Schubert und Goethe. Wie große Lyrik zu großer Liedkunst wurde

  • Betr. Beitrag von m-mueller:


    In der Einschätzung des Beitrags von farinelli stimme ich mir Dir, lieber m-mueller, vollkommen überein. Im übrigen haben Deine Äußerungen dazu bei mir nur etwas angesprochen, was ohnehin schon vorhanden war. Also kein Grund zu dem Ausruf "Gute Güte!".


    Betr. Beitrag von Dr. Holger Kaletha, Zit.: "Wie wärs im Anschluß an Goethe und Schubert mit Goethe und Wolf?"


    Ich arbeite zur Zeit an einem Thread mit dem Titel "Hugo Wolf und Goethe" (das lag ja nahe!). Acht Lieder liegen schon im Manuskript vor. Er ist allerdings erst als übernächster Thread in Planung. Der nächste hat ein anderes Thema und sollte eigentlich heute gestartet werden. Ich bring´s aber nicht hin: Die Zweifel, von denen ich oben sprach, sitzen mir zu stark im Nacken. Vielleicht verziehen die sich aber ja wieder, und es klappt morgen oder übermorgen.

  • Ich arbeite zur Zeit an einem Thread mit dem Titel "Hugo Wolf und Goethe" (das lag ja nahe!). Acht Lieder liegen schon im Manuskript vor. Er ist allerdings erst als übernächster Thread in Planung. Der nächste hat ein anderes Thema und sollte eigentlich heute gestartet werden. Ich bring´s aber nicht hin: Die Zweifel, von denen ich oben sprach, sitzen mir zu stark im Nacken. Vielleicht verziehen die sich aber ja wieder, und es klappt morgen oder übermorgen.


    Lieber Helmut,


    da machst Du es richtig spannend! Ich freue mich schon! Bewundernswert, was Du Dir für eine Wahnsinns Arbeit machst! :hello:


    Schöne Grüße
    Holger

  • Ich sollte diesen Thread nicht für persönliche Notizen missbrauchen, denn sein Gegenstand ist ja doch Schubert mit seinen Goethe-Liedern.


    Aber es ist schon eine eigentümliche Erfahrung, die man macht, wenn man sich, wie ich eben gerade, mit den Liedern Hugo Wolfs auf Gedichte von Goethe beschäftigt, nachdem man die Welt des Schubertliedes – vorübergehend – hinter sich gelassen hat. Man begegnet ihnen wieder: Dem Harfner und der Mignon. Denn Wolfs Goethe-Opus weicht in der Auswahl der Gedichte zwar deutlich von dem Schuberts ab, aber in den ersten zehn Liedern tritt er gleichsam „in Konkurrenz“ mit ihm.


    Und man kann als jemand, der sich intensiv hörend auf beide Komponisten einlässt, gar nicht umhin, in ein regelrechtes Wechselbad der Gefühle und Gedanken zu geraten. Wer ist Goethe musikalisch näher gekommen? Wer hat die lyrische Sprache und die dichterische Aussage adäquater erfasst? In welchem Lied hört man mehr Goethe? Das sind Fragen die sich einem regelrecht aufdrängen, - ohne dass man dabei die Freude am Liedhören verlöre. Im Gegenteil! Man hört viel genauer hin.
    Im einen Fall ist man sich sicher, - wie ich eben gerade beim Hören der Wolf-Vertonung von Goethes Ballade „Der Sänger“. In so manchem anderen, wie etwa bei der Vertonung des Mignon-Liedes „Kennst du das Land, wo die Zitronen blühn“, neige ich eher zu Hugo Wolf als zu Schubert.


    Es wird, falls aus diesem geplanten Thread etwas werden sollte und ich nicht doch kapitulieren muss, überaus reizvoll sein, Vergleiche zwischen Hugo Wolf und Schubert anzustellen, - hinsichtlich der Art und Weise, wie sie mit Goethes Lyrik liedkompositorisch umgegangen sind.
    Kleine Freuden des Liedfreundes eben.

