Der Musiker Gräber

  • Hilde Rössel-Majdan - * 30.Januar 1921 in Moosbierbaum - † 15. Dezember 2010 in Wien


    Zum heutigen Geburtstag


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    Der Geburtsort Moosbierbaum liegt etwa 60 Straßenkilometer westlich von Wien entfernt; in einer Heimatzeitschrift ist nachzulesen, dass Hilde Figl dort in einem Fabrikgelände geboren wurde, das heute nicht mehr besteht. »Sie wuchs in einfachen, ja ärmlichen Verhältnissen auf«, ist in dieser Publikation zu lesen. Als Zehnjährige soll sie bereits in einem Kloster in der Nähe ihres Geburtsortes im Chor gesungen und auch Theater gespielt haben.


    Eigentlich ging sie nach Wien, weil sie Lehrerin werden wollte, bekam aber keinen Studienplatz und besuchte dann die Handelsakademie in Wien-Josefstadt. Schon in dieser Zeit war sie als Solistin in Kirchenkonzerten zu hören.


    Während sie beruflich als Chefsekretärin tätig war, wurde sie dann in der Hitlerzeit in eine Fabrik zwangsversetzt.
    Nach Kriegsende folgte die Ausbildung an der damaligen Akademie für Musik und darstellende Kunst in Wien, wo sie in dem vielseitigen Bassisten Professor Karl Rössel-Majdan einen ausgezeichneten Gesangspädagogen, der auch Stimmforschung auf psycho-physiologischer Basis betrieb, an ihrer Seite hatte.
    Aber sie wurde an der Akademie auch von so praxiserfahrenen Professorinnen wie Helene Wildbrunn und Bahr-Mildenburg unterwiesen, die zu den Spitzenkünstlerinnen ihrer Zeit gehörten.


    Hildegard Figl heiratete den Sohn ihres Gesangslehrers; als Rössel-Majdan jr. im Internierungslager in der Lobau - wo auch österreichische Widerstandskämpfer untergebracht waren - lebte, brachte der Vater heimlich Lebensmittel ins Lager, die von seiner ›besten Schülerin‹ stammten, das war Hilde Figl.
    Glaubt man dem Österreichischen Musiklexikon, dann war die Heirat im Juli 1945. Man kann Vater und Sohn als geistesverwandt bezeichnen, denn beide waren entschiedene Gegner des Nationalsozialismus.
    Karl Wilhelm Rössel-Majdan hatte mehrfach promiviert: 1939 Dr. jur. / 1949 Dr. phil. und 1951 Dr. rer. pol. Karl Wilhelm Rössel-Majdan hat eine Menge Bücher und Rundfunkbeiträge publiziert, auch über Waldorf-Pädagogik, der er sehr nahe stand.


    Einen Eindruck von der künstlerischen Zusammenarbeit der Familie gewinnt man durch einen Blick auf eine Veranstaltungsvorschau des Konzertbüros der Musikfreunde Wien, das 1948 ein Konzert im Brahmssaal anzeigt:


    »21. Feber1948. Ein Abend ›Lied und Dichtung‹, der von Hilde und Dr. Karl Rössel-Majdan bestritten wird, verspricht freudigen Genuß. Zu Gehör kommen Lieder von Brahms, Grieg, R. Wagner, Mahler, Pfitzner und R. Strauß . Gedichte von Karl Rössel-Majdan (jun.) werden vorgetragen. Begleitung: Prof. Karl Rössel-Majdan.«


    Wenn man sich mit Hilde Rössle-Majdan etwas intensiver befasst, kommt man zu dem Schluss, dass sie in Fachkreisen schon recht früh einen gewissen Bekanntheitsgrad gehabt haben muss; nur so ist 1951 das geradezu sensationell anmutende Einsprigen in Otto Klemperers Zweite Symphonie von Mahler zu erklären, wo der Komponist erstmals Gesang eingefügt hatte und Hilde Rössel-Majdan das ›Urlicht‹ zu singen hatte, die Presse war von dieser Wiener Aufführung am 5. Mai 1951 hell begeistert und viele Musikfreunde sind es heute noch, denn man kann es auf CD hören. Man kann das als Durchbruch zur internationalen Karriere bezeichnen.
    Der Bariton Wolfgang Holzmair, heute selbst lehrend an der Hochschule tätig, war Schüler von Hilde Rössle-Majdan und beschrieb das einmal in einem Booklet so:
    »Und da war noch das Urlicht, das meine Lehrerin Hilde-Rössel-Majdan mit ehrlicher Empfindung so durchlebte, als gelte es, der ganzen Menschheit Mahlers Lebensrätsel zu entschlüsseln.«


    Als im April 1952 Wilhelm Furtwängler im Wiener Konzerthaus an drei hintereinander folgenden Tagen Bachs »Matthäuspassion« aufführte war Hilde Rössle-Majdan für Margarete Klose und Otto Wiener für Josef Greindl eingesprungen.


    Bereits am 18. September 1951 hatte Hilde Rössel-Majdan als Staatsopernsolistin - damals im Theater an der Wien - ihr Debüt in »Les contes d´ Hoffmann« gegeben, (das Archiv weist explizit darauf hin, dass in französischer Sprache gesungen wurde) wo sie die Stimme der Mutter sang.
    Die Stimmlage Alt gibt es eben nicht her die ganz großen Opernrollen wie Aida, Tosca, Traviata ... zu singen, was wohl auch der Grund war, dass Hilde Rössel-Majdan in der Öffentlichkeit sehr stark als Konzertsängerin wahrgenommen und von erstrangigen Dirigenten entsprechend geschätzt wurde.
    In einer Laudatio zu ihrem 70. Geburtstag ist zu lesen:


    »Frau Kammersängerin Hilde Rössel-Majdan wurde wohl meistbeschäftigte Oratoriensängerin. Ihre Kantaten- und Liedinterpretation gilt in amerikanischen Musikschulen als vorbildlich. Seit der Wedereröffnung der Oper, zu deren ständigem Ensemble sie gehörte, sang sie in zehn Jahren an allen internationalen Stätten der Musikkultur alle Oratorien. 1957 konnte sie mit Mahlerliedern unter Kubelik in Israel zuerst den Bann gegen die deutsche Liedsprache aufheben. Umfassend war ihr Rundfunkrepertoire auch an schwierigen modernen Kompositionen.«


    An amerikanischen Musikinstituten werden ihre in den Jahren 1955/56 bei Westminster aufgenommen Bachwerke als Vorbild des reinen Bachstils verwendet.
    Hilde Rössel-Majdans Liedsprachen waren: Italienisch, Französisch, Englisch, Russisch, Ungarisch und Hebräisch.


    An der Wiener Staatsoper sang sie zwischen 1951 und 1976 bei insgesamt 1553 Auftritten 62 Rollen. Die Marcellina in »Le nozze di Figaro« hatte sie 194 Mal gesungen, die Annina im »Rosenkavalier« 172 Mal, sich aber auch in Wagner-Partien bewährt, wenn eine Altstimme oder auch ein Mezzosopran gebraucht wurde. Natürlich konnte sie ihren Namen mit dem Zusatz ›Kammersängerin‹ schmücken, mit diesem Titel wurde sie bereits 1962 ausgezeichnet.
    Auch bei den Festspielen in Salzburg, Edinburgh und Aix-en-Provence war ihre Altstimme zu hören, aber auch an großen Häusern wie der Mailänder Scala und Covent Garden in London.
    Der Entwicklung des kommerzialisierten und technischen Kunstbetriebs stand sie kritisch gegenüber und verabschiedete sich im Alter von fünfundfünfzig Jahren von der Opernbühne, obwohl sie noch im Vollbesitz ihrer Stimme war.
    Am 22. November 1976 verabschiedete sie sich vom Haus am Ring in Schönbergs Opernfragment »Moses und Aron«, wo ihr die ›Kranke‹ zugeteilt war.


    Aber der Abschied von der Staatsoper bedeutete nicht etwa Ruhestand; es folgte ein Fachwechsel hin zu pädagogischen Aufgaben. Schon zehn Jahre vor ihrem Opernabschied war sie einem Ruf der Musikschule Graz gefolgt und wirkte dort als Lehrbeauftragte und wurde drei Jahre später a. o. Professorin.
    1971 kehrte sie dann an die Stelle in Wien zurück, wo sie einst ihre Gesangsausbildung begonnen hatte; nun wirkte sie hier als Lehrende für das Fach Stimmbildung und wurde 1976 zur ordentlichen Professorin ernannt.
    Neben der Hochschulausbildung widmete sich Hilde Rössel-Majdan aber ach der Volksbildung und es sollte auch erwähnt werden, dass sie dem Ehrenkuratorium des Kuratoriums für künstlerische und heilende Pädagogik angehörte und durch Initiative und wesentliche selbstlose Unterstützung humanitär für gesunde und kranke Jugend wirkte.


    Es ist höchst erstaunlich, dass eine Sängerin dieser Qualität, die sich Schüler an der Hochschule hätte aussuchen können, an einem Tag in der Woche mit Büroangestellten, Ärzten, Hausfrauen, Lehrern ... in VHS-Kursen abgab.


    Dazu sollte man wissen, dass Hilde Rössel-Majdans Lehrer und Schwiegervater, Professor Karl Rössel-Majdan (1885-1948), bis zu seinem Tod 1948 geschäftsführendes Mitglied der Anthroposophischen Gesellschaft in Österreich war und sein Sohn (1916-2000) - also der Ehemann der Sängerin - diesbezüglich in die Fußstapfen seines Vaters trat.


    Wie bereits oben erwähnt, war Hilde Rössel-Majdan nicht in den ganz großen Opernrollen zu erleben, aber wenn man sich so durch die Feuilleton-Seiten der 1950er und 1960 Jahre blättert, tritt in Erscheinung, dass sie durchaus verstand auch kleinere Rollen ausdrucksstark zu gestalten; der Einblick in Kritiken unterschiedlicher Gattungen gibt ein recht positives Bild:


    »... das Programm drei der schwierigsten Werke dieses Musikfestes enthielt. Wir hörten die Uraufführung der Neufassung von Karl Amadeus Hartmanns 1. Symphonie für eine Altstimme und großes Orchester.
    Als Solist zeichnete sich Andre Gertler aus, während Hildegard Rössel-Majdan den expressiven Klagegesängen Hartmanns ihre schön-timbrierte Altstimme lieh.«


    »Zweimal J. S. Bachs ›Matthäus-Passion‹: in großer Besetzung unter Heinz Wallberg ...
    von den anderen Solisten bot Hilde Rössel-Majdan die stilistisch beste Leistung.«


    Und Hilde Rössel-Majdan war auch dabei als der Österreichische Rundfunk im großen Sendesaal unter der Leitung von Rudolf Moralt das Oratorium »Ein Kind unserer Zeit« (A Child of Our Time) in Anwesenheit von Michael Tippett aufführte - der Komponist soll sichtlich beeindruckt gewesen sein.


    Als im April 1965 in Strawinskys »The Rake´s Progress« an der Wiener Staatsoper eine Umbesetzung nötig war, schrieb die Presse:
    »Als Türkenbab kann Hilde Rössel-Majdan ihr vehementes Temperament entfalten, was sie natürlich tut. Auch ihre warme Stimme hat die Untertöne, die nicht in der Partitur stehen, aber doch gemeint sind, und in den Augenblicken, wo sie dominieren, hat sie alle Zuhörer auf ihrer Seite, zumal Kostüm und Erscheinung nicht abschreckend, sondern (für diese Rolle) viel zu hübsch waren.«


    Man könnte diese Reihe von Kritikschnipseln noch um einiges erweitern, aber es sollte lediglich aufgezeigt werden, dass es auch wichtig ist ›kleinere Dinge‹ in hervorragender Qualität anzubieten.


    Erwähnenswert ist auch die Erweckung der Ophelia-Lieder von Johannes Brahms, welche dieser eher etwas widerwillig als Freundschaftsdienst komponiert hatte und die nie so recht im Blickpunkt der Öffentlichkeit waren, bis der Musikwissenschaftler Karl Geiringer 1934 die Noten fand und in den folgenden Jahren als Zyklus herausgab, wobei erklärt werden muss, dass dieser Zyklus ja von Brahms nicht als solcher gedacht war, weil es sich um Musik handelt, die während eines Theaterstücks gespielt werden sollte und eine Aufführungsdauer von etwa drei Minuten hat. Diese fünf Lieder wurden vermutlich nur einmal 1873 in Prag bei einer »Hamlet«-Aufführung - ohne die beigegebene Klavierbegleitung - gesungen; und dann nie wieder.


    Diese Geschichte kam dem Wiener Musikpädagogen, Musikschriftsteller und bekannten Liedbegleiter Dr. Erik Werba zu Ohren, der festgestellt hatte, dass diese Lieder noch nie aufgeführt wurden und demnach eine Uraufführung in Wien möglich war - er empfahl sie also Hilde Rössel-Majdan für das Programm ihres nächsten Liederabends und sie sang diese fünf Liedchen. Der Kulturredakteur und Musikkritiker Helmut Albert Fiechtner schrieb 1961 zu diesem Liederabend unter anderem:


    »Dann wurden, soviel wir wissen, die Ophelia-Lieder nie mehr gesungen, und jetzt sind sie, nach fast neunzig Jahren zum ersten Mal öffentlich erklungen ...


    Diese fünf Einminutenlieder, mit einfachster, an Brahmsens Volksliederbearbeitungen erinnernder Klavierbegleitung versehen, sind dem englischen Vokalstil, etwa eines Purcell oder Dowland sehr nahe.


    Hilde Rössel-Majdan hat diese schönen, kostbaren Liedchen mit noblem Ausdruck und dunkeltimbrierter Altstimme vorgetragen und Erik Werba hat, wie immer, sensibel und klangschön begleitet..«


    Im schon betagten Alter gründete Hilde Rössel-Majdan 1990 das Goetheanistische Konservatorium in Wien Hietzing, mit dem sie sich auf Basis von waldorfpädagogischen Grundsätzen der Erwachsenenbildung widmete.


    Ihren anstehenden runden Geburtstag konnte Hilde Rössel-Majdan nicht mehr feiern, sie starb am 15. Dezember 2010, sieben Wochen vor ihrem 90. Geburtstag; die Beisetzung fand am 23. März 2011 statt.


    Praktischer Hinweis:
    Die gesamte Familie fand hier unter dem mit den Initialen R-M gekennzeichneten Kreuz ihre letzte Ruhe im Bereich der Feuerhalle. Am Eingang des Friedhofsgeländes befinden sich rechts und links Arkaden. Man geht auf das imposante Gebäude der Feuerhalle zu und an dieser rechts vorbei bis zur Abteilung 12, die als Orientierungspunkt dienen kann, denn rechts davon befindet sich die Abteilung 2.
    Die genaue Grabbezeichnung ist: Abteilung 2, Ring 2, Grab 3-15.
    Die Feuerhalle Simmering befindet sich nicht auf dem Gelände des Wiener Zentralfriedhofs, sondern jenseits, Simmeringer Hauptstraße 337.


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  • Der 12. Februar 1948 war für Hanns Eisler ein besonderer Tag ..

    Hanns Eisler - * 6. Juli 1898 in Leipzig - † 6. September 1962 in Berlin

    Hanns Eisler komponierte die Musik zu ›Auferstanden aus Ruinen‹, das war die Nationalhymne der ›Deutschen Demokratischen Republik‹.
    Weniger bekannt ist wohl die 1950 mit Brecht entwickelte ›Kinderhymne‹.
    Er hatte aber auch eine Menge Kampflieder für Arbeiterchöre geschrieben, bewährte sich bestens im Genre der Film-Musik und reüssierte in Hollywood,
    wo seine Kompositionen in den 1940er Jahren für Oscars nominiert waren.


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    Natürlich gehört das Grab von Hanns Eisler in diesen Thread, war er doch einer der wichtigsten Komponisten seines Jahrhunderts. Zum 6. September 2012, seinem 50. Todestag, war der Stein offenbar frisch gereinigt, wie das Foto bei Wikipedia zeigt, und es lagen Blumen auf und vor dem Stein. Das hier verwendete Foto entstand 2019.
    Es ist sehr schwer das so prall gefüllte Leben dieses vielseitigen Musikers zu beschreiben, also kann in diesem Rahmen nur grob und lückenhaft dargestellt werden, wer Hanns Eisler war - auf jeden Fall ein in Leipzig geborener Wiener, der 1925 die österreichische Staatsbürgerschaft erwarb und immer Österreicher blieb.


    Sein Geburtshaus steht in Leipzig; seit 1905 Hofmeisterstraße 14, zu Eislers Geburt war das noch die Gartenstraße 14. Das Haus war im Laufe der Jahre immer mehr vergammelt und stand leer.
    Aber 2015 berichteten die Zeitungen, dass es nun ›gerettet‹ wird. Seit der Renovierung des Hauses gibt es für Musik-Studierende ab 2019 die Möglichkeit für fünf Monate in der Geburtswohnung des Komponisten im Rahmen eines Stipendiums zu wohnen und zu arbeiten.


    Eigentlich lebten die Eltern - der Philosoph und Privatgelehrte Dr. Rudolph Eisler und Mutter Ida Maria - bereits 1898 in Wien, aber zur Geburt des kleinen Johannes - es war das dritte Kind - ging Ida Maria vorübergehend in ihr Leipziger Elternhaus zurück, wo die Mutter und auch eine vertraute Hebamme zur Verfügung standen.
    In einigen Publikationen wird gesagt, dass es nach etwa zwei Monaten wieder zurück nach Wien ging, meist wird jedoch das Jahr 1901 genannt.


    Johannes´ Geschwister waren: Ruth Elfriede *1895 und Gerhart *1897. Die beiden Jungs übermittelten der Nachwelt:


    »Vater saß ständig am Schreibtisch und kannte nur eine Erholung: Klavier zu spielen und zu singen - Hugo Wolf, Schubert, Volkslieder, Opernausschnitte. Vater war Mozartianer, konnte mit Wagner nichts anfangen.«


    In der Familie wurde viel musiziert, aber irgendwann konnte sich der Vater das geliehene Klavier nicht mehr leisten.


    Von 1904 bis 1908 besucht Hanns die Volksschule im dritten Wiener Gemeindebezirk, danach das katholische Rasumofsky-Gymnasium, das von einem Jesuitenpater geleitet wurde, wo sich Eisler auf seine alten Tage noch erinnern konnte, dass dieser Monsignore Schreiner hieß. Als eifriger Schüler fiel er hier nicht auf, seine Zeugnisse waren so, dass es eben gerade reichte, gut waren lediglich die Noten in den Fächern Musik und Turnen; mit dem Abschluss der Obersekunda endet 1916 - ein Jahr vor der Matura - Hanns Eislers Schulzeit.


    Aber nach Eislers eigenem Bekunden begann sein Studium schon weit vor Beendigung seiner Schulzeit, was er so darstellt:


    »Mein Studium begann eigentlich, als ich mir mit zehn Jahren aus Reclams Universal-Bibliothek eine allgemeine Musiklehre von Hermann Wolff kaufte.«


    Besuche von Konzerten und Opern erlebte Hanns Eisler erst als 14-Jähriger; erste Kompositionsversuche fanden ohne eigenes Klavier statt, lediglich bei Freunden konnte mal ein Klavier benutzt werden.


    Als bekennender Atheist und Jude konnte Dr. Rudolf Eisler im Wien der Jahrhundertwende keine Stelle an der Wiener Universität bekommen, sodass ihn sein Bruder Armand, ein Rechtsanwalt, unterstützen musste. Solange das Geld reichte, konnte der Privatgelehrte seine Kinder unterrichten lassen, aber schließlich musste man sich von dem Leihklavier trennen; Erste Kompositionen aus dieser Zeit sind nicht erhalten, frühe erst ab1917.


    Als Hanns Eisler 1916 zum Militär musste, galt seine ganze Familie bereits als politisch verdächtig und wurde von der Geheimpolizei observiert. Das war schließlich auch der Grund, dass er in einem ungarischen Regiment dienen musste, durch die Sprachunterschiede wollte man politische Agitation unterbinden.


    Man sollte hier nur ganz kurz daran erinnern was 1917 in Russland los war; im November 1918 wurde in Wien die erste und älteste Kommunistische Partei Westeuropas gegründet; Elfriede und Gerhart, Hanns ältere Geschwister, waren da rasch Mitglieder geworden, setzten sich aber recht bald nach Berlin ab.


    Nach Kriegsende lebte Hanns Eisler zeitweise mit seiner Lebensgefährtin Irma Friedmann, einer Lehrerin, in einer Barackensiedlung in Grinzing. Das dortige Milieu wurde einmal so beschrieben: ›das halbe ZK der kommunistischen Partei Ungarns.‹ - Georg Lukács und der Schriftsteller Béla Illés wohnten ebenfalls dort und Gelegenheit zum Musizieren gab es auch; Irma Friedmann hatte ein Klavier gemietet und begleitete ihren singenden Freund.


    Einschub:
    Die Singstimme von Hanns Eisler ist auf der ganz unten gezeigten CD (Aufnahme 1958) für knappe zehn Minuten zu hören, wo er am Beispiel von vier Liedern bei Probearbeiten zeigt,
    wie er sich die Interpretation in etwa vorstellt.


    Zu Beginn des Jahres 1919 schrieb sich Eisler am Neuen Wiener Konservatorium zum Studium der Komposition ein und nahm zusätzlich Klavierunterricht. Ein Schulfreund vom Gymnasium, der bei Schönberg Schüler war, konnte vermitteln, dass Hanns als Privatschüler zu Schönberg kommen konnte.
    Es wurde nach klassischen Regeln am Beispiel von Bach, Brahms und Beethoven unterrichtet und Schönberg stellte klar: »Ich unterrichte nicht ›atonale Musik‹ - sondern Musik. In der Literatur kommt Schönberg so zu Wort:
    »... soll hier das stattfinden, was nach meinen Erfahrungen bei meinem Privatunterricht am meisten Erfolg erzielte: ein beständiger und zwangloser Verkehr zwischen mir und meinen Schülern ... Sie werden kommen, wenn sie Lust haben und gerade nur ebensolang bleiben; und es wird an mir liegen, ihre Neigung zu erhöhen, ihre Begabung dadurch zu fördern. Sie sollen nicht fühlen, dass sie lernen, sie werden vielleicht arbeiten, vielleicht sogar sich plagen, aber es nicht merken.«
    Das klingt recht leger, aber an anderer Stelle ist nachzulesen, dass Schönberg ganz selbstverständlich erwartete, dass ihn seine Schüler mit ›Meister‹ anreden, um das plastisch darzustellen:
    Schönberg war zu diesem Zeitpunkt 45, Eisler 21 Jahre alt.


    Aber es ergab sich, dass Eisler zu einem Lieblingsschüler Schönbergs wurde und von Eisler selbst stammt die Information, dass er sogar einige Zeit im Mödlinger Haus Schönbergs wohnte.


    Im Folgenden arbeitete Eisler in einem Musikverlag als Notenkorrektor und übernahm die Leitung von Arbeiterchören, wo im »Karl-Liebknecht-Chor« erstmals revolutionäre Lieder aus dem Osten gesungen wurden.
    Im traditionsreichen ›Café Museum‹ am Karlsplatz, wo sich der Schönbergkreis traf, lernte Eisler die Sängerin Charlotte Demant - eine Spezialistin für Vokalwerke der Zweiten Wiener Schule - kennen und lieben, Ende August 1920 wurde geheiratet, 15 Jahre später - am 14. Mai 1935 - trennte man sich; am Rande sei bemerkt, dass Charlotte Demant auch in der KPÖ tätig war.


    Kurz nach Eislers Eheschließung nahm Schönberg seinen Musterschüler als Assistent mit in die Niederlande, wo bis zum März 1921 Kompositionskurse abgehalten wurden, es aber auch Konzertverpflichtungen im Amsterdamer Concertgebouw gab.
    Bei der Rückreise nach Wien ergab sich für Eisler die Gelegenheit dort seinen Bruder Gerhart zu treffen, der nach dem Krieg von Wien nach Berlin gegangen war.
    Bei einem Künstlerempfang in der Ukrainischen Botschaft, stellte Gerhart seinem Bruder ›einen Dichter aus München‹ vor, das war Bertolt Brecht.


    In Wien begann Hanns Eisler im Wiener »Verein für volkstümliche Musikpflege« seine Lehrtätigkeit, wobei dies hauptsächlich ein musikalischer Grundunterricht für Arbeiter war.
    Musikalisch gab es zwischen Schönberg und Eisler kaum Differenzen, aber weltanschaulich schon. Während Schönberg die Ansicht vertrat, dass Kunst keinen gesellschaftlichen Zweck verfolgen sollte, war sein Schüler da ganz anderer Ansicht, was in seiner Arbeit zum Ausdruck kam, wo immer auch soziale Aspekte mit dabei waren, die von Schönberg aber eher belächelt wurden. Eisler widmete sich intensiv der Komposition von Männerchören des Arbeitermilieus und vertrat die Ansicht, dass Musik die Massen erreichen muss und nicht nur eine kleine elitäre Gesellschaft.
    Dass Eisler mit anderen Schönberg-Schülern für einige Monate an Anton Webern weitergereicht wurde, resultierte aus dem Zeitmangel Schönbergs.
    Aus Empfehlungsschreiben Schönbergs geht 1923 hervor, dass er Hanns Eisler als ehemaligen Schüler bezeichnet, was im positiven Sinne zu verstehen ist.


    Die Anerkennung Schönbergs und die Verleihung des Kunstpreises der Stadt Wien (Richard Strauss saß in der Jury) - im April 1925 - half Eisler zunächst etwas,
    denn 1.000 Schilling war damals ein Riesengeld. Dennoch war auf lange Sicht die wirtschaftliche Gestaltung des Lebens schwierig geworden.
    Als er dann im Winter 1925 am Klindworth-Scharwenka-Konservatorium in Berlin einen Lehrauftrag erhielt, blieb der Familienwohnsitz in Wien.
    Hanns Eislers Geschwister waren in politische Querelen verstrickt, was noch weitreichende Folgen haben sollte; 1926 ersuchte Hanns Eisler erfolglos eine Mitgliedschaft in der KPD.
    In dieser Zeit entstanden Lieder, die die Welt verändern sollten, Eisler betrachtete diese Schöpfungen als »Abschied von der bürgerlichen Konzertlyrik.«


    Im Juli 1927 wurde in Baden-Baden das »Mahagonny Songspiel« unter Brechts Regie uraufgeführt, also noch vor Leipzig; hier traf Eisler zum zweiten Mal mit Brecht zusammen.
    In diesen Berliner Jahren widmet sich Eisler nicht nur Kompositionen, sondern wird auch publizistisch tätig, wobei er die Borniertheit der bürgerlichen Kunst angreift.
    Mit der schauerlichen »Ballade vom Soldaten« kommt es zur ersten Eisler-Vertonung eines Brecht-Gedichtes.
    Etwa in diese Zeit fällt auch die erste Begegnung mit dem singenden Schauspieler Ernst Busch, den man auch ›Barrikaten-Tauber‹ nannte; für die Schallplatte »Das rote Wedding« interessierte sich der Staatsanwalt.
    1930 reiste Eisler als Delegierter der kommunistischen ›Interessengemeinschaft für Arbeiterkultur‹ erstmals nach Moskau. Ende 1930 wurde in der alten Berliner Philharmonie »Die Maßnahme«, mit gewaltigem Choraufwand aufgeführt.


    Es ist in diesem Rahmen einfach unmöglich all diese Aktivitäten und Aufgeregtheiten zu schildern - Eislers Freundin bekam eine Stelle beim Moskauer Rundfunk, wurde 1938 zu 18 Jahren Straflager verurteilt und sah Berlin erst 1957 wieder ...


    Bei Hitlers Machtübernahme hielt sich Eisler in Wien auf und Brecht ließ ihn warnen und riet dazu nicht zurückzukehren. Also reiste der Komponist in der der Weltgeschichte herum, zunächst wegen eines Filmauftrags in die Tschechoslowakei, wo er 1933 in der Hohen Tatra Anna Luise Jolesch - die sich Lou nennt - wieder trifft, man war sich vorher schon in Berlin begegnet. Man nähert sich an und wählt zunächst Paris als Mittelpunkt des Exils. Die Ehe von Lou Jolesch wird im Sommer 1935 geschieden, am 7. Dezember 1837 schließt Eisler in Prag mit Lou eine zweite Ehe.


    Der zu dieser Zeit in Dänemark lebende Brecht versorgte Eisler reichlich mit Texten, die ›Svendborger Gedichte‹ sind dort entstanden und Eisler hatte Brecht dort mehrmals besucht; erstmals im Januar 1934 von Paris aus, zusammen mit Lou.
    Bald hatte Eisler in Holland zu tun, dann wieder in London und im Frühjahr 1935 war er sogar auf einer Konzert- und Vortragstournee durch die USA zu erleben.
    Im Januar 1937 fuhr Eisler nach Spanien, um die Internationalen Brigaden im Bürgerkrieg zu unterstützen.
    Die Umtriebigkeit Eislers in dieser Zeit hat Ludwig Renn so zum Ausdruck gebracht:


    Genosse Eisler, wo steckst Du wohl,
    In Moskau, New York oder an ´nem Pol?
    Wir bitten Dich sehr, verton uns das.
    Uns wird es schwer und Dir ist´s Spaß.
    Und schick uns gleich die Kompositiona
    Nach Madrid her und auch nach Barcelona.


    Am 20. Januar 1938 betrat Hanns Eisler mit seiner Frau Lou zum dritten Mal amerikanischen Boden und sie wussten, dass dies keine Stippvisite sein wird. Der Anfang war schwer, weil man nur von den Einkünften der Lehrtätigkeit an der ›New School for Social Research‹ nicht leben konnte; größere Mittel aus Europa mitzubringen war nicht möglich gewesen.
    Die ›New York Times‹ nahm von Eislers Konzerten Notiz und es entstanden recht erfolgreiche Filmmusiken, aber die Aufenthaltsgenehmigung der Eislers stand auf wackligen Füßen, denn die Besuchervisa waren zum Januar 1939 abgelaufen, am 2. März wurde ihnen offiziell die Ausweisung aus den USA verkündet. Man wich nach Mexiko aus, kam wieder zurück, mit dem Ganzen Hin und Her ließen sich mehrere Seiten füllen - als sich Eisler im Sommer 1940 wegen eines Filmprojekts in Hollywood aufhielt, erließ die amerikanische Einwanderungsbehörde offiziell Haftbefehl gegen Eisler.


    Nachdem eine Reihe bürokratischer Hürden genommen waren, durfte Eisler endlich am 22. Oktober 1940 in die USA einreisen. Bertolt Brecht war 1941 mit einem Visum über verschlungene Wege nach Los Angeles gelangt; Ende April 1942 waren Eislers in Los Angeles eingetroffen, wo sie zunächst ein einfaches Hotelzimmer bezogen.
    Die Rockefeller-Stiftung hatte mit der Finanzierung einer wissenschaftlichen Arbeit, die Hanns Eisler leitete, eine finanzielle Lebensgrundlage geboten. Die wirtschaftliche Lage verbesserte sich wesentlich durch sehr erfolgreiche Filmmusik - in Kalifornien schrieb Eisler Partituren für acht Filme - man konnte sich ein Haus in der Nähe von Arnold Schönberg mieten, der schon seit 1936 an der University of California lehrte und mit dessen Unterstützung Eisler 1944 eine Gastprofessur erhält. Bereits 1943 konnte Eisler ein eigenes Haus kaufen, ganz in der Nähe von Thomas Mann und Theodor W. Adorno. Da gab es eine deutsche Künstler- und Denkerkolonie am Pazifik.
    Aber auch das FBI dachte mit, ab 1943 wurden Eisler und sein Umfeld fast lückenlos überwacht, da kam ein Protokoll von mehr als 600 Seiten zusammen, welches aussagt, dass Personen beschattet, Telefonate abgehört und Einbrüche begangen wurden, natürlich hat man auch die Post kontrolliert.


