Anton Reicha - *25. Februar 1770 Prag - † 28. Mai 1836 Paris
Nach den meisten Lebensbeschreibungen des Komponisten Reicha wäre dieser erst am 26. Februar geboren. Eine historische Skizze seines Grabes zeigt unter Reichas Porträt das Geburtsdatum 27. Februar, welches auch in einer Musikzeitschrift von 1844 so abgedruckt ist. In jenen Zeiten haben sich bei solchen Daten oft auch Fehler eingeschlichen, weil Geburts- und Taufdatum verwechselt wurde. Wenn man sich jedoch an der Grabinschrift orientiert, dann steht da: »PRAGUE LE 25 FÉVRIER 1770«. Auch bei der Namensschreibung tauchen in der Literatur verschiedene Möglichkeiten auf: Anton Reicha, Antonin Rejcha und Antoine-Joseph Reicha ... - wenn man den Lebenslauf des Komponisten kennt, hat man die Erklärung dafür.
Auf dem Grabdenkmal ist Reichas Geburtstag so angegeben
Antons Vater, ein Stadtpfeifer in Prag, konnte dem kleinen Anton gerade noch seine Musikalität vererben, dann starb er jedoch bevor sein Söhnchen das erste Lebensjahr erreicht hatte. Dem leiblichen Vater folgte ein Stiefvater, der dem Jungen kein ordentliches Zuhause bot.
In der »Zeitschrift für Deutschlands Musik-Vereine und Dilettanten« (Bände 4-5), findet man zu den Kindheitstagen von Anton Reicha folgenden Beitrag:
»Reicha (Anton, Joseph) wurde den 27. Februar 1770 in Prag zu Böhmen geboren. Kaum zehn Monate alt, hatte er das Unglück, seinen Vater zu verlieren. Die Mutter vermählte sich einige Zeit nachher zum zweiten Male, und so kam zwar ein neuer Vorsteher ins Haus, aber für Reicha blieb die Stütze verloren. - Seine Erziehung wurde vernachlässigt und dergestalt selbst, dass es dem elfjährigen Kinde, in dieser Lage nicht mehr gefallen wollte. Er beschließt der Eltern Haus zu verlassen, und hängt sich drum eines Tages auf den Fusssteig eines Eilwagens, der nach Glatow, einem Böhmischen Städtchen fuhr, wo des Kindes Großvater wohnte. Es war diess ein achtzigjähriger Greis, und wie liebreich der Knabe auch aufgenommen wurde, konnte er dennoch hier nicht erlangen, was er im Vaterhause vermisst hatte. Hier also auch wieder war des Bleibens nicht. Reicha bittet um die Erlaubnis bei seinem Onkel unterkommen zu dürfen, der mit einer Französin verheirathet, kinderlos jedoch, als Musiker in Wallerstein, einem Städtchen Schwabens lebte«.
Der eher ans Nichtstun gewöhnte Junge hatte zunächst bei all den neu zu erlernenden Dingen Anlaufschwierigkeiten, aber seinen neuen »Eltern« gelang es recht bald Antons Leben zu strukturieren. Auch in seinem weiteren Leben war Anton Reicha stets ein strebsamer Mensch, der auch neue Wege nicht scheute. Sein Onkel, Joseph Reicha, der in Wallerstein, beziehungsweise Schloss Harburg (Landkreis Donau-Ries), ein angesehener Orchestermusiker war - Cellist der Fürstlich Öttingenschen Kapelle - muss schon ein etwas außergewöhnlicher Musikus mit guten Kontakten gewesen sein. Dieser heiratete 1779 in Wallerstein die aus Metz stammende Lucie Certelet. Diese Ehe blieb kinderlos und so nahmen Onkel und Tante den elfjährigen Knaben zu sich nach Wallerstein. Der Elfjährige hatte bis dahin nur tschechisch gesprochen, nun machte ihn vor allem seine Tante Lucie mit der französischen Sprache vertraut und mit Deutsch natürlich auch. Sein Onkel unterrichtete Anton in Flöte, Geige, Klavier und Tonsatz. Während all diesem Flöten und Geigen ergab es sich, dass Onkel Joseph eine alte Bekanntschaft aus Wien wieder aufleben lassen konnte. Diese Bekanntschaft war Maximilian von Österreich, der Bruder Joseph II., der nun das Kurfürstentum Köln erhalten hatte. Da der neue Kölner Kurfürst etwas von Musik verstand, wollte er den tüchtigen Joseph Reicha bei sich im Rheinland zum Aufbau eines guten Orchesters haben. So ergab es sich, dass die beiden böhmischen Musiker, also Onkel und Neffe, 1785 nach Bonn reisten.