  • Lieber farinelli,


    danke für Deinen Beitrag v. 4.11. – auch ich bitte um Großzügigkeit für meine verspätete Antwort; ich rechnete nicht mehr mit Deinem Beitrag und war für eine Zeit „außer Gefecht gesetzt“ (außerdem braucht man – zumindest ich – für eine Antwort auf Deine Beiträge Zeit).


    Es macht Sinn, sich von der – meiner! – albernen Frage zu lösen, wer wohl geeigneter sei, den Erlkönig vorzutragen.


    Wie sehr sich Schubert mit der Vertonung beschäftigt hat, ist aus der Tatsache ersichtlich, dass erst die 4. Fassung von ihm unter Op. 1 veröffentlicht wurde; leider ist aus den mir zur Verfügung stehenden Unterlagen nicht ersichtlich, wann die Fassungen 1-3 entstanden sind.


    „Man kann das vielleicht so sehen…“: Schon das Vorspiel und die Klavierbegleitung (von unheildrohender Angst getrieben) der Strophen 1 + 2 stehen im krassen Gegensatz zum Text und zur Liedstimme des Vaters, der m. E. den tatsächlichen Ernst der Situation (die Angst des Sohnes ist ihm unverständlich, denn schließlich „fasst und hält er ihn sicher und warm“) lange (zu lange) verkennt. Der Knabe fühlt sofort, „was die Stunde geschlagen hat“, nicht erst in der 7. Strophe, wenn der Erlkönig seine Maske fallen lässt. (Ich sehe das wie das „Katz- und Mausspiel“, der Tod kommt unausweichlich.) Dass die Klavierbegleitung des Erlkönigs in den Strophen 3 + 5 die Klavierbegleitung zu den Texten des Vaters nachahmen will, ist im Sinne des Erlkönigs, lässt aber Schubert nur z. T. zu, da er ja schon seit Beginn der Vertonung das Ende sieht und die Klavierbegleitung zum Erlkönig der Strophen 3 + 5 weniger rastlos getrieben gestaltet, in Verbindung mit der Liedstimme aber an makabrer Dämonie zulegt. Vergeblich versucht der Sohn seinen Vater auf die tödliche Situation aufmerksam zu machen – nicht willentlich, dazu hat ihn die Todesangst schon zu sehr im Griff – die „Urgewalt“ des Lebenserhaltungstriebs bricht sich in höchst beklemmend vertonten Angstschreien Bahn, was dem Vater aber erst in Strohe 8 (zu spät und auch ohne Zeitfaktor ohne Einflussmöglichkeit) zum Bewusstsein kommt.


    Viele Grüße
    zweiterbass

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

  • Zit. zweiterbass: "leider ist aus den mir zur Verfügung stehenden Unterlagen nicht ersichtlich, wann die Fassungen 1-3 entstanden sind"


    "Leider"? Diese "Unterlagen" sind in diesem Forum vorhanden, und der Sachverhalt, um den es hier geht, ist für jeden "ersichtlich". Ich meine das "Tamino-Forum" und zitiere aus dem Beitrag 134 (vom 13.10.2013) im Thread "Schubert und Goethe":


    "Von dieser Ballade gibt es vier Fassungen. Die erste entstand im Herbst 1815. Davon gibt es den berühmten Berichts Joseph von Spauns (16. Nov. 1815), dem zufolge Schubert „glühend“ die Ballade laut lesend auf und ab gegangen sei, sich dann plötzlich hingesetzt und das Lied „in kürzester Zeit“ zu Papier gebracht habe. Die zweite Fassung komponierte Schubert möglicherweise im April 1816 und gab sie – mit vereinfachtem Klaviersatz – der Liedsendung an Goethe bei. Die dritte Fassung ist ebenfalls auf das Jahr 1816 zu datieren, und die vierte erschien als Druckfassung im März 1821. Sie trägt die Opuszahl 1 und steht in g-Moll. Sie weist einen Viervierteltakt auf und ist mit der Anweisung „Schnell“ versehen."


    (Das steht tatsächlich alles hier in diesem Thread. Aber warum und wozu?)
    ( zweiterbass: Bitte keine an mich gerichtete Reaktion auf diesen Beitrag!)