    Vom künstlerischen Standpunkt aus befriedigte da manches nicht, wie zum Beispiel in einem Brief deutlich wird, den Eisler an seinen in England weilenden Sohn schrieb:


    »Jetzt habe ich gerade einen idiotischen Schinken fertiggemacht, er heißt ›Spanish Main‹. Das ist reiner Unsinn, Schwachsinn etc. ich mußte es des Geldes wegen machen.«


    Nach Kriegsende zogen die Eislers in ein bescheideneres Haus direkt am Strand von Malibu; es konnte wieder an ernsthaften Filmprojekten gearbeitet werden und Eisler lehrte nun als ordentlicher Professor an der University of California.


    1946 wurde das Komitee für unamerikanische Umtriebe neu aktiviert und Ruth Fischer (alias Ruth Elfriede Eisler), also die Schwester der Eisler-Brüder, beschuldigte ihren Bruder Gerhart so massiv, dass dieser in ganz ernste Schwierigkeiten kam und letztendlich ergab sich daraus, dass beide Brüder ausreisen mussten. Zu Hanns hatte die Schwester zwar ein besseres Verhältnis, aber dennoch sah sich Hanns Eisler verschiedenen Verhören ausgesetzt, an denen auch der spätere US-Präsident Richard Nixon beteiligt war.
    Charles Chaplins Sicht auf die Dinge war, dass es in der Familie Eisler zugehe wie in den Königsdramen von Shakespeare.
    Chaplin war geradezu rührend um Eisler besorgt; als kaum noch einer mit Eisler verkehren mochte, ließ ihn Chaplin mit seinem Wagen zum Gericht bringen und auch wieder dort abholen, oft begleitete er ihn auch.
    Obwohl es Solidaritätsbekundungen von Albert Einstein, Thomas Mann, Pablo Picasso und anderen Prominenten gab, ordnete das Justizministerium am12. Februar 1948 die Ausweisung von Hanns und Lou Eisler an.
    In der New Yorker Town Hall gab es unter Bernsteins Leitung noch ein letztes Konzert, dann flogen die Ausgewiesenen am 26. März 1948 mit einem Visum der Tschechoslowakei über London nach Prag und am 1, April 1948 war man im zerstörten und viergeteilten Wien angekommen, wo sich Eisler mit seiner ersten Frau und seinem inzwischen 20-jährigen Sohn traf.
    In Wien sah Eisler nichts, worauf er auf längere Sicht aufbauen konnte und entschied sich für Berlin, obwohl sich der in Leipzig Geborene immer als Österreicher sah und auch seine österreichische Staatsbürgerschaft behielt.


    Der erste Wohnsitz der Eislers in Berlin war das ›Hotel Adlon‹, genauer gesagt, ein stehengebliebener Seitenflügel des einstigen Prachthotels.
    Ab März 1950 stand Eisler ein ansehnliches Haus in Pankow-Niederschönhausen zur Verfügung.
    Johannes R. Becher, der Vorsitzende des Kulturbundes, unterstützte die zurückgekehrten Künstler in vielfältiger Weise, er scharte die geistige Elite der Zeit vor 1933 um sich.
    Arbeit gab es für Eisler in Berlin genug, die »Rhapsodie für großes Orchester« entstand anlässlich des 200. Geburtstages von Goethe und wurde am 26. August 1949 im Weimarer Theater Uraufgeführt, da war die DDR noch nicht gegründet; bei dieser Gelegenheit traf Hanns Eisler auch Thomas Mann wieder.
    In dieser Zeit entstand auch Filmmusik für die DEFA - »Unser täglich Brot«, aber die wohl spektakulärste Eisler-Komposition war die Hymne für den am 7. Oktober 1949 neu gegründeten Staat.
    Johannes R. Becher hatte Eisler zu einer Goethe-Feier nach Warschau eingeladen, wo er ihm dann einen selbst verfassten Text übergab, mit der Bitte, dazu eine Musik zu schreiben.
    Beim anschließenden Besuch im Geburtshaus von Chopin ergab sich die Gelegenheit auf dem Flügel Chopins den musikalischen Einfall zu Gehör zu bringen; es war die Geburtsstunde der Hymne »Auferstanden aus Ruinen«.


    Pädagogisch trat Eisler in die Fußstapfen seines Lehrers Schönberg, wie einst dieser, unterrichtete Eisler in seinem Wohnhaus in der Pfeilstraße. Später gab es dann das Staatliche Konservatorium Berlin, ein Vorläufer der heutigen Hochschule für Musik, die seit 1964 den Zusatz Hanns Eisler trägt. Eisler erhielt dort eine Professur für Komposition.


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    Zu dem im Bild gezeigten Buch (13x20,5 cm):
    Das Opernlibretto von Seite 11-144
    Nachbemerkung von Jürgen Schebera, das die Diskussion um Eislers Libretto zum Gegenstand hat, Seiten 147 bis 166.

    Von den Querelen um seinen »Johann Faustus« - ein Werk das über den Fragment-Status nicht hinauskam - war Eisler überrascht. Das Libretto dieser geplanten Oper war Eislers einziges literarisches Werk. Noch etwas unsicher, sandte er den ersten Entwurf zu Thomas Mann und Lion Feuchtwanger nach Amerika, wobei man drüben ein ›Werk von hohem Dichterischen Rang‹ erkannte, aber Thomas Mann bemerkte, dass das Ganze hübsch provokant sei.
    Eislers Manuskript ging an den Aufbauverlag und im Oktober 1952 erschien das Buch. Walter Ulbrich donnerte, dass es die SED nicht zulassen werde, dass eines der großen Werke unseres großen Dichters Goethe zur Karikatur verunstaltet wird; das »Neue Deutschland« meinte, dass Eislers Entwurf dem deutschen Nationalgefühl ins Gesicht schlägt.
    Hanns Eisler erlitt nun praktisch gleich zwei Schicksalsschläge; neben der vernichtenden Kritik vom Zentralkomitee zeichnete sich auch die Trennung von seiner Frau ab, wenn man es etwas volkstümlich formuliert - sie wurde ihm von Ernst Fischer, dem Politbüromitglied der kommunistischen Partei Österreichs ausgespannt, der alles dransetzte, diese Frau zu gewinnen, man kannte sich ja schon seit 1948.
    Als sich Hanns Eisler im Frühjahr 1953 mit seiner Frau in Wien aufhält, beschließt Lou nicht mehr nach Berlin zurückzukehren, sie schreibt einen Brief nach Berlin: ›Hallo, ich komme nicht mehr nach Berlin! Deine Lou.‹ 1955 wird die Ehe geschieden. Hanns Eisler traf diese Trennung hart.


    Eine Trennung für immer brachte der 14. August 1956 als Bertolt Brecht starb, die große politische wie ästhetische Übereinstimmung der beiden war beachtlich. Diese lange Jahre währende fruchtbare künstlerische Partnerschaft war so deutlich, dass man Eisler mit dem Etikett ›Brecht-Komponist‹ versah, auch wurde er stets als ›DDR-Staatskomponist‹ bezeichnet, obwohl der Österreicher zu diesem Staat durchaus ein ambivalentes Verhältnis hatte, und es sei nochmals herausgearbeitet, dass Hanns Eisler - obwohl einst angestrebt - nie Mitglied einer kommunistischen Partei war.


    Unter dem Namen HANNS EISLER steht auf dem Grabstein in etwas kleinerer Schrift STEFFY EISLER. Am 26. Juni 1958 hatten beide geheiratet, Es war Hanns Eislers dritte Ehe; Stephanie Peschl war eine 1919 in Wien geborene Pianistin.


    Am 8. Februar 1960 erlitt Hanns Eisler in Wien einen Herzinfarkt; im März 1961 verbrachten die Eislers einen Genesungsurlaub in Ascona und von dort kam Post mit der Nachricht, dass man auch Venedig und Florenz besucht hatte.
    Von Dieter B. Herrmann, der in den letzten beiden Lebensjahren Hanns Eisler einige Male in der Pfeilstraße besuchte, weiß man, dass die Eislers über einen Wartburg mit Chauffeur verfügten. Herrmann berichtet auch von seinem letzten Treffen mit Eisler:


    »Zum letzten Mal traf ich Eisler am Montag, dem 28. August1962. Er hatte Gäste aus Wien, u. a. die Schauspielerin Maria Emo, eine gute Freundin von Steffy Eisler, und zog mit uns allen in den Pankower Ratskeller. Eisler war bester Laune und wir blieben bis 21:30 Uhr.«


    Einige Tage später erfuhr Herrmann aus der Zeitung, dass Hanns Eisler tot war.


    Der Trauerakt fand am 18. September in der Deutschen Staatsoper Unter den Linden statt, nach der Trauerfeier erfolgte die Beisetzung.


    Eislers letzte Arbeit, die »Ernsten Gesänge für Bariton und Streichorchester« wurden posthum an seinem ersten Todestag in Dresden mit der Staatskapelle unter Otmar Suitner und mit dem Bariton Günther Leib uraufgeführt.
    Hanns Eisler ist damit ein bemerkenswertes Vermächtnis geglückt, aus dem sein vielfältiges Leben herauszuhören ist.


    Praktische Hinweise:
    Dorotheenstädtischer Friedhof 10115 Berlin, Chausseestraße 126
    Man geht zunächst etwa 50 Meter auf die Luther-Statue zu, biegt bei der ersten Möglichkeit nach links ab und steht nach wenigen Schritten vor dem Grab von Bertolt Brecht/Helene Weigel. Ein paar Schritte weiter hat Heinrich Mann seine Ruhe gefunden, und dazwischen - aber auf der anderen Seite des Weges - befindet sich das EISLER-Grab.


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    Der Eingang zum Friedhof, die Beschriftung am direkt anschließenden Brecht-Haus kann als Wegweiser dienen.


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  • Antonio Salieri - *18. August 1750 in Legnago - † 7. Mai 1825 in Wien


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    Sein Geburtsort liegt in Italien, damals Republik Venedig. Es schlug - zumindest bei den Wiener Kulturinteressierten - wie eine Bombe ein, als die Italiener im Jahr 2005 ihren Salieri wieder zurückhaben wollten.


    Immerhin wurde ein Artikel, der das verwahrloste Grab Salieris auf dem Wiener Zentralfriedhof thematisierte, in der auflagestärksten Zeitung Italiens, ›Corriere della Sera‹, veröffentlicht. In Salieris Geburtsstadt hatte sich ein Komitee (Legnago per Salieri) gebildet, das die Gebeine Salieris vom Wiener Zentralfriedhof in seine Heimatstadt zurückholen möchte. Die in Verona erscheinende Zeitung ›L´Arena‹ schrieb ebenfalls. dass Salieri nach Hause geholt wird.
    Der Bürgermeister von Legnago bekräftigte das Vorhaben und führte aus, dass es das Ziel sei die Überführung der Gebeine des legnagnesischen Komponisten in seine Geburtsstadt anzustreben, um ihm einen würdigen Grabplatz in Legnago zu gestalten.


    Die Wiener Kulturbürokratie beeilte sich nun zu versichern, dass man Maßnahmen zur Sanierung des verwahrlosten Grabes ergreifen werde.


    Antonio Salieri kam bei einer wohlhabenden Kaufmannsfamilie als achtes Kind abends um halb elf zur Welt, Antonios Mutter, Anna Maria, war die zweite Frau des Vaters. Man konnte es sich leisten den begabten Jungen in die Lateinschule zu geben. Das Elternhaus förderte auch die schon früh erkannte musikalische Begabung ihres Sprösslings. Sein um 13 Jahre älterer Stiefbruder Francesco, der auf vom berühmten Geigenvirtuosen Guiseppe Tartini vermittelten Unterricht zurückblicken konnte, unterwies seinen kleinen Bruder in Violine, Cembalo und Gesang. Den Umgang mit Tastinstrumenten vermittelte der Domorganist von Legnago.
    Als Zwölfjähriger verlor Antonio seine Mutter, der nur 40 Lebensjahre beschieden waren; ein gutes Jahr später verstarb auch der Vater; vier Söhne und zwei Töchter hatten nun keine Eltern mehr. Sie mussten nun für sich selbst sorgen. Antonio ging nach Padua, wo sein um sieben Jahre älterer Bruder als Franziskanermönch lebte.
    1766 nahm sich ein Freund von Antonios Vater des Waisenjungen an und konnte es einrichten, dass Antonio von Giovanni Battista Pescetti - das war der Kapellmeister am Markusdom von Venedig - in Musiktheorie unterrichtet wurde, aber auch von einem Tenor in Gesang. Das Ganze war aber nur eine Episode, denn Pescetti starb überraschend.
    Nun war zunächst geplant den Jungmusiker zur Vervollkommnung seiner Ausbildung nach Neapel zu schicken, aber durch die Zufälligkeiten des Lebens ergab es sich, dass er fast ein echter Wiener wurde.


    Der Komponist Florian Leopold Gassmann war aus Böhmen nach Venedig gekommen, um am berühmten Teatro San Giovanni Crisostomo seine Oper »Achille in Sciro« zur Aufführung zu bringen. Der Kontakt zu diesem Komponisten kam durch Antonios Gesangslehrer zustande. Gassmann hatte an dem jungen Salieri Gefallen gefunden und man war sich einig geworden, dass Gassmann den jungen Mann mit nach Wien nimmt, wo Gassmann 1763 als Ballettkomponist Nachfolger von Christoph Willibald Gluck wurde und ein Jahr später zum Kammerkomponisten des Kaisers ernannt worden war.
    Gassmann hatte fortan die Stelle des ›Ersatzvaters‹ (*1729) eingenommen und nahm es mit der Ausbildung seines Schützlings sehr genau; verheiratet war Gassmann zu diesem Zeitpunkt noch nicht.


    Gassmanns Unterricht war gut geplant und bot eine recht breite Palette. Neben den diversen musikalischen Dingen die gelehrt wurden, also Generalbass- und Partiturspiel, Kontrapunkt und Übungen mit der Violine, kam begleitend Unterricht bei einem deutschen und französischen Sprachlehrer dazu, täglich erteilte ein Priester, das war Don Pietro Tommasi, Unterricht in Latein und italienischer Poesie.
    Antonios außerordentliche Begabung und der gehaltvolle Unterricht trug schon bald insofern Früchte, dass Gassmann seinen Schüler bei einem Kammerkonzert am Kaiserlichen Hof präsentieren konnte. Der Kaiser hatte durchaus musikalischen Sachverstand und spielte selbst Cembalo und Violoncello. Nachdem Gassmanns Schüler einiges vom Blatt gesungen hatte, bestand Joseph II. darauf, dass Antonio Salieri zukünftig bei Hofkonzerten mitwirkt, ein direktes Honorar gab es dafür nicht, aber jeweils zu Neujahr ein großzügiges Geschenk, wovon Gassmann neben der Kleidung auch die zahlreichen Hauslehrer entlohnen konnte.
    Auch die Abläufe am Theater konnte Saliere als Mitwirkender kennenlernen, denn manchmal musste er seinen Meister am Cembalo vertreten. In dieser Zeit begegnete er 1768 auch Christoph Willibald Gluck als dessen Oper »Alceste« am Burgtheater erstmals aufgeführt wurde.
    So allmählich ließ Gassmann nun auch zu, dass sein Schüler erste kleine Kompositionen, fertigte, die zwischendurch immer mal wieder gebraucht wurden.
    Gassmann trat im September 1768 in den Stand der Ehe und ein Jahr später war daraus eine Familie geworden, also benötigte man eine angemessene Wohnung; Salieri zog mit um.


    Während Gassmann anderweitig stark beschäftigt war, kam Giovanni Gastone Boccherini - das war der Bruder des berühmten Luigi Boccherini - mit einem Operntextbuch nach Wien,
    das er von Gassmann vertont haben wollte.
    Da Gassmann wegen anderweitigen Verpflichtungen passen musste, frug man bei Salieri nach, der sich dann mit großer Begeisterung ans Werk machte; es entstand die heitere Oper »Le donne letterate«; nachdem Gluck dazu seinen Segen gegeben hatte, wurde das Erstlingswerk von Antonio Salieri im Januar 1770 erfolgreich aufgeführt und die beiden Nachwuchskünstler Boccherini und Salieri erarbeiteten noch weitere Stücke.


    Weitgehende Übereinstimmung unter Musikfreundenden herrscht darüber, dass Antonio Salieris erstes Meisterwerk seine 1771 komponierte Oper »Armida« ist, ihr liegt ein Stoff zugrunde, der auch von vielen anderen bekannten Komponisten vertont wurde, bis hin zum 20. Jahrhundert wo sich Antonin Dvořák der Sache annahm. Salieri setzte bei seiner »Armida« die Vorgaben der Opernreform von Christoph Willibald Gluck um und war auch weiterhin erfolgreich produktiv; im ersten Halbjahr des Jahres 1772 entstanden drei neue Buffa-Opern. Das erste Stück war »La fiera di Venezia«. Zu dieser ebenfalls erfolgreich aufgeführten Oper könnte man einige positive Stimmen prominenter Musiker der Zeit zitieren, aber damit das Ganze nicht ganz so glänzend daherkommt, sei bemerkt, dass Leopold Mozart von Salieris Musik in »La fiera di Venezia« nicht viel hielt; 1785 - also 13 Jahre nach Erstaufführung - kritisierte er Salieris Musik in einem Brief so:
    »voll der ausgepeitschtesten Gedanken, altväterlich, gezwungen und sehr Leer an Harmonie ...«.


    Salieris Erfolge hatten sich indes bis Stockholm herumgesprochen und König Gustav III. versuchte die besten Musiker Europas an seine Oper zu holen, so auch den 22-jährigen Salieri. Die Musikwissenschaft geht davon aus, dass Salieri auf Betreiben von Joseph II. den Ruf nach Schweden nicht angenommen hat.
    Nach sechsjährigem Aufenthalt in Wien stand Salieri nun als erfolgreicher Komponist inmitten seiner Mentoren Gassmann und Gluck und in Hofkreisen galt er als deutscher Komponist, wie durch Maria Theresia überliefert ist, dennoch wurde er auch bald zum Kapellmeister der italienischen Oper ernannt.


    Florian Leopold Gassmann hatte auf seiner letzten Italienreise einen Kutschenunfall gehabt und starb im Januar 1774 überraschend an den Spätfolgen dieses Unfalls.
    Nun trat Antonio Salieri in die Fußstapfen seines ›Ersatzvaters‹, dem nun 24-Jährigen wurde die Stelle eines ›k. k. Kammer-Compositors‹ übertragen, was mit einem Jahresgehalt von 100 Dukaten und einem kostenlosen Hofquartier verbunden war; die Stellung als Kapellmeister der italienischen Oper wurde mit 300 Dukaten honoriert.


    Aber diese Einkünfte wurden als nicht ausreichend angesehen, um in den Stand der Ehe treten zu können. Beim Musikunterricht in einem Kloster hatte er die Halbweise Eva Maria Helferstorfer, die dort erzogen wurde, kennen und lieben gelernt. Aber Eva Marias Vater starb, bevor Antonio bei ihm um die Hand der Tochter anhalten konnte.
    Nun hatte ein Vormund das Sagen, der selbst ein Auge auf das schöne Kind geworfen hatte und stellte fest, dass Antonio Salieri nicht ausreichende Mittel besitzt, eine Frau aus einer geadelten Familie anständig zu erhalten; der Vormund ließ nur die 100 Dukaten als sichere Einkünfte gelten, seine anderen Verdienste - immerhin 600 Dukaten - bezeichnete er als zu unsicher.
    Die ganze Angelegenheit kam schließlich Joseph II. zur Kenntnis und er erhöhte Salieris Einkünfte so, dass der Eheschließung nun nichts mehr im Wege stand. Die Trauung fand am 10. Oktober 1775 in St. Stephan statt. Die Gattin war vermögend, man konnte die Ehe in einer Zehn-Zimmer-Wohnung beginnen - und es sollte Antonio Salieris lebenslanges Zuhause bleiben.


    Oben ist zwar erwähnt, dass Salieri in Hofkreisen als ›deutscher Komponist‹ galt, aber ganz so deutsch war die Sache nun auch wieder nicht, denn zu dieser Zeit wurde Salieri Mitglied der Italienischen Kongregation, die das geistliche Zentrum der etwa 7.000 Italiener, die in Wien lebten, darstellte.
    1778, nach Gründung des Nationalsingspiels wurden für längere Zeit in Wien keine Opern in italienischer Sprache aufgeführt. Da es nun für Salieri als Kapellmeister der italienischen Oper nichts mehr zu tun gab, machte er sich zu einer Reise in sein Heimatland auf und er hatte einen Auftrag im Gepäck. Der Mailänder Adel hatte bei Gluck wegen einer Oper angefragt, denn man wolle ein attraktives Stück, um das neu erbaute Teatro alla Scala zu eröffnen. Gluck hatte seinen Protegé Salieri empfohlen. Salieri hatte noch etwas darüber hinausgedacht und plante gleich eine Tournee durch sein Heimatland, wozu er zunächst auch die kaiserliche Erlaubnis erhielt, nachdem er in Wien die deutsche Nationalbühne zum Laufen gebracht hatte.
    Am 30. März 1778 reiste Salieri in Wien ab, am 3. August 1778 ging dann in Mailand sein in der Tat spektakuläres Werk »Europa riconosciuta« in allgemeiner Begeisterung über die Bühne. Allerdings war das Stück so auf Mailand zugeschnitten, dass in der Regel nur Teile daraus auch andernorts nachgespielt wurden.
    Von Mailand aus reiste der erfolgreiche Komponist nach Venedig, wo er mit »La scuola de´gelosi« - eine komische Oper - einen nachhaltigeren Erfolg verbuchen konnte. Das am 27. Dezember 1778 im Teatro San Moisé uraufgeführte Stück verbreitete sich rasch in Europa, sogar Herr von Goethe war begeistert und die Oper wurde in mehrere Sprachen übersetzt.


    Aber Salieri war nicht nur in eigener Sache unterwegs, der Kaiser hatte ihn auch beauftragt in Italien nach Tenören Ausschau zu halten. Natürlich war Salieri auch in Rom, wo ihn eine Nachricht erreichte, dass er nach Neapel kommen möge, weil man dort die Opera seria »Semiramide« aufführen wollte, ein Stoff, der von einer Menge an Komponisten vertont wurde. Das war natürlich ein Angebot, denn die hatten da unten am Vesuv mit über 3.000 Plätzen das größte Theater Europas.
    Salieri bat zwar die Wiener Majestät um eine Urlaubsverlängerung, ging jedoch davon aus, dass das lediglich eine Formsache sei und reiste schon mal gen Neapel, um keine Zeit zu verlieren. Man führte ihn in allerhöchste Kreise ein und es hatte den Anschein, dass er auch Neapel im Sturm erobert. In dieser Situation wurde ihm - etwas verspätet - ein Schreiben auf sein Gesuch um Urlaubsverlängerung übermittelt, das es in sich hatte:


    »In Erledigung Ihres, an seine Majestät gestellten Gesuches, um die Erlaubniß, noch länger in Italien bleiben zu dürfen, tragen Allerhöchstdieselben mir auf, Ihnen zu schreiben, daß Sie Herr seyen, so lange dort zu weilen als es Ihnen gefällt und gut dünkt, ja, daß Sie, wenn Sie sich besser dort befinden, als hier, auch für immer dort bleiben mögen.«


    Umgangssprachlich nennt man das einen Wink mit dem Zaunpfahl, das war auch für Salieri nicht zu übersehen und so befreite er sich von den in Neapel schon eingegangenen Verpflichtungen, um schleunigst nach Wien zurückzukehren, er machte auf der Rückreise nur noch einen kurzen Stopp in Bologna, um Martini zu besuchen; am 8. April 1780 traf er wieder in Wien ein, wo er sich unverzüglich an allerhöchster Stelle für sein Fehlverhalten entschuldigte und in Gnaden aufgenommen wurde.
    Joseph II. hatte auch gleich einen Auftrag für den Zurückgekehrten, für die Nationaloper sollte ein Singspiel komponiert werden. Es kam schließlich die Oper »Der Rauchfangkehrer« heraus, wobei weitgehend Einigkeit darüber besteht, dass das Libretto äußerst schwach ist, aber die Musik genießt noch heute Ansehen; im radebrechenden italienischen Schornsteinfeger konnte Salieri sich selbst erkennen. Salieri hatte das Werk rasch fertiggestellt, aber durch den Tod von Maria Theresia konnte die Oper dann erst im April 1781 uraufgeführt werden, was mit großem Erfolg geschah, es war Salieris erstes deutschsprachiges Bühnenwerk.
    Der damals frisch nach Wien übersiedelte Wolfgang Amadeus Mozart besuchte die neu herausgekommene Oper auch und berappte sechs Dukaten für eine Partiturkopie.
    Aber es kam auch noch ein zweiter Mann, der heute noch in der Opernwelt einen guten Namen hat in die Donaustadt, das war ein gewisser Lorenzo Da Ponte, nur ein Jahr älter als Salieri, der recht bald die Position eines Hofpoeten bekleidete.


    1783 befahl der Kaiser, dass die italienische Oper wieder eingerichtet wird und Salieri setzte sich dafür ein, dass Lorenzo Da Ponte den Posten des Theaterdichters erhielt. Nun kam auch Salieris auf seiner Italienreise erarbeitete Sängerliste zum Einsatz.
    Vermutlich hätte Salieri zur Eröffnung im Burgtheater eine neue Oper beigesteuert, aber Gluck war einerseits gesundheitlich eingeschränkt, hatte aber andererseits einen Opernauftrag für Paris, den er dann einfach an Salieri übertrug, stellte das jedoch seinen französischen Auftraggebern so dar, dass ihm Salieri bei der Ausarbeitung nur assistiert hat, obwohl das fünfaktige Werk allein aus der Feder von Antonio Salieri stammte.


    Die Oper »Les Danaïdes« war Maria Antoinette gewidmet und wurde am 26. April 1784 mit ganz großem Erfolg in Paris uraufgeführt. Nach diesem überwältigenden Theaterereignis ließ Gluck in ›Journal de Paris‹ bekanntgeben, dass Salieri der alleinige Verfasser des Werks sei und Salieri glättete das Ganze etwas indem er sagte, er sei von Glucks Weisheit und Genie geleitet worden. Mit einer Tasche voll Geld - insgesamt 16.200 Livres - trat Salieri die Rückreise nach Wien an.
    Auf diesen Pariser Triumph folgte die weniger erfolgreiche Oper »Il ricco d´un giorno«, wo Lorenzo Da Ponte für das Libretto zuständig war. Daraufhin wendete sich Salieri dem bisher erfolgreicheren Dichter Giovanni Battista Casti zu, woraus letztendlich die ersprießliche Zusammenarbeit Da Pontes mit Wolfgang Amadeus Mozart resultierte.
    Ende Juli 1786 brach Salieri zu seiner zweiten Reise nach Paris auf wo »Les Horaces« zuerst in kleinerem Rahmen in Versailles und danach der Pariser Öffentlichkeit präsentiert werden sollte, die Aufführungen waren in der unfreundlichen Jahreszeit geplant, insgesamt kann man von einem Misserfolg sprechen; aber unmittelbar danach arbeitete Salieri bereits an seiner nächsten Oper »Tarare«, und das unter idealen Bedingungen, denn er war bei Textdichter Beaumarchais einquartiert, der ja auch musikalisch was drauf hatte; aus einem Brief weiß man, dass Salieri im Hause Beaumarchais mit Aufmerksamkeiten überschüttet wurde. Der agile Dichter hatte auch dafür gesorgt, dass im Vorfeld der Uraufführung das Interesse der Öffentlichkeit geweckt war.›Sensationell‹ ist wohl der richtige Begriff, wenn man beschreiben soll was da alles geschah, natürlich war die Aufführung ein großer Erfolg.


    Am 17. November 1787 dirigierte Salieri beim Totenamt für Christoph Willibald Gluck dessen bisher unveröffentlichten Psalm »De profundis«.
    Natürlich wollte der Kaiser das Pariser Erfolgsstück »Tarare« auch an der Wiener Hofoper aufgeführt sehen, allerdings ergaben sich bei der Übertragung des französischen Librettos ins Italienische Schwierigkeiten; man modifizierte das Stück und so wurde aus »Tarare« dann »Axur« und soll die Lieblingsoper von Kaiser Joseph II. gewesen sein und sogar Johann Wolfgang von Goethe und Heinrich Heine bewunderten das Werk. Der Komponistenkollege Johann Friedrich Reichardt schrieb am Ende seiner Lobeshymne im ›Musikalischen Wochenblatt‹: »Überhaupt macht diese Musik einen Effekt, der sich nur empfinden, nicht beschreiben lässt.«


    Im Februar 1788 hatte Salieri seinen Karrieregipfel am Hof erreicht und war nun Hofkapellmeister. Kaiser Joseph II. kehrte zum Jahresende gesundheitlich schwer angeschlagen vom Türkenkrieg zurück, war aber im Feld stets über die Vorgänge am Theater informiert worden.
    In dieser Zeit hatte Salieri mit »Cosi fan tutte« begonnen, aber die Arbeit aus unbekannten Gründen schon nach zwei Nummern abgebrochen, Da Ponte gab das Libretto an Mozart weiter, der sich sofort an die Arbeit machte, woraus sich eine Verstimmung zwischen Salieri und Mozart ergab, die man jedoch nicht aufbauschen muss, das war danach ein ganz normales kollegiales Verhältnis, wobei man Konkurrenzdenken natürlich nicht ausschließen kann.
    Eigentlich hätte Salieri auch wieder in Paris zu tun gehabt, aber die revolutionären Aktivitäten dort hielten ihn von der französischen Metropole fern.
    Eine ernste Sache war für den Hofkapellmeister, dass sein großer Gönner am 20. Februar 1790 starb; sein Bruder, Leopold II. trat die Nachfolge an, der andere musikalische Vorstellungen hatte und den Komponisten Domenico Cimarosa bevorzugte, aber es war ihm keine längere Regentschaft beschieden, er starb völlig unerwartet am 1. März 1792. Cimarosa reiste wieder nach Neapel zurück. Mit seinem neuen Dienstherrn, Franz II., kam Salieri dann ganz gut zurecht.
    In dieser Zeit war Beethoven zum zweiten Mal und für immer nach Wien gekommen und wurde Schüler von Salieri, Schöpferische Kompositionen traten in den Hintergrund, die Ereignisse in Paris sorgten in ganz Europa für Entsetzen.
    Wenn auch Salieri Paris fern geblieben war und hieraus eine schöpferische Pause resultierte, war ja etwas vorbereitet worden, nämlich die Oper »La princesse de Babylone«; Désiré Martin hatte ein Schauspiel Voltaires adaptiert. Der Dichter Giovanni De Gamerra fertigte dann daraus das Libretto zu einem der ganz großen Opernerfolge Salieris: »Palmira, regina die Persia«; das Werk wurde auf vielen Bühnen Europas nachgespielt.


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    Historisches Bühnenbild zur ›Palmira‹-Aufführung in Frankfurt am Main.
    Die Ausstattungen waren meist sehr aufwändig und mitunter kamen echte Kamele auf die Bühne.


    Bis in unsere Zeit hat sich aus der Oper das Stück »Armonia per un tempio della notte« gehalten, das auch für kirchlichen Gebrauch nutzbar gemacht und eigentlich für einen Musikautomaten komponiert wurde, der im Zauberpark des reichen Fabrikanten Peter von Braun installiert wurde.


    Am 20. Februar 1801 machte sich Salieri nach Triest auf; der Auftrag zur Einweihung des Teatro Nuovo (ab 1901: Teatro Giuseppe Verdi) kam überraschend, weil der ursprünglich vorgesehene Komponist Domenico Cimarosa gestorben war. Die Zeit war so knapp, dass Salieri mit seiner Oper »Annibale in Capua« erst nach einer anderen Oper in das neue Haus einziehen konnte, wobei »Annibale in Capua« ganz groß ankam, aber das war alles so auf Triester Verhältnisse zugeschnitten, dass dem Werk keine weite Verbreitung vergönnt war.


