Beethoven: Klaviersonate in C-dur Nr.21 op.53 "Waldstein" - CD-Rezensionen und Vergleiche (2013)

  • Herzlichen Dank für deine ausführliche Antwort, werter Holger.

    Du zeigst mir Dinge auf, die ich bisher nicht kannte und die ich als Anregung gerne annehme.

    Wenn mir so toll geantwortet wird, erfüllt mich das schon mit etwas Stolz, vor allen Dingen, das man in einem so hochwertigen Forum von der Schwarz-Weiß Malerei weg kommt.

    Mit Hochachtung

    Thomas

  • Du zeigst mir Dinge auf, die ich bisher nicht kannte und die ich als Anregung gerne annehme.

    Wenn mir so toll geantwortet wird, erfüllt mich das schon mit etwas Stolz, vor allen Dingen, das man in einem so hochwertigen Forum von der Schwarz-Weiß Malerei weg kommt.

    Lieber Thomas,


    herzlichen Dank für die Blumen! So sollte es sein in einem "hochwertigen Forum" - in der Tat! :) Deshalb werde motiviert durch diese lebhafte Diskussion hier einen - diesmal nicht so langen - Kolumnenartikel zu Interpretationsproblemen der Waldsteinsonate einstellen und einige Dinge mal grundsätzlicher beleuchten. Das wird aber noch 2-3 Tage dauern. :) :hello:


    Liebe Grüße

    Holger

  • Nachtrag zu Lisitsas Waldsteinsonate – oder über die Notwendigkeit, Verrisse zu schreiben.

    mich lässt Lisitsas Waldseinsonate völlig kalt. Das ist technisch perfekt runtergespielt - aber leider - das ist einfach kein Beethoven. Und diese Sonate ist ja eine besondere. Kein dämonischer Spielwitz, keine Beethovensche Aufmüpfigkeit, die durchbricht, kein den Hörer hinreißender Schönheits-Zauber! Unglaublich, wie sie es schafft, den traumhaften Übergang vom langsamen Satz zum Rondothema einfach kaputt zu machen durch ein völlig deplaziertes Crescendo! Die Melodie entsteht so nicht quasi aus dem Nichts. Das ist banal - zudem ist das alles andere als klangschön, kein singender Ton. Da ist der ganze betörende Zauber dieser Melodie einfach weg - heraus kommt schnöde Prosa statt Poesie. Die komischen Rubatos im langsamen Satz haben nichts mit Beethovenscher Klassik zu tun. Und das Seitenthema im Kopfsatz mit einem eigenartigen, völlig unorganischen Rubato ist misslungen. Nein, nur mit Fingerfertigkeit kann man die Waldsteinsonate nicht bewältigen. Was Lisitsa da macht, ist einfach grenzenlose Naivität. Wie anders ist das bei Emil Gilels in Seattle. Das ist eine musikalische Explosion in jeder Hinsicht! Gilels überragendes Spiel zeigt Valentina Lisitsa ihre Grenzen auf - da wird sie schlicht und einfach an die Wand gespielt!


    Ooooh! Aus einer launigen Laune heraus habe ich mir erlaubt, an einem schönen Abend diese Zeilen hinzuschmeißen. Böse, böse, ausgerechnet beim Youtube-Liebling Lisitsa! War das nötig? Natürlich kam der Protest. Selber schuld – wenn man sich einer Laune hingibt, sage ich zu mir. Aber werden wir mal ein bisschen ernst. Solche Endlos-Threads wie die der Beethoven-Sonaten haben die Schwäche, zur Erstarrung zu neigen. Spätestens nach der 50., der 75. oder der 97,55ten Besprechung versiegt doch die Begeisterung allmählich im trägen Strom der Ermüdung. Ich lese ja Willis Beiträge sehr gerne - aber bei dieser Gelegenheit erlaube ich mir doch einmal ein paar kritische Bemerkungen. Ich bin immer dafür, dass jeder seinen persönlichen Stil finden soll, wie er über Musik schreibt – was wahrlich nicht einfach ist, denn wir versuchen damit die Quadratur des Kreises, etwas im Grunde Unsagbares in Worte zu fassen. Nur meine ich, lieber Willi, Du solltest vielleicht ein bisschen an Deine Leser denken. Ich bekam einmal eine Mail, wo Jemand mir schrieb, er könne mit diesen Beethoven-Threads wenig anfangen, weil es gäbe ellenlange Besprechungen, die vom sprichwörtlichen Hölzchen aufs Stöckchen kommen und er wisse dabei nicht mehr, worum es eigentlich geht. Hand aufs Herz, Willi, wärest Du in der Lage, in zwei kurzen Sätzen anzugeben, was das „Großartige“ an Lisitsas Interpretation sein soll? Ich glaube, damit hättest Du doch einige Schwierigkeiten. Ich sage das jetzt nicht, um Dich irgendwie zu beleidigen, sondern deshalb, damit Du vielleicht an Deinem „Stil“ etwas arbeitest. Was mir fehlt – und dafür ist Deine Lisitsa-Besprechung signifikant – sind die Maßstäbe. Ein Interpretationsvergleich braucht doch Kriterien: Wo liegen die „Knackpunkte“ für die Interpretation? Welche grundlegenden Probleme gibt es? Welche Lösungen bieten die Interpreten an? Und weiter: Welche Vorbilder gibt es? Welche Interpretationsansätze kristallisieren sich heraus? Krystian Zimerman bekannte einmal angesichts seiner Aufnahme von Liszts H-moll-Sonate, dass er lange gebraucht habe, um sich vom Vorbild Horowitz zu lösen. Bei Lisitsa versteht man doch vieles besser, wenn man nachvollzieht, dass sie ganz offenbar Anleihen bei Horowitz gemacht hat. Und sind Sätze wie „Interpret X spielt ein bisschen schneller als Interpret Y, und Interpret Z ist noch einen Tick langsamer…“ denn unbedingt nötig? Was sagt uns das? Ich würde so etwas nur dann erwähnen, wenn daraus ersichtlich ist, was das für den Interpretationsansatz bedeutet.


    Kommen wir also zur Sache. Mein launiger Verriss hat mich natürlich beschäftigt und so wollte ich der Sache auf den Grund zu gehen. Was lese ich nun in Joachim Kaisers bekanntem Buch? Ein gewisser Richard Wagner, eigentlich ein Beethoven-Begeisterter, der immerhin eine Beethoven-Novelle schrieb, urteilte über das Thema der Waldsteinsonate, es sei „kalt und steif“ und setzte noch die Pointe drauf: „Ich kann kalte Musik nicht ausstehen!“ So ein Erlebnis hatte ich vorgestern Abend auch – keine Angst, nicht mit Lisitsa! Etwas übermüdet haute ich mich auf die Couch und hörte Walter Gieseking – bei historischem Mono geht das in der bequemen horizontalen Hörposition. Was für eine Pianistik! Giesekings göttlich-leichter Anschlag, seine Mühelosigkeit, erlaubt es, Beethovens Metronomzahlen umzusetzen und eben nicht den Kopfsatz brutalisierend motorisch herunterzustampfen. Schön ist ja, wenn der von „brutalen Pianistenhänden“ gehörig genervte Joachim Kaiser meint, man könne bei so vielen bedenkenlosen Virtuosen zu Beginn des Kopfsatzes meinen, dass „eine Büffelherde sich furchterregend nähere“. Beethovens notiertes Pianissimo (pp) wird auf diese Weise sozusagen totgetrampelt durch „enervierendes Büffelgetrampel“. Nein, die Büffelherde donnert bei Giesekings dahinhuschender, göttlicher Anschlags-Leichtigkeit nicht vorbei – auch nicht in dem im kaum glaublichen Höllentempo vorgetragenen Rondo-Finale. Aber trotzdem, man wird den Eindruck nicht los, dass es sich bei der Waldsteinsonate so übervirtuos zelebriert um genau das handelt, was Kaiser betont, was sie nicht sein sollte, eine lediglich „aufgeblähte Etüde“ nämlich, wenn auch durch die erhabene Kultur der Ausnahmepianistik eines Jahrhundertpianisten wie Walter Gieseking veredelt. Der begnadete Mozart-Pianist Gieseking spielt das natürlich nicht steif – aber dieses Virtuosenfeuerwerk lässt einen doch irgendwie kalt. Zudem ist der Introduzione-Satz bei Gieseking viel zu massiv und satt im Ton, völlig ohne Geheimnis. Nein, der Weisheit letzter Schluss in Sachen Beethoven-Interpretation ist Giesekings Aufnahme nicht. Es reicht offenbar nicht, die Waldsteinsonate als Virtuosenstück zu präsentieren, lediglich im klassischen Gewand schön geschmackvoll verkleidet. So bekommt Wagner doch irgendwie Recht: Es entsteht kein wirkliches „Leben“ in dieser Musik und keine klingende Poesie.