  • Warum die Phase der liedkompositorischen Beschäftigung mit Goethes Lyrik praktisch im Mai 1824 mit „Wandrers Nachtlied“ (D 768) endete und knapp zwei Jahre später nur noch eine Art „Nachklang“ mit dem neuerlichen Aufgreifen der Mignon-Thematik in Gestalt der „Gesänge aus Wilhelm Meister, op.62“ (D 877) folgte, das ist eine Frage, auf die man wohl keine biographisch gesicherte Antwort geben kann.


    Vielleicht aber liefert gerade diese gleichsam nachträgliche Beschäftigung mit der Gestalt der Mignon Hinweise darauf, wo die Antwort zu suchen sein könnte. In der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre drängen sich in Schuberts liedkompositorischem Schaffen zwei Motive immer stärker in den Vordergrund: Die Konzentration auf für ihn existenziell relevante Themen und die Hinwendung zur großen Form des Zyklus, die als Fortentwicklung der gattungsmäßigen Kleinform des Liedes verstanden wurde.


    Die Mignon-Lieder sind – ebenso wie die Harfner-Lieder - als Zyklus konzipiert, und ihr Thema ist Einsamkeit und Sehnsucht. Sie fügen sich also sehr gut in die Grundtendenz des liedkompositorischen Ausdruckswillens und das damit einhergehende formale Konzept. Die „Schöne Müllerin“ und schließlich und endlich die „Winterreise“ sind dann als definitive und liedhistorisch singuläre Einlösung eben dieses musikalischen Ausdruckswillens zu verstehen. Der Weg dahin führte über die Goethe-Lieder. Er musste mit einer gewissen inneren Notwendigkeit verlassen werden, weil neue lyrische Thematik und neue liedkompositorische Form nach musikalischem Ausdruck riefen.

  • Eigentlich wollte ich es ja mit dem gut sein lassen, was ich hier zu Schuberts kompositorischer Auseinandersetzung mit den Mignon-Liedern aus Goethes „Wilhelm Meisters Lehrjahre“ ausführte. Aber wie es so kommt bei der Beschäftigung mit dem Lied, bin ich nun im Zusammenhang mit den Goethe-Liedern Hugo Wolfs wieder an dieses Thema geraten.
    Aus diesem Grund füge ich hier, gleichsam im Nachtrag, eine Besprechung des Mignon-Liedes „Heiß mich nicht reden“ an.

  • Heiß mich nicht reden, heiß mich schweigen,
    Denn mein Geheimnis ist mir Pflicht;
    Ich möchte dir mein ganzes Innre zeigen,
    Allein das Schicksal will es nicht.


    Zur rechten Zeit vertreibt der Sonne Lauf
    Die finstre Nacht, und sie muß sich erhellen;
    Der harte Fels schließt seinen Busen auf,
    Mißgönnt der Erde nicht die tiefverborgnen Quellen.


    Ein jeder sucht im Arm des Freundes Ruh,
    Dort kann die Brust in Klagen sich ergießen;
    Allein ein Schwur drückt mir die Lippen zu,
    Und nur ein Gott vermag sie aufzuschließen.


    Die Tatsache, dass Mignon diese Verse „einigemale“ und „mit großem Ausdruck“ rezitiert hat, wie es in Goethes „Wilhelm Meisters Lehrjahre“ heißt, verleiht ihnen besonderes Gewicht im Sinne eines Selbstbekenntnisses und einer Aussage dieser Gestalt über ihr innerstes Wesen. Es verdichtet sich in dem Wort „Geheimnis“. Mignon möchte – aus ihrer tiefen Zuneigung heraus – Wilhelm ihr „ganzes Innre“ zeigen, sich ihm also öffnen, darf es aber nicht, weil „das Schicksal“ ihr die „Pflicht“ zum Schweigen auferlegt hat.