    Im Spätsommer 1803 war Carl Maria von Weber nach Wien gekommen, im November 1805 Napoleon - nun gab es in Wien ganz große ›Oper‹ auf der Bühne des Lebens, Not und Elend waren unbeschreiblich groß.
    Außerhalb der Kriegssituation traf die Familie Salieri ein großer Schlag; drei Tage nach der Kriegserklärung Frankreichs gegen Österreich starb im Alter von 23 Jahren Salieris einziger Sohn; am 30. August 1807 starb nach über dreißigjähriger Ehe Theresa Salieri, die ihrem Mann acht Kinder geboren hatte. Die gerade fertiggestellte Umarbeitung von »Les Danaïdes« zog Salieri zurück, obwohl die Aufführung bereits angekündigt war.
    Man vermutet, dass Salieris Requiem »Picciolo Requiem composto da me, e per me, Ant. Salieri, picciolissima creatura« unmittelbar nach dem Tod seiner Frau entstand und der im Autograph zu sehende Eintrag: ›agosto 1804‹ im hohen Alter nachgetragen wurde und sich Salieri dabei irrte, was man aus einem Zelter-Brief an Goethe herauslesen kann.


    In den Monaten nach Theresias Tod war Maestro Salieri kaum noch in der Öffentlichkeit zu sehen und hielt sich auch von eng Vertrauten fern. Erst am Dreikönigstag 1808, bei der Hochzeit Kaiser Franz I., trat Salieri bei der musikalischen Festgestaltung wieder in Erscheinung. Anlässlich des 76. Geburtstages von Joseph Haydn leitete Salieri eine Aufführung der »Schöpfung«, wo Conradin Kreutzer am Klavier ein auf 60 Personen verstärktes Orchester und 32 Choristen dirigierte; Altmeister Haydn wohnte dem Konzert bei und der 37-jährige Beethoven auch.


    Die ganz großen Sachen hatte Salieri zu diesem Zeitpunkt komponiert, ab und an dirigierte er auch noch und widmete sich dem musikalischen Nachwuchs. Auch an dem Kompositionswettbewerb um den Text »In Questa Tomba« beteiligte er sich und war einer der 63 Komponisten, Salieri vertonte Carpanis Text sogar in zwei Versionen.
    Ansonsten entstanden in der Zeit des wieder entbrannten Krieges unter dem Eindruck grausiger Bilder viele geistliche Werke; insbesondere zwischen 1810 bis 1812 schrieb Salieri viel Kirchenmusik.
    Und er wendete viel Zeit als Lehrender auf, wo es eine beachtliche Namensliste von später ganz bekannten Musikern gibt, da war zum Beispiel neben Beethoven auch noch Franz Schubert, mit dem Salieri schon zu tun hatte als der Knabe Franz sieben Jahre alt war; als ›Francesco‹ 1812 wegen Stimmbruchs aus dem Chor ausschied und sich der Komposition zuwandte, besuchte Franz Schubert Maestro Salieri zweimal wöchentlich, um Lektionen in Partiturspiel, Werkanalyse und Musiktheorie zu erhalten, es entstanden auch erste Kompositionen. Ebenso war Salieri anwesend als Schubert am 25. September 1814 in der Lichtentaler Kirche seine erste Messe in F-Dur D105 aufführte.
    Auch Meyerbeer war nach Wien gekommen und konnte ein Jahr lang Salieris kostenlosen Unterricht genießen und dem Rat des Meisters folgen, nach Frankreich und Italien zu reisen.


    Während des Wiener Kongresses, der sich fast ein Jahr hinzog, war Salieri bei den zahlreichen Veranstaltungen, die zuweilen sehr aufwändig waren, so stark beansprucht, dass erhebliche gesundheitliche Schäden folgten. In dieser Zeit erhielten einige seiner Dirigate schlechte Kritiken.


    Dessen ungeachtet, wurde Salieri 1815 vom französischen König Louis XVIII. zum Ritter der französischen Ehrenlegion ernannt und zum fünfzigjährigen Künstlerjubiläum gab es für Salieri in Wien umfangreiche Ehrungen.
    Noch 1819 wurden seine Opern »Les Danaïdes« und »Tarare« wieder sehr erfolgreich in Paris aufgeführt, nachdem man den Text der neuen Zeit angepasst hatte.
    1819 weilte Goethe-Freund Carl Friedrich Zelter in Wien und besuchte Salieri mehrmals, was er auch nach Weimar berichtete - das las sich dann so:


    »Salieri ist die bravste Haut von der Welt und noch immer fleißig, auf die kindlichste Art. Er hat über vierzig Opern geschrieben. Er ist 69 Jahre alt und hält sich für außerhalb der Mode, was er nicht nöthig hätte; denn sein Talent fließt noch und von seinen Schülern steht keiner über ihm.«


    Es stellten sich gesundheitliche Schwächen ein; da waren Gicht und Augenleiden und man sah den Komponisten immer seltener in der Öffentlichkeit. Trotz der umschleierten Augen komponierte Salieri noch kleine Gesangsstücke und unterrichtete.
    Aus der Schülerzahl ragte ein Ausnahmetalent heraus, dessen Fähigkeiten am Klavier den alten Salieri faszinierten; es war der zehnjährige Franz Liszt, der etwa ein Jahr vom Hofkapellmeister unentgeltlich unterrichtet wurde - dreimal die Woche.


    Mit Salieris Gesundheit ging es weiter bergab, am 8. Oktober 1823 unterzeichnete er mit zittriger Hand sein Testament. Antonio Salieri starb am 7. Mai 1825 um acht Uhr abends zuhause im Kreise seiner Familie. Die Beisetzung fand auf dem Matzleinsdorfer Friedhof im Süden Wiens statt, den Zentralfriedhof gab es damals noch nicht.
    1903 wurden seine Gebeine exhumiert und auf dem Wiener Zentralfriedhof beigesetzt.


    Der 1984 entstandene Film »AMADEUS« - in dem Antonio Salieri eine wesentliche Rolle spielt - gilt als filmisches Meisterwerk, aber die historisch reine Wahrheit ist das natürlich nicht. Vermutlich kommt Wolfgang Hildesheimer der Sache näher, wenn er sagt:


    »die berüchtigte Rivalität zwischen Mozart und Salieri ist ein Produkt der Literatur und hat literaturfördernd gewirkt.«



    Praktischer Hinweis:
    Das Grab befindet sich auf dem Wiener Zentralfriedhof; links vom Haupteingang, an der Friedhofsmauer aufgereiht, befinden sich etwa hundert Ehrengräber. Das Grab von Antonio Salieri hat die Nummer 54.


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    Die Lazaruskirche auf dem Zentralfriedhof ist ein markanter Orientierungspunkt;
    ganz in der Nähe an der Mauer befindet sich Salieris Grabstätte.


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  • Der Lehrer Anton Bruckners


    Simon Sechter - *11. Oktober 1788 in Friedberg - † 10. September 1867 in Wien


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    Entlang der Friedhofsmauer befindet sich eine Reihe von fast hundert Ehrengräbern, das Grab von Simon Sechter hat die Nr. 23.


    Sechters Geburtsstadt liegt zwar immer noch im südlichen Böhmen und an der Moldau, heißt aber heute Frymburk und gehört zu Tschechien, nahe der Grenze zu Österreich, etwa drei Autostunden von Wien entfernt.


    Simons Geburtshaus - Nr. 88 - war eines von 146 Häusern des Ortes und stand am Ortsrand von Friedberg; die Einwohnerzahl wird um 1870 mit 1.290 angegeben. Chroniken überliefern, dass es da auch mal eine Gedenktafel mit dieser Aufschrift gab:


    In diesem Hause erblickte Simon Sechter
    am 11. Oktober 1788
    das Licht der Welt


    Simon Sechters Eltern werden als mittellos beschrieben und sollen auch nichts von Musik verstanden haben.
    In einer in Frakturschrift gedruckten Chronik ist zu lesen:


    »Hier in dem stillen Ort mit dem Namen ›Friedberg‹ erblickte Simon Sechter am 11. Okt. 1788 das Licht der Welt, als der Sohn eines geachteten Bürgers und Bindermeisters. In seinem elften Jahre erhielt er von dem Ortsschullehrer und Chorregenten Joh. N. Maxandt den ersten Musikunterricht, und zwar im Singen, Violinspielen und auf der Flöte, später auf dem Klavier. In Ermangelung eines Instrumentes wiederholte er seine Lekzionen zu Hause mittels eines Brettes, auf welches er sich die Tasten gezeichnet hatte. Sein Eifer war ein solcher, wie er musikalischen Naturen gewöhnlich eigen ist. Je mehr er technische Fertigkeiten im Spiel gewann, desto mehr drängte es ihn zum selbständigen Schaffen.
    Kaum dreizehn Jahre alt, fieng der künftige Tonmeister, ohne je eine Partitur gesehen zu haben, schon an, aus innerem Drang zu komponieren., so zwar, daß er eine Messe in einzelnen Stimmen Takt für Takt niederschrieb, und auf diese äußerst unbequeme und mühsame Art im Verlaufe längerer Zeit vier ähnliche Versuche zunPapier brachte, bisihn sein Lehrer den Gebrauch einer Partitur kennen lehrte, so daß ihm durch den gewonnenen Unterrichte die Arbeit des Tonsatzes um vieles erleichtert wurde.«


    Von seinem Lehrer aufgemuntert, komponierte er im Folgenden mehrere Stücke. Aber der junge Mann war nun auch in einem Alter angekommen, wo er über seinen Lebensunterhalt nachzudenken hatte, man wurde in dieser Zeit recht früh erwachsen. So wurde der 14-Jährige bei Schulmeister Stegmann Schulgehilfe zu Pfarrkirchen in Oberösterreich.
    Diese Stellung hatte für den jungen Sechter den großen Vorteil, dass er einen recht beachtlichen Vorrat an Musikalien vorfand. Hier studierte er eifrig Joseph Haydns Oratorien.
    Im folgenden Jahr unterzog er sich in Linz der sogenannten Preparantenprüfung, hatte jedoch seinen ursprünglichen Plan, Schulmeister zu werden, eigentlich schon aufgegeben.


    In Friedberg wurde er mit dem Güterdirektor Hofrat Kowarz bekannt, der ihn 1804 als Korrepetitor für seine Kinder mit nach Wien nahm, wo sich dem nun sechzehnjährigen Sechter eine völlig neue Welt auftat.
    Mit Feuereifer vertiefte er sich nun in die Tonschöpfungen Mozarts, Händels und Bachs.
    Schon in dieser Zeit entwickelte sich seine Vorliebe für den strengen Satz in der Komposition. Bei einem Schüler des Kontrapunktisten Johann Georg Albrechtsberger nahm er relativ kurz Unterricht im Kontrapunkt und ging dann nach bewährter Weise zum autodidaktischen Unterricht über.


    Eine höhere Ausbildung erhielt Sechter von dem bekannten Pianisten Leopold Koželuh und durch italienische Gesangsmeister gelang es ihm ›seinen Geschmack zu läutern und zu verbessern‹, wie in alten Schriften zu lesen ist.
    Simon Sechter hatte sich nun einen Stand erarbeitet, der ihm gestattete nicht nur die Kinder seines Gönners Kowarz musikalisch zu betreuen, sondern auch außerhalb des Hauses zu unterrichten, was etwas Geld einbrachte.
    Kaum auf eigenen Füßen stehend, verlor er 1809 infolge der französischen Besetzung Wiens sein ganzes Vermögen. Da Sechter mit Johann Wilhelm Klein - ›dem Vater der Blinden‹ - befreundet war, übernahm Sechter den Gesang- und Klavierunterricht im k. k. Blindeninstitut, wobei er recht bescheiden auftrat und erst bezahlt werden wollte, wenn er etwas geleistet hat; aber man lud ihn zumindest zu Tisch. Das war im Jahr 1810 oder 1811, die alte Literatur nennt unterschiedliche Daten.
    Sechter musste sich nun darüber Gedanken machen wie Blinden das Klavierspielen am besten beizubringen sei. Das gelang ihm offensichtlich, denn in einem Buch, das für alle Unterrichtsfächer an Blindenschulen herausgegeben wurde, findet man diesen Passus:


    »Bereits der Musiklehrer Simon Sechter, der den musikalischen Theil für das ›Lehrbuch zum Unterrichte der Blinden‹ von J. W. Klein verfasst hat, beschreibt da verschiedene Vorrichtungen, wie man den Blinden das Notensystem der Sehenden beibringen kann.«


    Auch der Pädagoge Matthias Pablasek kam zu der Ansicht, dass Simon Sechters ausführliche Abhandlungen als das Beste empfohlen werden können.
    Sechter komponierte für seine Zöglinge ein- und mehrstimmige Lieder und sogar zwei Messen. Seine Singstunden sollen sehr beliebt gewesen sein.
    Und es gibt auch Berichte über öffentliche Konzerte, die er im Mai 1813 und im November 1815 mit seinen Zöglingen gab. Da stand ein Septett für dreiHarfen, zwei Violinen, Klarinette und Fagott im Programm. Auch Schillers »Die Glocke« - ein Gedicht von 430 Versen - wurde von sämtlichen Schülern gesungen, natürlich von Sechter komponiert. Die adlige Damengesellschaft war von dem so angetan, dass sie Sechter 100 Gulden als Geschenk übergab und ihm ein monatliches Gehalt anwies.


    1816 heiratete Sechter die Beamtentochter Katharina Heckmann; von ihren Kindern trat Sohn Eduard Engelbert in die großen Fußstapfen des Vaters, war jedoch als Musiker weniger erfolgreich.
    Simon Sechter setzte seine theoretischen Studien fort, namentlich waren das Werke von Bach und Mozart, denen er auch bis an sein Lebensende anhing, und komponierte fleißig weiter. Förderung erfuhr Sechter auch durch Franz Xaver Gebauer, der ab 1816 Chorleiter und Musikdirektor an der Wiener Hofpfarrkirche der Augustiner war und Abé Maximilian Stadler, der Sechters Werke dem Hofmusikgrafen Fürst Moritz Dietrichstein empfahl, die dann auch von der Hofmusikkapelle aufgeführt wurden.
    Sechter war Stadler 1820 begegnet - der damals die 70 schon überschritten hatte - und von Sechter selbst stammt die Aussage, dass er von Stadler - der im Wiener Musikleben hochangesehen war - freundlich aufgenommen wurde und dieser die Güte besaß Sechters Kompositionen durchzusehen, die schließlich positiv bewertet wurden. Stadler war es dann auch, der Sechter mit der Kunst der Niederländer und dem Palestrinastil vertraut machte.
    Aussage Sechter: »Er eiferte mich an, reine Kirchencompositionen zu machen, und da meine Neigung von Kindheit an ohnehin auf diese Gattung gerichtet war, so traf er mit meinen Wünschen zusammen.«
    Ab 1824 war Sechter 2. Hoforganist und ein Jahr später dann 1. Hoforganist, eine Stellung, die er schließlich bis zu seiner Pensionierung 1863 innehatte.


    In der Musikliteratur wird Simon Sechters Name sehr häufig in Verbindung mit Anton Bruckner genannt - ›Simon Sechter, der Lehrer von Anton Bruckner‹ - weil hier der Schüler den Meister weit überstrahlt. Auch dass Franz Schubert sich noch 1828, kurz vor seinem Tod, als er bereits ein exzellentes Lebenswerk geschaffen hatte, noch in Sechters Schülerliste eintrug, ist ein Beweis für Sechters guten Ruf, aber ein übliches Schüler-Lehrer-Verhältnis kam hier nicht zustande, weil sich Schubert wegen gesundheitlicher Probleme von einem Mitschüler entschuldigen ließ.


    Bei Anton Bruckner war das Schüler-Lehrer Verhältnis gänzlich anders und bestand über mehrere Jahre. Bereits 1830 war Sechters »Praktische Generalbass-Schule« erschienen, die Bruckner schon während seiner Studien bei Leopold von Zenetti kennengelernt hatte.
    Im Juli 1855 nahm Bruckner mit Simon Sechter in Wien Kontakt auf und legte ihm seine »Missa solemnis« vor. Den Anstoß dazu sollen ihm Probst Mayer und der böhmische Kirchenmusiker Robert Führer gegeben haben. Nach der bereits erwähnten Schrift Sechters war 1853 und 1854 als Ergebnis seiner jahrzehntelangen Lehrerfahrung Sechters dreibändiges Lehrwerk »Grundsätze der musikalischen Kompositionslehre« erschienen, man vermutet, dass Bruckner durch Probst Mayer in den Besitz dieses Lehrwerks kam.


    Mit Kennerblick erkannte Sechter Bruckners Begabung und nahm ihn unverzüglich als Schüler auf und riet ihm: »in größere Verhältnisse zu streben, als sie St. Florian seiner bereits erreichten Stufe und seiner weiteren Entwicklung bieten konnte.«
    Das Studium erstreckte sich über sechs Jahre hinweg, wobei die Unterweisungen zunächst nur schriftlich erfolgten, später kam Bruckner dann zu Sechter nach Wien.
    Als Bruckner in Linz an zwei Kirchen Orgeldienste zu verrichten hatte, studierte er parallel dazu bei Sechter, wobei er in der Regel sieben Stunden pro Tag aufwendete.
    Es gibt keinen Grund an den Angaben Bruckners zu zweifeln, denn der erfahrene Sechter bemerkte natürlich, dass in diesem Fernstudium ertragreich gearbeitet wurde, weshalb er den übereifrigen Bruckner vor Überlastung warnte und am 13. Januar 1860 schrieb:


    »Ihre 17 Hefte mit Arbeiten über den doppelten Contrapunkt habe ich durchgesehen, und mich mit Recht über Ihren Fleiß gewundert, so wie über Ihre Fortschritte, die Sie darin gemacht haben [...]. Damit Sie aber in Gesundheit nach Wien kommen können, ersuche ich Sie, sich mehr zu schonen und sich die nöthige Ruhe zu gönnen. Ich bin ja ohnehin von Ihrem Fleiß überzeugt, und möchte daher nicht haben, daß Ihre Gesundheit durch zu große geistige Anstrengungen zu leiden hätte. Ich fühle mich gedrungen Ihnen zu sagen daß ich noch garkeinen fleißigeren Schüler hatte als Sie.«


    In der Tat, da hatten sich hier die Richtigen getroffen; Sechters Anspruch auf Disziplin und Vollständigkeit entsprach wohl ganz Bruckners Ideal. Bruckner studierte Sechters Bücher und notierte sich am Blattrand Fragen, die er dazu hatte.
    In den ersten Jahren erfolgte das Studium zunächst brieflich; Aufgabestellungen und Lösungen wurden per Post oder durch einen Freund Bruckners ausgetauscht.
    Ab 1858 reiste Bruckner jedes Jahr in der orgelstummen Fastenzeit und im Sommer für sechs bis acht Wochen zu Sechter. Sechter stellte ihm immer wieder Zeugnisse aus, so zum Beispiel im April 1860 über den doppelten, drei und vierfachen Kontrapunkt und bezeichnete ihn »als Meister in diesem Fach«. Die letzte Prüfung seiner Studienzeit bei Sechter erfolgte über die Thematik Kanon und Fuge, das war am 26. März 1861, und 1868 - nach Sechters Tod (1867) - übernahm Bruckner Sechters Stelle in Wien.


    Im Gegensatz zu seinem so berühmt gewordenen Schüler, hielt sich Simon Sechter auch als Komponist an seine Lehre, was dazu führte, dass sich seine Werke im Prinzip nur an der technischen Perfektion orientierten. So vertonte er Texte aus Zeitungen und Lehrbüchern und schrieb täglich eine Fuge; die Beherrschung des Handwerklichen hatte für ihn Priorität.
    Bereits im Jahr 1833 lieferte Sechter ein Beispiel von beeindruckender Ausdauer; die selbstgestellte Aufgabe war: 104 Variationen über ein Originalthema von104 Takten, was Fachleute als ›Selbstgeißelung‹ bezeichneten. Simon Sechter war kein intuitiv-musikantischer Komponist, bei ihm überwog die intellektuelle Komponente bei weitem; auf diese Weise entstanden mehr als 8.000 Werke, darunter ein musikalisches Tagebuch mit 4.000 Kompositionen, das waren zumeist Fugen.


    Der Musikjournalist und Komponist Selmar Bagge, Assistent am Konservatorium, schildert den Unterricht Sechters so:


    »Der Unterricht Sechters war ein derart ins das Detail des musikalischen Satzes vergrabender, dass wer nicht schon vorher auf der freienHöhe des Schaffens gestanden, dabei alle Um- und Aussicht verlieren musste. Sechters Unterricht war demnach nützlich für den, welcher die Disziplinen genau und strenge studieren wollte, ohne sich dadurch aber in seinen Ansichten über das Wesen der künstlerischen Produktion beirren zu lassen; geradezu gefährlich aber für den, dessen Produktivität ohnehin keine allzu starke und zwingende sein mochte: das Wenige ging total unter in dem Meer von scharfsinniger Detailkritik, die sich gewöhnen musste, jede Note zwanzigmal auf ihre gesetzliche Geltung anzusehen, wobei alle notwendige Unmittelbarkeit des Schaffens zugrunde gerichtet wurde.«


    Nach einem sehr arbeitsreichen Leben, das Simon Sechter hohes Ansehen in Form von Ehrenmitgliedschaften und Auszeichnungen einbrachte - zum Beispiel 1863 das goldene Verdienstkreuz der Krone - war Sechters Lebensabend von Not und Vereinsamung geprägt.
    Als nämlich sein Schwiegersohn in finanzielle Schwierigkeiten kam, wurde Sechter, der gebürgt hatte, mit hineingezogen. Sein Gehalt wurde gepfändet und es drohte Kuratel.
    In Anbetracht seines Ansehens kam es zu einer Sammlung, an der sich unter anderen die Gesellschaft der Musikfreunde, Kaiser Franz Joseph I. und Erzherzog Franz Karl beteiligten.


    Am 11.10. 1888 erschien im Wiener Extrablatt anlässlich des hundertsten Geburtstags von Simon Sechter dieser Artikel:


    »Die musikalische und mit ihr die ganze gebildete Welt begeht heute den Gedenktag, da vor 100 Jahren der größte Contrabassist unserer Zeit, der schlichte Simon Sechter in dem böhmischen Städtchen Friedberg geboren wurde. Sechter lernte mit 11 Jahren recht mangelhaft Musik und kam, obwohl er nur nothdürftig gebildet war, als Schulgehilfe nach Pfarrkirchen in Ober-Österreich. Im Jahre 1804 nahm ihn der Güterdirector des Fürsten Starhembeg nach Wien, um seine Kinder zu unterrichten, und von diesem Zeitpunkt an gehörte das Wirken Sechter´s der Stadt, die seine zweite Heimat geworden und die er auch, kurze Ausflüge ausgenommen, nicht mehr veließ.
    Simon Sechter war eine bekannte Wiener Straßenfigur. Er ging stets in schwarzem Anzuge mit weißer Halsbinde. Er war ein Musikgelehrter, wie man vor ihm keinen kannte, gleich groß als Lehrer und als Componist. Die Zahl seiner Schüler dürfte nach Hunderten zählen und unsere größten heute lebenden Meister sind darunter. Wir wollen hier nur anführen:
    Engelbert Eigner, Otto Bach, Anton Bruckner, Fedrigotti, , Friedr. Schnell, Sigm. Thalberg, Theodor Döhler, , Leopoldine Blahetka, , Henselt, Gottfried Preyer, Bibl´s Söhne, Galli, Matteo Salvi, Henri Vieuxtemps, E. M. Ziehrer u. A.
    Trotz der zahlreichen Lectionen, die Sechter täglich ertheilte, entwickelte er auch im Componiren einen fabelhaften Fleiß. Nur der allerkleinste Theil seiner Werke erschien im Stiche. Alles übrige, darunter namentlich Orgelwerke, Messen und verschiedene Kirchen-Compositionen, ist verstreut im Privatbesitze Einzelner. Die größeren Werke schenkte Sechter noch bei Lebzeiten der kaiserlichen Hofbibliothek und dem Archive der ›Gesellschaft der Musikfreunde.‹ Dort ist auch sein musikalischer Nachlaß hinterlegt. Zu seinen veröffentlichten, weitaus bedeutungsvolleren theoretischen Schriften ist auch die von ihm neu bearbeitete ›Abhandlung von der Fuge‹ zu zählen, die im zweiten Theile eine ausgezeichnete Analyse der großen Fuge in Mozart´s ›Jupiter-Symphoni‹ enthält.
    Sein bedeutendstes Werk aber ›Die Grundzüge der musikalischen Composition‹, in drei Bänden (bei Breitkopf und Härtel in Leipzig erschienen), sichert ihm für alle Zeiten einen Ehrenplatz neben den größten Contrapunctisten. Sein Einfluß auf Beethoven und sein Verkehr mit Schubert, an dessen Sterbebette er saß, ist bekannt.«


    Praktischer Hinweis:
    Das Grab von Simon Sechter befindet sich auf dem Wiener Zentralfriedhof,
    Simmeringer Hauptstraße 234, 1110 Wien
    Man geht durch den Haupteingang - Tor 2 - und wendet sich nach links, wo sich entlang der Friedhofsmauer eine Reihe von fast hundert Ehrengräber befinden, das ist die Ehrengräber Gruppe 0, das Grab von Simon Sechter hat die Nr. 23.

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  • Carl Czerny - * 21. Februar 1791 in Wien - † 15. Juli 1857 in Wien


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    Carl wurde geradezu ins Musikleben hineingeboren, sein Vater, Wenzel Czerny, war als Musiker und Pianist aus Böhmen nach Wien gekommen und es dauerte nicht lange, dann war dieser vielseitige Mann in Wiener Musikerkreisen sehr bekannt: als Pianist, Organist Oboist und Sänger, aber er erteilte auch Musikunterricht, reparierte Musikinstrumente und kopierte Noten. Mit diesen Tätigkeiten verdiente er seinen Lebensunterhalt.
    Der Knabe soll schon im Alter von drei Jahren am Klavier gesessen haben, wo ihm die Grundlagen des Klavierspiels vom Vater auf einem Cembalo beigebracht wurden.
    Der Sechsjährige konnte dann schon Musikstücke nach dem Gehör nachspielen.
    Unter den vielen Musikern, die im Elternhaus - wo tschechisch gesprochen wurde - verkehrten, war auch der Geiger Wenzel Krumpholz, der den Jungen etwas wie Vortrag und Ästhetik lehrte und ihm auch eine Vorstellung vom in dieser Zeit noch jungen Beethoven vermittelte.
    Als Carl zehn Jahre alt war, hielt es Krumpholz für angebracht, den hochbegabten Knaben Beethoven vorzustellen. Nachdem Carl Czerny einige Beethoven-Werke gespielt hatte, meinte Beethoven:
    »Der Knabe hat Talent, ich selber will ihn unterrichten und nehme ihn als meinen Schüler an.«
    Krumpholz hatte Carl auch mit Moritz von Lichnowsky, dem jüngeren Bruder des Fürsten Karl von Lichnowsky, Freund und Mäzen Beethovens, bekannt gemacht, woraus sich ergab, dass der Junge dem Erstgenannten morgens fast täglich einige Stunden auswendig Beethovens Werke vorspielte, wofür er dann monatlich mit einem finanziellen ›Geschenk‹ entlohnt wurde.

    Der Vater hatte eine grundsolide Basis geschaffen, denn Wenzel Czerny legte großen Wert auf technisches Können und Disziplin. Beethovens Unterricht beschränkte sich nicht nur auf das Klavierspiel, er gab auch Anleitungen zur Komposition. Carl Czerny sah seine Entwicklung rückblickend so:


    »Ohne die Anleitung meines Vaters und der künstlerischen Inspiration, die ich von Beethoven und anderen erhielt, wäre mein Weg ein anderer gewesen. Es ist zum größten Teil Beethovens Schuld, dass ich Musiker geworden bin; wie könnte ich meine unendliche Dankbarkeit ausdrücken?«


    Die technische Grundlage war bei dem Jungen sicher schon sehr ausgeprägt als er zu Beethoven kam, aber der Meister sagte seinem Schüler, zumindest ist das so überliefert:


    »Technik ist wichtig, aber das Herz muss mitspielen. Spiel nicht wie eine Maschine.
    Ich möchte, dass du jeden Ton fühlst und verstehst, warum er genau so und nicht anders gespielt werden muss.«


    1800 hatte Czerny in den berühmten Augartenkonzerten als Pianist mit Mozarts c-Moll-Konzert debütiert und 1804 wurde am gleichen Ort mit der Ouvertüre in c-Moll erstmals eine Komposition von ihm aufgeführt.


    Schließlich ging das Lehrer-Schüler-Verhältnis nach etwa zehn Jahren in Freundschaft über. Das waren keine Klavierstunden im üblichen Sinne, sondern ein ganz enges und intensives Lehrer-Schüler Verhältnis. Beethoven nahm Czerny oft zu seinen Konzertveranstaltungen mit und ließ ihn auch an seiner Kompositionsarbeit teilhaben.
    Carl Czerny berichtet auch darüber, dass er einmal unter Aufsicht vom Meister Beethoven das 1. Klavierkonzert in C-Dur op.15 aufführen durfte.
    In der Literatur wird von einem gemeinsamen Meister-Schüler Projekt von 1803 berichtet, nämlich der Aufführung von Beethovens drittem Klavierkonzert in c-Moll, Op. 37, bei der Czerny als Pianist auftrat und Beethoven das Orchester dirigierte.
    Eine weitere musikalische Zusammenarbeit fand bei der ›Missa Solemnis‹ in D-Dur, Op. 123 statt, wo Beethoven Czerny mit der Aufgabe betraute einige Orchesterpassagen zu transkribieren und für künftige Aufführungen vorzubereiten.
    Der 17-jährige Czerny konnte Beethovens Klavierwerke auswendig spielen, eine Leistung die allgemeine Bewunderung fand. Beethoven hatte seinem Musterschüler ein Zeugnis ausgestellt, das beinhaltet, dass Czerny auf dem Pianoforte solche sein 14-jähriges Alter übersteigende, außerordentliche Fortschritte gemacht habe, dass er sowohl in diesem Anbetrachte als auch in Rücksicht seines zu bewunder[n]den Gedächtnisses aller möglichen Unterstützung würdig geachtet werde.
    Diese Empfehlung war eigentlich dazu gedacht dem jungen Mann auf einer geplanten ›Wunderkind‹-Reise durch Europa Türen zu öffnen, aber wegen der Koalitionskriege mit Frankreich kam diese Reise dann nicht zustande.


    Im weiteren Verlauf seines Lebens trat er relativ wenig als Klaviervirtuose in Konzertsälen in Erscheinung, er soll unter starkem Lampenfieber gelitten haben. Als Klavierpädagoge hatte sich Czerny einen sehr guten Ruf erworben; er war einer der ersten Komponisten die die Bezeichnung Etüde als Titel wählten, und diese Czerny-Etüden sind heute noch weltweit im Einsatz und spielen in der pianistischen Ausbildung immer noch eine große Rolle.
    In Wien war Carl Czerny ein Klavierpädagoge der beim höchsten Adel und den ersten Familien unterrichtete; sogar Beethoven vertraute ihm seinen Neffen Karl als Schüler an.
    Carl Czerny war also in die Fußstapfen seines Vaters als ›Klavierlehrer‹ getreten.


    1816 hatten Carl Czernys Eltern die damals achtjährige(?) Anna Caroline de Belleville bei sich aufgenommen, die dann für drei Jahre Czernys Schülerin war; man muss das Geburtsdatum mit einem Fragezeichen versehen, weil Eltern von ›Wunderkindern‹ oft des Geburtsdatum manipulieren, damit das Wunder ein bisschen länger dauert.
    Carl Czerny übermittelt das Ereignis so:


    »Im Jahr 1916 nahmen meine Eltern die kleine, damals zehnjährige Ninette Belleville in Kost und Wohnung und ich zur musikalischen Ausbildung. Es war eines der seltensten musikalischen Talente, und da sie sich nach dem Willen ihres Vaters der Musik widmen sollte, so hatte ich nun eine Schülerin, welche auch durch zahlreiches öffentliches Produzieren meinen schon ohnehin bedeutenden Lehrerruf vermehrte.«


    Sein berühmtester Schüler dürfte wohl Franz Liszt gewesen sein, der als Elfjähriger am 1. Dezember 1822 mit dem Einverständnis seines stolzen Lehrers zum ersten Mal in Wien auf einer öffentlichen Bühne spielte.
    Als Liszt dann schon im folgenden Jahr in die Postkutsche stieg und Richtung Paris rollte, war Czerny davon nicht gerade begeistert und fragte brieflich bei Liszts Vater an ob der Junge auch fleißig mit dem Metronom üben würde und schob die Mahnung nach, man möge sich durch übertriebenes Lob nicht irre machen lassen.


