Wie wenige andere Heldentenöre des letzten Jahrhunderts polarisiert Max Lorenz Verehrer und Verächter seiner Kunst. Der 1901 in Düsseldorf geborene Tenor konnte trotz Auftritten in New York, London und an der Scala nie die Karriere machen, die seiner Befähigung entsprochen hätte, nicht zuletzt weil der Zenit seines Könnens mit dem Zweiten Weltkrieg einher ging. Als Ensemblemitglied war er im Laufe seiner Karriere in Dresden, Berlin, Wien und New York engagiert (1947 – 50). Er sang neben allen wichtigen Wagnerpartien, zahlreiche denkwürdige Uraufführungen, viele Strausspartien, den Palestrina und einiges aus dem heroischen italienischen Fach (Othello, Alvaro, Radames). Während des Krieges blieb er in Deutschland, war aber wegen der Hochzeit mir einer Jüdin ähnlich wie Frida Leider zahlreichen Repressalien ausgesetzt.
Einige heutige Hörer finden seinen theatralischen Stil antiquiert und überspannt, andere rühmen seine Wahrhaftigkeit, die geradezu modern wirkt. Genau wie Jon Vickers beeindruckt Lorenz nicht durch die Schönheit seiner Stimme, nicht durch sein Prachttimbre. Es ist das genuine, schmerzliche Pathos seiner Auffassung, daß den Hörer unmittelbar anrührt und in den Bann schlägt. Er geht zuweilen soweit, auf die richtige Intonation und korrektes rhythmisches Timing zu verzichten, erscheinen ihm diese Maßnahmen im Sinne der Wahrhaftigkeit. Im Dienst der Worte scheut er auch vor außermusikalischer Rhetorik nicht zurück, verlässt nicht selten vorsätzlich die Gesangslinie im Dienste des Ausdrucks, ja, verfehlt denselben auch schon mal. Doch, um es mit einem auf die Callas gemünzten Wort von Ingeborg Bachmann zu sagen, er „kann einen Ausdruck verfehlen, weil [er] weiß, was Ausdruck überhaupt ist“. Er ist dadurch auch so etwas wie der Antipode zu Lauritz Melchior, der trotz ungleich prächtigeren Materials musikalisch keineswegs korrekter, jedoch nicht selten lethargisch und routinierter singt.
Wem Lorenz’ Initiative zu weit geht, sei zumindest an Richard Wagners Aufsatz „Über Schauspieler und Sänger“ erinnert. Hier schreibt der Komponist: „Unser ganzes Dichter- und Komponistenschaffen ist nur Wollen nicht aber Können: erst die Darstellung ist das Können – die Kunst“. Der „eigentliche Kunstanteil bei Theateraufführungen“ müsse „den Darstellern zugesprochen werden“.
In seinem Artikel über Max Lorenz im Rahmen seines Werkes „Die großen Sänger“ stellt Jürgen Kesting richtigerweise fest, der Sänger werde „hierzulande weitaus höher eingeschätzt als im angelsächsischen Sprachraum“, bleibt aber die Erklärung für dieses Phänomen schuldig. Lorenz beeindruckt durch seine differenzierte Wortartikulation, den deklamatorischen Stil, die Prägnanz der Formung und seine überdeutliche, zuweilen schneidende Diktion. Solcherlei Meriten können einleuchtenderweise von Rezipienten mit deutscher Muttersprache am stärksten wahrgenommen werden – ebenso wie in dem aktuellen Fall von Domingos Tristan dessen idiomatische Grenzen in unserem Sprachraum auch am schwersten wiegen.
Seine oft brillante Höhe steht zuweilen matteren tiefen Tönen gegenüber. Das helle Timbre (Verächter behaupten, es sei eher weiß) beweist, daß es sich bei seiner Stimme um einen echten Tenor und keine hochgezogene Baritonstimme handelte. Wer Lorenz im Zuge seines zweifellos stark vom gesungenen Wort geprägten Stils leichtfertig jegliche italienische Schulung absprechen möchte, höre das absolut perfekte Legato in seiner Aufnahme der Alvaro-Arie aus "La Forza del Destino" oder Tristans unvergleichlich anrührend gesungenen Traum von Isolde auf dem nahenden Schiff. Dieser kulminiert in der großartigen, für meine Begriffe unerreichten Färbung der Worte „Ach, Isolde, wie schön bist Du?“.
Ohnehin steht sein Tristan für mich allein auf weiter Flur und wird bestenfalls von Jon Vickers erreicht, nicht jedoch übertroffen. In Passagen wie „Es naht! Es naht! Mit mutiger Hast! Sie weht! Sie weht! Die Flagge am Mast“ erreicht er eine Emphase, die ihn über alle (sic!) Rollenkollegen stellt. „Wie, hör' ich das Licht? Die Leuchte, ha!“ ist nun bereits kein Gesang mehr, viel eher ein schon metaphysisches letztes Aufbäumen eines dem Jenseits gehörenden Geschöpfs. Daß die lyrischen Momente der Partie, wie das Liebesduett des zweiten Aktes von Melchior, Vickers und einigen anderen Tenören verinnerlichter und damit adäquater gesungen werden, schmälert diese Leistung nur gering. Die Aufnahme unter Robert Heger ist denen unter Schmidt-Isserstedt und De Sabata deutlich vorzuziehen, da Lorenz in vorletzter indisponiert und heiser klingt und bei letzterer der Klang des Scala-Mitschnittes von 1951 selbst von Connaisseurs schlecht goutiert werden kann.