    Die lyrischen Bilder der zweiten Strophe zeigen auf gleichsam schmerzlich-kontrastive Weise die seelische Not auf, in der dieses lyrische Ich sich befindet. In der Natur gibt es Erlösung aus Nacht, Not und Enge. Selbst der „harte Fels“ vermag sich zu öffnen, um der Erde die „tiefverborgenen Quellen“ zu gönnen.


    Die dritte Strophe deutet auf höchst dezente Weise das weitere Schicksal Mignons an. Mit dem Bild des „Freundes“ wird die Möglichkeit beschworen, eine Erlösung aus den seelischen Nöten der Einsamkeit zu finden. Mignon ist diese Möglichkeit verschlossen, - nicht nur weil Wilhelm kein solcher „Freund“ sein kann und will. Da ist auch noch der „Schwur“, der ihr die Lippen verschließt. Ihr bleibt nur der Tod.

  • Von diesem Lied, dem zweiten aus Schuberts Opus 62 (D 877, „Gesänge aus Wilhelm Meister“, Januar 1826) gibt es eine erste Fassung, die im April 1821 entstand. Obgleich ein Vergleich lohnenswert wäre. Weil er Einblick in Schuberts liedkompositorische Arbeitsweise zu geben vermag, soll hier nicht auf sie eingegangen werden. Die zweite Fassung ist zu Recht die bekanntere, und in ihr begegnet man einer von Schuberts bedeutenden Liedkompositionen.


    Obgleich das Lied in seinem Aufbau recht komplex ist, weil sich die drei Strophen in ihrer Faktur und speziell in der Struktur der melodischen Linie deutlich unterscheiden, lebt es ganz und gar von dem klanglichen Zauber, der von der Melodik der ersten Strophe ausgeht. Es ist eine von jenen Melodien, die, gerade weil sie den Geist einfacher Gesanglichkeit atmen, unmittelbar anzusprechen vermögen, - und darin ist sie eine typische Schubert-Melodie. Gleich im viertaktigen akkordischen Vorspiel klingt sie auf, wird dann von der Singstimme aufgegriffen und weitergeführt, und taucht in ihrem zentralen Motiv am Anfang der dritten Strophe noch einmal auf, - nun allerdings nicht in e-Moll harmonisiert, wie am Anfang, sondern in D-Dur. Die lyrische Aussage bewog Schubert zu dieser Modulation.


    Man meint eine fallende Tendenz in dieser melodischen Linie zu vernehmen, die in der ersten Strophe erklingt. Von daher – und auch von ihrer Einbettung in e-Moll – weist sie eine Anmutung von Wehmut auf, der allerdings ein Beiklang von Innigkeit innewohnt. Insofern scheint sie aus der Seele dieser geheimnisvollen Gestalt Mignon zu kommen und unmittelbarer Ausdruck ihres innersten Wesens zu sein. Sowohl auf dem Wort „reden“, als auch auf dem „schweigen“ liegt ein melodischer Sekundfall. Bei den Worten „Denn mein Geheimnis ist mir Pflicht“ steigt die Vokallinie zwar mit einem Terzsprung in höhere Lage auf, beschreibt danach aber gleich wieder eine Fallbewegung. Und ähnlich ist das beim letzten Vers der ersten Strophe. Das Wort „Schicksal“ wird mit einem Sekundanstieg der melodischen Linie zum höchsten Ton der ganzen Strophe in besonderer Weise klanglich hervorgehoben, danach geht es aber in Sekundschritten wieder abwärts. Allerdings erhalten die Worte „will es nicht“ noch einen bemerkenswerten melodischen Akzent: Durch ein bogenförmig fallendes Sechzehntel-Melisma.