    Fragen wir etwas grundsätzlicher: Was macht also die Pianistenzunft mit der Motorik dieses Allegro con brio, um die Büffelherde fern zu halten? Das Problem ist das von Beethoven vorgeschriebene Pianissimo, was sich im Toccata-Stil motorisiert einfach nicht realisieren lässt. Da spielt die Klaviermechanik den Vorstellungen des Komponisten leider einen Streich. Der romantisierende Vortragsstil löst dieses Problem nun durch die romantische Anlage des Stücks – die Betonung des Klanglich-Geräuschhaften gegenüber dem Thematischen in diesem Sonatensatz, den Uhdes Analyse ausdrücklich hervorhebt und der nicht zuletzt die Beliebtheit gerade dieser Sonate in der Romantik erklärt. Der Hauptthemenkomplex wird, bevor er über eine Überleitung ins Seitenthema mündet, wiederholt. Kempf, Barenboim usw. wechseln bei solchen Wiederholungen die Klangfarbe, arbeiten also mit Umbeleuchtungen Desselben und erzeugen damit eine romantische Atmosphäre, damit der Eindruck des monotonen Gehämmerten im Toccata-Stil gar nicht erst entsteht. Und wie macht es Lisitsa? Man kommt ihr schließlich ganz einfach auf die Schliche. Als Sprössling der russischen Pianistenschule hat sie nämlich schlicht Horowitz verinnerlicht.


    Gehen wir also kurz auf Horowitz ein. Horowitz wechselte Anfang der 60iger Jahre die Plattenfirma, ging von RCA zu CBS. Der Grund war, dass er den Ruf des ungezähmten Virtuosen unbedingt loswerden wollte, sich weigerte, die von RCA angebotenen Virtuosenprogramme aufzunehmen. Er wollte endlich als seriöser Interpret wahrgenommen werden. Zeugnisse von diesem Wandel bei Horowitz geben insbesondere die Aufnahmen von Chopins Trauermarschsonate und eben auch der Waldsteinsonate, wo man glauben könnte, da spielt jeweils ein ganz anderer Pianist. In den RCA-Aufnahmen scheut sich Horowitz nicht vor rücksichtsloser Subjektivierung. Aber genau das fasziniert von heute aus gerade an Horowitz´ Beethoven. Das Fegefeuer der Neuen Sachlichkeit von Gulda und Co. ist doch ein wenig verloschen. Selbst ein Maurizio Pollini, der in diesem Klima des neusachlich ernüchterten, um „Objektivität“ bemühten Vortragsstils sozialisiert wurde, unterdrückt altersweise die Subjektivität nicht mehr, sondern spielt sie offen aus, wie in seiner letzten Aufnahme der späten Klaviersonaten op. 109, op. 110 und op. 111. In der 1956iger Aufnahme ist Horowitz motorisch, die Bassakkorde hämmern wie bei einer Toccata – aber nicht etwa Kaisers Büffelherde dröhnt vorbei! Das liegt einmal an Horowitz´ von Beethovens Metronom-Zahl abweichend eher bedächtig-nachdrücklich pulsierendem Tempo, aber vor allem an seiner geradezu bestürzenden Subjektivität. Horowitz lädt die thematischen Motive energetisch auf mit einer subjektiven Willensgeste, so, als kommentiere der unwirsche Beethoven mit seiner Wut, seiner ganzen trotzigen Willensenergie sich auflehnend gleichsam das „Schicksal“ unaufhaltsam vorwärtsrollender Akkordrepititionen. Das ist einfach bestürzend expressiv – und nicht vielleicht Beethoven doch näher als alle neusachliche Nüchternheit, fragt man sich? In der späteren CBS-Aufnahme bemüht sich Horowitz sichtlich, die Extreme zu meiden, schafft klassische Ausgewogenheit. Zu Beginn werden die Bassakkorde entmotorisiert und ins Pedal getaucht und in der Wiederholung dann – in der romantisierenden Spielart des Farbenwechsels in der Wiederholungs-Variante – die Repititionen um so trocken-bohrender rhythmisierend gestaltet. Die subjektive Ausdrucksgebärde der thematischen Substanz ist auch in der CBS-Aufnahme noch da – aber nicht unerheblich „Klassik“-verträglich gemäßigt. Was macht nun Lisitsa? Sie übernimmt die Idee der CBS-Aufnahme und spielt die Repititionen im Bass in der Wiederholung des Hauptthemenkomplexes in Horowitz-Manier knorrig und staubtrocken. Beim ersten Auftauchen aber hält sie sich an die Motorik der RCA-Aufnahme. Schon bei diesem Eklektizismus fragt man sich: Bleibt da nicht das sowohl in der älteren als auch neueren Horowitz-Aufnahme klar erkennbare, so unterschiedliche interpretatorische Konzept nivellierend auf der Strecke? Vor allem aber hält sich Lisitsa ganz artig an das, was man an den Hochschulen heute eingebläut bekommt: Beethoven ja nicht subjektivistisch auszukosten, sondern „objektiv“ spielen. Der „Stachel“ im Fleisch der Neuen Sachlichkeit, der in den beiden faszinierend-exzentrischen Horowitz-Aufnahmen steckt, er wird damit bei Lisitsa gezogen. Das ist eine Horowitz-Imitation, vorgetragen von einer gut erzogenen Dame, die bürgerlich-artig Klavier spielen gelernt hat, und deshalb natürlich Horowitz´ „schlechte Manieren“ nicht übernimmt. Genau damit aber wird Lisitsas Horowitz-Imitation harmlos und belanglos – und der Gipfel der Belanglosigkeit ist schließlich Lisitsas dramaturgisch misslungene Gestaltung des Seitenthemas. Doch darauf kommen wir später.


    Zunächst lohnt es sich auf die Analyse von Jürgen Uhde einzugehen, weil sie der seltene Fall ist, wo Formanalyse und Sinnverständnis konvergieren. In den französischen Editionen wurde der Waldstein-Sonate der Titel L´aurore, „Die Morgenröte“, beigelegt. Uhde interpretiert dies nun nicht wie üblich im tonmalerischen Sinne des Hinweises auf die Stimmung des Tonstücks, sondern versteht von daher die Idee der Sonate, die sich von der Zeitstruktur her erschließt. Die Morgenröte als Zeitsinn betrachtet bedeutet „Anbruch“ und „Aufbruch“. Entsprechend deutet Uhde den 1. Satz mit Ernst Bloch als „auf die Zukunft treibend bezogen“. Dieser offenen Zeitlichkeit eines unaufhaltsamen Vorwärtsdrängens komplementär ist die Zeitstruktur des Rondo-Finales, indem es versucht, den „glorreichen Augenblick“ (so der Titel einer Beethoven-Kantate“) festzuhalten, indem das sich ausleben wollende „schöne“ Rondothema sein „glorreiches“ Erscheinen zu behaupten sucht, sich in hartnäckigen Wiederholungen „sich gegen sein Vergehen sträubt und ihn immer und immer reproduziert, als könne damit der Vergänglichkeit Einhalt geboten werden“. „Musik rebelliert gegen das Verfließen der Zeit; es gibt hier kein >Nachleuchten< des großen Moments, sondern nur den Versuch, ihn zu übersteigern; am deutlichsten wird das im Schluß-Prestissimo.“ Natürlich – kann man Uhde ergänzen – ist gerade das Rondo-Finale sehr dynamisch. Doch das Vorwärtsdrängen ist deshalb so ausgelassen-euphorisch, weil es eben – im Unterschied zum Kopfsatz – um sein Ziel stets weiß, dass alle Bewegung im Ritornell des „glorreichen Augenblicks“ des schön-singenden Rondo-Themas mündet.


    Vor allem aber gelingt es Uhde sehr schlüssig zu zeigen, warum Beethoven das eigentlich als langsamen Satz für die Sonate vorgesehene Andante favori ausgelassen hat. Die Zeitstruktur des „Aufbruchs“ und „Anbruchs“ prägt gerade diesen Satz, weil er nichts anders ausdrückt als eine Zukunftserwartung: die des „glorreichen Augenblicks“ in Gestalt des „Subito“-Eintritts des Rondothemas. Für die Besinnlichkeit eines langsamen Satzes ist damit – so Uhde – einfach „keine Zeit“. Es ist nun bemerkenswert, dass Joachim Kaiser die Funktion des Introduzione-Satzes ganz genauso sieht wie Jürgen Uhde und Pianisten dafür tadelt, wenn sie so tun wollen, als müssten sie durch eine Zerdehnung das fehlende Andante favori quasi ersetzen: „Beim Adagio molto hängt alles davon ab, ob es gelingen kann, trotz extrem langsamem Tempo und reichlichem Pedalgebrauch im Hörer eine vollkommen klare Vorstellung der rhythmischen Gegebenheiten herzustellen. Wie der Kopfsatz – mit einer Ausnahme! – kein ritardando gestattete, so zerstört klebriges Rubato hier die auskomponierte Hauptsache. Zu Beginn der >Introduzione< ist Warten auf folgende Weise zwingend Gestalt geworden (…). Auch für Kaiser ist der „Vorbereitungscharakter“ des Introduzione-Satzes der entscheidende.