    Es würde in diesem Rahmen zu weit führen, wollte man auf alle Czerny-Schüler eingehen, die später bedeutend wurden, aber Theodor Leschetizky sollte noch genannt werden, der 1841 mit einem Klavierkonzert von Carl Czeny in Lemberg debütierte und später selbst ein bedeutender Lehrer wurde.


    Nach mehr als drei Jahrzehnten stellte Carl Czerny 1836 das Unterrichten ein und lebte als freischaffender Komponist. Carl Czerny war ja nicht besonders reisefreudig und kam den Einladungen von Liszt und Moscheles nach Paris oder England nicht nach. Sprachschwierigkeiten hätte er nicht gehabt, denn er beherrschte Französisch, Englisch, Italienisch und Tschechisch.
    1836 besuchte er Leipzig, 1837 war er dann doch noch in London und Paris. Schließlich ist 1846 auch eine Reise nach Mailand und der Lombardei bekannt; man darf vermuten, dass Czerny in den genannten Städten seine Verleger besuchte.
    Sein Freundeskreis war überschaubar und er mied auch große Gesellschaften. Aber er besaß eine große Bibliothek und galt allgemein als gebildeter Mensch. In dieser Bibliothek spielten die Werke von Walter Scott eine besondere Rolle, denn Czerny vertonte vier dieser Werke; diese ›Romantischen Fantasien‹ sind Klavierduette von epischer Breite, wo Czerny populäre schottische Melodien einfließen lässt.


    Schließlich war er auch als Komponist tätig und bienenfleißig. Abends und nachts komponierte er nicht nur Klavieretüden und Klavierschulen für seine Schüler, sondern auch Klaviersonaten, Kammermusik, Sinfonien, Violinsonaten, Kirchenmusik, Streichquartette und Opernparaphrasen, wobei sich Letztere in Wien damals großer Beliebtheit erfreuten.
    Insgesamt soll Carl Czerny mehr als 2000 Werke komponiert haben und Eduard Hanslick merkte damals schon an, dass man Czernys kompositorische Vielseitigkeit nicht unterschätzen sollte.


    Bedeutend war auch seine 1838 erschienene Klavierschule Opus 500 mit dem allesumfassenden Titel: »Vollständige theoretisch-practische Pianoforte-Schule, von dem ersten Anfange bis zur höchsten Ausbildung fortschreitend«.
    Und da war noch mehr ›Vollständiges‹, Carl Czerny übersetzte Anton Reichas »Vollständiges Lehrbuch der musikalischen Composition« vom Französischen ins Deutsche und machte Anmerkungen dazu. Um den Titel wirklich vollständig zu zitieren muss man noch hinzufügen:
    »Ausführliche und erschöpfende Abhandlung über die Harmonie (den Generalbass) die Melodie, die Form und Ausarbeitung der verschiedenen Arten von Tonstücken, den Gebrauch der Gesangsstimmen, die gesammte Instrumentirung, den höheren Tonsatz im doppelten Contrapunct, die Fuge und den Canon, und über den strengen Satz im Kirchenstyl.«
    Carl Czerny war auch einer der maßgeblichen Herausgeber Bachscher Klavierwerke im 19. Jahrhundert.


    Der aus eher ärmlichen Verhältnissen kommende Carl Czerny war ein vermögender Mann geworden, lebte aber sehr bescheiden. Die hauswirtschaftlichen Dinge regelte seit vielen Jahren ein Ehepaar. Neben seiner musikalischen Arbeit konnte Czerny keine Partnerin finden, um eine Familie zu gründen.
    Er war Frühaufsteher; im Sommer begann für ihn der Tag um 5 Uhr, im Winter um 7 Uhr.
    Der frugale Mittagstisch wurde von Wasser begleitet, ein Souper soll nie stattgefunden haben.


    Aber der 66-Jährige machte sich Gedanken um seinen Nachruhm; zehn Tage vor seinem Tod schrieb er an einen Verleger, der mal wieder Etüden von ihm erbeten hatte:


    »Auch schrieb ich Ihnen, wie schwer es ist, in dieser beschränkten Form immer etwas neues und hübsches zu finden, und wie höchst zuwider mir das Fabrizieren von solchen Kindereyen ist, da dergleichen für meinen Künstlerberuf nur nachtheilig sein kann. Durch ernste Compositionen, denen ich jetzt seit Jahren meine Zeit widme (Quartette, Sinfonien, Kirchenwerke etc.) hoffe ich, wenn mir Gott noch so langes Leben schenkt, diesen Fehler wieder zu verbessern, den ich immer nur aus Gefälligkeit gegen die Herren Veleger beging ...«


    Die ursprüngliche Beisetzung fand am 18. Juli auf dem Matzleinsdorfer Friedhof statt.


    Praktischer Hinweis:
    Das Grab befindet sich auf dem Wiener Zentralfriedhof; links vom Haupteingang, an der Friedhofsmauer aufgereiht, befinden sich etwa hundert Ehrengräber. Das Grab von Carl Czerny hat die Nummer 49.


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  • Zum heutigen Todestag von Hermin Esser


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    Hermin Esser - * 1. April 1928 Rheydt - † 17. April 2009 Wiesbaden


    Als Hermin Esser in Rheydt geboren wurde, war das noch eine eigenständige Stadt, die aber seit 1974 zu Mönchengladbach gehört.
    Der etwas seltene Vorname soll, wie man in der Familie erzählt, eine Fehlleistung des Standesbeamten gewesen sein und man verweist auf das spaßige Geburtsdatum des 1. April; ursprünglich sollte der Knabe nämlich Erwin heißen.


    In WESTDEUTSCHE ZEITUNG vom 16. Mai 1964 findet man einen Beitrag, der mit der Headline »Vier Brüder - vier Tenöre« überschrieben ist und im weiteren Text erfährt man:


    »Klein und unscheinbar liegt das Haus der Eheleute Adolf und Gertrud Esser an der Steinfelder Straße 21 in Geistenbeck. Vier Sängerbrüder nennen es ihre Heimat. Zwei wirken als Solisten an bekannten Bühnen, zwei sind Tenöre in Rheydter Chören, und Vater Esser singt seit Jahrzehnten in der Sanssouci Rheydt.«; dieser Quartettverein, ein Meisterchor des Sängerbundes NRW, war zu dieser Zeit einer der besten Männerchöre Deutschlands.


    In der Familie wurde Radiomusik gehört und alles nachgesungen was da aus dem Lautsprecher kam, wobei sich natürlich Tenorstimmen besonderer Beliebtheit erfreuten, aber Vater Esser hatte auch schon ein Gesangsverbot angedacht, weil es ihm, trotz eigener Sangeslust, zu viel wurde.


    Adolf Esser glaubte, dass er und seine vier Söhne ihre guten Stimmen der Mutter beziehungsweise der Großmutter verdanken, denn die beiden sollen von früh bis spät Volks- und Kirchenlieder gesungen haben.


    Hermin Esser hatte eine künstlerische Doppelbegabung und hätte auch Kunstmaler werden können; Kopien von namhaften Künstlern wie Dürer, Cézanne, Thoma, Renoir, Modersohn-Becker und Picasso ... waren für ihn kein Problem.
    Entsprechend diesem Talent verdiente er seinen Lebensunterhalt zunächst als Graveur,
    was seiner zeichnerischen Begabung entsprach und seine Brüder waren auch in diesem Metier tätig.
    Er machte sich aber gleichzeitig als Tenor einen guten Namen in seiner heimatlichen Umgebung, dem traditionell sangesfreudigen Rheinland.
    Allmählich reifte die Idee einer anderen beruflichen Orientierung, Hermin Esser hatte den Entschluss gefasst Architekt zu werden, wobei jedoch vorher eine Maurerlehre zu absolvieren war, weshalb er als Umschüler bei einer Baufirma anfing und hier Karriere als Geselle und Polier machte. Also wurde künftig auch am Bau aus purem Vergnügen gesungen, größere Auftritte gab es bei Richtfesten.
    Durch gelegentlich kleine Solopartien beim Chor und bei Festen wurde man auf seine Stimme aufmerksam und riet ihm bei einem Gesangspädagogen vorzusingen.
    Obwohl er schon als Kind mehrmals in der Oper gewesen war, verschwendete er keinen Gedanken daran mal selbst auf der Bühne zu stehen, weil er Hemmungen hatte und sich das nicht zutraute.
    Als er aber beruflich in Düsseldorf zu tun hatte, konfrontierte ihn eine befreundete Dame mit einem Zeitungsausschnitt:
    ›Morgen Aufnahmeprüfung des Schumannkonservatoriums in Düsseldorf‹ - Da fährst Du hin!
    Er fügte sich widerstrebend.


    Man hatte den 16-Jährigen in den letzten Kriegsmonaten 1944/45 noch zur Heimatverteidigung eingezogen, 1946 wurde er aus englischer Kriegsgefangenschaft entlassen.
    Deutschland lag in Trümmern, was Essers Chef fragen ließ: »Wat willste hier jetzt Kunst machen? Die Zukunft liegt im Bau«.
    Aber schließlich stellte sich heraus, dass Hermin Essers Zukunft am Robert-Schumann-Konservatorium Düsseldorf lag, wo Franziska Martienßen-Lohmann - eine Gesangspädagogin von legendärem Ruf - von 1949 bis 1969 eine Meisterklasse für Gesang leitete; von Weimar kommend, hatte sie mit 62 Jahren in Düsseldorf nochmals einen Neustart gemacht.


    In der Rückschau meinte Esser, dass die Martienßen-Lohmann etwas der Welt entrückt war:
    »ein bisschen von ´ner anderen Welt, mit viel Theorie, die nicht immer hinhaute in der Praxis. Etwa wenn sie uns beibrachte: ›Der Sänger bestimmt das Tempo!‹ Aber versuch das mal bei ´nem Karajan«.
    Esser sah ganz klar, dass er damals noch ein grober Klotz war, der aus Spaß und Freude drauf los sang, aber ihm seine Gesangslehrerin Kultur beibrachte, etwa wenn sie mit ihm Lieder von Hugo Wolf sang, mit ganz genauer Detailarbeit an Text und Artikulation.
    »Damals habe ich gelernt, dass gute Sänger wissen, was sie singen«, meinte der große Tenor im Rückblick auf seine sängerischen Anfänge des professionellen Singens.
    Aber man darf sich vorstellen, dass sich die große Dame des Gesangs auch aus ›mütterlichen‹ Gefühlen des jungen Mannes in besonderem Maße annahm, zumindest lässt sich das aus Essers Äußerungen so herauslesen. Aber da war auch eine Menge Selbstbewusstsein, denn Esser stellt nüchtern fest: »In kurzer Zeit war ich da´n Star.«


    Trotzdem hatte weder die Wiener Staatsoper noch die Mailänder Scala angerufen, zum ersten Engagement ging es ans neu erbaute Krefelder Stadttheater. Bei seinem ersten Auftritt kann er studieren, wie der Radames seine Rolle bewältigt, Esser selbst war als Bote tätig. Da für ihn zunächst keine tragenden Rollen vorgesehen waren, trieb er seine Selbststudien und verbrachte die Tage damit bei Proben aller Art zuzusehen und die neue Welt des Theaters in sich aufzunehmen. Dies zahlte sich bald aus, nämlich als Hendrikus Rootering den Fenton in »Die lustigen Weiber von Windsor« absagen musste.
    Esser bot sich an den Part zu übernehmen, weil er den gesamten szenischen Ablauf aus dem ff kannte und hatte den Erfolg, dass er zukünftig mit Rootering alternierte, nicht nur als Fenton, sondern auch als Belmonte und Narraboth.
    Hermin Essers Monatsgage betrug damals 380 D-Mark. Als der nächste Arbeitsvertrag unterschrieben werden sollte, war der Jung-Tenor zu der Ansicht gelangt, dass das fortan 100 D-Mark mehr sein sollten, was Intendant Erich Schumacher nicht akzeptieren mochte.


    Hermin Esser konnte dem Intendanten Schumacher dankbar sein, denn es war ihm möglich nach Gelsenkirchen zu wechseln, wo er dann mit einem Monatssalär von 700 D-Mark weit besser gestellt war.
    Aber der Aufstieg ging gleich weiter - bei einem Vorsingen an der Kölner Oper hörte auch der später so berühmt gewordene Joachim Herz mit, der unverzüglich und einigermaßen aufgeregt nach der Ostberliner Komischen Oper berichtete: »Hier ist ein Tenor, so was habt ihr noch nicht in der Sammlung!«
    Prompt folgte eine Einladung nach Berlin, wo Walter Felsenstein über acht strapaziöse Tage hinweg mit Esser immer nur die erste Szene aus der »Zauberflöte« probte. Ab 1957 ist dann Felsenstein sein Chef.
    Von wegen ›Heldentenor‹ - an der Komischen Oper Berlin singt er neben Tamino auch Belmonte, den Alfred in »La Traviata«, den Rudolf in »La Bohéme« und - ganz besonders spektakulär - den Kalaf in »Turandot«, wo das Haus tobte, wenn er ›Keiner schlafe‹ gesungen hatte. Natürlich wurde da noch in deutscher Sprache gesungen, auch im Schallplattenquerschnitt unter dem Dirigenten Horst Stein.


    Essers Verhältnis zu Felsenstein war insofern zwiespältig, dass der Tenor zwar klar erkannte, dass er in dieser Zeit sehr viel gelernt hatte, aber der Chef sich in der Regel sehr dominant produzierte und keinerlei Widerspruch duldete. Esser selbst berichtete aus dieser Zeit, dass Felsenstein auf andere Theater regelrecht eifersüchtig war und seine guten Leute natürlich unbedingt im Haus halten wollte.
    Als sich für Esser die Chance eröffnete an der Berliner Staatsoper den Manrico im »Troubadour« zu singen, wusste Felsenstein dies zu verhindern; ebenso verstand der Berliner Chef ein geplantes Vorsingen in Bayreuth abzubiegen. Als dann schließlich 1961 noch der Mauerbau hinzukam, sah Hermin Esser für sich bessere Möglichkeiten im Westen.


    Bei einem hochoffiziellen Vorsingen mit Orchester und unter Anwesenheit aller Tenöre der Wiesbadner Oper, kam es dort zum Engagement und fortan war das Staatstheater zu seiner Stammbühne geworden. An diesem Haus war von 1961-1974 Heinz Wallberg Generalmusikdirektor.


    Mit Heinz Wallberg erarbeitete Hermin Esser dann in Wiesbaden seine großen Wagner-Partien und im Großen Sängerlexikon kann man nachlesen wie es mit dem Wagner-Gesang bei Hermin Esser weiterging:


    »1966 wirkte er erstmalig bei den Festspielen von Bayreuth mit, und zwar als Froh im »Rheingold«. In den folgenden Jahren sang er dort eine Anzahl von Wagner-Partien, so 1967 den Walther von der Vogelweide im »Tannhäuser« und den Lohengrin, 1967-70 den David und 1975 den Walther von Stolzing in den »Meistersingern«, 1970-71 und nochmals 1979 den Erik im »Fliegenden Holländer«, 1972-74 und 1977 den Tannhäuser. 1966-69 den Froh, 1971-72 und 1975 den Siegmund, 1970-75 den Loge im Ring-Zyklus, 1975 und nochmals 1981 den Tristan (wobei er mit großem Erfolg für den erkrankten René Kollo einsprang) 1972 gastierte er in Turin, 1973 sang er an der Oper von Monte Carlo den Tristan, 1973-74 wurde er an der Oper von Rom als Parsifal gefeiert, 1973 bei der Sadler's Wells Opera London als Tristan, 1973-77 an der Staatsoper von Wien (u.a. als Tristan und als Parsifal), 1972 an der Grand Opéra Paris (als Tristan).«


    1966 wurde Esser von einem Telefonanruf überrascht; in Bayreuth brauchte man dringend einen Froh, weil dort ein Tenor kurzfristig abgesagt hatte und da am nächsten Morgen eine Orchesterprobe mit Karl Böhm angesetzt und die Sache eilig war, lehnte Esser zunächst ab, weil er zu dieser Rolle überhaupt keine Beziehung hatte.
    Kümmerte sich dann aber um die Noten und sah, dass dieser Froh ja nur ein paar Sätze zu singen hat und er sagte sich »Verdammt, die haste doch bis morgen«, er lernt die Partie vom Tonband.
    Sogleich sagte er in Bayreuth zu, musste allerdings für Wiesbaden einen Ersatz-Ottavio besorgen.
    Für anderthalb Jahrzehnte ist Esser nun ständiger Gast der Bayreuther Festspiele und singt dort insgesamt vierzehn Rollen. 1967 musste Sándor Kónya in Bayreuth ersetzt werden, da hörte man als Lohengrin dann James King, Jess Thomas und Hermin Esser, wobei letzterer ursprünglich nur als einer der vier brabantischen Edlen besetzt war. Hermin Esser kommentierte das einmal so:
    »Wenn wat wackelte, hieß es immer: Wo is der Hermin?« Aber er bemerkte auch:
    »Beim Publikum hat man als Einspringer nicht immer den besten Ruf. Die meinen dann leicht, sie hätten ›nur‹ einen Ersatz bekommen.«


    Also kein Wunder, dass die Presse vom Heldentenor sprach, aber Esser sah die Sache etwas kritisch und meinte:
    »Diese Einteilerei von heute in die Fächer, die geht mir auf den Geist. Denken Sie zum Beispiel an Lilli Lehmann, die sang Zerline und Donna Anna wechselweise. Daneben Norma, die Philine in ›Mignon‹, die Isolde und die Brünnhilde. Heute denkt man in viel zu engen Grenzen.«


    Hermin Esser wollte das nicht; die Tenorpartien von Wagner, Verdi, Puccini, Mozart, Tschaikowsky, Bizet und vielen anderen waren für ihn gleichwertig.
    So sang er in Wiesbaden den Ferrando in »Cosi fan tutte« und drei Tage später den Othello. Eine andere Probe seines Könnens zeigte er in Hannover, wo der Intendant Hans-Peter Lehmann sehr erstaunt war, dass Esser kurz nach einem Einsatz als Tristan - eine mörderisch schwere Rolle des Tenorfachs - die Contenance aufbringt für einen Rudolf, der an der Seite von Helen Donaths Mimi alle Register italienischer Gesangskultur zu ziehen vermag.


    Ab 1963 hatte Hermin Esser seinen Lebensmittelpunkt in Naurod, am Rande des Taunus, einem Ort, der seit 1977 zur Landeshauptstadt Wiesbaden gehört.
    Die Nähe des Frankfurter Flughafens war für den weltweit agierenden Sänger von Vorteil, denn er gastierte nicht nur in großen mitteleuropäischen Häusern, sondern auch in Moskau und 1972 an der Lyric Opera of Chicago, wo er neben Birgit Nilsson in sechs Vorstellungen der »Walküre« den Siegmund sang.


    Ein langjähriges Hüftleiden, dem sich später noch ein Herzleiden hinzugesellte, zwangen Hermin Esser zum frühzeitigen Abbruch seiner Laufbahn.
    Die letzten Produktionen waren 1988 in Berlin an drei Opernhäusern:
    ›Mahagonny‹ / Theater des Westens - ›Totenhaus‹ / Deutsche Oper - ›König Lear‹ / Komische Oper.
    An der Staatsoper Hamburg war Esser dann noch in ›Ritter Blaubart‹ zu hören.
    Als sich Hermin Esser 1989 an der Semper-Oper endgültig von der Opernbühne verabschiedete, sang er den Herodes in »Salome«, aber er hatte seinen Abschied vorher nicht öffentlich bekannt gemacht.

    Anlässlich seines 70. Geburtstages erfuhr Hermin Esser im Foyer des Theaters eine Ehrung durch den Wiesbadener Richard-Wagner-Verband.
    Am 19. April 1988 gab er hier ein Konzert mit Liedern und Opernausschnitten, bei dem seine Töchter, die Sopranistin Konstanze und die Geigerin Eva mitwirkten.


    Bis ins siebte Lebensjahrzehnt war die Tenorstimme intakt und Esser konnte sich rückblickend nicht erinnern auch nur einmal abgesagt zu haben, auch das ist eine ganz beachtliche Leistung von Seltenheitswert. Er führte das auf seine fast lebenslang robuste Natur zurück, die ihm leider in seinen allerletzten Jahren abhandenkam.


    In Künstlerkreisen nannte man Hermin Esser ›Den rettenden Engel von Bayreuth‹ und man kann Wolfgang Wagner zitieren, der kundtat:


    »dem Hermin müsste man am Festspielhügel ein Denkmal setzen, er hat so viele Vorstellungen durch sein uneigennütziges Einspringen gerettet.«


    Ein Kuriosum war sein Einspringen bei einer »Meistersinger«-Aufführung, wo er, noch im David-Kostüm, nachdem der Stolzing nicht mehr weitersingen konnte, das Preislied und den Schluss der Festwiese sang. Das raunende und nichtsahnende Publikum dachte es wäre ein neuer Regieeinfall von Wolfgang Wagner.


    Zur Trauerfeier kamen Beileidsbekundungen aus Bayreuth, Eva Wagner ist die Patentante der jüngsten Tochter Eva Esser. Unter den Trauergästen war auch Essers langjähriger Sängerkollege Franz Crass.


    Praktischer Hinweis:
    Man geht am Friedhof Naurod durch das kleine Holztor links neben der Trauerhalle vorbei bis einige kleine Stufen kommen und geht auf einen Baum zu, der mitten im Weg steht; dort wendet man sich nach links zum Feld der Erdwahlgräber: Das Grab von Hermin Esser befindet sich in der dritten Reihe von oben ziemlich nahe am Weg.


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    Das Foto zeigt die Trauerhalle im Hintergrund


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  • Vera Little

    Die erste schwarze Carmen an der Deutschen Oper Berlin

    Vera Little-Augustithis - *10. Dezember in 1928 Memphis - † 24. Oktober 2012 in Berlin


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    Dass man hier auch den Namen Hermann Prey findet ist reiner Zufall; des Sängers Daten sind *11. Juli 1929 - †22. Juli 1998


    Vera war am Mississippi im Südwesten von Tennessee zur Welt gekommen, einer Weltgegend, die einen nicht unbedingt an Operngesang denken lässt.
    Die Kleine wuchs in einer baptistischen Predigerfamilie auf; der Vater spielte Posaune und Mutter Ophelia Klavier; in manchen Publikationen wird die Mutter als Kirchenorganistin bezeichnet und vom Vater wird mitgeteilt, dass er Zugbegleiter war und Posaune spielte. also ein durchaus musikalisches Umfeld, in welchem auch der um zehn Jahre jüngere Bruder Booker heranwuchs, der in seinem kurzen Leben - er starb mit 23 Jahren an Urämie - eine gewisse Berühmtheit als Jazzmusiker und Komponist geworden war.
    Vera und ihre Geschwister wurden in ein gesellschaftliches Umfeld hineingeboren, das man sich heute eigentlich nicht mehr vorstellen kann und mag; erst 36 Jahre nach Veras Geburt tat sich diesbezüglich etwas in den USA, die Rassentrennung wurde aufgehoben.


    Vera kam zusammen mit einer Zwillingsschwester zur Welt, die jedoch im Teenager-Alter verstarb, ein Verlust, der sie lebenslang begleitete und den sie auch literarisch verarbeitete.
    Die gereifte Opernsängerin erinnert sich, dass sie schon in der Grundschule Aufmerksamkeit erregte, weil sie am lautesten gesungen habe.
    Als Vera einmal die Stimme einer ausgebildeten dunkelhäutigen Sängerin hörte war sie davon so begeistert, dass sie auch Sängerin werden wollte. Allerdings stellte sich heraus, dass man soweit nur durch Unterricht kommen konnte, der teuer war und unbezahlbar erschien. Aber es ergab sich dann, dass sich zu einer Gesangslehrerin ein gutes Verhältnis entwickelte und es zu einem siebenwöchigen Unterricht kam. Diese Gesangslehrerin war nicht irgendwer, sondern die erste schwarze US-Amerikanerin, die schon 1927 in Europa als Aida aufgetreten war - Florence Cole Talbert.


    Vera Little geht nun nach Alabama und studiert am ältesten US-amerikanischen Kunst-College für Schwarze. Einer ihrer Lehrer war ein jüdischer Emigrant aus Deutschland, der sie mit der Sprache und den Liedern von Schumann und Brahms vertraut machte.
    Nach fünf Jahren schließt sie ihr Gesangsstudium mit einem pädagogischen Diplom ab.
    Da zu dieser Zeit immer noch Rassentrennung in USA besteht, ist eine Karriere als Opernsängerin zunächst wenig vorstellbar. In den 1950er Jahren geht Vera Little nach New York, wo sich die Gelegenheit ergibt an einer sogenannten ›Blind Audition‹ teilzunehmen.
    Durch einen Vorhang verdeckt sang sie Gounods ›Königin von Saba‹ und bekam durch die Qualität ihrer Stimme die Rolle.
    Etwas später geriet sie in den Dunstkreis von Leontine Price, die damals schon als Star galt und bekam in der Oper »Four Saints in Three Acts« eine Nebenrolle.
    Als sie mit einer Broadway-Produktion am Théâtre des Champs-Elysées in Paris gastiert, hat Vera Little ihr Herz für Europa entdeckt, da möchte sie am liebsten bleiben.
    Wieder zurück in Amerika, bewirbt sie sich um ein Fulbright-Stipendium. In ihrer Situation ist das relativ schwierig, weil sie sich auf keine Hochschule berufen kann. Aber sie vermag ihre Bewerbung so zu gestalten, dass sie erfolgreich ist und wieder nach Europa kommen kann.


    Was sich dann ergab schildert Vera Little so:


    »Und dann bin ich wieder nach Paris gekommen, um französische Lieder zu singen und lernen, und dann bin ich immer in Europa geblieben, weil, ich hatte eine sehr schwierige Zeit in Amerika gehabt und ich wollte das nicht mehr wiederholen.«

    In Paris studierte sie bei dem französischen Tenor Georges Jouatte, der seine Kunst nach dem Ersten Weltkrieg auch für einige Jahre in Berlin - damals noch als Bariton - ausgeübt hatte; Jouatte war ein durchaus erfolgreicher Lehrer, er hat auch die später so anerkannte Régine Crespin ausgebildet.
    Als das Geld des Fulbright-Stipendiums aufgebraucht ist, organisiert Vera Little selbst Konzerte - es sind mehr als siebzig - und hat mit altfranzösischem Liedgut Erfolg, den größten übrigens in Deutschland. Wie sie nach Berlin kam, beschreibt sie in einem Gespräch:


    »Und dann kam ich nach Berlin, um einen Liederabend zu machen und man hat die Idee gehabt, vielleicht könnte auch eine Dunkelhäutige Carmen singen. Ich habe die Oper nicht gekannt, aber ich habe studiert und in einem Monat hatte ich die ganze Partie gelernt.«


    Am 4. Februar 1958 war es dann soweit, Carl Ebert stellt Vera Little an der Städtischen Oper seine dunkle Carmen vor, was einer Sensation gleichkam. Grace Bumbry gab ihr Carmen-Debüt in Basel erst 1960.
    Die Deutsche Oper Berlin war vor ihrer Wiedereröffnung in der Bismarckstraße, von 1945 bis 1961 im Theater des Westens beheimatet und wurde erst ab 1961 - auf Anregung von Ferenc Fricsay - zur Deutschen Oper Berlin.


    Wie man aus Presseberichten weiß, soll es am Premiere-Abend - ausgerechnet von jungen Leuten - Proteste gegen die Sängerin gegeben haben und es seien »Little go home« - Rufe zu hören gewesen. Aber die Unmutsäußerungen des Premierenabends wiederholen sich nicht, es folgen noch vierzehn weitere Vorstellungen. Der Musikkritiker Geerd Heinsen beurteilt Littles Stimme recht positiv und meint:
    »Die Little war stimmlich eine Wucht. Es war eine Carmen, wie man sie damals hörte, mit viel Brustton, orgelnd unten und oben eine gute Höhe. Damals war sie ein Ereignis.«


    Die Carmen-Darstellung von Vera Little hatte auch den Dirigenten Vittorio Gui so beeindruckt, dass er sie 1959 zu einem Konzert in den Vatikan einlud, wo sie in Anwesenheit von Papst Johannes XXIII. Bach-Kantaten sang. Die New York Times veröffentlichte damals sogar ein Foto das Sängerin und Pabst Hand in Hand zeigt.


    Nach Littles spektakulärer Carmen an der Berliner Oper dauerte es noch etwas, bis man sie in anderen Rollen wieder in Berlin sehen und hören konnte.
    Über ihr anderwärtiges Tun berichtete sie am 4. September 1958 in der Berliner Abendschau im Rahmen eines Interviews:


    »Ja, ich war in Brüssel, in Paris, in Süddeutschland, das heißt Baden-Baden, Stuttgart, Frankfurt und München.« Auf die Frage, was sie denn da alles gesungen habe gab sie Auskunft: »Beethoven Neunte Sinfonie und Liederabende in Baden-Baden, nicht wahr, und im Rundfunk habe ich Lieder gesungen, Brahms, Mahler und so.«


    Erst vier Jahre nach ihrem Berliner Bühnendebüt war sie wieder in der Berliner Oper zu hören, Rudolf Sellner, der von 1961 bis 1972 Generalintendant und Chefregisseur der Deutschen Oper war, holte Vera Little in der Rolle der Prinzessin Amneris in Verdis Aida wieder zurück. Dort war dann auch über viele Jahre hinweg ihre schwarze Kollegin Annabelle Benard engagiert, die 1961 nach Europa gekommen war.


    Auch in der zeitgenössischen Musik hinterließ Vera Little einige Spuren. In einer von Hans Heinz Stuckenschmidt durchgeführten Konzertserie mit experimenteller Musik, die 1962 zur besten Sendezeit aus der Kongresshalle live vom SFB-Fernsehen übertragen wurde, wirkte Vera Little, die zu Boris Blacher ein gutes Verhältnis hatte, mit. Im März 1963 konnte man die beiden im Großen Musikvereinssaal zu Wien in einem Nachmittagskonzert erleben, wo unter anderem auch die ›Fünf Spirituals für mittlere Stimme und Instrumentalsolisten, bearbeitet von Boris Blacher‹ uraufgeführt wurden, dieses Werk war dann erst im Oktober des Jahres in Berlin zu hören.
    Ron Simonds, der mit Vera Little befreundet war, berichtet, dass Vera Little bei Blacher regelmäßig Gesangsunterricht nahm und dass sie bei seiner Beerdigung gebeten wurde in der Kirche zu singen - sie sang Gershwins ›Summertime‹ ohne Begleitung.


    Bei der Uraufführung von Hans Werner Henzes Oper »Der junge Lord« an der Deutschen Oper Berlin im April 1965, wirkte Vera Little mit, wo man ihr die Rolle der Begonia, einer Köchin aus Jamaica, anvertraute.
    Inge Bachmann hatte das Libretto verfasst und soll den Ensemblemitgliedern die Charaktere auf dem Leib geschrieben haben. »Oh, kaltes Land, wo Leute gaffen ...«, heißt es da.


    Am 6. August 1966 wirkte Vera Little im Salzburger Großen Festspielhaus bei der Uraufführung von Henzes »Die Bassariden« unter dem Dirigat von Christoph von Dohnányi mit, wo sie Beroe, eine alte Sklavin, darzustellen hatte.