    Die zweite Strophe ist von hellen, positiven lyrischen Bildern beherrscht. Melodik, Harmonik und der Klaviersatz reflektieren diesen Sachverhalt. Die melodische Linie ist nun in C-Dur harmonisiert. Ihre Bewegungen sind lebhafter und nehmen größere tonale Räume ein. Und während das Klavier die Singstimme, der Deklamation folgend, ausschließlich mit gleichsam statisch gesetzten Akkorden begleitete, artikuliert es nun im Legato gebundene Folgen Achteln und Achtel-Akkorden in Diskant und Bass. Bei den Worten „der Sonne Lauf“ gipfelt die melodische Linie auf einem hohen „e“ mit Dehnung auf, macht aber sofort bei „die finstre Nacht“ eine Abwärtsbewegung zu einem „g“ in mittlerer Lage hin. Die Worte „und sie muß sich erhellen“ reflektiert sie mit einem aus einer Fallbewegung hervorgehenden Sextsprung mit nachfolgendem lang gedehntem Terzfall. Das Wort „erhellen“ kommt darin regerecht zum Klingen. Die letzten Verse dieser Strophe werden auf einer melodischen Linie deklamiert, die in ihrer Struktur die vorangehende zwar aufgreift, sie aber abwandelt, weil das zentrale lyrische Bild vom „Busen des Felses“ und den „tiefverborg´nen Quellen“ dies musikalisch einfordert. Nun bewegt sie sich lebhaft auf und ab und macht bei dem Wort „verborg´nen“ einen veritablen Oktavsprung mit nachfolgender Fallbewegung in Sechzehnteln zu dem Wort „Quellen“ hin. Dieses freilich darf eine fallende lange Dehnung tragen.


    Bei der dritten Strophe, der ein in wehmütigem Moll gehaltenes Zwischenspiel vorausgeht, setzt die melodische Linie mit dem Motiv des Liedanfangs ein, nun allerdings, das positive Bild von der „Ruh im Arm des Freundes reflektierend, in D-Dur harmonisiert. Aber schon beim zweiten Vers, in dem es um die „Klagen“ geht, moduliert das Tongeschlecht schon wieder nach Moll. Die Vokallinie macht hier einen expressiven verminderten Quintfall, und danach werden die Worte „in Klagen sich ergießen“ auf einer in hoher Lage bogenförmig fallenden und mit Melismen versehenen melodischen Linie wiederholt, - nun wieder in Dur harmonisiert, denn dieses Bild beinhaltet ja an sich – freilich nicht für Mignon - eine Möglichkeit der Minderung des Leidens im Sich-Öffnen dem Anderen gegenüber.


    Über sechsstimmigen, lange gehaltenen Akkorden werden dann in gewichtiger Form auf zweimal fallender und mit einem Sextsprung mit Dehnung endender melodischer Linie die Worte „Allein ein Schwur drückt mir die Lippen zu“ deklamiert. Bei den Worten „und nur ein Gott“ steigt diese mit einem Quartsprung zu einem hohen „f“ auf und beschreibt dort einen Sekundfall der mit einer – klanglich schmerzlich wirkenden - harmonischen Rückung in verminderte Harmonik verbunden ist. Das hohe „e“ an dieser Stelle wird fast einen ganzen Takt lang gehalten und dabei von einem sforzato angeschlagenen sechsstimmigen Akkord getragen. Das nachfolgende „vermag sie aufzuschließen“ wird auf einer stark von Fall- und Sprungbewegungen geprägten und viele harmonische Modulationen durchlaufenden melodischen Linie deklamiert, die am Ende in einen wiederum schmerzlich wirkenden verminderten Akkord mündet.


    Die beiden letzten Verse werden noch einmal wiederholt, ohne das einleitende „allein“ freilich und mit zweifacher Deklamation der Worte „ein Gott“. Zunächst bewegt sich die melodische Linie der Singstimme in markanten, weil in silbengetreuer Deklamation zweimal auf der jeweiligen tonalen Ebene verbleibend zu einem „c“ in mittlerer Lage hin, das, von einem sechsstimmigen Akkord forte begleitet, lange gehalten wird. Die Worte „und nur ein Gott“ werden nun auf einer bogenförmigen und mit einem kleinen Sekundfall versehenen Linie deklamiert, der von einem verminderten Akkord begleitet wird. Beim letzten „ein Gott“ macht die melodische Linie einen verminderten Terzsprung zu einem hohen „fis“ hin, und danach, bei den letzten Worten, beschreibt sie eine in Moll harmonisierte, wehmütig-schmerzliche wirkende, über eine ganze Oktave ausgreifende und mit einem Melisma in ein hohes „e“ mündende Bogenbewegung.