    Lisitsa spielt diesen Satz nun so, als wolle sie genau dafür das exemplarische Beispiel geben, wovor Kaiser so eindringlich warnt: Durch ihr „klebriges Rubato“ wird die „klare Vorstellung der rhythmischen Gegebenheiten“ nahezu vollständig zerstört und damit jegliche Sukzession, die das Essentielle, den „Vorbereitungscharakter“ des Introduzione-Satzes, zum Ausdruck bringt. Jeder Klavierlehrer würde – wäre Lisitsa kein „Star“, sondern eine gewöhnliche Klavierschülerin – ihr das Metronom hinstellen und sagen: „Lerne erst einmal richtig zählen!“ Lisitsa spielt nicht nur rhythmisch ungenau, es gibt zudem dermaßen blödsinnige Temposchwankungen, die den Satz in lauter Einzelteile auseinanderfallen lassen und die klare Sukzession zerstören. Wie man es machen sollte, zeigt z.B. Maurizio Pollini in seinem wirklich großartig zu nennenden 1997iger Konzertmitschnitt, der sehr genau Uhdes Auslegung quasi „bewährt“ und die Warnungen Joachim Kaisers aufs Wort zu befolgen scheint. Man kann hier das Bonmot von Roman Ingarden aufnehmen, der einmal von der Intentionalität einer „bewusst vorbereiteten Überraschung“ spricht. Das Rondo-Thema soll ja „subito“, also überraschend, eintreten. Der Introduzione-Satz schafft „Bereitschaft für das Kommende“ (Uhde), aber genau nicht (!) damit, dass er auf das Ziel des Rondothemas irgendwie aktiv hindrängen würde. Pollini macht das wunderbar klar: Die „Sehnsucht“ schwingt sich in einer Welle des Auf- und Abschwungs drängend auf zu einem dynamischen Höhepunkt, ein dynamischer Aufbau in die Höhe im Aufbruchsgestus, bevor der Sehnsuchtsausbruch gleichsam in sich zusammenfallend verebbend in unbestimmter Tiefe versinkt. Das auf das Anschwellen folgende Abschwellen, der Rückgang ins Leise, ist es nun gerade, der die überraschende Wirkung des Eintritts des Rondo-Themas zum Ende hin ermöglicht, die eben nicht in einer aktiven Vorbereitung besteht, sondern der passiven „Bereitschaft“ für das Kommende – klanglich greifbar damit, dass im Verklingenden ein einzelner hervorgehobener Schlusston im Diskant zum „Signal“ wird für irgendein Kommendes. Lisitsa baut nun ein Crescendo ein zu diesem Zielton hin und damit quasi eine Strebenstendenz, die das Ziel als die Erfüllung einer aktiven Erwartung erscheinen lässt und auf diese Weise die „Subito“-Wirkung zerstört: Aus dem Überraschenden wird so eine simple Fortspinnung im Sinne des Sukzessiv-Anschließenden – die Magie des „glorreichen Augenblicks“, das Erscheinen des Rondo-Themas „wie aus dem Nichts“, ist damit futsch. Ich kenne keine andere Aufnahme, die es schafft, mit einem solchen eigentlich kaum fassbaren Dilettantismus den doch klaren musikalischen Sinn des Introduzione-Satzes so gründlich kaputt zu machen. Man möchte der Pianistin einfach nur empfehlen: Bitte, Frau Lisitsa, bedenken Sie doch, Beethoven ist kein Rachmaninow!


    Der Eintritt des 2. Themas im Allegro con brio-Kopfsatz hat nun etwas dem „Subito“-Einsatz des Rondothemas Vergleichbares. Auch dieser ist so etwas wie ein „glorreicher Augenblick“, was die Analysen von Jürgen Uhde und Joachim Kaiser wiederum übereinstimmend hervorheben. Musikhermeneutisch lässt sich das so deuten, dass der „Aufbruch“ im Kopfsatz ins Unbestimmt-Offene geht, die Bewegung dem musikalischen Subjekt also gleichsam wegläuft, indem er – anders als im Rondo-Finale – kein Ziel hat. So wird das Erscheinen des Seitenthemas zu einer Art Einbruch und Durchbruch, einem glorreichen Moment, in dem das fatale Rad der Zeit für einen Augenblick festgehalten wird. Durch das melodische Seitenthema wird das Amelodische der unaufhörlich vorwärtsrollenden motorischen Bewegung unterbrochen und damit – mit Friedrich Schiller gesprochen – die Zeit in der Zeit aufgehoben durch ein empfindsames Schwelgen im Augenblick. Belegen lässt sich das durch das Ereignis des Harmoniewechsels – die harmonische Anlage ist wie schon erwähnt für diesen Satz von besonderer Bedeutung. Uhde berichtet hier offenbar von sich selbst: „Vielleicht müsste man sich daran erinnern, wie man, 13-14jährig, zum ersten Mal – vielleicht beim Zuhören während einer Klavierstunde – von diesem E-Dur überfallen wurde, wie man plötzlich etwas Glühendes verspürte (Beethoven verwendet bekanntlich einmal die Metapher >Feuer<), eine verzehrende Intensität.“ Kaiser beschreibt dieses „Durchbruchserlebnis“ bei seiner Besprechung von Rubinstein Interpretation: „Rubinstein hebt das Fremde (nicht Befremdende) der Harmonisierung so deutlich hervor.“ Uhde und Kaiser hätten hier auf Gustav Mahler verweisen können, der von der Durchbruchspassage zum Ende des 1. Satzes seiner 1. Symphonie schreibt, der Dur-Akkord müsse dort klingen „wie vom Himmel gefallen“, herkommend „aus einer anderen Welt“. Kaiser weist auf das Choralidiom hin und die Tatsache, dass Beethoven das Seitenthema einmal sogar kirchentonartig äolisch harmonisiert, es also damit einen gleichsam „außerweltlichen“ Fremdkörper des Sakralen in einem doch sehr „weltlichen“ Virtuosensatz verkörpert. Bewundern kann man hier Wilhelm Kempff, wie er den Eintritt des E-Dur-Seitenthemas zum Durchbruchsereignis werden lässt. Kempff lässt nämlich in der vorhergehenden Überleitung den musikalischen Strom gewissermaßen stocken, indem er ihn „sprechend“ macht als eine rhetorische Geste des Aufbegehrens, des Ausbruchs von Wut und Trotz: Beethovens Akzente werden zu lauter holprigen Stacheln und damit widerborstigen „Stoppern“ der glattlaufenden Motorik. In diese gestoppte musikalische Zeit bricht dann das betörend fließende Melos des Seitenthemas wie ein kleines Wunder herein. Man sollte einmal den Versuch machen, dieses Es-Dur Seitenthema zu singen: Der Stimmgesang ist immer legato (!): Was für eine schöne, wunderbar singbare Legato-Linie hat Beethoven da doch komponiert!


    Genau dieses Durchbruchs-Wunder des Es-Dur Seitenthemas erscheint nun bei Lisitsa zur Belanglosigkeit nivelliert. Merkwürdig ist bei ihr die Legato-Linie schlicht verschwunden, und die Phrase zerbricht in eine Folge klobiger Akkordblöcke. So kann und würde das weiß Gott kein Mensch jemals singen! Zudem passiert die eigentliche Nivellierung vorher: Die Überleitung nimmt Lisitsa, ihr die Akzent-Stacheln ziehend, anmutig flüssig, so dass die musikalische Bewegung in das Seitenthema gleichsam hereinfällt und somit statt eines Bruchs und Ereignisses des Betörend-Fremden eine ganz gewöhnlich-unauffällige Kontinuität der Themenfolge entsteht: Warum Lisitsa hier scheitert, wird einmal mehr damit klar, dass Sie sich wiederum bei einer Horowitz-Idee bedient, deren dramaturgischen Sinn sie jedoch schlicht nicht verstanden hat. Horowitz nimmt diese Überleitung mit einer Mozartschen Unschuld und Leichtigkeit. Doch welche grandiose und wirklich formverständige musikalische Intuition steckt dahinter! Bei Horowitz wird diese Überleitung nämlich zu einer Art vermittelnden Mitte zwischen dem Amelodischen des pochenden, motorischen Hauptthemas und der Melodik des Seitenthemas. In der Überleitung entspannt sich die stampfende Toccata des Hauptthemas, wird lieblich entkrampft, und bereitet damit das melodieselige Schwelgen des Seitenthemas vor. Das wiederum kann Horowitz, der Meister des Melodie-Legatos, wirklich betörend sinnlich vortragen! Nichts von dieser Horowitz-Magie ist bei Lisitsa übriggeblieben: Das Liedthema in seiner ganzen Unsinnlichkeit holpert und stolpert, bildet also überhaupt keinen wirklichen Kontrast zur motorischen Bewegung des Hauptthemenkomplexen, kann sich also als ein eigenständiger Charakter gar nicht behaupten.


