Beginn stehenden Themen-Originals: Bei reduzierter Bühnenbeleuchtung führt das vollständig angetretene Ensemble Streck- und Dehnbewegungen aus. Dann geht jedoch ein Teil der Kompanie nach vorn und stellt sich mit dem Rücken zum Publikum auf, der andere Teil steht mit dem Gesicht zum Publikum; nur drei Tänzer bleiben agierend in der Mitte.
INFORMATIONEN ZUM CHOREOGRAPHEN UND WERK
Der am 8. Juli 1940 in Basel geborene Heinz Spoerli bekam ersten Unterricht in seiner Geburtsstadt; dort erhielt er mit 19 Jahren auch sein erstes Engagement unter Wazlaw Orlikowsky. 1963 ging er für drei Jahre nach Köln, für die Spielzeit 1966/1967 zum Royal Winnipeg Ballet, war von 1967 bis 1969 bei den Grands Ballets Canadiens in Montreal, um für die Spielzeit 1969/1970 nochmals am Basler Theater zu arbeiten. 1971 engagierte ihn das Grand Théâtre in Genf als Solisten wie auch als Choreograf. Hier gelang Spoerli mit „La chemin“ auch der Durchbruch als Choreograf.
Ab 1973 (bis 1991) wirkte Heinz Spoerli als Chefchoreograf und Ballettdirektor in Basel; in dieser Zeit entstanden zahlreiche neue Tanzstücke und abendfüllende Handlungsballette, aber auch Neuinterpretationen klassischer Ballette, wie Giselle, Coppelia, Schwanensee, Der Nussknacker und Romeo und Julia, die seinen internationalen Ruf steigerten. Das trug ihm Auftragsarbeiten für die Oper in Paris, die Wiener Staatsoper und Mailänder Scala ebenso ein, wie sich auch Berlin, Lissabon, Hongkong, Stockholm, Graz und Stuttgart an seinen Schöpfungen interessiert zeigten.
Von 1991 bis 1996 war Spoerli Ballettdirektor an der Deutschen Oper am Rhein Düsseldorf und Duisburg; hier kam auch seine Tanz-Version von Bachs GOLDBERG-VARATIONEN zur Uraufführung, die schnell an anderen Bühnen Furore machten. An der DOR war der Schweizer auch mit seinen anderen Ballettarbeiten sehr erfolgreich. Von 1996 bis 2012 war er dann Ballettdirektor und Choreograf des Zürcher Balletts.
Als wichtiger „Vorläufer“ von Spoerlis Deutung gilt Jerome Robbins' THE GOLDBERG-VARATIONS aus dem Jahre 1971 in New York. Beide Choreografen halten sich streng an die vorgegebene Reihung der Sätze, beide schufen in sich abgeschlossene Miniaturen mit den unterschiedlichsten Tänzer/innen-Kombinationen, und beide lassen auch sämtliche Wiederholungen der Komposition spielen. Unterschiede gibt es dennoch: Robbins bringt diverse Anspielungen auf die Bach-Zeit (Kostüme und typisch höfische Bewegungen), die bei Spoerli absichtsvoll fehlen. Seine Tanzkunst, deren Charakteristikum strenge und individuelle Formen sind, ist den Errungenschaften eines Hans van Manen oder William Forsythe geschuldet.
Die „Iswetija“ schrieb nach der Moskauer Aufführung zu den GOLDBERG-VARATIONEN:
Alles ist bis ins kleinste Detail abgemessen, die unbedeutendste Veränderung könnte die ganze Struktur zerstören. Die Bewegungen werden wie teure Ware präsentiert, mit Zurückhaltung und vornehmer Würde und ohne den kleinsten Anflug des Hochmuts, den unsere Virtuosen manchmal einfach nicht ablegen können.
© Manfred Rückert für den Tamino-Ballettführer 2013
unter Hinzuziehung folgender Quellen:
Martina Wohlthat: Heinz Spoerli
Rolf Michaelis über die Uraufführung in „Süddeutsche Zeitung“ vom 12. März 1993
Reclams Ballettführer (Kieser/Schneider, 2002)