    Gottfried von Einem unterhält eine Liebesbeziehung zu Vera, aber es entwickelt sich auch eine Zusammenarbeit bei Liedkompositionen. In den Memoiren des Berliner Verlegers Wolf Jobst Siedler findet sich eine Stelle, die einen kleinen Einblick gewährt:


    »In Gottfried von Einems Begleitung war die sehr begabte und sehr schwarze amerikanische Mezzosopranistin Vera Little, die ihn ständig vom Trinken abzuhalten suchte, wogegen er sich aber erfolgreich wehrte: Husch, Husch, rauf auf die Palme, von der du doch erst gestern heruntergeklettert bist.«


    In seiner Autobiografie beschreibt Gottfried von Einem, dass es für ihn damals viele amouröse Abenteuer gab, die aber meist wenig Bestand hatten.


    »Drei Frauen aus dieser unstabilen Zeit, mit denen ich dauerhafte Verhältnisse einging und die mir damals besonders wichtig waren, verdienen es, in diesen Erinnerungen eigens hervorgehoben zu werden. Die eine war Vera Little, meine schwarze Freundin. Diese großartige, hochgewachsene Sängerin, eine wirkliche ›Frau von Welt‹, lernte ich in Genf kennen. Mit ihr unternahm ich einige Reisen, sie war dem Luxus zugetan und war mir teuer, in beiden Bedeutungen des Wortes. Ihre exotische und dominierende Erscheinung machte gewöhnlich großen Eindruck und ich wurde von manchen Kollegen und Bekannten zutiefst beneidet ...«


    In Berlin blieb Vera Little dann für Jahrzehnte fest verankert und entwickelte sich allmählich zur Diva, die einen flotten Sportwagen fuhr, sich in der angesagten Künstlerszene gut auskannte und eigentlich zu einer ›Berlinerin‹ geworden war. Dennoch schreibt sie 1993 in einer Erzählung:

    »Etwas in mir war jedoch müde geworden, müde, in einem fremden Land zu sein, eine von wenigen zu sein, die immer noch zu beweisen versuchten, dass ich und andere meiner Art wertvoll, edel und ehrenhaft genug waren, um mit Menschen einer anderen Art, eines anderen Volkes, einer anderen Rasse zu leben!«


    Aber sie war auch an der Wiener Staatsoper zu Gast, wo sie im Januar 1964 ihren ersten Auftritt als Amneris im »Aida« hatte; das Wiener Staatsopernarchiv hat 92 Auftritte in 16 verschiedenen Rollen festgehalten.


    Mit 42 Jahren tritt Vera Little in den Stand der Ehe und hat nun einen Bindestrich im Namen, auf Plakaten und in Programmheften steht künftig: Vera Little-Augusthitis und sie war darauf mächtig stolz.
    Der Ehemann, Stylianos-Savvas Augustithis war ein weltweit bekannter Mineraloge; aus der Quelle Ron Simonds ist zu entnehmen: »Er war ein großer, fröhlicher Kerl namens Savas, der immer in Shorts herumhüpfte«; eines Tages zeigte er sogar ein Stück vom Mond herum, das er zur Analyse bekommen hatte.
    Eine ›normale‹ Ehe konnte das nicht werden, man lebte eine Fernbeziehung, nach zwanzig Jahren ist die Ehe am Ende, es geht das Gerücht, dass die griechische Schwiegermutter dieser Verbindung reserviert gegenüberstand.


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    Enttäuschend war für Vera auch das Erlebnis mit der eigenen Mutter, als diese aus Amerika anreiste und ihre Tochter als Ulrica in Verdis »Maskenball« erlebte, da war von Seiten der Mutter keinerlei Stolz oder Begeisterung zu bemerken, über das was die Tochter geschafft hatte, das hat Vera schon arg getroffen.
    Sie sang immerhin mit Größen wie Birgit Nilsson oder Placido Domingo und nicht nur an der Wiener Staatsoper, sondern auch an der Mailänder Scala und bei den Salzburger Festspielen und auf die Bühne der Berliner Oper muss man ja auch erst mal kommen, zum Beispiel als La Cieca in »La Gioconda«, eine ihrer Glanzrollen; da hielt das Publikum den Atem an, wenn die ›blinde‹ Vera Little sich rückwärts zum ›Voce die Donna‹ bewegte.
    An der Deutschen Oper in Berlin sang sie alle wichtigen Partien ihres Fachs. und das Haus war ihre künstlerische Heimat.


    Am 30. Juni 1989 gab sie dort ihre letzte Vorstellung; als Carmen ging sie von der Bühne ab, wo es in dieser Rolle 1958 begonnen hatte, fast vierzig Jahre war sie Mitglied der Deutschen Oper Berlin.
    Vera Little wurde auch literarisch tätig, sie hat drei Gedichtbände und eine Sammlung von Erzählungen veröffentlicht; einige ihrer Büchlein sind noch antiquarisch zu bekommen, zum Beispiel das im Frieling-Verlag 1999 erschienene »Der einsame Priester und die Samstagsesser». Es handelt sich dabei um kleine Schilderungen; die Aufzeichnungen dieser fünfzehn Geschichten beginnen am 30. Juli 1978 und enden am 9. Januar 1993. Auf den linken Seiten ist der Text deutsch, und rechts in englischer Sprache zu lesen.


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    Von 1977 bis 2010 lebte Vera Little in der Witzlebenstraße 33, in Berlin-Charlottenburg, etwa tausend Meter vom Opernhaus entfernt, dann erfolgte der altersbedingte Umzug in eine Senioreneinrichtung; am 24. Oktober 2012 starb sie in ihrer Wahlheimat Berlin und wurde ordnungsbehördlich beigesetzt. Ihre letzte Ruhe fand sie in einem ›halbanonymen Urnengrab‹, etwa 15 Kilometer von ihrer langjährigen Wohnadresse entfernt, auf dem Neuen St. Michael Kirchhof im Berliner Bezirk Tempelhof-Schöneberg im Ortsteil Mariendorf. Ganz klein ist ihr Name da zu finden, aber seit dem Sommer 2024 wird Vera Little an der Fassade ihrer langjährigen Wohnadresse mit einer Berliner Gedenktafel gewürdigt.


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    Von hier aus geht man etwa 100 Meter geradeaus und wendet sich dann nach rechts


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    In diesem metallenen Buch sind die Namen der hier bestatteten eingetragen


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    Ausschnitt aus einer Buchseite



    Praktischer Hinweis:
    Neuer St. Michael-Friedhof, Gottlieb-Dunkel-Straße 29, 12099 Berlin
    Die genaue Stellenbezeichnung ist 01-MU-43-175, aber die Orientierung anhand der Fotos ist einfacher.


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  • Thomas Tipton - *18. November 1926 in Wyandotte (USA) - † 22. September 2007 in München


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    Der Geburtsort von Thomas Tipton liegt im Südosten des Bundesstaates Michigan, das weit bekanntere Detroit ist knappe 20 Kilometer entfernt.
    Thomas Tipton entstammt einer polnischen Einwandererfamilie, die vor dem Ersten Weltkrieg in die USA ausgewandert war, und so entstand aus dem ursprünglichen Thomas Max Pointkowsky, das anagrammatische Thomas Tipton; Thomas war das jüngste von fünf Kindern.


    Schon recht frühzeitig - nämlich beim Vorsingen für den Schulchor in Wyandotte - entdeckte der Lehrer Lyle L. Lyons das Talent des 15-Jährigen.


    In Deutschland war es durchaus üblich, dass Eltern ihren interessierten Nachwuchs mal mit in die Oper nahmen, weil hier Opernhäuser relativ gut erreichbar sind; das war und ist in Amerika eine andere Situation.
    Aber da gab und gibt es in Amerika die Möglichkeit Opernübertragungen der Metropolitan Opera New York zu hören, wovon schon der Vierzehnjährige ausgiebig und begeistert Gebrauch machte und sich an dem Geschehen auch zuhause aktiv beteiligte, indem er Amonasro, Radames, Wotan, aber auch Don Ottavio und Manrico sang.


    Seinen ersten öffentlichen Beifall konnte Thomas Tipton anlässlich eines Schülerkonzerts einheimsen, als er »Old Man River« vortrug. Dass Thomas einmal den überwiegenden Teil seines Lebens im Land mit der größten Dichte an Opernhäusern verbringen würde, stand noch in den Sternen.
    Seine erste Oper erlebte der Besatzungssoldat Tipton dann in Ost-Berlin; es war eine Aufführung von »Hoffmanns Erzählungen«, was seiner Absicht Opernsänger zu werden, mächtig Auftrieb gab.
    Die vier sogenannten ›Bösewichter‹ in dieser Oper gehörten später zu den Glanzrollen von Thomas Tipton. Allerdings war vor dem ersten Opernauftritt noch ein Musikstudium zu absolvieren, wobei zutage kam, dass seine Jahre als GI ihm den Vorteil bringt, dass er insgesamt rund vier Jahre an der Universität East Lansing studieren konnte und sein Studium 1951 mit dem ›Bachelor of Music‹ abschloss.


    Nun gewann er zwar einen Wettbewerb in Detroit, der mit einem Zweijahresvertrag an der New York City Opera verbunden war, aber da wurde nach Auftritten bezahlt und Anfänger hatten eher wenige Auftritte; in der Regie des Komponisten Gian-Carlo Menotti und dem Dirigat des jungen Thomas Schippers debütierte Thomas Tipton als Bob in »The Old Maid and the Thief«.
    Aber das Einkommen als Opernsänger reichte keineswegs aus, also war er auch als Teller- und Autowäscher tätig und fuhr Taxi, um in dem teuren New York einigermaßen überleben zu können.
    Mit der Hilfe eines unbekannten Mäzens konnte Tipton nach seinen New Yorker Jahren noch an der Michigan State University in Ann Arbor studieren und schloss dort 1955 mit dem ›Master of Music in Voice‹ ab.
    Ein Fulbright-Stipendium machte es möglich, dass sich Thomas Tipton 1956/57 an der Münchner Hochschule für Musik einschreiben konnte, wo mit 400.- DM pro Monat auszukommen war. In der großartigen Altistin Hedwig Fichtmüller hatte er aber eine gesangserfahrene Professorin gefunden, die ihm einiges mitgeben konnte. An der Münchner Hochschule wurde Thomas Tipton dann vom Mannheimer Dirigenten Karl Fischer entdeckt und ans Nationaltheater gebracht.


    Seine deutsche Opernkarriere begann Tipton am nagelneuen Nationaltheater in Mannheim, wo er sich am 10. Januar 1957 als Fürst Ottokar im »Freischütz« erstmals in einer Aufführung für die am Bau Beschäftigten präsentierte. Zwei Tage später gab es eine Aufführung für Ehrengäste und am 13. Januar wurde dann das Theater mit einer festlichen Vorstellung des »Freischütz« eröffnet. Der Schreiber dieser Zeilen war damals bei den Probearbeiten ganz nahe dran und verfolgte Thomas Tiptons weiteren Weg über viele Jahre hinweg.
    Überraschendeweise blieb Tipton nur ein Jahr in Mannheim, wo er ausschließlich im lyrischen Fach tätig war, dann ging er ins Engagement nach Hagen, ein geschäftstüchtiger Agent hatte dazu geraten. Tipton, in Amerika professionell für Musikbühnen aller Art geschult und universall einsetzbar, tat in Hagen immerhin erste Schritte ins andere Fach, also sang er zum Beispiel Verdis Posa und Giordanos Gérard in »Andrea Chénier«.
    Diese erfolgreichen Auftritte wurden auch in Mannheim wahrgenommen und man holte diese gute Kraft schleunigst wieder zurück, und Thomas Tipton war dann 1959 bis 1964 wieder in Mannheim - und zwar in tragenden Rollen - zu hören.
    Verdi-Partien: Rigoletto, Germont / ›La Traviata‹, Luna / ›Troubadour‹, Amonasro / ›Aida‹, Jago / ›Otello‹ und Ford / ›Falstaff‹.
    Aber auch in Donizettis ›Lucia di Lammermoor‹ als Lord Enrico Ashton.
    Im Wagner-Fach waren es Biterolf und Wolfram in ›Tannhäuser‹, Melot in ›Tristan und Isolde‹, Kothner in ›Die Meistersinger von Nürnberg‹ und der Heerrufer in ›Lohengrin‹ sowie Gunther in ›Götterdämmerung‹.
    Da wäre noch einiges zu nennen, was in diesen fünf Mannheimer Jahren gesungen wurde, natürlich waren da auch tragende Rollen von Beethoven, Mozart, Puccini, Bizet ... dabei, herausgehoben sei - weil da Musikgeschichte gesungen wurde - die Kurzoper ›Das lange Weihnachtsmahl‹ von Paul Hindemith, die am 17. Dezember 1961 im Kleinen Haus des Nationaltheaters zur Uraufführung kam, Tipton sang den Roderick.


    In diesen Jahren war Tipton auch in USA zu hören, 1962 gab er ein Gastspiel an der San Francisco Opera, aber später gastierte er auch in Chicago, Pittsburgh und San Diego; Tipton hatte sich national und international einen Namen gemacht; in Offenbachs »Contes d´ Hoffmann« gab er ein Gastspiel am Teatro Colón in Buenos Aires. Aber er war auch an großen Häusern in Europa zu hören und mitunter waren es Gastspiele, die ihn an ein renommiertes Haus brachten, wie zum Beispiel nach Stuttgart, München und Hamburg.
    Ab 1966 bis 1972 sind einige Gastspiele an der Wiener Staatsoper verzeichnet.


    Dass er am 1. Januar 1967 am Stadttheater Saarbrücken ein Gastspiel in »Nabucco« absolvierte, findet man bestimmt in keinem Musiklexikon, aber da fuhr man als Musikfreund dann schon mal 140 Kilometer über die teilweise verschneite Autobahn und nach der Vorstellung auch wieder nach Hause, um Tipton in einer seiner Glanzrollen erleben zu können.

    In den Jahren 1964 bis 1966 war er festes Mitglied der Staatsoper Stuttgart und 1965 sang er bei den Salzburger Festspielen als Nardo in Mozarts »La finta Giardinieria«, eine Vorstellung, die in der Fürsterzbischöflichen Residenz stattfand.


    1966 bis 1978, also für die Dauer von einem Dutzend Jahren, war Tipton Mitglied der Bayerischen Staatsoper München, wo er in die Fußstapfen von Josef Metternich und Marcel Cordes zu treten hatte. In München wurde ja nicht nur in der Oper gesungen, es gab auch noch die Münchner Sonntagskonzerte, wo Thomas Tipton zum Beispiel neben Anneliese Rothenberger und Robert Ilosfalvy zu hören war.


    Bei den Bayreuther Festspielen 1967 gab Tipton unter der Regie von Wieland Wagner in »Tannhäuser« den Wolfram von Eschenbach und in der Inszenierung von Wolfgang Wagner stellte er dem Heerrufer in »Lohengrin« seine Stimme zur Verfügung.
    Während seines Wirkens an der Bayerischen Staatsoper hatte Thomas Tipton seinen künstlerischen Gipfel erreicht, als äußeres Zeichen der Anerkennung verlieh man ihm 1977 dann auch den Ehrentitel ›Bayerischer Kammersänger‹, ein fast echter Bayer, der sich in seiner Wahlheimat pudelwohl fühlte, war er ja längst geworden.


    Der Weggang von der Bayerischen Staatsoper bedeutete aber nicht, dass er seinem geliebten München nun den Rücken kehrte, Intendant Kurt Pscherer vom Staatstheater am Gärtnerplatz freute sich schon auf den prominenten Ankömmling zu ›Münchens Komischer Oper‹. Dort verkörperte Tipton:
    Kaspar in »Der Freischütz«, Leporello in »Don Giovanni«, Sonora in »Das Mädchen aus dem goldenen Westen«, Lord Tristan Mickleford in »Martha« ... - ab 1980 war er dann noch als Gast am Gärtnerplatz zu hören und ließ seine Opernsänger-Karriere langsam ausklingen.
    Schließlich ist das Allroundtalend Tipton auch 1986 in der Fernsehserie »Kir Royal« auf dem Bildschirm präsent.


    Die ganz große Präsenz auf Schallplatten war ihm nicht vergönnt, dennoch gibt es Beispiele seiner Gesangskunst auf Tonträgern, die hörbar machen, dass Thomas Tipton über eine großdimensionierte Baritonstimme verfügte; seine ausgeprägte komödiantische Begabung kam bei Opernaufführungen zum Tragen.


    Praktischer Hinweis:
    Nordfriedhof 80805 München, Ungererstraße 130 im Stadtteil Schwabing.
    Wenn man vor dem großen Gebäude am Haupteingang steht, wendet man sich nach rechts und orientiert sich an den Feldern: 48 / 46 / 45 / 44.
    Man kommt dann zur Arkadenhalle ›S‹.


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    Man wendet sich bei diesen rätselhaften Wächterfiguren zum rechten Friedhofseingang - ihre Münchner Geschichte ist tatsächlich rätselhaft ...


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    Die Situation hinter dem mächtigen Komplex des Friedhofsgebäudes - man geht direkt auf die Arkadenhalle zu.


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    Feld 44 / Halle ›S‹


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  • Das Mädchen aus dem goldenen Westen

    Karan Armstrong - * 14. Dezember 1941 in Havre - † 28. September 2021

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    Der rote Stein kennzeichnet die Ruhestätte als Ehrengrab des Landes Berlin


    Vor einigen Jahren war hier noch ein Holzkreuz mit der Aufschrift ›Prof. Götz Friedrich‹ und den Lebensdaten des Regisseurs. 2001 sprach die Witwe mit der Berliner Zeitung,
    die berichtete, dass das schlichte Holzkreuz provisorisch ist und ein Stein erst im Frühjahr gesetzt wird. Nun ist das Grab mit einem Stein des Landes Berlin als Ehrengrab gekennzeichnet.


    Karan Armstrongs Geburtsort liegt im US-Bundesstaat Montana, etwa eine Autostunde von der kanadischen Grenze entfernt; aber aufgewachsen war sie dort nicht, sondern in Dodson, einem kleinen Dorf, siebzig Meilen von Havre entfernt. Das Dorf hatte etwa zweihundert Einwohner und die meisten Häuser waren aus Holz gebaut.


    Die Familien waren im 19. Jahrhundert eingewandert, mütterlicherseits stammte Karan aus Deutschland, väterlicherseits aus England. Das Kind lernte seinen Vater nie so richtig kennen, denn er starb durch einen tragischen Unglücksfall auf einem Truppenübungsplatz, da war Karan acht Monate alt und hatte noch einen Bruder, der um ein Jahr älter war.


    Das Kind war stets von Musik umgeben, denn man wohnte mit Großeltern, Tanten und Onkeln und deren Kindern in einem großen Haus zusammen und fast alle spielten ein Instrument. Dennoch brachte die Mutter, die als Lehrerin arbeitete, ihre beiden Kinder zum Klavierunterricht jedes Wochenende nach Havre, da war Karan gerade mal drei Jahre alt.
    Aber Pearl Armstrong nahm ihre fünfjährige Tochter auch mal zu einem Gesangswettbewerb, der in der Schulaula im Rahmen der Krebsforschung veranstaltet wurde, mit; das Töchterchen gewann dabei 5 Dollar.


    An öffentliche Auftritte war Karan schon recht früh gewöhnt, denn sie spielte im Dorf an Sonntagen sowie bei Begräbnissen und Hochzeiten in der Kirche Klavier, aber auch bei Tanzveranstaltungen.
    Als Karan eingeschult wurde konnte sie von ihrer Mutter betreut werden und lernte leicht, so auch im musikalischen Bereich, wo sie als Klarinettistin an Schulwettbewerben teilnahm; dieses Instrument hatte sie zum Klavier hinzugelernt, als sie ihre Mutter mal für mehrere Wochen im Sommer zu einer Lehrer-Fortbildungsmaßnahme begleitete. Daneben lernte sie noch Flöte, Trompete, Trommel und sogar Dirigieren, aber an Gesang wurde bei all dem auch noch gedacht und ausgeübt, weil man das dazugehörige Instrument ja ständig bei sich hat. Nach der Schulzeit Gesang zu studieren war aus Sicht der Mutter keine so gute Idee, wie so viele Eltern, dachte Pearl Armstrong eher an einen ›soliden‹ Beruf mit dem ein sicheres Einkommen zu erzielen ist.
    Karan befolgte Mutters Rat und strebte ein Studium in Englisch, Psychologie und Klavierspiel an, auch wissend, dass am evangelischen Concordia College auch Thelma Halverson lehrte.
    Frau Halverson erkannte Karans Stimmpotenzial und empfahl sie an Paul J. Christianson, dem Leiter des Collegechors ›Concordia Choir‹.
    Um die Gesangsstunden bei Thelma Halverson finanzieren zu können, erteilte Karan Armstrong ihrerseits Klavierunterricht.
    Im vierten Collegejahr schloss sie mit dem ›Bachelor of Arts‹ ihr Studium ab; da war sie nun, die berufliche Sicherheit, sie hätte damit eine Stelle als Lehrerin antreten können.


    Aber nun waren sich Mutter und Tochter einig, dass auch eine professionelle Gesangsausbildung zu beruflichem Erfolg führen könnte. Oper war gedanklich noch weit weg, man dachte eigentlich mehr an Konzertgesang; der bis dato erste Opernbesuch war eine grottenschlechte Aufführung einer Wanderbühne, nicht dazu angetan, dass man Opernsängerin werden wollte.
    Thelma Halverson und Paul Christianson wollten in Sachen Gesangsstudium gleich ganz groß einsteigen und empfahlen Maggie Tate (Teyte), die 1954 ihre Karriere beendet hatte und in London wohnte.


    Karan Armstrong bemühte sich um ein Stipendium, es war ein zweiwöchiger Aufenthalt in London zu finanzieren, was auch gelang. In London angekommen, erfuhr die Teyte-Schülerin in spe, dass ihre Lehrerin an Gürtelrose erkrankt sei, so etwas ließ sich nicht mal so eben aussitzen, also ging es wieder zurück nach Amerika.
    Aber Maggie Tate war so freundlich eine Verbindung zu Lotte Lehmann herzustellen, die letztendlich dazu führte, dass Lotte Lehmann Karan Armstrong als Schülerin aufnahm, obwohl ihre Kurse überlaufen waren. Zunächst erfolgte eine Vertröstung aufs nächste Jahr, mit der Empfehlung:


    »I give you a very good advice - and I hope you will fallow it - to your own good: I don´t know anybody who would be better in guiding you to enlarge your repertory than Mr. and Mrs. Fritz Zweig.«

    »Ich gebe Ihnen einen sehr guten Rat - und ich hoffe, Sie werden ihn befolgen - zu Ihrem eigenen Besten: Ich kenne niemanden, der Sie besser bei der Erweiterung Ihres Repertoires anleiten würde als Herr und Frau Fritz Zweig.«


    Das waren natürlich zwei musikalische Hochkaräter, Herr Zweig war ein erfahrener und bekannter Dirigent und hinter ›Mrs. Zweig‹ verbirgt sich Tilly de Garmo - Mathilde Klara Jonas, in Dresden geboren - eine bekannte Sängerin ihrer Zeit, die mit ihrem Mann nach 1933 über Frankreich nach Hollywood gelangt war.


    Also zog Karan Armstrong nach Camarillo, einer Stadt zwischen Los Angeles und Santa Barbara, um bei den beiden Gesang zu studieren; das Paar unterrichtete stets zusammen, Fritz saß am Klavier und Tilly stand hinter ihm, um gleich eingreifen zu können, wenn gesanglich etwas der Korrektur bedurfte.
    Erwähnenswert ist, dass Karan Armstrong zu diesem Zeitpunkt noch kein Deutsch konnte, aber in überwiegender Zahl deutsches Liedgut übte, also Lieder von Franz Schubert, Robert Schumann, Hugo Wolf, Gustav Mahler und Richard Strauss.
    Das Studium sah so aus, dass sie an Werktagen mit Tilly de Garmo und Fritz Zweig arbeitete und an den Wochenenden fuhr sie zu Lotte Lehmann, die in ihrem herrlich gelegenen Haus - mit Meerblick - auf den Hügeln von Santa Barbara unterrichtete.


    Aber es galt nicht nur der Kunst, man musste sich auch umsehen, dass Geld ins Haus kam.
    So sang sie nicht nur bei Hochzeiten und Beerdigungen, sondern war auch Telefonistin.
    Schließlich zog sie mit ihrer Mutter und den Großeltern 1964 nach Los Angeles. Hier gelang es ihr als Solistin in den »Roger Wagner Chorale« zu kommen und die Reisen mit diesem Chor waren auch dazu geeignet, sie als Sängerin bekannt zu machen.


    Karan Armstrong hatte schon an vielen Gesangswettbewerben teilgenommen und auch schon einige gewonnen, das Preisgeld war immer willkommen. So war auch das Interesse geweckt als die San Francisco Opera eine besonders hohe Gewinnsumme auslobte.
    Allerdings war nicht nur die Geldsumme groß, sondern auch die Bewerberzahl; auf der Liste standen immerhin dreitausend Leute.
    Aufgeregt telefonierten die Zweigs mit Lotte Lehmann und man entschied sich dafür Karan mit der Arie des Ännchens ›Kommt ein schlanker Bursch gegangen‹ aus Carl Maria von Webers »Freischütz« ins Rennen zu schicken.
    Die Vorbereitung war optimal, denn neben den musikalischen Aspekten wurden jede Geste und Bewegung einstudiert.
    Zunächst mussten einige Vorentscheidungsrunden absolviert werden; letztendlich hatte man 30 ins Shrine Auditorium, ein fünftausend Zuschauer fassendes Haus in Los Angeles, eingeladen, Karan Armstrong war dabei, auch Kurt Herbert Adler, der musikalische Leiter der San Francisco Opera, dem Karan Armstrong klar machte, dass dem vortragenden Künstler, die volle Aufmerksamkeit gebührt.
    Beim Finale in San Francisco belegte Karan Armstrong den zweiten Platz, was immerhin die Teilnahme an einem Trainingsprogramm für Sänger einbrachte und im folgenden Jahr debütierte sie dann in Smetanas »Die verkaufte Braut« an der von Carl Ebert gegründeten Guild Opera in Los Angeles. Schon einige in der Musikszene bekannte Persönlichkeiten hatten den Weg von Karan Armstrong gekreuzt, nun kam noch Igor Strawinsky hinzu, dessen Sekretär, der Musikwissenschaftler Robert Craft, ein Auge auf Karan geworfen hatte. Kraft studierte mit ihr einige japanische Lieder ein, die Strawinsky geschrieben hatte.


    Aber schon wieder warf ein Wettbewerb seine Schatten voraus; es kam das große Ereignis der ›Met-Auditions‹. Tausende beteiligten sich an den lokalen Vorentscheidungen, aber nur vierzehn sollten die Bühne des traditionsreichen Hauses - es war noch die alte ›Met‹ - betreten. Aus den Händen von Rudolf Bing, dem langjährigen Generalintendanten, konnte Karan Armstrong den ersten Preis entgegennehmen. Damit verbunden war ein Dreijahresvertrag mit der Metropolitan Opera.
    Natürlich wurde all das auf schnellstem Wege nach Kalifornien übermittelt, und das Ehepaar Zweig entwarf sogleich weiterführende Pläne: »Jetzt bleibst du drei Jahre an der Met, und dann gehst du nach Europa«.


    Karan Armstrong fand an der ›Met‹ einen nagelneuen Arbeitsplatz vor, denn das fast 4.000 Plätze fassende Haus wurde am 16. September 1966 eröffnet. Die Neue kam hier mit bedeutenden Künstlerpersönlichkeiten in Berührung von denen man einiges lernen konnte, an große Rollen war an einem solchen Haus nicht zu denken. Die Zweigs wussten schon, warum sie Europa, insbesondere Deutschland mit seiner Opernhausdichte, empfahlen, da konnte man sich besser weiterentwickeln.
    Aber als Karan Armstrong von Rudolf Bing gebeten wurde, im Rahmen eines Abendessens für Sängerinnen und Sänger die Gestaltung des Unterhaltungsprogramms zu übernehmen, hatte sie sich offenbar etwas überhoben, denn es war nichts Alltägliches für Renata Tebaldi, Leontyne Price und Joan Sutherland zu singen ...
    Nach Armstrongs Darbietung kam Leontyne Price mit einer Belehrung zu ihr:
    »Mein Kind, ich muss sagen, Sie haben Talent, aber Sie sollten ein Wort in Ihr Repertoire nehmen, und das ist das Wort Nein!«
    Zu dieser Zeit sangen an der ›Met‹ Größen - neben den bereits genannten - wie: Richard Tucker, Franco Corelli, Birgit Nilsson, Anna Moffo ...
    Da war ein besonders Studium bezüglich des Verhaltens dieser etablierten Stars möglich; so erschienen die Damen Tebaldi und Sutherland in eleganter Kleidung und trugen Schuhe mit hohen Absätzen, während die praktische und bescheidene Birgit Nilsson zu den Proben immer flache Schuhe mitbrachte und der Nachwuchskünstlerin deren Vorteile erklärte, wenn man bei Proben lange stehen muss.
    Bei Anna Moffo waren es besonders die langen schwarzen Haare, von denen Karan - die damals allgemein von den großen Damen mit ›mein Kind‹ angesprochen wurde - so hingerissen war, dass sie ihre Haare auch schwarz färben ließ, was zumindest den Erfolg hatte, dass sie um Autogramme gebeten wurde.


    Ansonsten genoss die 25-jährige Nachwuchssängerin die gebotenen Privilegien. Die ›Met‹ bot ihren jungen Mitgliedern an, gratis Gesangsstunden zu nehmen und jede Partie zu lernen, die man wollte. Der Vertrag war so hoch dotiert, dass sie in New York ein Apartment beziehen konnte und keine finanziellen Schwierigkeiten hatte.
    Insgesamt stand sie in diversen Opernaufführungen 48 Mal auf der Bühne der Metropolitan Opera, aber tragende Rollen waren für Anfänger nicht vorgesehen; die Geschichten, dass der Star des Abends ausfällt und ein Anfänger einspringt und dann groß herauskommt sind selten.


    Noch während sie an der ›Met‹ beschäftigt war, zog sie quer durch die USA und konnte sich in vielen Rollen erproben. Rudolf Bing, der natürlich auch Tilly de Garmo und Fritz Zweig aus seiner deutschen Zeit gut kannte, legte der jungen Sängerin nichts in den Weg, wenn sie außerhäusig tätig wurde. So trat sie an der San Francisco Sprig Opera in Rossinis »Italienerin in Algier« als Elvira auf, gab an der Lake George Opera die Susanna im Mozarts »Hochzeit des Figaro« und sang an der Orange Country Opera in Puccinis »La Bohéme« die Mimi. An der Santa Fé Opera in New Mexico - ein ganz besonderes Opernhaus - wo so viele spätere Opernstars ihren Anfang hatten -, debütierte sie als Adina in Donizettis »Liebestrank«.


    Das war zwar ein Hetzen von Stadt zu Stadt, bot aber Gelegenheit jede Menge Bühnenerfahrungen zu sammeln, die mit Kleinstrollen an der ›Met‹ nicht zu erwerben gewesen waren. 1959 endete Karan Armstrongs Vertrag an der Metropolitan Opera.
    An der Leitung des Hauses ergaben sich schicksalsbedingte Änderungen, die den Weg von Karan Armstrong in eine andere Richtung lenkten.


    1969 wurde Karan Armstrong Mitglied der New Yorker City Opera, weil sie von Beverly Sills, die für ein Jahr nach Europa gehen wollte, darum gebeten wurde. An diesem Haus gab Armstrong ihren Einstand als Zarin von Schemacha in Rimski-Korsakows Oper »Der goldene Hahn«.
    Neben der Oper war sie auch als Konzertsängerin präsent und sang zum Beispiel in Händels Oratorium »Der Messias« und Mendelssohn Bartholdys »Elias«. Mit dem Israel Philharmonic Orchestra hatte sie auch einige Auftritte in Israel.
    Als Beverly Sills wieder aus Europa zurückgekommen war, nahm Karan Armstrong abermals ihre Reisetätigkeit zu diversen Operntheatern auf.