    Sucht man nach einer Parallele zu Lisitsas Holterdipolter, dann wird man am ehesten bei Claudio Arrau fündig. Arrau spannt mit seinem Expressivo die Melodik des Es-Dur-Liedthemas bis zum Bersten an, so dass die Melodielinie fast auseinanderbricht in einzelne Blöcke – Schreie, möchte man fast sagen. Doch gerade hier zeigt sich, wie unendlich weit eine Valentina Lisitsa vom Sachverstand der großen Beethoven-Interpreten entfernt ist. Arrau kann es sich nämlich leisten, das Melodie-Seitenthema hochexpressiv aufladend zu zerstückeln. Sein Interpretationsansatz ist nämlich, die stampfende Büffelherde der Toccata-Hämmerei des Sonatensatzallegros auf Distanz zu halten durch seine Auslegung des „con brio“ im Sinne pathetischer Gewichtigkeit. Er rückt die Waldsteinsonate in die Nähe der „Pathetique“. Arrau „schlägt“ die Tonrepititionen folglich nicht in die Tasten, er spielt sie gebunden, quasi-legato wie schwere Tropfen. Damit kehrt sich der Kontrast Non-Legato – Legato zwischen Haupt- und Seitenthema einfach um: Weil Arrau die Motorik eliminiert, ändert die musikalische Logik dieser Exposition ihre Vorzeichen: Das Seitenthema wird mit seinem Expressivo zum „glorreichen Augenblick“, indem es die gebundene Linie des Hauptthemenkomplexes aufreißt: auf ein Quasi-Legato folgt kontrastierend ein Quasi-Non-Legato. Lisitsa hätte also, um es „richtig“ zu machen, entweder an Horowitz anknüpfend das Es-Dur-Thema legato aussingen oder aber Arraus Idee übernehmend dem Hauptthema seine Motorik nehmen müssen. Dass sie weder das Eine noch das Andere tut, zeigt eigentlich nur eins: Was ihr schlicht fehlt, ist ein schlüssiges interpretatorisches Konzept – mangels eines wirklichen Verständnisses des musikalischen Sinnes dieser Beethoven-Sonate.


    Zum Schluss seines Kapitels über die Waldstein-Sonate schreibt Joachim Kaiser: „Eine vollendete Darstellung der Waldsteinsonate gibt es nicht. Vielleicht kann es sie gar nicht geben. Vielleicht läßt sich der klassische Ausgleich der Waldstein-Spannungen nur erahnen, nicht erspielen.“ Genau deshalb aber, weil die Interpretation der Waldstein-Sonate so etwas wie die berühmte Quadratur des Kreises darstellt, das nicht Auszugleichende ausgleichen zu müssen – was eigentlich das Grunddilemma ist, für das Beethovens Musik eine Lösung sucht: das Unklassische des die Formen zertrümmern wollenden Ausdruckswillens formklassisch auszugleichen – ist er dazu gezwungen, sich zu positionieren durch die Betonung einer dieser Pole. Und dies geschieht bei den wirklich „großartigen“ Interpretationen auf polarisierende und dabei zwangsläufig riskante Weise möglichen niveauvollen Scheiterns: Arrau schafft diesen Ausgleich, indem er das Feuer des Satzes ins Schwerblütig-Pathetische verwandelt. Maurizio Pollini und Emil Gilels in Seattle verlegen den Beethovenschen „Willen“, der bei Horowitz äußerliche, rhetorische Geste bleibt, in das Formgeschehen selber, indem sie die Motorik von innen heraus mit leidenschaftlichem Drang durchglühen. Der Gilels der Studioaufnahme schafft diesen Ausgleich durch die Selbstzensur des Ausdrucksmusikers: Meister Gilels versucht hier ein Klassizitätsideal zu verwirklichen, die „tönend-bewegte Form“ als ein autonomes Musikalisch-Schönes aus sich selber sprechen zu lassen. Bezeichnend verzichtet sein Klassizismus auf die romantisierenden Umbeleuchtungen des Hauptthemenkomplexes, spielt sie genau gleich, wie es auch notiert ist im Notentext. Doch nur scheinbar ist das eine Reduktion. Denn Gilels mit seinem überragenden Formsinn entdeckt bei Beethoven eine Bruckner vorausahnende Wellendynamik: Die Wiederholung der Formulierung des Hauptthemas wird zum Zusteuern auf einen gemeinsamen zweiten Höhepunkt – im Übersteig eines Zwischengipfels zur dynamischen Bergspitze. Dabei ist es pianistische Meisterschaft, wie er die Motorik gleichsam diskret im (Fast-)Pianissimo klassische Entspanntheit gibt. Pollini kann sie sogar tatsächlich zu einer Farbfläche werden lassen – ein klaviertechnisches Geheimnis, das, wie der Meister in einem Interview verrät, er dem Unterricht bei seinem Lehrmeister Arturo Benedetti Michelangeli verdankt.


    Und Lisitsa? Statt sich zu positionieren und zwischen der einen oder anderen Interpretationsidee scheitern könnend sich zu entscheiden, geht sie den scheinbar leichten Weg interpretatorischer Unentschiedenheit: Nach einer alles versammelnden Interpretations-„Idee“ wird gar nicht erst gesucht. Offenbar meint sie ganz unprätentiös sich bei ihrem verehrten Vorbild Horowitz wie in einem Ideen-Bausteinkasten bedienen und die Ideen-Klötzchen irgendwie zusammenfummeln zu können, mit dem Kitt von ein bisschen musikalischer Intuition und sich verlassend auf ihre überragende Fingerfertigkeit. Was bei diesem Eklektizismus heraus kommt, ist aber leider keine „großartige“ Interpretation, vielmehr das katastrophale Scheitern im Introduzione-Satz und ansonsten eine aus interpretatorischer Ratlosigkeit resultierende musikalische Belanglosgkeit.


    (Zum Schluss sei noch eine Kuriosität bei Joachim Kaiser erwähnt: Kaiser kennt Guiomar Novaes offenbar nur von der Schallplatte, denn er verwendet den falschen Artikel – hält die brasilianische Pianistin also für einen Mann! ^^)


    Schöne Grüße

    Holger

  • Werter Holger,

    ich habe mir deinen ganzen Beitrag durchgelesen und muss ihn einfach kommentieren:

    1. Du kritisierst Willi für seine langatmigen Besprechungen... ?!?

    2. Du hast deine ursprüngliche Missbilligung der Lisitsa Aufnahme durch Heranziehung von anderen Kritikern noch vertieft, darf ich davon ausgehen, das eine gewisse Voreingenommenheit, Vorbildung, Unbehagen dazu beigetragen hat?

    Es ist erwiesen, das Menschen dazu neigen, Meinungen zu suchen, die ihre eigene Vorstellung unterstützen...

    Und explizit nach Schwachstellen suchen...

    Man könnte ja meinen Lisitsa spiele einen völligen Mist herunter, du bezweifelst damit das Fachwissen deiner Vorschreiber, stößt sie vielleicht vor den Kopf, um welchen Preis?

    Recht haben?

    In der Musik?

    Mit einer Argumentation, die sich wieder mit dem Geist Beethovens auseinander setzt, ihm in den Kopf zu kriechen...

    Tolle Mühe, die du dir da gemacht hast, Respekt, aber ich bin jetzt genau so schlau wie vor deinem letzten Beitrag , du magst die Interpretation nicht.

    Es ist doch genau die Sache, die uns Klassikliebhabern immer vorgeworfen wird:

    Das ist alles zu Kopf gesteuert.

    Entspannte herzliche Grüße

    Thomas

  • Zitat von Dr. Holger Kaletha

    Ich bekam einmal eine Mail, wo Jemand mir schrieb, er könne mit diesen Beethoven-Threads wenig anfangen, weil es gäbe ellenlange Besprechungen, die vom sprichwörtlichen Hölzchen aufs Stöckchen kommen und er wisse dabei nicht mehr, worum es eigentlich geht. Hand aufs Herz, Willi, wärest Du in der Lage, in zwei kurzen Sätzen anzugeben, was das „Großartige“ an Lisitsas Interpretation sein soll?

    Lieber Holger,


    diesen Thread zur Waldsteinsonate habe ich ja nicht gegründet, sondern dies tat Alfred. Ich hätte dir sonst geantwortet, dass diese Threads dazu da sind, die Interpretationen von Beethovensonaten anhand von Partituren zu besprechen und zu vergleichen, und ein Laie wie ich kann das natürlich nicht in zwei Sätzen sagen. Ich brauche dazu die Partitur, um den Aufbau der Werke in etwa kennen zu lernen und zu beurteilen zu versuchen, wie Pianisten den aus der Partitur hervorgehenden Willen des Komponisten umgesetzt haben. Dazu brauche ich, wie ich im Laufe der Zeit festgestellt habe, mehr Worte als ein "professioneller Kritiker".

    Übrigens, deine aus einer "launigen Laune heraus" hingeworfenen Zeilen sind mit knapp 3600 Wörtern fast 2000 Wörter länger als meine letzte Besprechung über die Interpretation Valentina Lisitsas.