    Nach einem kurzen, ebenfalls aus einer bogenförmigen Bewegung von Moll-Akkorden bestehenden Nachspiel erklingt am Ende ein reiner E-Dur-Akkord. Eine Musik, die auf das verweist, was die letzten Worte des Liedes als Zukunftsvision enthalten?

  • So laßt mich scheinen, bis ich werde;
    Zieht mir das weiße Kleid nicht aus!
    Ich eile von der schönen Erde
    Hinab in jenes feste Haus.


    Dort ruh ich eine kleine Stille,
    Dann öffnet sich der frische Blick,
    Ich lasse dann die reine Hülle,
    Den Gürtel und den Kranz zurück.


    Und jene himmlischen Gestalten,
    Sie fragen nicht nach Mann und Weib,
    Und keine Kleider, keine Falten
    Umgeben den verklärten Leib.


    Zwar lebt ich ohne Sorg und Mühe,
    Doch fühlt ich tiefen Schmerz genung.
    Vor Kummer altert ich zu frühe –
    Macht mich auf ewig wieder jung!


    Das Gedicht findet sich am Ende des zweiten Kapitels des achten Buchs von „Wilhelm Meisters Lehrjahre“. Wilhelm hat Mignon dafür ausgewählt, anlässlich des Geburtstages von Zwillingsschwestern diesen in Gestalt eines Engels kleine Geschenke zu überreichen. Sie tritt als „wundersame Erscheinung“, die selbst Wilhelm überrascht, in die Mitte der Anwesenden. Auf die Frage, warum sie eine Lilie trägt, antwortet sie: „So rein und offen sollte mein Herz sein, dann wär´ ich glücklich“. Und auf ihre Flügel angesprochen, bemerkt sie: „Sie stellen schönere vor, die noch nicht entfaltet sind.“


    In der Reihe der Mignon-Lieder stellt dieses gleichsam den Höhe- und Schlusspunkt dar. Diesem rätselhaften Wesen, einem selbst auferlegten Schweigebot unterworfen und in existenzielle Einsamkeit verbannt, bleibt, da auch seine Sehnsucht nach dem Süden unerfüllt bleiben muss, am Ende nur die Vision einer Wiedergeburt in Gestalt einer neuen Existenz. Diese wird visionär als die eigentliche entworfen, denn sie ist Ergebnis eines Werdens: „…bis ich werde“. Alles Irdische wird als „Hülle“ empfunden, die zurückgelassen wird, auf dass der Leib eine Verklärung in einer neuen Existenz erfahren kann.


    Noch einmal erfährt man von dem „Schmerz“ und dem „Kummer“, die mit der realen Existenz verbunden waren und so tief in diese eingriffen, dass dies zu einem frühen Altern führte. Und es ist in diesem Zusammenhang bemerkenswert, dass im letzten Vers die „ewige Jugend“ nicht als visionäre Gewissheit auftaucht, sondern als Bitte geäußert wird.

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  • Das Lied weist einen Dreivierteltakt auf und ist mit der Anweisung „Nicht zu langsam“ versehen. Es steht in H-Dur, die melodische Linie pendelt in ihrer Harmonisierung aber permanent zwischen dieser Tonart und der Dominante Fis-Dur hin und her, was ganz wesentlich zu dem klanglich Eindruck des Schwebens beiträgt, der von der Melodik ausgeht. In ihrer vorwiegend bogenförmigen Anlage, die sich in ruhigen Schritten entfaltet, ist sie von faszinierender klanglicher Schönheit. Man meint, eine Anmutung von Kindlichkeit in ihr zu vernehmen, gepaart mit einem leisen Ton von Wehmut.