Joseph Reicha wurde Kapellmeister der Kurfürstlichen Hofkapelle. In diesem Orchester war Anton Reicha zweiter Flötist und der gleichaltrige Ludwig van Beethoven spielte Bratsche; sie pflegten über Jahre hinweg ein freundschaftliches Verhältnis, da muss man wohl die gängigen Beethovenbilder aus dem Kopf scheuchen -
die beiden waren damals gerade mal 15 Jahre alt! Und dann gesellte sich noch Haydn hinzu, der im Dezember 1790 auf seiner ersten London-Reise in Begleitung des Konzertunternehmers Johann Peter Salomon unterwegs war und über Bonn reiste.
Beethoven und Reicha schrieben sich auch an der Universität Bonn ein und Reicha nahm bei Ludwigs Lehrer Christian Gottlob Neefe Musikunterricht und entwickelte neben dem auch Interessen an Philosophie und Mathematik; auch erste Kompositionsversuche entstanden; der junge Reicha erkannte, dass es da noch mehr gab als nur nach fremden Noten zu spielen. Hier reifte wohl auch der Entschluss nicht mehr als Interpret auftreten zu wollen. Sein Onkel hielt nichts von diesen Kompositionsversuchen seines Neffen und bezeichnete das als Zeitverschwendung. Anton fügte sich aber nur scheinbar den Machtworten seines Ziehvaters - er besorgte sich heimlich Lehrbücher zum Thema Komposition, die er nachts studierte und tagsüber unter seiner Matratze verbarg. Mit Feuereifer machte er sich mit den Werken von Händel, Mozart und Haydn vertraut. Der Onkel sah seinen Neffen eher als zukünftigen Orchesterleiter und nicht als Komponisten. Dies änderte sich schlagartig, als Anton - einerseits mit schlechtem Gewissen, andererseits mit Selbstbewusstsein - seinem Onkel eine seiner Kompositionen auf den Tisch legte und sogleich verschwand. Erst spät am Tag kehrte er mit zwiespältigen Gefühlen zurück; ein »Wunder« geschah, sein Onkel erkannte die gute Arbeit und gab dem nunmehr Siebzehnjährigen den Weg frei. Politische Ereignisse im Rheinland führten zur Auflösung des Hoforchesters in Bonn.1794 wurde die Stadt von französischen Revolutionstruppen besetzt und Maximilian flüchtete kampflos aus seinem Kurfürstentum.
Anton Reichas Flucht vor den französischen Truppen führte ihn gegen Norden, und man kann nur vermuten, dass er gegen Norden zog, weil Hamburg zu der damaligen Zeit den Ruf einer Kulturmetropole hatte. Immerhin hielt er sich hier von 1794 bis 1799 auf, aber man weiß heute nicht mehr wo er in Hamburg wohnte, nur, dass während seiner Tätigkeit als Harmonie- und Klavierlehrer, auch einiges entstanden war, das jedoch in den Hamburger Jahren noch nicht an die Öffentlichkeit trat, sondern erst später Früchte trug. So richtig wohlgefühlt scheint er sich nicht zu haben, denn er schrieb über die Stadt Hamburg:»Sie hat mit ihren vielen Kanälen, feucht und häufig im Nebel, kein günstiges Klima für Fremde.«
Von Hamburg aus zieht es Reicha zunächst nach Paris, wo er jedoch nur mäßig erfolgreich war, obwohl er zwei fertige Opern im Gepäck hatte, denn die Kammermusik war in Frankreich damals nicht en vogue, konnte er mit seinen Werken nicht reüssieren, sodass er sich schon 1801 oder1802 (in der Literatur findet man beide Jahreszahlen) nach Wien begab wo er sich bis 1808 aufhielt. Dort hatte Reicha Kontakt zu erstrangigen Musikern wie Haydn, Albrechtsberger, Salieri ... und natürlich Beethoven, seinem Orchesterkollegen aus Bonner Jugendtagen. Anton Reicha veröffentlichte in Wien Kompositionen von Gelegenheitsmusik, aber auch seine 36 Fugen op. 36, die man als so eine Art »Wohltemperiertes Klavier der neuen Zeit« betrachten kann. Das Werk erschien im Eigenverlag und war mit einem Widmungsgedicht an Joseph Haydn versehen. Man vermutet, dass erste Überlegungen dazu bereits in seiner Hamburger Zeit entstanden sein könnten und es gilt als sicher, dass in Paris ein Dutzend Fugen gefertigt wurden; aber in Wien dann 1803 der gesamte Zyklus zur Veröffentlichung kam. Bei der Ausgabe 1805 erläuterte Reicha dann auch sein »neues Fugensystem« und reagierte damit auf die Einwände seiner Kritiker, zu denen auch Beethoven gehörte.