    Liebe Grüße


    Willi:)

    1. "Das Notwendigste, das Härteste und die Hauptsache in der Musik ist das Tempo". (Wolfgang Amadeus Mozart).
    2. "Es gibt nur ein Tempo, und das ist das richtige". (Wilhelm Furtwängler).

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  • So, ich habe jetzt gerade mal für mich ein Vergleichshören zweier hochrangiger Interpreten der Waldsteinsonate "angetan".

    Gehen wir doch mal davon aus, das Beethoven dieses Stakkato im ersten Satz zuerst eingefallen ist, mutig voran, diesen Einfall aber zu einem längeren Stück verarbeiten wollte. Was passt besser zu ihm, als es mit gegensätzlichen Melodien zu verbinden.

    Basta.

    Dazu noch ein ruhiges Mittelstück, aus der Hitze des Gefechtes ins ruhige Wasser, herrlich, Überleitung zu einem perfekten Finale, wieder mit einem einfach Einfall.

    Ich könnte keiner der beiden Interpretationen den Pianisten zuschreiben, warum auch?

    Beide spielen fantastisch, bringen mir Op.53 nahe, so das ich es immer wieder gerne höre.

    Und darauf kommt es mir an.

    Grüße

    Thomas


    P.S. jetzt wir leichter Pop nachgeschoben, die letzte CD von twenty one Pilots, toll was die beiden da auf die Beine gestellt haben.

  • ich habe mir deinen ganzen Beitrag durchgelesen und muss ihn einfach kommentieren:

    1. Du kritisierst Willi für seine langatmigen Besprechungen... ?!?

    Da hast Du mich falsch verstanden, lieber Thomas. Ich bin übrigens auch schon wegen meiner zu langen Beiträge kritisiert worden nach dem Motto: Beiträge, die länger als 20 Zeilen sind, lese ich nicht.

    2. Du hast deine ursprüngliche Missbilligung der Lisitsa Aufnahme durch Heranziehung von anderen Kritikern noch vertieft, darf ich davon ausgehen, das eine gewisse Voreingenommenheit, Vorbildung, Unbehagen dazu beigetragen hat?

    Ich weiß nicht, was eine gewisse Erfahrung und ein Urteilsvermögen in solchen Sachen mit Voreingenommenheit zu tun hat. Ist ein Weinprüfer, nur weil er einen guten von einem schlechten Wein unterscheiden kann, voreingenommen? Mir geht es auch gar nicht um Lisitsa, sondern darum, eine Diskussion um wirkliche Interpretationsfragen anzustoßen, die bisher noch gar nicht stattgefunden hat.

    Es ist erwiesen, das Menschen dazu neigen, Meinungen zu suchen, die ihre eigene Vorstellung unterstützen...

    Da sehe ich nicht, was das jetzt mit dem Thema zu tun hat.

    Man könnte ja meinen Lisitsa spiele einen völligen Mist herunter, du bezweifelst damit das Fachwissen deiner Vorschreiber, stößt sie vielleicht vor den Kopf, um welchen Preis?

    Ich bestreite erst einmal gar nichts, sondern teile eine bestimmte Einschätzung nicht. Und die Kindereien, wer wen vor den Kopf gestoßen haben mag, sollten wir doch lassen, oder? Ich könnte mich auch vor den Kopf gestoßen fühlen. Nochmals: Ein Thread über Interpretationsfragen ist dazu da, sich über solche Gedanken zu machen. Das kann und soll man schließlich gemeinsam tun. Das hat bisher bei dieser Sonate wie ich finde nicht wirklich stattgefunden.

    Recht haben?

    In der Musik?

    Nein, es geht um das Erkennen. Was ist denn die Idee von diesem Stück? Und wie wird die von den Interpreten verstanden?

    Mit einer Argumentation, die sich wieder mit dem Geist Beethovens auseinander setzt, ihm in den Kopf zu kriechen...

    Tolle Mühe, die du dir da gemacht hast, Respekt, aber ich bin jetzt genau so schlau wie vor deinem letzten Beitrag , du magst die Interpretation nicht.

    Dann hast Du nicht verstanden worum es geht. Welche Interpretation ich persönlich mag oder nicht mag, ist ganz unabhängig von meinem Urteil über die interpretatorische Qualität. So liegt mir die Art, wie Claudio Arrau die Sonate interpretiert, eher weniger. Das ändert aber nichts daran, dass ich Arraus Interpretation für eine der absolut bedeutendsten halte.

    Es ist doch genau die Sache, die uns Klassikliebhabern immer vorgeworfen wird:

    Das ist alles zu Kopf gesteuert.

    Beethoven ist aber ein Kopf gesteuerter Komponist, so ist das nunmal. ^^

    Gehen wir doch mal davon aus, das Beethoven dieses Stakkato im ersten Satz zuerst eingefallen ist, mutig voran, diesen Einfall aber zu einem längeren Stück verarbeiten wollte. Was passt besser zu ihm, als es mit gegensätzlichen Melodien zu verbinden.

    Basta.

    Beethoven hat aber gar kein Staccato notiert. So ist das nunmal. Da steht Pianissimo. Und der erste Ansatz des Hauptthemenkomplexes endet mit einem Decrescendo und im Piano. Danach soll das Hauptthema aber Pianissimo einsetzen, also nochmals deutlich leiser. Wie soll das im Staccato gehen? Alle, die Staccato spielen, spielen da mindestens Mezzopiano oder sogar Mezzoforte. Was ist also der Notentext für Dich wert?


    Schöne Grüße

    Holger

  • Beethoven ist aber ein Kopf gesteuerter Komponist, so ist das nunmal. ^^

    "So ist das nun mal"?

    Einer solchen Einschätzung hätte vermutlich sogar ein Schönberg widersprochen, bei dem sie halbwegs angebracht wäre.

    Ein Beethoven hätte wüsten - wie das seine so ganz emotional gesteuerte Art war - Protest dagegen erhoben.

    Mit Verlaub:

    Beethovens Musik ist rational reflektiert, wie die eines jeglichen großen Komponisten. "Vom Kopf gesteuert" ist sie auf gar keinen Fall.

    Diese Frage wäre übrigens einen interessanten Thread wert.

  • Seltsam.


    Wenn ich Helmut Hofmanns Liedbesprechungen lese, habe ich als Laie mit natürlich langer Hörerfahrung das Gefühl, etwas an die Hand zu bekommen, was mich auf ganz anschauliche Weise anregt zu einem vielleicht zweiten, vielleicht dritten oder fünften Hören. Wenn es denn nicht das erste ist.


    Wenn ich den Beitrag 183 von Dr. Holger Kaletha lese, überkommt mich der Eindruck einer teilweise - natürlich nicht durchwegs - unglaublich gelehrt schillernden Seifenblase, die allein schon ein kleines und harmlos scheinendes Apercu - "So ist das nun mal" - zum Platzen bringen könnte.


    Der Eindruck großer Selbstgefälligkeit - William B.A. gegenüber - überkommt mich ohnehin. Und die Antwort auf Thomas Sternbergs ersten Kritikpunkt, dieser habe Dr. Kaletha nur falsch verstanden, bewegt sich im Rahmen der üblichen eristischen Tricks.


    Das ist beides altbekannt und wahrlich keine Überraschung.


    Es ist William B.A.`s Faden, nicht der Helmut Hofmanns, nicht der Thomas Sternbergs, meiner schon ganz und gar nicht. Ich will diesen kleinen und eigentlich sehr sympathischen Elfenbeinturm hier wahrlich nicht besteigen. Ihn zu sichern, ist vielleicht die Aufgabe des durch den Thread Führenden, wenn er denn noch Lust dazu hat.


    Ich bin wieder gerne draußen. Warum bin ich eigentlich rückfällig geworden? Meine Erfahrungen der Vergangenheit hätten mich nun wirklich eines Besseren belehren sollen.


    Doch - ich weiß, warum. "So ist das nun mal". Geht es noch trivialer? Kann man die Diskrepanz zwischen dieser Platitüde und dem hehren Tonfall zuvor noch peinlicher herausstellen? Es ist diese Haltung des vermeintlich Unumstößlichen, das die persönliche, zweifellos hoch fundierte, aber doch keineswegs unstrittige Wertung auf einen Sockel hebt, der ihr nicht angemessen ist. Ich konnte sie heute schlicht nicht ertragen, diese Attitüde.


    Wäre eine solche Wertung unstrittig, wie könnte man dann - um ein ganz beliebiges aktuelles Beispiel anzuführen - jemanden wie Teodor Currentzis auch auf Seiten der Experten derart unterschiedlich taxieren?


    Ich wünsche Euch allen eine gute Nacht und bleibt gesund!


    :)Wolfgang

    Lieber Fahrrad verpfänden denn als Landrat enden!

  • und der Gipfel der Belanglosigkeit ist schließlich Lisitsas dramaturgisch misslungene Gestaltung des Seitenthemas.


    Lisitsa spielt diesen Satz nun so, als wolle sie genau dafür das exemplarische Beispiel geben, wovor Kaiser so eindringlich warnt: Durch ihr „klebriges Rubato“ wird die „klare Vorstellung der rhythmischen Gegebenheiten“ nahezu vollständig zerstört und damit jegliche Sukzession, die das Essentielle, den „Vorbereitungscharakter“ des Introduzione-Satzes, zum Ausdruck bringt.