Lächerlicherweise attestiert Jens Malte Fischer Lorenz’ Stil „etwas Blitzkrieghaftes“ und versucht damit Hitlers Affinität zu dem Sänger während des dritten Reiches zu erklären und eine besondere Tauglichkeit für die NS-Ideologie nachzuweisen (wobei Fischer richtigerweise – das muß auch gesagt werden – Lorenz jede Neigung in diese Richtung abspricht). In Wahrheit waren Hitler und seine Gefolgschaft weit weniger an Lorenz interessiert als heutzutage zuweilen behauptet wird. Vielmehr war sein Einsatz in Bayreuth eine für die Machthaber unangenehme Notwendigkeit, die aus Ermangelung an befähigten Alternativen entstand. So merkt Joseph Goebbels im Juli 1933 in seinem Tagebuch über den Tenor an: „Lorenz als Siegfried unmöglich. Da ist das alles in Berlin viel besser. Keine heroische Auffassung.“.
So wollte Hitler 1934 nachdem er nicht zuletzt Röhms Homosexualität als Rechtfertigung für seinen Umgang mit dem „Röhm-Putsch“ gebrauchte, Max Lorenz sogar von den Bayreuther Festspielen ausschließen, als dieser, so berichtet Wolfgang Wagner, in eindeutiger Situation erwischt wurde. Winifred musste wohl sogar mit der Schließung Bayreuths drohen („Ohne Lorenz kann ich Bayreuth nicht machen") um Hitler zu besänftigen.
Zurück zur Musik:
Von Lorenz’ außergewöhnlicher Fähigkeit, den Sinngehalt der gesungenen Worte zu illuminieren, profitiert in besonderem Maße auch sein Tannhäuser und Siegmund. In erster Partie ist er leider nicht komplett, sondern nur in Auszügen dokumentiert und wird in dieser Rolle bestenfalls von Ernst Gruber (hier mehr über ihn) übertroffen. Keiner spottet im 2. Akt so provokant, so wollüstig wie er. Keiner, vermittelt den endgültig vom Glauben abgefallenen Tannhäuser des dritten Aktes so eindringlich, fast neurotisch. Bei „Da ekelte mich der holde Sang“ muß er sich nicht wie Wolfgang Windgassen, schreiend entäußern um ebenso nachdrücklich zu wirken.
Deutlich besser ist sein Siegmund dokumentiert. Absolut konkurrenzlos und bestenfalls von Melchior, Suthaus und Vickers erreicht, ist der erste Walküre-Akt („Siegmund, den Wälsung siehst du Weib“!!!). Nur in der Todesverkündigung scheint mir Vickers deutlich vor Lorenz angesiedelt zu sein. Der zurückgenommene, kontemplative Beginn liegt dem Kanadier besser.
Eine Offenbarung auch der deutsche gesungene Monolog und Tod des Othello. Die Worte „Gott! Warum hast du gehäuft, dieses Elend“ hat nur Lauritz Melchior großartiger eingefärbt. In Othellos Tod dann ist man fassungslos bei den Worten „Kalt, liebliches Kind, wie die Keuschheit“. Unglaublich.
Bajazzos „Hüll’ dich in Tand“ und das bereits erwähnte „Die Welt ist nur ein Traum“ Alvaros beweisen, dass ein großartiger Sänger selbst die geschmäcklerischsten deutschen Verdi-Übersetzungen zu sublimieren vermag.
Recht spät, aber nicht minder beeindruckend sein Radames in einer Aida-Produktion des Hessischen Rundfunks von 1952. Neben einer überraschend sicheren und befriedigen Aida Annelies Kuppers (ihre unstete, zuweilen desolate Senta unter Fricsay klingt noch im Ohr) singt Lorenz einen recht robusten aber feurigen Liebhaber. Sein vibrierender Auftritt im Nilakt ("Ich seh’ dich wieder, meine Aida") rückt das nachfolgende Duett in die Nähe des euphorisch-emphatischen Beginns des Tristan/Isolde-Liebesduettes. Wer Lorenz noch frischer hören will, greift zu der Duettaufnahme von 1930 neben Else Gentner-Fischer.
Beeindruckend auch sein Ägisth und besonders sein Bacchus ("bis du auch eine Zauberin") neben der großartigen Maria Reining.
Es soll nicht verschwiegen werden, daß Stolzing und Lohengrin sicher nicht seine größten Wagnerpartien waren. Hierfür fehlte es seiner Stimme an Wärme, Rundung und lyrischem Schmelz. Beides indes Partien die man vielleicht auch nicht unbedingt mit Luwig Suthaus identifizieren würde.
Für mich ist Max Lorenz kein anachronistischer Heldentenor von Gestern, sondern wie nahezu kein zweiter Sänger des letzten Jahrhunderts, ein unbeirrbarer Sucher nach Wahrhaftigkeit.
Hoffentlich habe ich genug Kontroverses geäußert, um bei Euch auf Widerspruch zu stoßen. Eine lebhafte Diskussion würde mich freuen.
Liebe Grüße
Gino Poosch