    1967 hatte sie Dana Tefkin, einen Mann aus der Finanzwelt und Immobilienbranche, geheiratet, dem die Welt der Musik aber eher fremd war; das passte nicht so recht zusammen, zumal die Ehefrau ständig irgendwo unterwegs war. Karan Armstrong wollte eigentlich ihre Karriere beenden, weil sie auch an den typischen Koloraturpartien keinen uneingeschränkten Gefallen mehr fand; ihr über Jahre bewährter beratender Beistand, also die Zweigs und Lotte Lehmann, waren in die Jahre gekommen und kamen als Ratgeber scheinbar nicht mehr infrage; also sollte es nach Los Angeles zurück gehen, ein Abschiedskonzert war angedacht. Bei diesem ›Abschiedskonzert‹ kam ihr jedoch der vorgesehene Pianist abhanden und musste durch Dr. Verhines ersetzt werden, der, wie sich herausstellte, auch Stimmlehrer war. Mr. Verhines bot sich an Karans Stimme zu vergrößern und auch Tilly de Garmo und Fritz Zweig stiegen nochmals mit ein, es kam die sogenannte ›Marchesi-Methode‹ zur Anwendung.


    Zu diesem stimmlichen Neuanfang kam nun in der Hollywood Bowl ein Konzert mit dem Los Angeles Philharmonic Orchestra; es handelte sich damals um eine Konzertreihe in der auch Simon Estens, Placido Domingo, Vladimir Ashkenazy ... auftraten.
    In Nebraska schlüpfte sie 1972 in »Hoffmanns Erzählungen« in die Rollen von Olympia, Giulietta, Antonia und Stella, was zu dieser Zeit noch etwas Besonderes war und deshalb entsprechende Beachtung fand. Als sie im gleichen Jahr an der Houston Grand Opera als Susannah Polk in Carlisle S. Floyds Oper »Susannah« auftrat, war das für Karan Armstrong ein weiterer sehr großer Erfolg. Es ging nun wieder mit neuem Stimmpotenzial quer durch Amerika, man kann in diesem Rahmen nicht alle Erfolge aufführen, aber die Bandbreite von Armstrongs Tätigkeit wird ein bisschen mit der Feststellung deutlich, dass sie die Saison mit ihrem Auftritt in der Hollywood Bowl begann und in der Carnegie Hall in New York in einer konzertanten Aufführung von Händels Oper »Alcina«, wo sie die Morgana sang, beendete.


    Eigentlich sollte Karan Armstrong im Miami unter dem französischen Dirigenten Alain Lombard die Desdemona in Verdis »Othello« singen, aber dann erhielt Lombard 1974 eine Berufung nach Strasbourg und bot Armstrong an ihm dorthin zu folgen - endlich Europa!
    Die Zweigs waren überglücklich. Aber das konnte nur eine Stippvisite in Europa sein, denn da waren in Amerika noch eine Menge Verpflichtungen zu erfüllen. Also sang sie an der Opéra du Rhin die Micaëla in »Carmen« und Cho-Cho-San in »Madame Butterfly«, es waren Repertoirestücke des Hauses. Kaum war in Strasbourg der letzte Ton verklungen, ging es wieder über den Atlantik, um an der Fort Worth Opera in Texas die Viotetta in Verdis »La Traviata« zu singen - wieder eilte sie in Amerika von Stadt zu Stadt und feierte dabei auch ihren Einstand in ein für sie neues Genre, sie war in den Operetten »Die Fledermaus« (Rosalinde) und »Die lustige Witwe« (Hanna Glawari) zu hören.


    Aber sie wusste bereits, dass sie 1975 wieder nach Strasbourg kommen würde, weil dort eine Neuinszenierung von Strauss´ »Salome« geplant war. Man wollte hier wirklich ›große Oper‹ machen und verlegte die Aufführung in ein Kongresspalais, das wesentlich mehr Plätze bot als das relativ kleine Strasbourger Opernhaus. Diese Aufführung war ein Ereignis, das auch in Fachkreisen Beachtung fand; die Inszenierung wurde sogar verfilmt, was Karan Armstrong zusätzlich bekannt machte; 1976 war sie dann auch bei den Münchner Opernfestspielen in ihrer neuen Paraderolle zu bewundern und sang sie auch in den Jahren von 1978 bis 1985 an der Wiener Staatsoper.


    So war es nicht verwunderlich, dass bei der Planung einer Neuinszenierung von »Salome« an der Stuttgarter Staatsoper auch der Name Karan Armstrong ins Spiel kam; Götz Friedrich sollte das Werk in Szene setzen, der Name der Sängerin war ihm kein Begriff, aber die von der Agentur vorgelegten Rollen-Fotos kommentierte er: »Sieht prima aus, hoffentlich singt sie auch so«, soll er gesagt haben, wobei ihm aber sogleich Zweifel kamen, weil er Armstrong aus Los Angeles unmittelbar mit ›Hollywood‹ in Verbindung brachte, was ihn nichts Gutes ahnen ließ.
    Schon am ersten Probetag gab es in Stuttgart Zoff und die Differenzen zwischen Regisseur und Salome-Darstellerin setzten sich fort, um beim Tanz der sieben Schleier ihren Höhepunkt zu erreichen. Götz Friedrich sprach kein Englisch und Armstrong kein Deutsch, eine Übersetzerin war zu Diensten, die vermutlich einiges ›glättete‹, damit es nicht in allzu schroff daherkam. Der am Stuttgarter Haus tätige amerikanische Tänzer William Forsythe studierte mit Armstrong über vierzehn Tage hinweg den Tanz ein. Danach schlüpfte Götz Friedrich in die Rolle des Herodes und Salome entledigte sich ihrer Schleier und stürzte sich am Ende Herodes zu Füßen - im Proberaum soll es danach totenstill gewesen sein - dann sprach ›Friedrich-Herodes‹: »Peinlich«.
    Die Übersetzerin schwieg, Karan Armstrong hatte auch ohne Übersetzerin verstanden und sammelte ihre Schleier auf, dann hörte man, dass die Feuertür zum Proberaum sehr geräuschvoll zuschlug.


    Karan Armstrong packte im Hotel ihre Koffer und bestellte ein Taxi zum Flughafen. Götz Friedrich hatte sich mit der Übersetzerin flugs zum Flughafen begeben, wo dann die weitere Entwicklung in der Bar der Abflughalle besprochen wurde. In der Literatur heißt es dazu:


    »Friedrich bat um Entschuldigung, bettelte, insistierte. Anschließend fuhren sie zurück zur Probe. Und dann war mit einem Mal alles ganz anders. Die Übersetzerin wurde kaum noch gebraucht.« Schließlich entwarf die Ballettmeisterin Romayne Grigorova des Royal Opera House Covent Garden den Schleiertanz nach Götz Friedrichs Vorstellungen als apokalyptischen Hochzeitstanz. Die Premiere im März 1977 war erfolgreich verlaufen, was man vom Heiratsantrag, den Herr Friedrich seiner erfolgreichen Salome machte, nicht sagen kann; ihre Wege trennten sich zunächst. Karan wollte so eine Art Probeehe versuchen und reiste nach Hamburg, wo Friedrich wohnte, aber beide hatten so viele Verpflichtungen, dass da nichts rechtes entstehen konnte. Aber im Frühjahr 1979 kam man wieder in Stuttgart bei einer Neuinszenierung von »Cosi fan tutte« zusammen und nun kam es endlich auch zur Heirat und die Ehe hatte Bestand bis der Tod sie trennte; das war der 12. Dezember 2000.


    Auch nach der Heirat war Frau Friedrich damals als Sängerin gut ›im Geschäft‹, aber sie reduzierte merklich ihre amerikanische Präsenz.
    Hinzu kam, dass Götz Friedrich im August 1981 zum Generalintendanten und Chefregisseur der Deutschen Oper Berlin berufen wurde, das tat der Ehe gut.
    Natürlich war das aber auch so eine Sache, wenn die Frau des Chefs als international bekannte Sängerin auftauchte, ein gesundes Misstrauen konnte man den angestammten Kräften des Hauses nicht verübeln. Aber die Bedenken zerstreuten sich bald, denn Frau Operndirektorin war nicht darauf angewiesen, dass ihr in Berlin Rollen zugeschanzt wurden, sie hatte in Stuttgart, München, Zürich, Amsterdam und London eine Menge Arbeitsplätze; zum Leidwesen ihres Mannes hielt sie sich immer noch mehr als die Hälfte des Jahres im Ausland auf.


    Als Götz Friedrich aber für eine Neuinszenierung an der Deutschen Oper eine Lulu brauchte, kam er an seiner Gattin nicht vorbei, denn da war ja im Februar 1981 am Royal Opera House Covent Garden eine Aufführung von Alban Bergs Oper über die Bühne gegangen, die der ›Daily Telegraph‹ als »Meilenstein der britischen Operngeschichte« würdigte, Regisseur war damals Götz Friedrich.                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                  

    Bezüglich des künstlerischen Stils waren sich die Eheleute weitgehend einig, aber was die beiden so trieben löste natürlich nicht nur Begeisterung aus. Die Presse würdigte Armstrongs Wirken mit dem Titel ›Diva der Moderne‹ und sie verstand es auch auf Grund ihrer Erfahrungen Anweisungen elegant zu unterlaufen - Originalton Armstrong:

    »Ich habe immer, wenn ein Dirigent eine andere Stimmfarbe von mir wollte, eine Weile nachgedacht und die Stelle dann genauso gesungen wie zuvor. Und jedes Mal ist der Dirigent darauf hereingefallen und hat gesagt: ›Ja, jetzt hast du es! Genauso habe ich es mir vorgestellt!‹«

    Am 1. März 1984 übernahm Karan Friedrich eine Rolle die sie noch nie zuvor hatte, sie wurde Mutter von Johannes Götz Amadeus.


    Karan Armstrong wurde 1985 in Baden Württemberg zur Kammersängerin ernannt, die gleiche Ehrung folgte 1994 in Berlin. Bis zu Götz Friedrichs Tod im Jahr 2000 galt das Paar als künstlerische Symbiose, Karan Armstrong war eine weltweit gefragte Sängerin, Karan Friedrich die ideale Künstlerin für das Regietheater ihres Mannes.
    Im Spielplan der Deutschen Oper findet man ihren Namen im Dezember 2016 noch auf dem Besetzungszettel; in »Eugen Onegin« gab Karan Armstrong die Madame Larina, eine Rolle,
    die für sie nun passend war.
    Fast vier Jahrzehnte war sie mit der Deutschen Oper Berlin eng verbunden, an mehr als vierhundert Abenden sang und spielte sie in 24 verschiedenen Rollen, dann zog sie sich von der Opernbühne zurück. Zuletzt lebte sie in einem Apartment im spanischen Marbella, aber sie war bestrebt wieder nach Berlin zurückzukehren, was ihr jedoch lebend nicht mehr gelang, sie starb 79-jährig in einem Krankenhaus im spanischen Marbella.


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    Die Trauerfeier fand am 2. November 2021 statt und in die Anzeige war ein Lebensmotto von ihr eingefügt: »Du bekommst vom Leben nur das, was du dem Leben gibst«.


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    Von hier aus gesehen kommt man in etwa drei bis fünf Minuten zum Ausgang an der Potsdamer Chaussee.


    Praktische Hinweise:
    Waldfriedhof Zehlendorf, Potsdamer Chaussee (75/77) 14129 Berlin im Bezirk Steglitz-Zehlendorf. Ein Parkstreifen für PKW ist vorhanden.
    Ab Bahnhof Wannsee verkehrt ein Bus mit einer Haltestelle am Friedhofstor.
    Beim Friedhofstor wendet man sich zunächst nach rechts, wo sich ein Plan mit Auflistung der Ehrengräber befindet; unter Nr. 34 steht: ›Friedrich, Prof. Götz‹.
    Vom Plan aus orientiert man sich nach links zu einem breiten Weg.
    Man geht diesen Weg ein Stück geradeaus und findet links das Gräberfeld 039 Nr. 71-72


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    Stein am Friedhofseingang


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    CD_Karan_Armstrong.jpg





  • Der Vater hatte eine grundsolide Basis geschaffen, denn Wenzel Czerny legte großen Wert auf technisches Können und Disziplin. Beethovens Unterricht beschränkte sich nicht nur auf das Klavierspiel, er gab auch Anleitungen zur Komposition.


    Ich will diesen Thread und die interessanten Beiträge nicht stören aber mich interessiert nur ob der Kompositionsunterricht durch eine Quelle bzw. einen Nachweis bestätigt werden kann. Denn was ich so bislang gelesen habe war Erzherzog Rudolf der einzige Kompositionsschüler seines Lebens, siehe etwa


    Beethoven unterrichtete den Erzherzog im Klavierspiel und - als einzigen seiner Schüler - in der Kunst der Komposition.

    Auch bei Jan Caeyers "Beethoven. Der einsame Revolutionär" beim Kapitel "Die Schüler Carl Czerny und Ferdinand Ries" steht über mehrere Seiten nichts von Kompositionsunterricht. Gibt es dazu doch eine glaubwürdige Quelle, oder ist diese Information von einem alten Mythos der auch gerne bei Mozart und Süßmayr herangezogen wird? Oftmals wurde von bestimmten Personen versucht (im Falle von Mozart seine Wittwe Constanze) eine Verbindung aufzuwerten obwohl es keine Belege dazu gibt (in der Art wie sie bei Rudolf existieren) Ich kenne nicht jede Aussage von Czerny aber denke das müsste ja diesen zwei genannten Quellen gegebenenfalls ja nicht entgangen sein. Und Sorry für diese kleine Nachfrage, soll eine Ausnahme bleiben. (es interessiert mich nur persönlich)

    „Eine Erkenntnis von heute kann die Tochter eines Irrtums von gestern sein.” (Marie von Ebner-Eschenbach)

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  • Nun, lieber âme, ich bin ja kein Musikwissenschaftler, aber versuche eben bei meinen Grabbesuchen auch ein bisschen was über die Verblichenen dazuzuschreiben.
    Wenn man bei solchen Vorgängen nicht selbst dabei war, muss man sich in der zur Verfügung stehenden Literatur sachkundig machen.


    Czerny-Buch.jpg

    In dem hier zur Ansicht beigefügten Buch ist die Situation als der Geiger Krumholz den zehnjährigen Knaben Beethoven vorstellte, auf Seite 9 so beschrieben:


    »Der Knabe hat Talent, ich selbst will ihn unterrichten und nehme ihn als Schüler an«, war dessen Reaktion auf das Vorspiel Beethoven´scher Werke durch den Knaben. Der regelmäßige Unterricht dauerte nicht lange, wurde unterbrochen, wieder aufgenommen, war aber jedenfalls prägend und nicht nur auf Klavierspiel beschränkt, sondern galt auch der Anleitung zur Komposition. Das Lehrer-Schüler-Verhältnis ging nach etwa zehn Jahren in ein freundschaftliches über: Beethoven blieb ihm, so Czerny, »gewogen und behandelte mich freundschaftlich bis an seine letzten Tage«.

  • Lieber Hart. Danke für die Information. Wahrscheinlich ist es ein Tippfehler und du meinst Krumpholz (Wenzel mit Vorname). Möglicherweise hat er Recht, dann sind darüber aber keine Aufzeichnungen mehr vorhanden oder es waren eher oberflächliche mündlich erteilte "Anleitungen" und weniger ein Unterricht. Wer weiß das schon, als endgültigen Nachweis ist wohl eine Anekdote etwas mager, aber ich wusste nicht dass es diese (Aussage) gibt.

    „Eine Erkenntnis von heute kann die Tochter eines Irrtums von gestern sein.” (Marie von Ebner-Eschenbach)

  • Um letzte Unklarheiten auszuräumen - der gute Mann hieß tatsächlich Wenzel Krumpholz, das ist fein beobachtet ... im Originalbericht war das ›p‹ noch da.

  • Spezialistin der Moderne


    Irmgard Arnold - *17. Oktober 1919 in Horn - † 31. Januar 2014 in Berlin


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    Der kleine private Friedhof in Rauchfangswerder


    Der Geburtsort von Irmgard Arnold heißt heute Horn Bad-Meinberg, eine Stadt im Kreis Lippe. Aufgewachsen ist sie aber in München, wo die Familie hinzog, weil der Vater Klarinette spielte und Orchestermusiker war.
    Ihr Gesangsstudium begann Irmgard Arnold als Sechzehnjährige; in Nachschlagewerken wird dargestellt, dass sie bei A. Bassani Gesang studierte, wobei verborgen bleibt ob es sich dabei um einen Mann oder eine Frau handelt, aber einmal ließ sie verlauten, dass sie von ihrer Lehrerin überhaupt nichts gelernt habe.


    Weit mehr gab es für sie vom Ensemble und den Gästen des Nationaltheaters München zu lernen; es war die Zeit als dort Sängerinnen wie zum Beispiel Maria Reining, Hilde Güden, Margarete Bäumer, Hildegard Ranczak ... zuhören waren.
    Irmgard wuchs in Bayern auf und war eine fast echte Bayerin geworden, was Felsenstein später noch in Berlin zu hören bekam, wenn es Meinungsverschiedenheiten gab, und er sagte: »jetzt wird sie wieder bayerisch.«


    Aber zunächst war Berlin noch weit weg, ihr erstes Engagement trat Irmgard Arnold 1939 an, wo sie in Carl Zellers Operette »Der Vogelhändler« als ›Christel von der Post‹ am Bayerischen Landestheater München debütierte.
    Anschließend war sie für sieben Jahre in Augsburg engagiert; sie sang im Ludwigsbau, der damals operntauglich gestaltet wurde und sang eben alles was zu singen war: Blondchen und Konstanze in »Die Entführung aus dem Serail«, die Königin der Nacht in »Die Zauberflöte«, das Ännchen im »Freischütz«, die Baronin im »Wildschütz«, Rosina in »Der Barbier von Sevilla«, Marzelline in »Fidelio«, Gilda in »Rigoletto«, Violetta in »La Traviata« und Adele in der »Fledermaus« ...


    1947 folgte dann ein Wechsel nach Halle, wo sie auch Nachkriegsverhältnisse vorfand und ihren Einstand als Sophie im »Rosenkavalier« gab, am Pult der blutjunge Kurt Masur, der im Rückblick sagte:
    »Es war ja erstaunlich, an diesem doch sehr kleinen Theater den Versuch zu unternehmen, in so schweren Zeiten dieses komplexe Meisterwerk der Opernliteratur zu präsentieren. Das Orchester hatte kaum Platz und war natürlich auch personell reduziert. Aber es ging!«
    Es ging vor allem, weil Masur eine Sänger-Riege vorfand, von der er lernen konnte. Als hier im September 1949 »Rigoletto« angesagt war, sah das so aus:
    Kurt Seibt als Rigoletto, Irmgard Arnold als Gilda, Heinz Sauerbaum als Herzog, Gerhard Frei als Sparafucile und Erna Westenberger als Maddalena.
    Masur glaubte einmal einen »Rigoletto« großartig dirigiert zu haben, aber nach der Vorstellung fragte die Arnold zu seiner größten Überraschung, ob es ihm nicht gut gehe - später traf man sich bei Felsenstein in Berlin wieder.

      

    Zwei Jahre später näherte sie sich schließlich ihrem künstlerischen Wendepunkt. Walter Felsenstein betrachtete Halle als ein Reservoir aus dem er schöpfen konnte und so kamen - um nur wenige Namen zu nennen - die blutjunge Anny Schlemm und die damals 27-jährige Irmgard Arnold und auch Gerhard Frei nach Berlin, wo Felsenstein im Dezember 1947 die neue Komische Oper mit der Operette »Die Fledermaus« eröffnete. Seitdem gilt Felsensteins Wirken an der komischen Oper Berlin als die Geburtsstätte des modernen Musiktheaters.


    Als Felsenstein für »Der arme Matrose«, einen Einakter von Darius Milhaud, eine geeignete Sängerin brauchte, engagierte er Irmgard Arnold und es blieb eine Verbindung fürs Leben.

    Die Sängerinnen und Sänger hatten mit diesem Regisseur ihre liebe Not. Sein einziges Ziel war die glaubhafte und überzeugende Darbietung. Bei ihm stand Werktreue – szenisch und musikalisch – an erster Stelle. Verständlichkeit war sein oberstes Prinzip. Ein halbes Jahr und länger zu proben, war da nichts Besonderes und es ist überliefert, dass Hanns Nocker während einer Probe zu »Othello« morgens um zwei stöhnte: »Chef - ich kann nicht mehr.« Als die schon hochbetagte Irmgard Arnold, die mit dem bekannten Bassisten Gerhard Frei verheiratet war - der Kinder aus einer anderen Ehe mitgebracht hatte - einmal von einem Musikfreund gefragt wurde ob sie selbst auch Kinder habe, antwortete sie:
    »Neben Felsenstein? Das arme Kind!«


    In der Tat war Irmgard Arnold eine sehr wichtige Protagonistin Felsensteins, und - das kann man schon mal festhalten - sie schrieb zumindest mit ihrer Rollengestaltung in Leoš Janáčeks Oper »Das schlaue Füchslein« Musikgeschichte, denn so erfolgreich war das Werk bisher noch nicht aufgeführt worden.
    Der Ton des Hauses wird auch an einer von Kurt Masur überlieferten Episode deutlich; nach fast 200 Aufführungen, die Arnold absolviert hatte, war sie mal nicht in Hochform - sie musste ja trainieren wie eine Tänzerin, um alles sängerisch-darstellerisches minutiös umsetzen zu können -, da sagte Felsenstein am nächsten Tag auf der Probe: »Arnold, du wirst alt!«


    Zwischen 1956 und 1964 gab es in der Felsenstein-Inszenierung von »Das schlaue Füchslein« 218 Vorstellungen der Komischen Oper Berlin; das waren mehr Vorstellungen als zuvor insgesamt in Janáčeks tschechischer Heimat über die Bühne gingen. 218 Mal sang und spielte Irmgard Arnold die schlaue Füchsin, auch in Wiesbaden und Paris.
    Arnolds Ausruf: ›Das arme Kind!‹ - war schon begründet, denn es ist heute kaum noch vorstellbar, dass dieses Stück damals zwei Monate lang intensiv geprobt wurde; die Hauptdarstellerin meinte dazu:


    »Wenn man da nicht durchtrainiert gewesen wäre, hätte man ja einen Muskelkater gekriegt, dass man am nächsten Tag nicht mehr hätte auf die Probe gehen können. Aber das war für ihn selbstverständlich, denn er war in seinem früheren Leben ganz kurz auch Tänzer, und dann Schauspieler, Dann ist er Regisseur geworden. Es war für mich natürlich wunderbar. In der Schule waren für mich immer Turnen, Singen und Religion – das waren meine drei Einser.«


    Durch den DEUTSCHLANDFUNK erfährt man schließlich noch, dass Arnolds Vater leidenschaftlicher Jäger gewesen sei und die Tochter deshalb Füchse in freier Natur beobachten konnte; weiter oben steht, dass der Vater Orchestermusiker war, aber es können ja schließlich auch Orchestermusiker Jäger sein ...


    Allerdings ist hiermit schon das wohl Spektakulärste in Irmgard Arnolds Künstlerleben vorweggenommen, denn da war noch einiges vor 1956; beachtlich ist nämlich auch, dass Irmgard Arnold an allen drei Berliner Opernhäusern gesungen hat, zum Beispiel im April 1949 als Musette in »La Bohéme« an der Städtischen Oper.
    Aber auch an der Staatsoper war Frau Arnold zu hören; sowohl im Ausweichquartier Admiralspalast als auch später im wiedereröffneten Stammhaus unter den Linden.
    Ein Besetzungszettel zeigt, dass sie am 1. Januar 1951 in einer »Rigoletto«-Aufführung als Gilda an der Seite des 35-jährigen Rudolf Schock sang.
    Auch als Eislers Deutsche Sinfonie im April 1959 an der Staatsoper uraufgeführt wurde, war Irmgard Arnold dabei.
    1962 sang sie anlässlich der Trauerfeier für Hanns Eisler, zu dem sie eine besondere künstlerische Beziehung entwickelt hatte.
    Über die Jahre hinweg war Arnold immer mal wieder an der Staatsoper in Opernaufführungen zu hören, aber auch bei Staatsakten, Trauerfeiern und Lied-Veranstaltungen.
    So war Irmgard Arnold zum Beispiel Im November 1963 zusammen mit Peter Schreier und Günther Leib in einer Lied-Matinee im Apollo-Saal des Hauses als Solistin zu hören.
    Sie sang auch im November 1966 unter dem Dirigat von Otmar Suitner in der Uraufführung von Paul Dessaus Oper »Puntila«, die Dessaus Ehefrau, Ruth Berghaus, spektakulär in Szene gesetzt hatte, die Rolle von Puntilas Tochter Eva.
    Irmgard Arnold wirkte zwar erstrangig an der Komischen Oper Berlin, aber die Staatsoper ist ja nur etwa tausend Meter davon entfernt, da konnte man sich in beiden Häusern zuhause fühlen. Vom Beginn ihrer sängerischen Laufbahn an hatte sich Irmgard Arnold ein recht reichhaltiges und breites Repertoire erarbeitet, galt dann aber in ihrer Berliner Zeit als Spezialistin der Moderne.


    Um Lieder von Hanns Eisler zu singen bedurfte es keiner Belcanto-Stimmen; Eisler schrieb keine Opern. Der Komponist hatte Schwierigkeiten, für eine große Gruppe seiner Werke angemessene Interpreten zu finden. Seine ersten Erfahrungen mit ›normalen‹ Opernsängern, die überhaupt bereit waren, Eisler zu singen und auf deren Vortragsweise er keinen Einfluss nehmen konnte, waren entmutigend gewesen, zum Beispiel bei der »Goethe-Rapsodie« im Jahre 1950.
    Erst 1956 fand er in Irmgard Arnold eine Sängerin, die alles hatte, was es für seine Musik brauchte - mit Eislers Worten: »Leichtigkeit, Intelligenz, Freundlichkeit, Strenge, Anmut und Härte, Spaß und Ernst.«
    Hanns Eisler hatte ›die Arnold‹ zum ersten Mal in der von Felsenstein 1951 inszenierten Oper »Pariser Leben« von Jaques Offenbach gehört und seinen damaligen Eindruck1958 so formuliert: »Ich war begeistert über Gesang und Darstellung.«
    Im Jahr 1954 sah er die Sängerin in »Die schweigsame Frau« von Richard Strauss und 1956 erlebte er sie in »Die neugierigen Frauen« von Ermanno Wolf-Ferrari, und - man kann es sich denken - in »das schlaue Füchslein«.


    Um exakt darzustellen was da geschah, soll aus einem Booklet von Eisler-Liedern zitiert werden:
    »Auch Irmgard Arnold empfand die Zusammenarbeit als ein großes Glück. Sie hat sich Anfang der siebziger Jahre darüber geäußert:
    ›Also, im ›Pariser Leben‹ hab ich ja nun - Gott sei Dank - keine schwülstige Opernsängerin darzustellen gehabt. Das war überhaupt die größte Angst, die er hatte ...: Weg mit diesem entsetzlichen Opernschwulst, weg mit dem Puccini-Bibber! Da waren schon in den ersten Proben manchmal aggressive Stunden dabei. Aber er hatte so recht, ich habe es selber gehört - und es hat mir weitergeholfen, nicht nur für seine Lieder, auch dann für die Bühne. Und ich kann nur jedem sagen: Macht es auch so, laßt diesen Schwulst - und diese sentimentale ›Winterreise‹ weg!«


    Da muss wohl mancher Musikfreund tief durchatmen, aber hier wird die Bandbreite musikalischen Schaffens deutlich; vom »Rosenkavalier« in Halle, bis hierher war es doch ein sehr weiter Weg ...


    Irmgard Arnolds Stimme ist dennoch auch mit Puccini auf Tonträgern festgehalten worden, wo sie die Sklavin Liu in »Turandot« und Giorgetta in »Il Tabarro« singt. In ihrem langen Künstlerleben war sie der Komischen Oper Berlin fast unglaubliche 64 Jahre verbunden gewesen, von 1950 bis 1984 im festen Vertrag, danach als ständiger Gast, seit 1987 war sie Ehrenmitglied. Sie hat Spuren hinterlassen, aber eine Operndiva konnte aus ihr nicht werden, ihre Bescheidenheit war allseits bekannt; ein echtes Kontrastprogramm zu ihrer Nachbarin, was kurz dargestellt werden soll.


    Zur täglichen Arbeit hatte es Irmgard Arnold relativ weit, denn sie wohnte in Berlin ›janz weit draußen‹, in Rauchfangswerder. Etwas außergewöhnlich war dieser Wohnort schon, ein paar Sätze dazu sind wohl angebracht.
    Es handelt sich um eine südlich vom Berliner Zentrum gelegene Halbinsel an der Grenze zu Brandenburg, die mit dem Auto von der Stadtmitte aus in einer guten halben Stunde erreichbar ist. Zu DDR-Zeiten war das ein etwas surreal anmutender Ort, denn in Pressenberichten ist nachzulesen, dass da schon mal der Komponist Paul Dessau mit seinem Porsche durch die Gegend bretterte, und in der Nachbarschaft von Irmgard Arnold und Gerhard Frei (†1989) wohnte eine echte Operndiva, die italienische Kammersängerin Celestina Casapietra, die mit dem renommierten Dirigenten Herbert Kegel verheiratet war.
    Wenn Frau Kammersängerin ihren Sohn ins fünf Kilometer entfernte Schmöckwitz - im weißen Mercedes-Coupé, ein 280 SE mit Sechszylinder-Einspritzmotor und 160 PS, weißem Pelzmantel und großem weißem Pelzhut - zur Schule brachte, war das ein Auftritt außerhalb des Opernhauses; mit ihrem DDR-Kennzeichen IA 66-22 konnte sie aber auch im Westen einige Aufmerksamkeit auf sich ziehen.
    Ein Musiker der etwas anderen Art wohnte damals auch da draußen, das war der amerikanische Schauspieler und Sänger Dean Reed.


    Dass Irmgard Arnold in dieser Umgebung lebte und starb gehört eben auch zu diesem langen Leben. Sie starb am letzten Tag des Jahres 2014 im 95. Lebensjahr.


    Irmgard Arnold-Frei wurde am 11. März 2014 auf dem privaten Friedhof Rauchfangswerder im Rahmen einer stillen Beisetzung zur letzten Ruhe gebracht; ein Abkömmling von Felsenstein soll dabei gewesen sein.


    Praktischer Hinweis:
    Berliner Ortsteil Schmöckwitz, Bezirk Treptow-Köpenick.
    Auf dem kleinen Friedhof ist das Grab leicht zu finden.


    -------------------------------------------------------------------------------------------- BLEIBENDE SPUREN KÜNSTLERISCHEN WIRKENS -------------------------------------------------------------------------


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  • Mit dem Bolero wurde er unsterblich


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    Gegenüber des Grabsteins steht diese Informationstafel


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    Maurice Ravel - * 7. März 1875 in Ciboure - † 28. Dezember 1937 in Paris


    Auch Menschen die sich in Sachen Musik nicht so gut auskennen, verbinden den Namen Maurice Ravel unwillkürlich mit dem Begriff »Bolero«.
    Der Komponist bezeichnete dieses Werk als »reine Instrumentationsübung« und als Meisterwerk, nur »leider völlig ohne Musik«.
    Igor Strawinsky sagte über Ravel: »Er schreibt keine Musik, er malt mit Tönen«.


    Ciboure ist heute ein Badeort an der Atlantikküste und liegt in unmittelbarer Nähe zu dem größeren Saint-Jean-de-Lutz im französischen Baskenland, also im äußersten Südwesten Frankreichs und in der Nähe zu den Ausläufern der Pyrenäen.
    als Maurice geboren wurde, war Ciboure vom Fischfang und von der Fischverarbeitung geprägt.
    Aber schon drei Monaten nach der Geburt war die Mutter mit ihrem Baby Joseph-Maurice - so der Taufname - wieder nach Paris gegangen, wo der Vater versuchte der jungen Familie eine Existenz aufzubauen.