    Schubert hat sich hier für die Form des variierten Strophenliedes entschieden. Dahinter steht wohl die Figur der „Mignon“, wie sie sich ihm in diesem Gedicht darstellt: Ein Wesen, das in seinem Wunsch, „von der schönen Erde“ zu eilen, um in der Transzendenz zu verklärter Leiblichkeit zu finden, keine komplexe Melodik mehr braucht, um sich zu artikulieren. Es genügen zwei melodische Grundmotive, die sich in leicht variierter Form auf die vier Strophen des Gedichts verteilen. Die dritte Strophe greift die Melodik der ersten auf, die vierte die der zweiten.


    Das viertaktige Vorspiel lässt in akkordischer und zweifach variierter Form die melodische Linie aufklingen, mit der die Singstimme auf dem ersten Vers der ersten Strophe einsetzt. Und zugleich wird mit dieser Folge aus punktierten Viertel- und triolischen Achtelakkorden der klangliche Charakter des Liedes vorgegeben: Es ist ein ganz und gar diatonischer, auf einer Dominanz der Terz basierter, und damit ein höchst einschmeichelnder. Die Singstimme fügt sich in ihren melodischen Bewegungen voll und ganz in ihn ein. Und nicht nur das: Das Klavier folgt mit diesen terzbetonten Akkorden der Deklamation und bettet damit die melodische Linie in den Klaviersatz ein. Auch das trägt wesentlich zu dem Eindruck gleichsam schwebender Melodik bei.


    Wie mühelos und ganz und gar ungezwungen reflektiert die melodische Linie in ihren einzelnen Zeilen die jeweilige Aussage des lyrischen Textes, ohne dabei ihren inneren Zusammenhang zu verlieren. Es ist das Wunder der Schubertschen Melodie, dem man hier wieder einmal auf beeindruckende Weise begegnet. Bei den Worten „Zieht mir das weiße Kleid nicht aus“ macht die Vokallinie zunächst eine Fallbewegung, hebt aber dann das Wort „nicht“ mit einem Terzsprung aus Sechzehnteln besonders hervor. Die Worte „von der schönen Erde“ werden auf aufsteigender melodischer Linie deklamiert, zu dem Bild vom „dunklen Haus“ hin macht diese aber eine Fallbewegung in tiefe Lage und verleiht ihm durch eine kleine bogenförmige Bewegung von Sechzehnteln einen besonderen Akzent. Die harmonische Rückung in die Dominante trägt das Ihre dazu bei.


    Bei der zweiten Strophe kommt eine Änderung in die Struktur der melodischen Linie und ihre Harmonisierung, womit sich auch das Klangbild wandelt. Es ist keine gravierende Wandlung, wohl aber eine, die deutlich werden lässt, dass die Aussagen des lyrischen Ichs nun in die Sphäre des Visionären eingetreten sind. Und zum ersten Mal wird auch die reine Diatonik verlassen und Phasen der Moll-Harmonisierung treten in das Lied. Bei den Worten „Dort ruh´ ich eine kleine Stille“ bewegt sich die melodische Linie nicht mehr linear gebunden, sondern in einem Auf und Ab. Und auf der ersten Silbe des Wortes „eine“ liegt punktuell ein verminderter Akkord. Der Vers „Dann öffnet sich der frische Blick“ wird auf einer in markanten Sekundschritten ansteigenden melodischen Linie deklamiert, und bei den Worten „frische Blick“ beschreibt diese in hoher Lage ein ausdrucksstarkes, mit einer harmonischen Rückung verbundenes bogenförmiges Melisma.


    Die melodische Linie auf dem Vers „ich lasse dann die reine Hülle“ ist zunächst fallend angelegt und in Moll harmonisiert. Bei den Worten „die reine Hülle“ macht sie jedoch erstmals eine größere Sprungbewegung (im Intervall eine Quinte) zu einem hohen „fis“ hin. Beim letzten Vers der Strophe bewegt sie sich dann aber, als wolle sie ihre gerade erreichte Expressivität wieder zurücknehmen, in zweifach bogenförmiger Bewegung in mittlere Lage herab und erreicht am Ende die in H-Dur harmonisierte Tonika. Gürtel und Kranz sind zurückgelassen und die Strophe ist musikalisch abgeschlossen.