    Ich kenne keine andere Aufnahme, die es schafft, mit einem solchen eigentlich kaum fassbaren Dilettantismus den doch klaren musikalischen Sinn des Introduzione-Satzes so gründlich kaputt zu machen. Man möchte der Pianistin einfach nur empfehlen: Bitte, Frau Lisitsa, bedenken Sie doch, Beethoven ist kein Rachmaninow!


    Lieber Holger,


    vielleicht solltest Du Dich mal in irgendeine Behandlung begeben, Ohren, Kopf oder Herz, das weiß ich nicht genau. Du zeranalysierst die ganze Sonate dermaßen, daß man nachher nicht mehr den Hauch von Spaß daran haben könnte.


    Wenn man dann aber nochmal Valentina Lisitsa zuhört, ist der ganze Spuk zum Glück weggeblasen.

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  • Wenn man über das Gesagte insgesamt mal nachdenkt, ist mir zumindest auffällig, mit welch ungeheurer Arroganz sich schlichte Kritiker wie Kaiser herausnehmen zu glauben, sie hätten die Deutungshoheit über IRGENDEIN Musikstück.


    Es gibt nur ein gültiges letztes Kriterium für einen selbst: die eigenen Ohren. Wenn man ein Stück oder eine Interpretation mag, sollte man sich nicht erzählen lassen, daß genau diese Interpretation nichts, aber auch gar nichts taugt.


    Das einzige, das der Kritiker mit seiner Kritik bewiesen hat, ist, daß er einen inkompatiblen Geschmack besitzt - der allerdings nicht gültiger (oder weniger gültig) ist als der eigene.

  • Hallo Holger,

    Du urteilst immer mit deinem eigenen Empfinden.

    Ich habe schon mal von einem Vergleichshören berichtet, bei dem alle" Fachleute" in einem neutralen Raum Musik bestimmen sollten, alle sind deprimiert nach Hause gegangen.

    Der Mensch ist subjektiv und das ist auch gut so.

    Ich sage es nochmal: Wenn zwei Pianisten das gleiche Stück aus einer zeitlichen Entfernung von zwanzig Jahren so spielen, das ich den Unterschied nur in minimalen Sequenzen unterscheiden kann, ist das für mich hinfällig.

    Den Notentext überlasse ich den Interpreten, da gehört er hin, oder Willi beschäftigt sich damit, was ich in seiner Art gut finde.

    Ich bin ein begeisterter Hörer und kann sehr wohl Falschspiel oder Auslassungen unterscheiden, zerfleddere aber keine gehörte Musik.

    Grüße

    Thomas

  • Soso, werter Helmut Hofmann. Also Beethoven ausgerechnet soll ein "emotional gesteuerter" Komponist sein. Das sieht leider die Rezeptionsgeschichte völlig anders. Ich nenne nur mal ein paar Namen: Adolph Bernhard Marx, Richard Wagner, Paul Becker - und auch Jürgen Uhde liegt auf dieser Linie. Demnach war Beethoven gerade kein "emotional gesteuerter", sondern ein "Ideen gesteuerter" Komponist. Kein geringerer als Richard Wagner sagte, einem Beethovenschen Werk liegt eine "philosophische Idee" zugrunde. Ich kann mir deshalb auch kaum vorstellen, dass der große Wagner-Verehrer Arnold Schönberg das anders gesehen hat. Das zeigt ganz deutlich auch die Eroica-Rezeption, die von der Musikwissenschaft gründlichst aufgearbeitet wurde, der zufolge Beethoven das "Novum" geschaffen hat, Musik nach einer "Idee" zu schaffen. Und die Waldsteinsonate, von der Jürgen Uhde sagt, sie sei die erste Klavierkomposition im Sinne des (romantischen) 19. Jhd., fällt in diese Zeit. Deshalb sind solche Titel wie "L´aurore" eben nicht zufällig und Jürgen Uhde, der ja nun wirklich nicht irgendwer ist, sondern ein anerkannter Beethoven-Kenner und diese Rezeptionsgeschichte selbstverständlich sehr gut kennt, hat dies zum Anlass genommen, daraus die "Idee" des Werkes hermeneutisch zu entwickeln im Sinne der musikalischen Zeitstruktur. Daraus folgt nur eins, dass sich Interpreten und Hörer sehr wohl Gedanken machen sollen, was für eine "Idee" Beethoven denn im Kopf hatte, als er diese Sonate komponierte.


    Schöne Grüße

    Holger

  • diesen Thread zur Waldsteinsonate habe ich ja nicht gegründet, sondern dies tat Alfred. Ich hätte dir sonst geantwortet, dass diese Threads dazu da sind, die Interpretationen von Beethovensonaten anhand von Partituren zu besprechen und zu vergleichen, und ein Laie wie ich kann das natürlich nicht in zwei Sätzen sagen. Ich brauche dazu die Partitur, um den Aufbau der Werke in etwa kennen zu lernen und zu beurteilen zu versuchen, wie Pianisten den aus der Partitur hervorgehenden Willen des Komponisten umgesetzt haben. Dazu brauche ich, wie ich im Laufe der Zeit festgestellt habe, mehr Worte als ein "professioneller Kritiker".

    Übrigens, deine aus einer "launigen Laune heraus" hingeworfenen Zeilen sind mit knapp 3600 Wörtern fast 2000 Wörter länger als meine letzte Besprechung über die Interpretation Valentina Lisitsas.

    Lieber Willi,


    Du hast hoffentlich nicht vergessen, dass ich Deine Besprechungen oft in höchsten Tönen gelobt habe. Nur diese von Lisitsa war nicht Deine stärkste. Zudem hast Du gemeint offenbar, mir etwas "beweisen" zu müssen - indem Du am Schluss auch noch die Pointe bringst im Superlativ (!), das sei eine "grandiose" Interpretation, was Du später dann in "großartige" umgeändert hast. Ich finde Dilettantismus übrigens überhaupt sympathisch und gar nichts Verächtliches. Nur hast Du in diesem Fall auch die Partitur nicht richtig gelesen. In der Überleitung zum 2. Thema des Allegro con brio notiert Beethoven auf jedem Ton einen scharfen Hütchen-Akzent. Kempff spielt das und auch Barenboim, der diese Exposition wunderbar rund gestaltet, nur Lisitsa nicht. Und zwar deshalb, nicht, weil sie sich dabei etwas gedacht hat, sondern weil sie Horowitz im Ohr hat und ihr das, wie Horowitz das spielt, so gut gefällt. Dann erwähnst Du ausgerechnet, dass Beethoven molto (also viel!) legato notiert für das Seitenthema, was Lisitsa aber einfach nicht realisiert. Da wolltest Du mir demonstrativ etwas beweisen, wo nichts zu beweisen ist. Und von Tempowechseln im Introduzione-Satz steht auch nichts im Notentext. Grundsätzlich: Wir als Autoren sollten an die Leser denken, dass das, was wir schreiben, attraktiv ist. Natürlich gibt es - wie man hier sieht - die Ressentiment-Hörer mit bildungsfeindlicher Attitüde. Die interessieren mich nicht. Ein Thread sollte am Leben gehalten werden - und das tun eben gerade auch kontroverse Diskussionen. Im Pathetique-Thread hatte ich behauptet, das Finale sei ein Kehraus-Finale, wogegen Christian B. zu Recht Einspruch erhob. Daraus entwicklete sich eine der interessantesten Diskussionen, die wirklich um Interpretationsfragen kreiste. Die hat hier einfach noch nicht stattgefunden!

    Wenn man über das Gesagte insgesamt mal nachdenkt, ist mir zumindest auffällig, mit welch ungeheurer Arroganz sich schlichte Kritiker wie Kaiser herausnehmen zu glauben, sie hätten die Deutungshoheit über IRGENDEIN Musikstück.

    Da reproduziertst Du - wie nicht anders zu erwarten - nur Deine Vorurteile. Genau das kann man Kaiser aber nicht unterstellen. Du solltest zumindest richtig lesen, was ich von ihm zitiert habe:


    Zum Schluss seines Kapitels über die Waldstein-Sonate schreibt Joachim Kaiser: „Eine vollendete Darstellung der Waldsteinsonate gibt es nicht. Vielleicht kann es sie gar nicht geben. Vielleicht läßt sich der klassische Ausgleich der Waldstein-Spannungen nur erahnen, nicht erspielen.“

    Schöne Grüße

    Holger

  • Einer solchen Einschätzung hätte vermutlich sogar ein Schönberg widersprochen, bei dem sie halbwegs angebracht wäre.

    Dann lassen wir doch einmal Schönberg zu Wort kommen, was er über Beethoven meint:


    (Zitiert aus: Neue Musik und veraltete Musik, oder Stil und Gedanke)

    "Wenig kümmert sich ein Schaffender um die Eigentümlichkeiten, die Müßige nachher seinen Stil nennen werden (...); unablässig und ausschließlich bemüht er sich um seinen Gegenstand, um seinen Gedanken.