    Die Mutter war zum Ende ihrer Schwangerschaft zu ihrer älteren Schwester, einer Fischhändlerin, in das Haus Nr. 12 in der Rue de Quai gezogen, wo heute noch mit einer Gedenktafel auf das Ereignis der Geburt hingewiesen wird.
    In Paris war die erste Adresse der Ravels die Rue des Martyrs, unweit vom Montmartre, wo drei Jahre später Maurices Bruder Édouard zur Welt kam.


    Der Vater, war Ingenieur und stammte vom Genfer See, die Mutter entstammte einer alten baskischen Familie und war in Ciboure geboren.
    Pierre-Joseph Ravel war 41 Jahre alt, als er in Spanien der acht Jahre jüngeren Marie Delouart begegnete, im April 1873 hat das Paar geheiratet.
    Von Vaters Seite kam da einiges an Kunstverstand, sein Bruder war ein guter Maler, der auch heute noch einen Namen hat.
    Maurice Ravel sagte über seinen Vater, der durchaus musikbegeistert war:


    »Mein Vater, der in dieser Kunst sehr viel bewanderter war als die meisten Liebhaber, verstand es, meinen Geschmack zu lenken und frühzeitig meinen Eifer zu stimulieren.«


    Pierre-Joseph Ravel war aber nicht Musiker, sondern Ingenieur geworden, der sich 1868 in Neuilly bei Paris niedergelassen hatte und einige seiner Erfindungen als Patent anmeldete; am erfolgversprechendsten war der ›Tylbury Ravel‹, aber die Weiterentwicklung des Projekts scheiterte am Krieg 1870/71. Also ging Pierre-Joseph Ravel nach Spanien, um dort am Aufbau des Eisenbahnnetzes mitzuwirken.


    Dass sich Maurice lebenslang so sehr auf sein Spanisch-Baskisches Blut berief, hatte mit der engen Beziehung zu seiner Mutter zu tun, die ihn stets mit baskischen Liedern in den Schlaf sang.
    Die Literatur berichtet von einem harmonischen Familienleben, wobei die Mutter sich hier ganz in der Mutterrolle einbrachte. Der Vater hatte ein so gutes Auskommen, dass man die Begabung des Ältesten entsprechend fördern konnte, Maurice erhielt kurz nach seinem 7. Geburtstag den ersten Klavierunterricht.
    Seine Lehrer waren Henry Ghys, und danach Monsieur Charles-René, der ihm die ersten Stunden in Harmonielehre, Kontrapunkt und Komposition erteilte.


    Seit 1888 wurde Maurice auch von Professor Èmile Descombes unterrichtet, der am Konservatorium lehrte und Chopin-Schüler war. Man darf vermuten, dass zu diesem Zeitpunkt allen Beteiligten ziemlich klar war, dass aus Maurice ein professioneller Musiker werden sollte. Maurices Eltern ließen da nichts anbrennen und machten es möglich, dass ihr offensichtlich begabter Sohn auch an Kursen einer privaten Musikschule teilnehmen konnte. Inwieweit das musikalische Früchte trug, kann heute nicht mehr beurteilt werden, aber an dieser Musikschule begegnete Maurice erstmals dem aus Spanien stammenden Ricardo Viñes, der als Zwölfjähriger - bereits preisgekrönt - mit seiner Mutter nach Frankreich gekommen war, hervorragend Klavier spielen konnte, aber kein Word Französisch sprach. Ricardo war nur einen Monat älter als Maurice, aber in seiner Entwicklung wesentlich reifer.


    Als Professor Èmile Descombes im Juni 1889 in einem großen öffentlichen Konzert gleich zwei Dutzend seiner Schüler vorstellte - Alfred Cortot und Reynaldo Hahn waren auch dabei - brachte Maurice drei Stücke von Ignaz Moscheles zu Gehör.
    In einem solchen Rahmen zu musizieren war schon nichts Alltägliches; Ernst wurde es für Maurice Ravel am 4. November 1889, als er im Conservatoire de Musique sechs Professoren vorzuspielen hatte, die darüber entschieden in welche Klavierklasse er aufgenommen wurde, den Kommissionsvorsitz hatte Ambroise Thomas. Von insgesamt 46 Bewerbern wurden nur 19 zugelassen. Ricardo Viñes hatte es auf Anhieb in die Fortgeschrittenenklasse geschafft, Maurice immerhin in die Vorbereitungsklassen. Nach zwei Jahren gelangte er zwar auch in die Klasse von Ricardo Viñes, aber sein Professor bemerkte, dass bei Ravels Klavierspiel noch viel Luft nach oben war und er keinen besonderen Übungseifer an den Tag legte.
    Inzwischen hatte Ravel am Komponieren Gefallen gefunden und sich so langsam von der Idee entfernt einmal Klaviervirtuose zu werden; später hatte er mitunter sogar bei der Interpretation eigener Kompositionen Schwierigkeiten.


    Bereits 1893 entstanden erste Kompositionen, die jedoch offiziell nicht bekannt wurden; erst 1895 trat er mit »Menuet antique« und »Habanera« an die Öffentlichkeit; es war eine Zeit, wo Paris als der kulturelle Mittelpunkt der Welt galt, kaum vorstellbar, welch berühmte Namen in Sachen Literatur, Malerei und Musik da unterwegs waren.
    In all das tauchte Maurice mit seinem Freund Ricardo ein, wobei letzterer den Freund mit literarischen Tipps versorgte und sie hörten im November 1896 gemeinsam und ergriffen das Vorspiel zu Wagners »Tristan und Isolde«.
    Dennoch gibt es einige Zeugnisse die Ravel als eiskalten Zyniker sowie exzentrisch dekadent und rechthaberisch beschreiben; dass er mit Erik Satie verkehrte, passt auch noch ein bisschen dazu.
    Die Mitstudenten in Faurés Klasse - außer Viñes und zwei drei anderen - betrachteten Ravels Gehabe kritisch, denn er mochte keine Duzfreunde und gab sich äußerst zurückhaltend und extravagant. Man kann rätseln, ob er Komplexe mit seiner Körpergröße hatte, 158 Zentimeter und 49 Kilogramm ergaben kein imposantes Mannsbild, also gab er den Dandy. Als er später zu einer bekannten Persönlichkeit geworden war verflüchtigte sich dieser Habitus.


    1897 trat Ravel in die Kompositionsklasse Gabriel Faurés ein, der als Nachfolger Massenets eine Klasse am Conservatire übernommen hatte. Ravel erfüllte gerade noch so die Altersvoraussetzungen.
    Bei André Gédalge, den man auch als ›Fugenpapst‹ bezeichnete, studierte er Kontrapunkt, Fuge und Orchestration und wie sehr er diesen Lehrer schätzte, kam in einem 1926 veröffentlichten Nachruf zum Ausdruck.


    Der Studienverlauf war streng geregelt, es ergaben sich Regelstudienzeiten von vier Jahren für Kontrapunkt und Fuge beziehungsweise fünf Jahren für Komposition.


    Als offizielles Debüt des Komponisten Mauric Ravel gilt der 5. März 1898, das etwas holprig über die Bühne ging, weil die ausführenden Interpreten Schwierigkeiten mit dem unleserlichen Manuskript hatten.
    Fauré hatte das außergewöhnliche Potenzial seines Schülers offenbar erkannt und notierte: »sehr begabt und fleißig, sehr intelligent, mit einer Neigung zum Gesuchten und Übertriebenen.«
    1898 scheiterte Ravel mit der Uraufführung seiner »Shéhérazade«-Ouvertüre kläglich, es ist Ravels frühestes erhaltenes Orchesterstück; der gleichnamige, vier Jahre später entstandene Liederzyklus hatte dann weit größeren Erfolg.


    Durch Fauré erlangte Ravel und sein Freund Ricardo Viñes Zugang zu angesagten Pariser Salons, über die sie einerseits spotteten, sich aber andererseits durchaus in dieser Gesellschaft wohlfühlten, da fehlte kaum ein berühmter Name.


    Im Frühjahr 1902 fand ein Klavierabend statt, bei dem Ricardo Viñes zwei Klavierstücke Ravels öffentlich aufführte: »Pavane pour une infante défunte« und »Jeux d´eau«.


    Zwei Jahre später folgt die Uraufführung des Streichquartetts »Quartour á cordes«
    Im Folgenden hat sich Ravel des Vorwurfs zu erwehren, dass bei seinen Kompositionen einiges von Monsieur Claude Debussy herauszuhören sei; eine Art Seelenverwandtschaft war da schon, wenn man sich die Dinge im Detail anschaut.


    Der ›Prix de Rom‹ durchzieht die französische Musikgeschichte wie ein roter Faden, also ist es nicht verwunderlich, dass sich 1900 auch Mauric Ravel um diesen Preis bewarb - es galt die Komposition einer Fuge und eine Kantate zu fertigen; vier Mal hatte sich Ravel versucht, geklappt hat es nicht, aber es kam zu einem viel beachteten Skandal. Als Ravel 1905, vor Ablauf der Altersgrenze, schließlich einen letzten Versuch startete, schied er bereits in der Vorrunde aus.
    In der Presse entwickelte sich ein Sturm der Entrüstung und bald war das nicht mehr nur der ›Fall Ravel‹, der ganze Konservatoriums- und Wettbewerbsbetrieb wurde infrage gestellt. Während der Pariser Pressekrieg noch tobte, hatte Ravel die Stadt längst verlassen und sich mit Freunden zu einer längeren Bootstour aufgemacht.
    Auch Romain Rolland mischte sich ein und gab zu Protokoll:


    »Ich bin kein Freund Ravels. Ich kann sogar behaupten, dass ich persönlich seiner subtilen und raffinierten Kunst keine Sympathie entgegenbringe. Aber der Gerechtigkeit halber muss ich sagen, dass Ravel nicht nur ein vielversprechender Schüler ist; er ist heute schon einer der meistbeachteten jungen Meister unserer Schule, die nicht viele davon aufzuweisen hat [...] Ravel bewirbt sich um den Rompreis nicht als Schüler, sondern als ein Komponist, der sein Können bereits unter Beweis gestellt hat.«


    Aber es ging in der Familie Ravel nicht nur um Musik; der Vater war als Erfinder erfolgreich gewesen und benötigte eine größere Werkstatt, also zog man 1905 in die Arbeiter- und Fabrik-Vorstadt Levallois-Perret im Nordwesten von Paris.
    Der nunmehr dreißig Jahre alte Komponist lebte noch immer mit seinen Eltern und seinem Bruder zusammen. Als der Vater 1908 nach längerem Leiden gestorben war, zog die Familie wieder nach Paris zurück.
    Dass Maurice immer noch ›Nesthocker‹ war hat wohl damit zu tun, dass - wie H.H. Stuckenschmidt feststellte - »es in seinem ganzen Dasein keine nachweisbaren erotischen Bindungen gegeben« hat, »keine Beziehungen intimer Art, weder zu Frauen, noch wie gelegentlich vermutet wurde, zu Männern ...«


    Ravels Ruf als Komponist hatte sich weitgehend gefestigt, renommierte Musikverlage traten an ihn heran und waren auch an seinen früheren Arbeiten interessiert.
    Gewiss, da gab es noch die Aufgeregtheit um »Histoires naturelles«, aber der Komponist hatte inzwischen ein beachtliches Selbstbewusstsein entwickelt.


    Familie Ravel war im November 1908 in das noble 17. Arrondissement, ganz in die Nähe des Arc de Triomphe gezogen.
    In dieser Zeit hatte er mit seiner zwischen 1907 und 1908 komponierten »Rapsodie espagnole«, seinem ersten großen Orchesterwerk, das am 15. März 1908 am Théâtre du Châlet uraufgeführt wurde, auch ein größeres Publikum erreicht.
    Dass auch dieses Werk dem Kritiker Pierre Lalo nicht gefallen konnte, sei hier erwähnt, denn dieser setzte grundsätzlich alles herab was Ravel komponierte.
    Dennoch hatte Ravel mit »Rapsodie espagnole« weltweiten Erfolg; so bei den Londoner ›Proms‹ durch Henry Wood im Oktober 1909 und im November des gleichen Jahres in New York.


    In diesen Jahren zogen die Impresarios Gabries Astruc und Serge Diaghilew in Paris große künstlerische Veranstaltungen auf und Diaghilew ging 1913 in seine achte ›Saison russe‹. Als es um die Instrumentierung von Musorgskys musikalischem Volksdrama »Chowanschtschina« ging, nahm der sieben Jahre jüngere Strawinsky Ravel mit ins Boot, weil zu befürchten war, dass sonst die Arbeit nicht rechtzeitig fertig wird, arbeiteten beide 1913 im schweizerischen Clarens während der Monate März und April zusammen.


    Im Februar 1914 zog sich Ravel mit seiner Mutter nach Saint-Jean-de-Luz zurück und es ist nachvollziehbar, dass hier das unvollendet gebliebene »Zazpiak Bat« entstand, das seine baskische Herkunft unterstreicht.


    In Saint-Jean-de-Luz entstand zwischen Anfang April und Ende August auch das Klaviertrio, ein Projekt, das er schon ein paar Jahre mit sich herumgetragen hatte. Während der Arbeit daran - es war noch nicht ganz fertig - erreichte ihn am 3. August 1914 die Nachricht von der Kriegserklärung.


    Maurice Ravel war Feuer und Flamme, gegen Deutschland und Österreich in den Krieg zu ziehen, aber 1895 hatte man ihn, seiner schwächlichen Konstitution wegen, für militäruntauglich erklärt. Mitte Dezember 1914 kehrte er mit seiner Mutter wieder nach Paris zurück und hoffte doch noch am Krieg teilnehmen zu dürfen.
    Aber zunächst ist nur von einem musikalischen Einsatz zu berichten - am 28. Januar 1915 kam es zur Uraufführung seines Klaviertrios.
    Erst am 14. März 1916 kam dann die lang ersehnte Aufforderung sich als Kraftfahrer zu den Kampfhandlungen nach Verdun zu begeben. In zahlreichen Briefen von der Front kann man Ravels Kriegserlebnisse nachlesen.
    Der ›Nationalen Liga zur Verteidigung der französischen Musik‹ stand er ablehnend gegenüber und gab zu Protokoll:
    »Unsere derzeit so reiche Tonkunst würde unweigerlich degenerieren und sich in schablonenhaften Formeln einschließen. Mich kümmert es wenig, dass zum Beispiel Monsieur Schönberg Österreicher ist. Er ist nichtsdestoweniger ein Musiker von hohem Wert ...«


    Im September 1916 kam er mit einer Bauchfellentzündung gerade noch rechtzeitig ins Lazarett und sah diesen Krieg inzwischen auch als ›Naturkatastrophe‹.
    Zuhause entwickelte sich für den Komponisten eine Katastrophe persönlicher Art.


    Während er weit weg von Paris war, ging es mit der Gesundheit der Mutter stetig bergab, worüber man ihn jedoch im Unklaren ließ. Als die Mutter am 5. Januar 1917 starb war das für Maurice Ravel der größte Verlust seines Lebens, von dem er sich nie erholte.
    Auch seine Schaffenskraft erlahmte; während sein Œuvre in den zurückliegenden zwei Jahrzehnten um fast fünfzig Werke gewachsen war, entstanden nach dem Tod der Mutter nur noch fünfzehn Originalwerke.


    Wieder ins zivile Leben zurückgekehrt, mochte er nicht mehr in die alte, leere Wohnung in der Avenue Carnot und wird von Mm. Fernand Dreyfus im Haus ›Frêne‹ in Lyons-La-Forêt aufgenommen und komponiert »Le Tombeau de Couperin«, dessen Sätze jeweils einem verschollenen Freund gewidmet sind, wobei er jedoch auf Entwürfe zurückgreift, die bereits im Juli 1914 in Saint-Jean-de-Luz begonnen wurden. Aus heutiger Sicht wollte Ravel mit der Widmung an den Cembalisten François Couperin auch der französischen Musik ein Denkmal setzen.


    In den Jahren 1922 bis 1928 gastierte Maurice Ravel - teils spielend, teils dirigierend - in den Konzertsälen der Welt, um einige Städte zu nennen: Amsterdam, Barcelona, Brüssel, London, Madrid, Mailand ...

    Im Januar 1920 hatte das ›Journal officiel‹ Ravels Nominierung für den Rang eines »Chevalier de la Légion d´honneur« bekanntgemacht. Ravel hielt sich gerade nicht in Paris auf und war unangenehm überrascht als er davon erfuhr, denn er hatte keinerlei Ambitionen Ritter der Ehrenlegion zu werden; Biografen rätseln noch heute, was wohl der wahre Grund der Ablehnung war. Eigentlich lehnte er nicht ab, sondern zahlte einfach nicht die notwendigen Gebühren und wurde somit von der Liste gestrichen. Zwar versuchten seine Freunde den Eklat zu vermeiden, indem sie ihm dazu rieten den Orden anzunehmen, aber der Kandidat beharrte auf seiner ablehnenden Haltung.
    Im Prinzip hatte Ravel nichts gegen Orden einzuwenden, denn im November 1921 akzeptierte er einen schwedischen Orden und danach auch eine belgische, englische und rumänische Auszeichnung.


    Nun hatte sich die familiäre Wohngemeinschaft ganz aufgelöst, denn Maurices Bruder Édouard war in den Stand der Ehe getreten, also stand Maurice Ravel erstmals alleine da und musste sich nach einer ›Hütte‹ umsehen, wie er es nannte; besagte ›Hütte‹ sollte aber mindestens dreißig Kilometer von Paris entfernt sein.
    Erst nach einem knappen Jahr war die Villa ›Le Belvédère‹ in Montfort-I`Amaury gefunden. Nach grundlegender Renovierung und Veränderung des relativ kleinen Häuschens lebte der Komponist sechzehn Jahre dort. Es gäbe eine lange Liste, wollte man alle berühmten Namen nennen, die dort zu Gast waren.
    Hier entstanden zum Beispiel »Le Bolero«, »L´enfant et les sortiléges«, »Tzigane«, »Le Concerto pour la main gauche« und einiges mehr; heute ist das Haus ein Museum, jedoch nur in kleinen Gruppen zugänglich.


    Schon seit dem Tod seiner Mutter klagte Ravel über Schlafstörungen und im Folgenden kamen deutliche Störungen seiner Gesundheit hinzu. Ab 1923 wurde er von Madame Révelot unterstützt, die als Haushälterin und Privatsekretärin für ihn tätig war. Er selbst bemerkte auch, dass ihm seine Handschrift Schwierigkeiten machte und etwa ab 1924 wurde die Korrespondenz bevorzugt maschinenschriftlich erledigt und zwei Jahre später äußert er in einem Brief erstmals die Befürchtung ernstlich krank zu sein.
    Schließlich drängte 1927 die Geigerin Héléne Jourdan-Morhage - eine Entdeckung Ravels - darauf einen Arzt zu konsultieren. Dr. Pasteur Vallery-Radot erkannte sofort den Ernst der Lage und verordnete eine einjährige Ruhepause, die der Patient natürlich nicht einhielt.


    Von Anfang Januar bis Ende April 1928 unternahm Ravel eine Konzertreise nach Amerika, die ihn durch 25 Städte zwischen Ost- und Westküste führte.


    Bereits vor seiner Abreise nach Amerika hatte ihn die mit ihm befreundete Tänzerin Ida Rubinstein um ein ›Spanisches Ballett‹ gebeten. Ursprünglich sollte das Stück den Titel ›Fandango‹ bekommen, aber schließlich erlebte dieses faszinierende Stück am 22. November 1928 unter dem Namen »Bolero« an der Pariser Oper seine Uraufführung. Die Tänzerin war damals 43 Jahre alt und tanzte als einzige Frau im Kreis von 20 jungen Tänzern und schockierte mit ihren erotischen, lasziven Bewegungen das Pariser Publikum, wobei diese Darbietung natürlich auch faszinierte.
    Von dieser Aufführung ist überliefert, dass - während des donnernden Schlussapplauses - die Stimme einer Dame zu vernehmen war:»Hilfe, ein Verrückter«, worauf Ravel seinem Sitznachbarn zugeflüsterte: »Die hat´s kapiert.«
    Im Januar 1930 entstanden erste Schallplattenaufnahmen.


    Eine in Angriff genommene Filmmusik wurde nicht rechtzeitig fertig, sodass Jacques Ibert zum Zuge kam.
    Am 8. Oktober 1932 wurde Ravel als Fahrgast einer Taxe in einen Unfall verwickelt, wobei er sich eine Quetschung des Brustkorbs und Schnittwunden Im Gesicht zuzog.
    Ob es mit dem Unfall in Zusammenhang steht ist nicht ganz klar, aber Tatsache ist, dass sich Ravels Zustand zusehend verschlechterte.
    Dennoch unternahm er im Februar 1935 mit Ida Rubinstein und dem Bildhauer Léon Leyritz eine Reise nach Spanien und Marokko, wobei aus dieser Unternehmung zunächst eine scheinbare Besserung zu sehen war, aber das war nur ein Strohfeuer.
    In Absprache mit Ravels Bruder Édouard entschloss sich der Neurochirurg Clovis Vincent im Dezember 1937 zu einer Gehirnoperation, um einen Tumor auszuschließen. Einige Stunden nach der Operation erwachte der Patient aus der Narkose und verlangte nach seinem Bruder, schlief aber sofort wieder ein und versank in ein Koma, aus dem er nicht mehr erwachte; am frühen Morgen des 28. Dezember, etwa gegen halb vier, war dieses Musikerleben dann zu Ende.


    Praktische Hinweise:
    Der Friedhof liegt nordwestlich der Stadt im Vorort Levallois-Perret, der mit der Metro-Linie 3 (Endstelle Pont de Levalleois-Bécon) gut zu erreichen ist. Wenn man an der Station Anatole-France aussteigt, geht man als Fußgänger die Rue Aristide Briand bis zur querenden Rue Raspail; dort biegt man nach links ab und sieht schon aus der Ferne den imposanten Friedhofseingang, der sich in der Rue Baudin befindet.


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    Man geht durch die schmale rechte Pforte und gelangt in wenigen Schritten zu Ravels Grab


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    Die Straßensituation rechts vom Friedhofs-Eingang


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    Das Grab der Familie Ravel befindet sich in der Division 16 - aus dieser Sicht links des Schildes


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    Die Sicht, wenn man drchs Tor kommt - etwa zwanzig Meter rechts des Schildes befindet sich das Musiker-Grab - weiter hinten ist Gustav Eiffel zu finden, aber der war ja kein Musiker ...

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  • César Franck - Ein großer Organist und Komponist


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    Hier bekommt man einen Eindruck von Francks riesigen Händen von denen gesprochen wird.


    César Franck - *10 Dezember 1822 in Lüttich - † 8. November 1890 in Paris


    Wenn man die künstliche Intelligenz nach den bekanntesten Werken des Komponisten César Franck fragt, erhält man folgendes Ergebnis:
    César Francks bekannteste Werke umfassen seine Sinfonie in d-Moll, die Violinsonate in A-Dur, die Symphonischen Variationen für Klavier und Orchester, die Orgeltrios »Trois Chorales« sowie das Oratorium »Les Béatitudes«. Weitere bedeutende Werke sind die Klavierwerke »Prélude, Choral et Fugue« und »Prélude, Aria et Final«.
    In seinen Werken verband er streng klassische Formen mit romantischer Tonsprache.


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    Fast 135 Jahre nach seinem Tod ist der Name César Franck nicht verblasst und er gilt immer noch als Urvater des französisch-romantischen Stils in der Orgelliteratur, der die nachfolgende Komponistengeneration prägte.


    Vater Nicolas-Joseph Franck prägte seine Söhne auf besondere Art; in der Literatur wird der Vater unterschiedlich dargestellt; mal war er Bankangestellter und nach eigenen Angaben ›Bankier‹, dann wird auf standesamtliche Eintragungen verwiesen, wo es heißt: »ohne Gewerb«. Bei einer Volkszählung soll er 1824 als ›Schriftsteller‹ in Erscheinung getreten sein.
    Man kann durchaus vermuten, dass Vater Nicolas die Wunderkind-Karrieren des 1811 geborenen Franz Liszt und dem fast gleichaltrigen Sigismund Thalberg im Auge hatte und glaubte, dass man so etwas kopieren könnte.
    Also sollten seine beiden Söhne, nämlich César August Jean Guillaume Hubert (so der Taufname) und der drei Jahre später geborenen Joseph musikalisch ausbildet werden.
    Vaters Plan war: César August wird Pianist und Joseph soll an der Geige ausgebildet werden, die Geschäftsidee war, ›Wunderkinder‹ aus den beiden Brüdern zu machen - und man kann dazu ergänzen - damit Geld ins Haus kommt.


    Die Mutter der ›Wunderkinder‹, Marie-Catherine-Barbe Frings, stammte aus Aachen und der Vater war im grenznahen, belgischen Gemmenich zur Welt gekommen und soll plattdeutsche Mundart gesprochen haben; es gab einige Eiferer, die den später berühmten César Franck im deutschen oder französischen Lager verorten wollten.


    Vater Nicolas Franck war stets bestrebt mit Künstlerkreisen in Verbindung zu kommen und Leute, die sich mit der Situation intensiver befasst haben, äußern die Vermutung, dass dem Vater auch sein engbürgerliches Leben nicht zusagte und er von künstlerischer Sphäre fasziniert war. Aber auch der wirtschaftliche Erfolg einer brillanten Virtuosenkarriere war im Fokus des Vaters.


    In Lüttich, damals Königreich der Vereinigten Niederlande, fand sich recht schnell ein Lernort
    für die Söhne, denn drei angesehene Musiker - Duguet, Jaspar und Henrerd - hatten gerade eine private Musikschule gegründet, die dann durch königlichen Erlass im Sommer 1826 zu einer ›Musik- und Gesangsschule‹ wurde, danach zu einer ›Nationalschule‹ und schließlich am 13. November 1831 den Namen ›Kgl. Konservatorium‹ erhielt.
    In dieses Institut war der neunjährige César am 23. Mai 1831 eingetreten und hatte in dem belgischen Komponisten und Organisten Dieudonne Duguet, der Organist in Saint Denis war, einen guten Lehrer, der ihm Gesangsunterricht gab. Am Klavier wurde César von Antoine Jalheau und Félix-Ètienne Ledent und anderen unterrichtet.


    Offenbar hatte der Vater aus seiner Sichtweise bisher alles richtig gemacht, denn sein Sohn, César August, erhielt 1832 den am Konservatorium erstmals ausgelobten Gesangspreis, und nach weiteren zwei Jahren erspielte sich der nunmehr elfjährige César den ersten Preis für Klavierspiel.
    César Francks Zeugnis konnte sich sehen lassen:
    »Gute Anlagen« / »gute Arbeit« / »Eifer und Geschick im Studium« / »Berechtigt zu den schönsten Hoffnungen« ...


    Als sich der Elfjährige erstmals mit eigenen Kompositionen befasste, soll das auf Drängen seines Vaters geschehen sein, der nun bestrebt war, das ins Studium investierte Kapital wieder hereinzubekommen. Musikalisch betrachtet kam bei diesen Erstversuchen nichts Beachtenswertes heraus, das war ein Potpourri von Fantasien und Variationen über Opernthemen und Lieder, ganz so wie man das von einem reisenden Virtuosen der damaligen Zeit erwartete.
    Also betätigte sich der geschäftstüchtige Vater als Impresario und organisierte für seinen Sohn eine Konzertreise, die eigene und fremde Kompositionen auf dem Programm sahen.
    Neben Lüttich gab der Knabe Konzerte in Gent, Löwen, Brüssel und Mecheln; das Abschlusskonzert dieser Tournee fand am 1. Mai 1835 in Aachen statt. Damit war dann auch die Studienzeit in seiner Heimatstadt Lüttich beendet.
    Noch im gleichen Monat übersiedelte die ganze Familie nach Paris, wo es zu einer beachtlichen Zahl von Wohnungswechseln kam; zunächst zog man in die Rue Joubert 33, dann in die Rue de Montholon 22.
    Die Familie zog dann nochmal drei Mal innerhalb des Viertels um, im Frühjahr 1841 in die Rue de Trévise 6 und im Herbst 1842 in die Rue Lafitte 43. In der von Franck in Paris verbrachten Zeit hatte er insgesamt acht Wohnadressen.


    Bei seiner Ankunft in Paris war es dem zwölfjährigen César Frank gerade noch möglich, vom legendären Musiktheoretiker Anton Reicha in Kontrapunkt, Fuge und Komposition privat unterrichtet zu werden, allerdings währte der Unterricht nur ein knappes Jahr, weil Reicha im Mai 1836 starb. Vor dem Besuch des Pariser Konservatoriums wurde Franck auch von Hippolyte-Raymond Colet (Komposition) und Pierre-Guillaume Zimmermann (Klavier) unterrichtet.


    So ganz einfach gestaltete sich das Weiterstudium am Pariser Konservatorium aber nicht, weil ausgerechnet der Italiener Luigi Cherubini - zu dieser Zeit Direktor des Konservatoriums - den Ausländern Franck zunächst Schwierigkeiten bereitete, was die Aufnahme fast anderthalb Jahre verzögerte und erst durch die Intervention von Francks Klavierprofessor Zimmermann endlich am 2. Oktober 1837 möglich wurde.
    Weitere Lehrer Francks waren an diesem Institut: Aimé Leborne (Kontrapunkt), Henri-Montan Berton (Komposition) und François Benoist (Orgel).
    Wie bereits schon in Lüttich, räumte César Franck auch am Pariser Konservatorium eine Menge Preise bei den verschiedenen Wettbewerben ab und verblüffte seine Prüfer manchmal mit Kabinettstückchen, denen sie nur mit etwas Mühe folgen konnten.


    César Francks nächstes Highlight wäre wohl der Rompreis gewesen, aber dem schob nun Vater Nicolas Franck einen Riegel vor. Biografen rätseln noch heute, warum das Studium in Paris abgebrochen wurde und Familie Franck wieder zurück nach Lüttich ging; aktenkundig ist, dass César Franck am 22. April 1842 aus den Listen des Pariser Konservatoriums gestrichen wurde.


    Dass César Franck seine als Opus 1 erschienenen drei ersten Klaviertrios, die er in den Jahren 1841 und 1842 komponiert hatte, Seiner Majestät König Leopold I. von Belgien widmete, war wohl eine Geschäftsidee von Vater Nicolas, die jedoch nichts bewirkte.
    Viel wichtiger war es, dass César in diesen belgischen Jahren den um ein gutes Jahrzehnt älteren Franz Liszt traf, der ihm einige gute Ratschläge geben konnte.


    Die beiden Franck-Brüder veranstalteten Konzerte und gaben Stunden, wobei der Vater mit der Uhr streng überwachte, dass da ja keine Zeit verloren ging; 10 oder auch 12 Stunden am Tag waren das normale Arbeitspensum, wobei man davon ausgehen kann, dass sich die Familie damit finanziell über Wasser hielt.


    1844 waren die Francks abermals in Paris ansässig geworden, das ›La Novelle Athénes‹ galt als attraktive Wohngegend, in der sich viele Künstler mit klingendem Namen angesiedelt hatten; Familie Franck wohnte in der Rue la Bruyére 15.


    An dieser Adresse gaben die Brüder Franck in einem Musiksalon ein Konzert ihrer besten Schüler.
    Zwischen 1843 und 1845 schrieb César Franck sein biblisches Oratorium »Ruth«, das zunächst in der Ur-Klavierfassung am 30. Oktober 1845 im ›Salle Erard‹ und am 4. Januar 1846 auf Betreiben von Liszt mit Orchester im Konservatorium uraufgeführt wurde.
    Von den meisten Kritikern wurde Francks Werk mit Félicien Davids Oratorium ›Le Désert‹ verglichen, das kurz vorher Furore machte, weshalb »Ruth« der Publikumserfolg zunächst versagt blieb. Aber mit dieser Aufführung war der Name des 24-jährigen Komponisten erstmals einer breiteren Öffentlichkeit bekannt geworden.