Als Reicha nach Wien kam, lebte die alte Freundschaft wieder auf; Ludwig lud Anton im November 1802 zum Abendessen ein und bat seinen Verleger darum mal einen Blick auf die Sinfonien seines Freundes zu werfen. Mit den revolutionären Fugen Reichas war Beethoven aber überhaupt nicht einverstanden und wohl noch der alten barocken Form verpflichtet. Insgesamt war die Wiener Zeit für Anton Reicha ein schaffensintensiver Lebensabschnitt von sechs Jahren, in welchem etwa fünfzig Werke entstanden. Als sich jedoch eine kriegerische Auseinandersetzung zwischen Österreich und Frankreich abzeichnete, entwickelte Reicha die pfiffige Idee, dass er den Unbilden mit französischem Militär am besten aus dem Weg geht, wenn er sich wieder nach Paris begibt, man schrieb das Jahr 1808.
Dort wurde Antoine Reicha zum Franzosen mit allem Drum und Dran. Er heiratete die Französin Virginie Enaust, die ihm zwei Töchter schenkte. Er komponierte nach französischen Texten und erwarb 1829 die französische Staatsbürgerschaft und schon1831 folgte die Ernennung zum Ritter der Ehrenlegion. Zu seiner ursprünglichen Heimat hatte er keine Beziehung mehr, in seiner Vita ist lediglich 1806 ein Besuch bei seiner Mutter vermerkt, die er seit 26 Jahren nicht mehr gesehen hatte, weil ihn sein Reiseweg nach Leipzig in anderer Angelegenheit dort vorbeiführte, schaute er mal in Prag vorbei.
In seinen Pariser Jahren stieg Reicha in zu einer geachteten Persönlichkeit in der Gesellschaft auf, vor allem wirkte er als Lehrer. 1814 veröffentlichte er seine erste Abhandlung »Traité de mélodie«, der später »Cours de composition musicale« und »Traité de haute composition musicale« folgten. Seit 1818 hatte Reicha eine Professur für Kontrapunkt und Fuge am Pariser Conservatoire inne. 1833 veröffentlichte Antoine Joseph Reicha »Art du compositeur dramatique ou Cours complet de composition vocale«.
Seine vielfältigen Werke waren lange Zeit nicht besonders beachtet worden, eine Ausnahme bildeten seine Bläserquintette für Flöte, Oboe, Klarinette, Horn, Fagott und Waldhorn. So wie man Haydn als den Vater des Streichquartetts bezeichnen kann, könnte man Reicha adäquat dazu den Vater des Bläserquintetts nennen.
Carl Czerny hat Reichas umfangreiche Kompositionslehre ins Deutsche übersetzt und die Schülerliste von Reicha verzeichnet so prominente Namen, dass ganz klar wird, was dieser Mann geleistet hat; seine Lebensspanne war voll ausgeschöpft und wirkte noch weit in die folgende Zeit hinein. Seine bekanntesten Schüler waren: Adolphe Adam, Hector Berlioz, Ambroise Thomas, Franz Liszt, Friedrich von Flotow, Charles Gounod, César Franck ...
1835 wurde Antoine Joseph Reicha noch in die Académie Francaise als Nachfolger von Francois-Adrien Boieldieu aufgenommen.
Ob das Grabmal ursprünglich mit abschließender Lyra ausgeführt wurde ist nicht bekannt; unter dem Reicha-Porträt - in dieser Darstellung kaum lesbar - ist das Geburtsdatum 27. Februar angegeben.
Praktische Hinweise:
Das Grabmal von Antoine Joseph Reicha befindet sich auf dem Pariser Friedhof Cimetière du Père-Lachaise / Division 7. Man geht vom Haupteingang auf der Avenue Principale eine kurze Strecke von etwa 100 Metern geradeaus, biegt dann rechts in die Avenue du Puits ab, um von dort (WC) der etwas aufsteigenden Avenue Casimir Périer zu folgen, bis man zur Nahtstelle zwischen Division 7 und 14 kommt, dort ist Reichas Grab. Die gesamte Gehstrecke vom Haupteingang aus beträgt etwa 300 Meter.