    Und nun bin ich bei dem angelangt, wo mich meine Unfreunde gerne sehen: bei dem Gedanken.


    Denn ich bin ja ein Konstrukteur, und nun werde ich mich selbst entlarven. (…)


    Ehe ich näher darauf eingehe, möchte ich sagen: nach meiner Überzeugung hat noch jeder, der ein Hirn besitzt, es benützt. (…)


    Die ein Hirn haben, es zu verbergen, tun es nicht. Sie tragen es außen sichtbar wie eine Dekoration oder setzen es als Unterschrift unter ihre Werke und Briefe. Denken Sie an Beethoven, der einen Brief seines Bruders Johann mit der Unterschrift >Gutsbesitzer< bekam und ihn mit einem mit der Unterschrift >Hirnbesitzer< beantwortete.


    Halten Sie es für einen Zufall, daß Beethoven gerade Hirnbesitzer schrieb? Er besaß äußere Ehre, eine große Klaviertechnik, Inspiration, Laune, Humor; konnte Themen erfinden und hätte sich noch zahlreicher anderer Vorzüge rühmen können. Z.B. seines Charakters, seiner Phantasie, seiner Unbeugsamkeit usw. Warum schrieb er gerade Hirnbesitzer, warum nicht Ärmelbesitzer, da er ja in der Tat doch auch noch so viel Melodien geben konnte wie Ärmelschüttler.


    Ich glaube also: es braucht ein Hirnbesitzer sich nicht entmutigen zu lassen: es nützt nichts, als Meister direkt vom Himmel gefallen zu sein, direkt auf den Kopf; und es nützt nichts, sich blöd zu stellen, selbst wenn man es ist: der Herrgott kann es einem trotzdem in den Schlaf geben, und ich glaube, er tut das Seinige überhaupt nur dann dazu, wenn wir das Unsrige getan haben; wenn wir, sofern er uns eins geschenkt hat, unser Hirn benützen und uns tüchtig geplagt haben.


    Ich bin sehr zufrieden, wenn ich wirklich so viel Hirn habe, als man mir vorwirft."


    Danke, lieber Arnold Schönberg: Auch "Ich bin sehr zufrieden, wenn ich wirklich so viel Hirn habe, als man mir vorwirft."


    gez. Holger Kaletha >Hirnbesitzer< :P

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  • Ein Beethoven hätte wüsten - wie das seine so ganz emotional gesteuerte Art war - Protest dagegen erhoben.

    Mit Verlaub:

    Beethovens Musik ist rational reflektiert, wie die eines jeglichen großen Komponisten. "Vom Kopf gesteuert" ist sie auf gar keinen Fall.


    Ich möchte noch einmal erklären, was ich mit diesem kurzen Beitrag zu bedenken geben wollte. Das richtet sich, weil mir das sinnlos erscheint, nicht an Herrn Dr. Kaletha, sondern ganz allgemein an die Leser und Beiträger in diesem Thread.

    Dass Beethovens Musik wie die keines anderen unter den europäischen Komponisten ideengeleitet ist, das ist von der musikwissenschaftlichen Forschung bis ins Kleinste aufgezeigt und nachgewiesen und selbst einem musikwissenschaftlichen Laien wie mir bekannt. Adorno versteigt sich angesichts dieses Sachverhalts sogar zu der steilen These:
    „Beethovens Musik ist die Hegelsche Philosophie: sie ist zugleich aber wahrer als diese, d.h. es steckt in ihr die Überzeugung, daß die Selbstreproduktion einer Gesellschaft als einer identischen nicht genug, ja daß sie falsch ist.“

    „Ideengeleitet“ heißt aber nicht „ideengeboren“. Der Quellgrund von Beethovens Musik ist, was ihre Substanz anbelangt, ein eminent emotionaler. Seine Tagebuchaufzeichnungen lassen das ganz deutlich erkennen. Der Faktor Rationalität kommt auf der Ebene der Form in sie. Aber selbst da ist diese emotionale Substanz so mächtig, dass sie vorgegebene traditionelle Formstrukturen sprengt, - den Sonatensatz zum Beispiel. Martin Geck hat das in seinem Beethoven-Buch (München, 20017) in vielfältiger und tiefschürfender Weise aufgezeigt. Zur Hammerklaviersonate merkt er zum Beispiel an:

    „Das Neue und viele Zeitgenossen Verstörende besteht in der Kompromisslosigkeit einer solchen Ästhetik: Subjektive und traditionale Elemente werden mit gleicher Radikalität vorgestellt und – drastisch gesprochen – wie wild aufeinander losgelassen. Beispielhaft zeigt dies die Aufeinanderfolge von drittem und viertem Satz aus op. 106: Ersterer, ein Adagio sostenuto von exorbitanter Länge, ist nicht nur von solch >schmerzensreicher Erhabenheit<, dass ein Pianist – mit Hans Bülow zu sprechen – hier weniger spielen als >seelenvoll sprechen< müsse, vielmehr steigert sich der Satz sowohl zu hemmungslosen Gefühlsausbrüchen als auch Gesten eines verzweiflungsvollen Flehens, das gar nicht mehr aufhören will. (…) Das alles ist von einer Subjektivität, deren Radikalität das ohnehin bei Beethoven erwartbare Maß noch übersteigt.“ (S.53)

    Eine solche Musik als „vom Kopf gesteuert“ zu qualifizieren, geht, so wie ich das sehe, ganz und gar an ihrem Wesen vorbei.

    Hans Werner Henze äußerte sich 1977 zum Wesen von Beethovens späten Streichquartetten u.a. wie folgt:
    „Die späten Streichquartette führen uns in eine entlegene seelische Welt, Zustände des Entsagens, des Aufgebens. Die Materie wird unwesentlich, und was uns als kompositorische Meisterschaft erscheint, ist eigentlich beiläufig und mühelos, selbst achtlos gemacht, weil der Komponist nicht mehr mit Fragen von Stil und Mache beschäftigt ist. Am Ende eines Lebens voller realer Kämpfe, Forschung, Widerstand steht ein wissender Mensch, angreifbar, verletzt und sündenreich, der einsam ist und der eine Musik schreibt, die auf dem Wege der Naturwerdung ist. Ja, es ist eine Musik im Vergehen. Sie spricht mit bewegter Offenheit von den Dingen der alternden Menschheit, sie ist mild und versonnen, eingesponnen in esoterisches Melos, ist maßlos in der Erregung, dann wieder ist es weinende Musik, oder sie bittet um Liebe, von der sie alles weiß und alles sagt und die nicht kommt, und von der die Musik weiß, daß sie nicht kommen wird.“

    Die Hammerklaviersonate und die späten Streichquartette hatte ich – beispielhaft für Beethovens Musik – im Kopf, als ich besagten Kurz-Beitrag verfasste.

  • Zitat

    gez. Holger Kaletha >Hirnbesitzer<

    Das freut mich für Sie. Bei mir setzt es manchmal aus. Außerdem haben Sie Ihren Titel vergessen. ;)X(


    Ich denke doch, dass all die Zitate, die von Dr. Kaletha und von Helmut Hofmann angeführt werden, auf recht erschreckende Weise zeigen, wie vage jede Begrifflichkeit per se erscheint, die sich im abstrakten Raum bewegt. Um wie viel vager erscheint - auf der objektiven wie auf der Meta-Ebene - der Diskurs um ästhetische Phänomene, die fern jeder digitalen Auflösbarkeit stehen, eben ganz explizit bei Musik.


    Als Musikbegeisterter bin ich auch nicht hellauf begeistert von reinen Geschmacksurteilen. Dennoch sollte man nun wirklich äußerst vorsichtig sein mit gnadenlosen Abwertungen, so wie es zuletzt geschehen ist. Die Begründungen dafür - so wie im Beitrag 183 - klingen gelehrt, aber sie stehen - ich wiederhole mich: keineswegs prinzipiell, aber in vielen Details - auf äußerst tönernen Füßen. Natürlich kann ich auf die Meinung anerkannter Experten rekurrieren, ich kann mit Zitaten um mich werfen, ich kann schöngeistige Vokabelspiele nach Herzenslust betreiben, mich im Glanze meiner rhetorischen Fähigkeiten sonnen und bespiegeln. Und wozu?


    Warum gibt es gerade in der Philosophie so viele unterschiedliche Meinungen und Strömungen und Richtungen, wenn letztlich nur einer Recht hat und dies mit der Emphase eines Kleinkindes, das sich am Ende, mit dem Fuß aufstampfend, wieder einmal - so wie eigentlich immer - im verbalen Erguss durchgesetzt hat?


    Ich begreife die Attitüde des Herrn Dr. Kaletha nicht und bin jetzt wirklich wieder draußen - tendenziell aus dem ganzen Forum (1) - denn es macht mich traurig, es widert mich bisweilen sogar an, wie hier Debatte abläuft.