    In diese Zeit fällt auch eine wesentliche Zäsur im Leben des César August Franck, denn dass dieses Oratorium-Werk keinen durchschlagenden Erfolg brachte enttäuschte Vater und Sohn; César Franck trennte sich von seiner Familie, um fortan eigene Wege zu gehen, Vaters Idee aus seinem Sohn einen berühmten Pianisten und Unterhaltungskünstler zu machen war gescheitert.


    Die politischen Ereignisse brachten es mit sich, dass die Brüder Franck viele Schüler aus wohlhabendem Hause verloren, weil diese Klientel verängstigt Paris verließ.
    In dieser Situation bahnte sich eine Romanze an, bei der Madame Desmousseaux, eine berühmte Schauspielerin, eine wesentliche Rolle spielte. Ihre Tochter wurde von César Franck im Klavierspiel unterrichtet, aber oft wurde dort nicht geübt, sondern während der angesetzten Übungsstunden komponiert und Madame zahlte an Vater Nicolas Franck die Klavierunterweisungen ihrer Tochter.
    Zwei Jahre nach dem Bruch mit der Familie heiratete der Musikus seine Schülerin Eugénie- Félicité Desmousseaux, die Trauung fand in der Kirche Notre Dame de Lorette statt, an der César Franck seit 1844 als Organist amtierte. Der Hochzeitstag am 22. Februar 1848 gestaltete sich etwas turbulent, weil die Februarrevolution in vollem Gange war.
    Paul d´Estrée, damals noch Internatsschüler, war Zeuge dieses außergewöhnlichen Hochzeitszuges, den er der Nachwelt so überlieferte:


    »Ein Hochzeitszug, zu Fuß, war, während aus der Kirche schon Orgelmusik ertönte, durch die Barrikade aufgehalten worden. Ein Mann, nach seiner Kleidung zu urteilen, offenbar der Bräutigam, war auf die höchste Spitze dieses unüberwindlichen Berges geklettert und ermutigte die Hochzeitsgesellschaft mit Worten und Gesten, ihm zu folgen, während die kleine Braut, in ihrem Hochzeitskleid bezaubernd anzusehen, züchtig von Stein zu Stein hüpfte, um sich mit ihrem Bräutigam wieder zu vereinen, wobei sie von zwei galanten Aufständischen, die ihr bei diesem beschwerlichen Aufstieg halfen, gestützt wurde.«


    Durch die politischen Ereignisse hatte Franck alle seine Schüler verloren und musste schauen, wie er seine neugeründete Familie ernähren konnte. Durch Vermittlung seiner Schwiegermutter bekam er Verbindung mit dem Musikinstitut in Orléans, wo er seit 1845 achtzehn Jahre lang als Konzertbegleiter tätig war.


    Wer damals in Paris etwas gelten wollte, der musste Opern schreiben. Mit diesem Genre hatte sich Franck schon als Schüler des Pariser Konservatoriums befasst, und so entstand 1841 ein unvollendetes Jugendwerk (nur ein Klavierauszug mit Gesangsstimmen), dessen Manuskript erst 1984 in der Französischen Nationalbibliothek entdeckt und vom zeitgenössischen Komponisten Luc van Hove so ergänzt wurde, dass es 2012 aufgeführt werden konnte.


    Seine erste Oper entstand zwischen Ende 1851 und Anfang 1853; er hatte zwei Librettisten gefunden und an dem Werk - »Der Gutsknecht« bis zur Erschöpfung gearbeitet; in der Literatur heißt es dazu:
    »denn nach Vollendung dieser Gewaltleistung fiel Franck in einen Zustand völliger geistiger Erschöpfung, die ihm eine Zeitlang nicht nur das Komponieren, sondern überhaupt jede geistige Tätigkeit unmöglich machte.«
    Das Werk wurde nie aufgeführt, obwohl sich Franz Liszt 1855 bei dem Herausgeber der ›Gazette Musicale‹ dafür eingesetzt hatte.
    Das weitgehend unbekannte Werk begegnet einem auch unter dem Titel »Le Valet de Feme«.
    Aber Francks spätere Opernwerke - es sind deren nur zwei - haben es immerhin noch auf moderne Tonträger geschafft und sind Spezialisten ein Begriff; allerdings sind dies Stücke gewalttätiger Art. Es handelt sich um »Hulda«, eine 1885 beendete Komposition, deren Aufführung der 1890 verstorbene Komponist nicht mehr erlebte, »Hulda« wurde erstmals am 4. März 1894 in Monte Carlo aufgeführt und die in den Jahren 1888-90 komponierte Oper »Ghiselle« am gleichen Ort am 30. März 1896. Zu »Ghiselle« orchestrierte Franck nur den ersten Akt, die übrigen Akte wurden für die posthume Uraufführung von Francks Schülern vorgenommen.


    Als der in Notre Dame de Lorette amtierende Abbé zur Pfarrkirche Saint-Jean-Saint-François wechselte, nahm er seinen jungen Organisten gleich mit. Für Franck war das ein Glücksfall, denn diese Kirche hatte erst kürzlich eine neue Orgel aus dem Hause Cavaillé-Coll erhalten; »Meine Orgel, das ist ein Orchester«, soll César Franck vor Begeisterung ausgerufen haben.
    Diese Begeisterung wurde allerdings noch übertroffen als er sich erfolgreich um die Organistenstelle in der stattlichen Kirche Sainte-Clotilde im 7. Arrondissement beworben hatte. Diese Kirche war 1857 eingeweiht worden und bekam 1859 eine Orgel von Aristide Cavaillé-Coll, an dessen Spieltisch César Franck bis an sein Lebensende saß.
    Dieses Orgelwerk war ein sechsundvierzigstimmiges Meisterwerk und als Franz Liszt dort am 3. April 1866 in Sainte-Clotilde dem Orgelspiel lauschte, war er sehr beeindruckt.


    An diesem Instrument entwickelte sich Franck zu einem ganz großen Orgelspieler, und Zeitgenossen haben überliefert, dass Franck riesige Hände hatte, die imstande waren zwölf weiße Tasten auf der Tastatur zu erfassen. Vor allem war er ein ganz hervorragender Orgelimprovisator. Da wurde dann schon mal bedauert, dass hier kein Bleistift und Notenpapier zur Hand war, um das alles festzuhalten.


    Aber César Franck hat doch einiges zu Papier gebracht und seine begeisterten Schüler stilisierten ihren Meister »zum größten lebenden Komponisten Frankreichs« hoch, man sprach von der ›Bande á Franck‹, allen voran ist hier der wohlbetuchte Komponist Vincent d´Indy zu nennen.
    Gewiss war César Frank ein frommer Mensch, der nachweislich in den Himmel kam, denn 1990 wurde der Asteroid 4546 nach Franck benannt. Aber wenn der Schülerkreis von ihm als ›Pater seraphicus‹ sprach, wollte Georg Franck, der Sohn des Organisten, das so nicht stehen lassen und widersprach der Geschichte vom frommen, einfältigen Künstler.
    Romain Rolland stellte 1908 fest: »Bei César Franck war alles Gefühl und beinahe nichts reine Vernunft« und er sei ein Mystiker gewesen, dem der Zeitgeist verschlossen blieb.


    François Benoist hatte am Pariser Konservatorium nicht nur César Franck sondern auch andere später bekannte Musiker wie zum Beispiel Camille Saint-Saëns oder Adolphe Adam unterrichtet und war an diesem Institut fünfzig Jahre tätig gewesen.
    Als Benoist 1872 in den Ruhestand ging, war man überrascht, auch Franck selbst, dass er Nachfolger seines ehemaligen Lehrers wurde; er war nun ›Professor für Orgelspiel und Improvisation‹.


    1885 erhielt Franck den Orden der Ehrenlegion und ein Jahr später wurde er Präsident der Société Nationale de Musique. Trotz seiner Position und dieser Ehrungen wurde Franck zu dieser Zeit als Komponist kaum wahrgenommen und auch ein Werk wie Francks 1888 vollendete d-Moll-Symphonie wurde in seiner Entstehungszeit nicht entsprechend gewürdigt, schließlich war Francks Freund Camille Saint-Saëns auch bestrebt, dass seine bereits 1886 aufgeführte Orgelsymphonie in bestem Licht wahrgenommen wurde und Gounod nannte Francks Symphonie »die Bestätigung einer Unfähigkeit, die bis in dogmatische Längen betrieben wird«, und Ambrose Thomas hatte die Sache auch nicht so recht verstanden.


    Mit der Freundschaft von Franck und Saint-Saëns war das so eine Sache, da konnte es schon mal zu Unstimmigkeiten kommen, wenn es um Francks attraktive Orgelschülerin Augusta Holmés (*1847) ging, so geschehen bei der Uraufführung des Klavierquintetts f-Moll 1880 in der Société Nationale de Musique, einer Organisation zur Förderung französischer Kunst. Das Werk war Saint-Saëns gewidmet, der den Klavierpart vom Blatt spielte und dabei aber immer unruhiger wurde, weil er zu erkennen glaubte, dass hier geheime Botschaften versteckt sind, die ihn tangierten; Augenzeugen berichten, dass Saint-Saëns wütend das Klavier verließ und die ihm gewidmeten Noten liegen ließ.


    Noch zu Lebzeiten konnte Franck mit seiner 1886 komponierten Violinsonate, die Eugéne Ysaÿe gewidmet ist - ein Hochzeitsgeschenk an den in Lüttich geborenen Ysaÿe - einen ansehnlichen Erfolg verbuchen; Ysaÿe brachte seine Begeisterung über das Werk so zum Ausdruck: »Ich werde dieses Meisterwerk überall spielen, wo ich einen kunstsinnigen Pianisten finde.«


    César Franck, so kann man es zusammenfassen, gilt heute als einer der bedeutendsten französischen Komponisten, Pädagogen und Organisten der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, wobei seine wichtigsten Kompositionen im letzten Drittel seines Lebens entstanden; Die Orgelkomposition »Trois Chorals« war Francks letzte große Komposition und ist von großem Ernst getragen und wird oft als César Francks Vermächtnis betrachtet,
    die Veröffentlichung 1892 erlebte César Franck nicht mehr.


    Im Mai 1890 war Franck von einem der damals in Paris üblichen Pferdeomnibusse angefahren worden, dessen Deichsel ihm in die Seite stieß. Im Folgenden kränkelte er, im Herbst kam eine schwere Brustfellenentzündung hinzu - am 8. November 1890 starb César Franck an den Spätfolgen des Unfalls.
    Zahlreiche Freunde und Schüler gaben ihm das letzte Geleit zum Friedhof Montrouge.
    Bei der Trauerfeier waren weder das Ministerium noch das Konservatorium - zu dessen Lehrkörper César Franck schließlich gehörte - vertreten. Ambroise Thomas, der damalige Konservatoriumsdirektor, beeilte sich, sich ins Bett zu legen, als man ihm den Besuch eines Mitglieds der Familie Franck meldete, das ihn zu der Trauerfeierlichkeit einladen wollte.
    Im September 1891 erfolgte die Umbettung und die Ruhestätte wurde auf dem Cimetiére du Montparnasse eingerichtet. Das Grabmal ist künstlerisch wertvoll; es wurde von Gaston Redon errichtet und 1893 kam das Medaillon von Auguste Rodin hinzu.


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    Von der Straße aus ist nur die Rückseite von César Francks Grab zu sehen.


    Praktische Hinweise:
    Cimetiére Montparnasse liegt an den Straßen Boulevard Raspail und Boulevard Edgar-Quinet. Zur groben Orientierung kann das 210 Meter hohe Tour Montparnasse im 15. Arrondissement dienen. Benutzt man die Metro, zum Beispiel die Linie 4, vom Gare de l´Est kommend, ist die ideale Ausstiegs-Station ›Raspail‹.
    Dort orientiert man sich an der Rue Émile-Richard (14. Arrondissement), eine Straße, die den Friedhof teilt. Man wendet sich bei der nächsten Möglichkeit nach links, passiert die Grabfelder 17 und 27 und gelangt so zum Grabfeld 26 (Division 26), wo sich das Grab etwas versteckt findet, weil man von der Straße aus nur die Rückseite sehen kann, nicht aber das charakteristische Medaillon von Rodin.


    Literaturhinweis:


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  • Aristide Cavaillé-Coll - Vater der symphonischen Orgel

    Zum heutigen Todestag


    Aristide Cavaillé-Coll - *4. Februar 1811 in Montpellier - † 13. Oktober 1899 in Paris0


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    Aristide war wohl der Bekannteste dieser Orgelbauer-Dynastie, die sich über vier Generationen erstreckt, was auf dem reich beschrifteten Grabstein ablesbar ist, die erste Jahreszahl ist hier 1771.


    Cavaillé-Colls älteste bekannte Vorfahren waren Stoffhersteller in Südwestfrankreich.
    Aber bereits der Bruder seines Urgroßvaters, der Dominikaner Joseph Cavaillé (1700-1767) erlernte bei Jean Esprit Isnard, der ein bekannten Erbauer von Barockorgeln war, das Orgelbauerhandwerk.
    Aristide Cavaillé-Colls Großvater, Jean-Pierre Cavaillé, erlernte bei seinem Onkel Joseph das Orgelbauhandwerk und machte sich 1765 in Spanien selbständig und heiratete 1767 Françoise Coll; als ihnen der Sohn Dominique--Hyacinthe geboren wurde, trug dieser nach spanischem Brauch den Doppelnamen Cavaillé-Coll.


    Aristide wurde also als zweiter Sohn von Dominique Cavaillé-Coll und dessen Ehefrau Jeanne Autard geboren, sein älterer Bruder Vincent (*1808) wurde ebenfalls Orgelbauer. Die Unruhen in Südfrankreich waren für Vater Dominique Anlass seine Familie über die nahe Grenze nach Spanien in Sicherheit zu bringen. Dies hatte zur Folge, dass Aristide dort nur eine unzureichende Schulbildung genoss und später in Frankreich Schwierigkeiten mit der Rechtschreibung hatte. Eine musikalische Ausbildung fehlte ihm ebenfalls und er lernte weder ein Instrument spielen noch erwarb er systematisch musiktheoretische Kenntnisse.
    Umso erstaunlicher sind seine beruflichen Erfolge, die er schon in jungen Jahren vorweisen konnte. 1814 war die Familie vor Unruhen nach Spanien geflüchtet, 1822 ging es dann aus Furcht vor einer Epidemie wieder nach Frankreich zurück, zuerst nach Gaillac, dann ins etwa 50 Kilometer entfernte Toulouse.
    Vater Dominique hatte in Spanien eine unvollendete Orgel zurückgelassen und vertraute seinem 18-jährigen Sohn deren Fertigstellung an, was dieser auch zustande brachte und dabei neuartige Ideen einbrachte.
    Wieder nach Toulouse zurückgekehrt, arbeitete der Vater mit seinen beiden Söhnen an einem harmoniumartigen Instrument, Poïkilorgue genannt, für den kammermusikalischen Gebrauch. 1832 ergab es sich, dass Gioacchino Rossini mit seiner Theatertruppe durch Südfrankreich zog, um der in Paris wütenden Cholera zu entgehen. Rossini dirigierte in Toulouse Giacomo Meyerbeers Oper »Robert le diable«, die zusätzlich zum Orchester eine Orgel verlangte, aber eine solche stand im Opernhaus von Toulouse nicht zur Verfügung, also wurde ein Poïkilorgue verwendet, von dessen Klang Rossini begeistert war und Aristide ermutigte nach Paris zu gehen.


    Am 17. September 1833 fuhr der 22-jährige Orgelbauer mit der Kutsche nach Paris, wo gerade eine Orgel für die altehrwürdige Abteikirche, die französische Königskirche Saint-Denis, im Norden von Paris gebraucht wurde.
    Der Musikinstrumentenbauer Pierre Erard, der englische Orgelbauer John Abbey, der aus einer Orgeldynastie stammende Louis Callinet und der ebenfalls aus einer Orgelbauerfamilie stammende Louis-Paul Dallery hatten sich für den Orgelneubau beworben; das war eine ernstzunehmende Konkurrenz.
    Als Aristide Cavaillé-Coll in Paris eintraf führte er zahlreiche Empfehlungsschreiben Rossinis mit, so auch eines für den Komponisten Henri Montan Berton, der Mitglied der Orgelbaukommission war. Damit der Neuankömmling den Raum der Basilika kennenlernen konnte, begaben sich beide unverzüglich in die Basilika.
    Innerhalb von drei Tagen skizzierte Cavaillé-Coll in seinem Hotelzimmer einen Entwurf für die neue Orgel.


    Zur allgemeinen Überraschung erhielt der bis dahin in Paris unbekannte Aristide Cavaillé-Coll am 2. Oktober 1834 den Zuschlag für den Orgel-Neubau, was für Vater Dominique natürlich ein Grund war, ebenfalls nach Paris zu ziehen. In der Nähe der Basilika Notre-Dame-de-Lorette eröffneten Vater und Sohn in der Rue Neuve-Saint-Georges eine Werkstatt.
    Als Bauzeit für die Orgel von Saint-Denis waren laut Vertrag drei Jahre veranschlagt und die neue Orgel sollte 80.000 Francs kosten.
    Schließlich wurde der Preis auf 85.000 Francs angehoben, aber die Registerzahl von geplanten 81 auf 71 gesenkt. Im Laufe der Bauzeit gab es eine Menge Schwierigkeiten, auch solche, welche die Orgelbauer nicht zu verantworten hatten und auch technische Neuerungen. Der Nachwelt ist überliefert, dass diese ›Wunderorgel‹ am 21. September 1841 eingeweiht wurde.
    In interessierten Kreisen hatte sich dieser epochemachende Orgelneubau schnell herumgesprochen und die Cavaillé-Colls erhielten nun viele Aufträge.
    Aristide Cavaillé-Coll war zeitlebens ein wissbegieriger Mensch, also entschloss er sich 1844 zu einer Bildungsreise durch Europa, um aktuelle Entwicklungen im Orgelbau zu studieren. Sigismund von Neukomm hatte für ihn eine Reiseroute ausgearbeitet:
    Straßburg - Rufach - Bern - Freiburg im Üechtland - Zürich - Winterthur - Stuttgart - Frankfurt am Main - Köln - Haarlem - Rotterdam - Utrecht - London.
    Natürlich hatten alle diese Stationen etwas mit Orgeln oder Orgelbauern zu tun, in Deutschland ergaben sich zum Beispiel Verbindungen zu Eberhard Friedrich Walcker, der 1833 die Orgel der Frankfurter Paulskirche und einige Jahre später des Ulmer Münsters und sogar 1863 eine in Boston gebaut hatte; zu Walcker meinte Aristide Cavaillé-Coll: »Ein verdienstvoller Mann«, aber letztendlich waren für ihn die französischen Orgeln doch besser.
    Walckers 1833 für die Paulskirche gebaute Orgel hatte zwar für die Entwicklung der romantischen Orgel in Deutschland ähnliche Impulswirkung wie Saint-Denis in Frankreich, aber Cavaillé-Coll kritisierte in Frankfurt die mangelnde Durchschlagskraft der Zungen und Solostimmen, war aber vom majestätischen Grundcharakter des Werkes beeindruckt.
    Zwischen diesen beiden Orgelbauern war auch ein gewisser Altersunterschied - als Walckers Orgel in der Paulskirche eingeweiht wurde, reiste der 22-jährige Aristide Cavaillé-Coll erstmals nach Paris.


    Auch auf seiner zweiten Studienreise, bei der Aristide Cavaillé-Coll 1856 nur Deutschland besuchte und ursprünglich nur in Köln Station machen wollte, traf er auch Walcker, denn er hatte seine Reisepläne auf Berlin, Potsdam, Weimar, Frankfurt am Main, Stuttgart und Ulm erweitert. Anlässlich eines Besuchs in Ulm hatte Cavaillé-Coll Walcker nach Paris eingeladen, sobald dieser seine Münsterorgel fertiggestellt hat. Es zog sich noch etwas hin, aber schließlich traf man sich 1857 in Paris.


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    Ein großer Saal mit hohem Gewölbe ermöglichte auch große Instrumente zu bauen und entsprechend vorzuführen.


    Aristide Cavaillé-Coll hatte eine mächtige Firma aufgebaut und musste insgesamt vier Mal mit seiner Werkstatt umziehen, 1854 in die Rue de Vaugirard, der längsten Straße von Paris, wo es ein großer Saal mit hohem Gewölbe ermöglichte auch große Instrumente zu bauen und entsprechend vorzuführen.
    Nach dem Tod seines Vaters gründete Aristide Cavaillé-Coll 1856 die Kommanditgesellschaft auf Aktien ›A. Cavaillé-Coll Fils & Cie‹. Hier kann man nun von der beginnenden Glanzzeit des Unternehmens sprechen und es kam einiges zusammen, was diesen Erfolg begründete.
    Die renommierte Werkstatt zog begabte Mitarbeiter an, als Beispiel seien die Brüder Gabriel und Félix Reinburg genannt, die begabte Intonateure gewesen sind.
    Die Werkstatt war gut durchorganisiert, und es wurde erstklassiges Material verwendet; es war so eine Art Fließbandfertigung, in Hochzeiten waren bis zu 75 Mitarbeiter in der Produktion tätig und Chef Aristide Cavaillé-Coll machte seine Rundgänge im Betrieb und hatte alles im Auge.


    Als 1866 die Straßenführung geändert wird, muss das Unternehmen das Gelände an der Rue de Vaugirard aufgeben; Cavaillé-Colls Anwalt beansprucht 750.000 Franken Entschädigung, das Gericht erkannte auf 500.000 Franken.


    Also erwirbt die Firma 1868 ein von Mauern umgebenes Grundstück von 2279 m² in der 15 Avenue du Maine, seit 1967 erinnert eine Tafel an die ehemalige Produktionsstätte, die Initiative kam damals von dem Organisten Marcel Dupré.
    In der Zeit von 1827 bis 1898 baute oder erneuerte der Betrieb Cavaillé-Coll etwa 550 Orgeln, darunter 400 große Orgeln, 100 Chororgeln und 50 Haus-, Theater- und Konzertorgeln.
    Neben der Orgel in Saint-Denis, sind seine Orgel in Saint-Sulpice (1862), Notre-Dame in Paris (1867) und das Werk in Saint-Ouen in Rouen zu nennen, das als sein letztes großes Orgelwerk gilt und zu den bedeutendsten der Welt zählt.


    Als Aristide Cavaillé-Coll nach Paris kam, sah es um den Orgelbau nicht gut aus; zahlreiche Orgeln waren während der Französischen Revolution zerstört worden und die noch bestehenden entsprachen nicht mehr dem Zeitgeschmack; einen Eindruck von dieser Situation vermittelt uns Felix Mendelssohn Bartholdy, der in Paris weilte und die Orgel von Saint-Sulpice am 21. Januar 1832 in einem Brief an seine Familie so beschreibt:


    »Ich komme eben aus St. Sulpice, wo mir der Organist die Orgel vorgeritten hat: sie klingt wie ein vollstimmiger Chor von alten Weiberstimmen; aber sie behaupten, es sei die erste Orgel in Europa, wenn man sie reparirte, was 30,000 Francs kosten soll. Wie der canto fermo mit einem Serpent begleitet klingt, das glaubt Niemand, der es nicht gehört hat, und dazu läuten die dicken Glocken!«


    Da war also ein gewisses Vakuum entstanden, für den tüchtigen Aristide Cavaillé-Coll eine gute Voraussetzung etwas zu entwickeln. Er gilt als Schöpfer, der sogenannten Symphonischen Orgel, was auch großen Einfluss auf den deutschen und englischen Orgelbau hatte. Cavaillé-Coll war ein wissenschaftlich forschender Akustiker, für ihn war Forschung ein zentrales Thema. Er veröffentlichte mehrere bedeutende Studien und hatte nahe Kontakte zu der Wissenschaftsakademie in Paris sowie dem Französischen Wissenschaftsverein. Die Themen, mit denen er sich beschäftigte waren:
    Die akustischen Prozesse, die den Klang einer Orgelpfeife generieren.
    Das Phänomen der Obertöne.
    Die Feststellung der genauen Tonhöhe.
    Die Dynamik des Luftstroms.


    Das liest sich alles sehr positiv, aber da war nicht nur Friede, Freude Eierkuchen; nicht alle waren mit dem Tun und Treiben von Cavaillé-Coll einverstanden; Felix Danjou, ein französischer Organist, Komponist und Musikwissenschaftler, war mit dieser Entwicklung gar nicht glücklich und tat kund, dass ihm diese profanierte und opernhaft daherkommende Kirchenmusik nicht zusagt. Nach der Französischen Revolution waren Orgeln nicht mehr ausschließlich für sakrale Räume bestimmt, etwa um 1840 fanden sie Eingang in Konzertsäle und Privatsalons. Auch als Cavaille-Coll 1847 eine Orgel in La Madeleine einbaute, protestierte Felix Danjou in seiner Musikzeitschrift und warf Cavaille-Coll vor, dass er sein handwerkliches Können vor allem nur nutze Orchesterinstrumente nachzuahmen und der Orgel dadurch ihrer klanglichen Eigenheiten zu berauben; Orchesterinstrumente seien für sinnliche Musik geschaffen, die in der Kirche fehl am Platz sei, die Orgel in La Madeleine kranke an »der lärmenden Brillanz der Trompeten und dem aufdringlichen Ton der Flöten. Der Gottesdienst bedarf nicht der Wiederholung jenes Wunders, das die Mauern von Jericho zum Einsturz brachte.«


    Aber Cavaille-Coll ließ sich natürlich auch von bedeutenden Organisten seiner Zeit inspirieren, wo lange Zeit Lefébure-Wély einen ersten Platz einnahm, aber dann wandte sich Cavaille-Coll, der immer für Neues offen war, etwa 1850 dem belgischen Organisten Jacques-Nicolas Lemmens - einem Hesse-Schüler - zu, woraus resultierte, dass Cavaille-Coll seine Orgeln nun so konzipierte, dass das Orgelwerk Bachs auf ihnen gespielt werden konnte.


    1854 fanden zwei bedeutende Ereignisse statt: ein rein privates Ereignis war Aristide Cavaillé-Colls Hochzeit im Februar mit Adéle Blanc und der Umzug in die neue Werkstatt, wo auch ein großer Saal mit hohem Gewölbe entstand und es nun möglich war auch große Instrumente zusammenzusetzen und vorzuführen.
    Aus der Ehe gingen sechs Kinder hervor, wovon zwei jedoch schon 1859 starben, 1862 starb Aristide Cavaillé-Colls Mutter und 1868 seine Frau bei der Geburt ihres letzten Kindes; Trauer begleitete den geschäftlichen Erfolg. Nur Sohn Gabriel wurde ebenfalls Orgelbauer, aber die einst prosperierende Firma musste 1866 aufgrund von Straßenplanungen erneut umziehen und kurz vor dem Deutsch-Französischen Krieg verließen nur wenige Instrumente die Werkstatt; um die mangelnden Aufträge aus Frankreich auszugleichen, schaute sich Cavaillé-Coll in England um und baute für den Musikverleger John Turner Hopwood für dessen Haus seine erste Orgel in England, das Instrument mit drei Manualen und 34 Registern wurden in den Musikraum der Halle eingebaut; beim Einweihungskonzert war neben anderer Prominenz auch Königin Victoria anwesend. Eigentlich handelte es sich um ›Gebrauchtware‹, denn das Instrument war in Paris bereits von Charles-Marie Widor und Camille Saint-Saëns im Werkstattsaal der Firma gespielt worden.
    Cavaille-Coll erhielt daraufhin in England noch viele andere Aufträge und was dazu zu sagen ist, brachte der französische Organist und Komponist Alexandre Guilmant auf den Punkt:


    »Es gibt eine Zeit, in der eine wahrhaft französische Erfindung, die moderne Pfeifenorgel, England erreicht hat. Die Engländer haben, ebenso wie die Deutschen, ein Stadium erreicht, indem sie sich in etwa in der Lage eines Mannes fühlen, der weiterhin Cembalo gespielt hat, sich aber in der Gegenwart eines modernen Pianisten befindet, der mit einem Konzertflügel ausgestattet ist. Die moderne Orgel, wie sie M. Cavaillé-Coll geschaffen und perfektioniert hat, ist ein neues Instrument, das einen neuen Stil erfordert. Der wahre Stil der Orgel besteht darin, die alte Orgel als Grundlage zu nehmen und den Wirkungen des heutigen Instruments, so reich und wunderbar, freien Lauf zu lassen.«


    So positiv das auch klingt, die Entwicklung im Orgelbau blieb damit nicht stehen; die aufkommende Elektrizität eröffnete neue Möglichkeiten, die zum Beispiel Joseph Merklin nutzte, der ein Konkurrent Cavaillé-Colls wurde und mit einer elektrischen Traktur warb.
    Der Prozess des Niedergangs ging zunächst schleichend vonstatten - einige der besten Mitarbeiter, wie Joseph Beuchet und Charles Mutin, hatten sich selbständig gemacht.
    Cavaillé-Colls wichtigster Mitarbeiter, Gabriel Rheinburg, starb im Januar 1891; er war insofern mit der Familie verbunden, weil er mit Berthe Cavaillé-Coll, der Tochter von Vincent Cavaillé-Coll, verheiratet war und in einer Wohnung des Hauses Cavaillé-Coll lebte.


    Kenner der Familiengeschichte sehen in Rheinburgs Tod den Beginn des Verfalls des Hauses Cavaillé-Colls. Der bereits oben erwähnte Sohn Gabriel soll sich mit der Firmenkasse aus dem Staub gemacht haben, weil er mit seinem Vater nicht zurechtkam, die Rede ist von Halsstarrigkeit des Alten. In der Literatur findet sich aber auch der Hinweis:


    »Es war eine schicksalhafte Entscheidung für Aristide, die Ideen seines technisch begabten Sohnes Gabriel zurückzuweisen, der sich für weitere elektrische Innovationen im Orgelbau einsetzte und nach einer Ablehnung nach Spanien ging, um Bergbauingenieur zu werden.«


    Zu Beginn des letzten Jahrzehnts im 19. Jahrhundert soll die Firma Aristide Cavaillé-Coll & Cie im Grunde insolvent gewesen sein.
    Schließlich erwarb ein in Orléans ansässiger Geschäftsmann, der schon seit 1881 Darlehensgeber von Cavaillé-Coll war die Gebäude samt Werkstatteinrichtung und erhielt das Unternehmen damit am Leben. Die Gebäude wurden dann an Cavaillé-Coll zu einem eher symbolischen Preis vermietet.
    1893 musste Aristide Cavaillé-Coll sogar sein Wohnhaus verlassen und zog sich mit seiner Tochter und einigen treuen Angestellten in eine Wohnung in der Rue Vieux-Colombier 21 zurück, wo er überraschend am 13. Oktober 1899 im Alter von 88 Jahren starb.
    Die Totenmesse fand in Saint-Sulpice statt, die Orgel spielte Charles-Marie Widor; die Trauerrede hielt am 16. Oktober der langjährige ehemalige Mitarbeiter Charles Mutin, der die Firma am 18. Juni 1898 übernommen hatte und unter dem Namen ›Mutin- Cavaillé-Coll‹ weiterführte. Die Beisetzung fand auf dem Cimetiére Montparnasse statt.
    1924 wurde Mutin von Auguste Convers abgelöst, dessen Arbeiten die Kunden nicht akzeptierten; die Wirtschaftskrise 1929 tat das Übrige und mitten im Zweiten Weltkrieg ging die einst stolze Firma in der Fusion mit Pleyel auf.


    Praktische Hinweise:
    Cimetiére Montparnasse liegt an den Straßen Boulevard Raspail und Boulevard Edgar-Quinet. Zur groben Orientierung kann das 210 Meter hohe Tour Montparnasse im 15. Arrondissement dienen. Benutzt man die Metro, zum Beispiel die Linie 4, vom Gare de l´Est kommend, ist die ideale Ausstiegs-Station ›Raspail‹.
    Das Grab der Familie Cavaillé-Coll befindet sich in der Division 18, nahe dem Eingang Boulevard Edgar-Quinet.