    In den beiden folgenden Strophen wiederholen sich die melodischen Bewegungen in weitgehend identischer Form. Interessant und aufschlussreich sind allerdings die jeweiligen Varianten. Sie finden sich am Ende des Liedes. Bei den Worten „Doch fühlt´ ich tiefen Schmerz genung“ steigt die melodische Linie zwar zunächst genauso an wie in der zweiten Strophe, bei dem Melisma aber schleicht sich unerwartet ein gleichsam leiterfremdes „f“ in die melodische Linie. Im Zusammenhang mit der an dieser Stelle in das Lied wieder eintretenden Moll-Harmonisierung kommt das lyrische Wort „Schmerz“ in seiner Semantik musikalisch voll zum Ausdruck.


    Und dann ist da noch die melodische Linie auf dem letzten Vers. Er begegnet einem ja gleichsam als Kulmination der visionären Bilder, die Mignon in den Versen davor lyrisch artikulierte. Schubert setzt ihn in einer Weise melodisch um, die zwar musikalische Emphase entfaltet, freilich aber eine, die gedämpft wirkt, - ganz dem Wesen Mignons, wie er es sieht, entsprechend. Und er setzt dabei – sparsam! - auch das Mittel der Wortwiederholung ein: „Macht mich auf ewig, auf ewig wieder jung.“ Die melodische Linie steigt zunächst in kleinen Sekunden an, gipfelt bei dem Wort „ewig“ mit einem auf einem hohen „fis“ ansetzenden Terzfall auf, bewegt sich danach zu dem Grundton herab, auf dem das zweite „ewig“ dann deklamiert wird. Und mit einer kleinen melodischen Bogenbewegung, die gerade mal eine Terz übergreift, kehrt die Vokallinie beim letzten Wort „jung“ wieder zum Grundton zurück, - von einem reinen H-Dur-Akkord begleitet und akzentuiert.


    Die melodische Linie hat ihr wunderbar harmonisches Ende gefunden. Und wie zur Bestätigung vollzieht das Klavier im Nachspiel ihre letzten Schritte in akkordischer Form nach.

  • Vielen Dank für diesen wunderbaren thread, den ich erst jetzt entdeckt habe, lieber Helmut! Dein Hinweis, dass sich diese Lyrik „durch die Verdichtung und Reduktion eines hohen emotionalen Erlebnispotentials auf gleichsam elementare Sprachlichkeit und Metaphorik“ auszeichne, finde ich sehr treffend.
    Ergänzen möchte ich vielleicht noch, dass gerade die frühe Lyrik Goethes mit das Persönlichste ist, was er überhaupt geschrieben habt, insofern staune ich doch, dass gerade diese innerste Gefühlswelt eines ANDEREN Schubert so sehr angeregt hat, seine EIGENE STIMME zu finden und ihm musikalisch Ausdruck zu verleihen.


    Soweit ich sehe, hast Du hier nur ein Mignon-Lied besprochen. Oder habe ich D. 877 übersehen (Nur wer die Sehnsucht kennt)? Das würde mich sehr interessieren.


    Viele Grüße, Christian

  • Soweit ich sehe, hast Du hier nur ein Mignon-Lied besprochen. Oder habe ich D.877 übersehen (Nur wer die Sehnsucht kennt)? Das würde mich sehr interessieren.

    Ja, das ist richtig, lieber Christian, und es hat einen Grund.

    Ich hatte damals vor, dem Thema "Mignon" einen eigenen Thread zu widmen. Daraus wurde aber nichts.

    Nun bringst Du mich auf den Gedanken, dass ich das vielleicht nachholen sollte, oder vielleicht einfach diesen Thread diesbezüglich ergänzen. Das könnte aber einige Zeit dauern, denn ich bereite zurzeit einen anderen Thread vor und muss das erst zu Ende bringen. Flickschusterei mag ich überhaupt nicht.

  • Es würde mich freuen, wenn Du die Mignon-Lieder hier im thread zu einem späteren Zeitpunkt noch besprichst und ich würde mich auch daran zu beteiligen versuchen, zumindest was die Vorlagen betrifft!