    Man möge diesen Beitrag bitte nicht beantworten seitens des Herrn Dr. Holger Kaletha. Diese Bitte meine ich ernst - in jedem Fall wird keine Reaktion mehr erfolgen von meiner Seite.


    PS: Danke an Helmut Hofmann für seinen letzten Beitrag!


    (1) Nein. Denn warum eigentlich? Aber es gab schon Zeiten, als ich viel lieber Beiträge verfasst habe.


    Es grüßt


    Dr. Wolfgang Zimmermann

    Lieber Fahrrad verpfänden denn als Landrat enden!

  • Zitat von Dr. Holger Kaletha:

    Lieber Willi,


    Du hast hoffentlich nicht vergessen, dass ich Deine Besprechungen oft in höchsten Tönen gelobt habe. Nur diese von Lisitsa war nicht Deine stärkste. Zudem hast Du gemeint offenbar, mir etwas "beweisen" zu müssen - indem Du am Schluss auch noch die Pointe bringst im Superlativ (!), das sei eine "grandiose" Interpretation, was Du später dann in "großartige" umgeändert hast. Ich finde Dilettantismus übrigens überhaupt sympathisch und gar nichts Verächtliches. Nur hast Du in diesem Fall auch die Partitur nicht richtig gelesen. In der Überleitung zum 2. Thema des Allegro con brio notiert Beethoven auf jedem Ton einen scharfen Hütchen-Akzent. Kempff spielt das und auch Barenboim, der diese Exposition wunderbar rund gestaltet, nur Lisitsa nicht. Und zwar deshalb, nicht, weil sie sich dabei etwas gedacht hat, sondern weil sie Horowitz im Ohr hat und ihr das, wie Horowitz das spielt, so gut gefällt. Dann erwähnst Du ausgerechnet, dass Beethoven molto (also viel!) legato notiert für das Seitenthema, was Lisitsa aber einfach nicht realisiert. Da wolltest Du mir demonstrativ etwas beweisen, wo nichts zu beweisen ist. Und von Tempowechseln im Introduzione-Satz steht auch nichts im Notentext. Grundsätzlich: Wir als Autoren sollten an die Leser denken, dass das, was wir schreiben, attraktiv ist. Natürlich gibt es - wie man hier sieht - die Ressentiment-Hörer mit bildungsfeindlicher Attitüde. Die interessieren mich nicht. Ein Thread sollte am Leben gehalten werden - und das tun eben gerade auch kontroverse Diskussionen. Im Pathetique-Thread hatte ich behauptet, das Finale sei ein Kehraus-Finale, wogegen Christian B. zu Recht Einspruch erhob. Daraus entwicklete sich eine der interessantesten Diskussionen, die wirklich um Interpretationsfragen kreiste. Die hat hier einfach noch nicht stattgefunden!

    Lieber Holger,


    Der erste Satz in diesem Zitat klingt ja fast wie eine Drohung, und falls dem so ist, so sei dir gesagt, dass ich mir nicht drohen lasse. Ich meine auch keineswegs, dir etwas beweisen zu müssen.

    Weiterhin finde ich es äußerst lobenswert, dass du nichts gegen Dilettantismus hast, womit du offenbar mich meinst- geschenkt.

    Mir aber vorzuwerfen, ich hätte die Partitur nicht richtig gelesen, ist schon ein starkes Stück, denn du weißt ja gar nicht, welche Partitur ich benutze. In meiner Partitur:

    Derzeit sind sie bei Amazon noch in dieser Form zu haben.

    steht an den entsprechenden Stellen in der Exposition und in der Reprise keinerlei Akzentzeichen (>), sondern lediglich auf jeder Note (Takt 31 - 34 und Takt 192 - 195) lediglich auf jeder Note im Diskant und im Bass ein Staccato-Punkt (.), und ich finde, das hat sie genau so gespielt.

    Und von "Tempowechseln im Introduzione-Satz" habe ich überhaupt nichts geschrieben.

    Ich denke als Autor ständig an das, was ich schreibe und weiß, dass ich, ausgehend von meinem Kenntisstand, nichts über die Umsetzung des Notentextes schriebn kann, was ich nicht irgendwie belegen kann, und wenn ich etwas über die emotionale Wirkung schreibe, die die Musik in einer bestimmten Interpretation auf mich hat, dann mache ich das auch kenntlich.

    Langer Rede kurzer Sinn: da ich, soweit ich weiß, immer noch die Verantwortung für diesen Thread habe, möchte ich auch, dass er nicht zu einem Diskussionsforum für kontroverse Thesen über unterschiedliche Interpretationsansätze wird, und das gilt auch für alle Threads, die ich eröffnet habe und noch eröffnen werde.


    In diesem Sinne


    schönen Maigang, denn ich werde jetzt etwas für meine Gesundheit tun und einen längeren Spaziergang machen.


    Willi:)


    P.S. Ich habe gerade gesehen, dass der von mir eingestellte Link nicht mehr funktioiert, und ich werde nach meiner Rückkunft einen neuen suchen (s.o. William B.A. 20.23 Uhr)

    1. "Das Notwendigste, das Härteste und die Hauptsache in der Musik ist das Tempo". (Wolfgang Amadeus Mozart).
    2. "Es gibt nur ein Tempo, und das ist das richtige". (Wilhelm Furtwängler).

  • Werter Dr. Wolfgang Zimmermann,

    bitte, bitte nicht solche Beiträge wie 183 ernst nehmen!

    Das schlimmste, was man machen kann, irgendwelche Aussagen auf sich selber zu beziehen. Einfach als Unterhaltung behandeln.

    Beethovens Waldsteinsonate kann ich gar nicht hören, ohne zu reflektieren und solche Beiträge wie 183 machen mich... Lächelnd...

    Ich hoffe, noch viel von Ihnen zu lesen

    Hochachtungsvoll

    Thomas

  • Hallo, Thomas!


    Bitte nicht siezen! Bitte keinen Doktor! For heaven's sake.


    (Dr. Kaletha versteht keine andere Sprache. Jammerschade, wenn ein so belesener Mensch derart borniert ist. Ich hätte das jetzt lieber privat geschrieben, aber das geht in diesem Forum nicht.)


    In der Tat - hoffen wir auf bessere Zeiten, wenn auch vor allem außerhalb des Internets. Da erscheint es mir wesentlich wichtiger.


    Es grüßt


    Wolfgang

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  • Als Musikbegeisterter bin ich auch nicht hellauf begeistert von reinen Geschmacksurteilen.

    Lieber Wofgang, ich sehe das mal so: ich habe nicht viel mehr - ich kann mein Geschmacksurteil natürlich verbalisieren und auch in gewisser Weise operationalisieren, über Anschlagstechnik und Flow reden, über unangemessenes Verschleifen oder bewußte, kunstvoll eingesetzte Rubati, über grandiose Technik, die jeden Ton kristallkar herausarbeitet...


    Ich habe es mir im Wesentlichen abgewöhnt, weil es doch nicht viel anderes ist, als einen Zielkreis da rumzumalen, wohin man seinen Pfeil geworfen hat.


    Ich habe es mir auch abgewöhnt, andere überzeugen zu wollen durch die Wucht meiner Argumentation. Was ich hier suche, sind soul-buddies, die ein ähnliches Geschmacksempfinden haben wie ich, denen ich gute (als gut empfundene) Musik nahebringen kann und sie mir.


    Wenn ich sie hier in manchen Threads nicht finde (und den einen oder anderen meine ich durchaus in bestimmten Threads gefunden zu haben), hoffe ich zumindest, daß es stille Mitleser gibt, denen meine Beiträge etwas bringen. Im Gitarrenthread, den ich ja zum Großteil befeure, gibt es zumindest genügend Leser, daß man meinen könnte, man macht was Relevantes.


    Insofern ist mir klar, wie limitiert Geschmacksurteile sind - aber alle anderen Urteile sind auch nur scheinbar besser begründet. Ein für mich nachvollziehbares Kriterium für Qualität der Musik wäre der Grad der Kunst, die in die Melodie hineingegangen ist - und dann wäre wohl eine Doppel-Krebs-Spiegelfuge das höchste, was erreichbar wäre. Und Zwölftonmusik wäre populär.


    Bin auch promoviert (wie anscheinend viele hier) und trage es auch nicht wie ein Banner vor mir her.

  • Ich habe nach einem ausgedehnten Spaziergang und einem guten Abendessen und einem zweiten Sapziergang (insgesamt heute 12439 Schritte/9,6 km) noch mal gelesen, was hier heute alles so geschrieben stand und dann nochmal nachgeschaut, was ich von Valentina Lisitsa hier bisher alles besprochen habe, und das war ja außer der Waldstein-Sonate und der Hammerklaviersoante auch die Appassionata, und da habe ich vorhin festgestellt, dass von meinem Lieblignssatz, dem Andante con moto, den ich für einen der schönsten und ergreifendsten Klaviersätze überhaupt halte, auch ein Video existiert, und da habe ich gedacht, ich stelle einfach mal diesen Satz aus der Appassionata hier ein, obwohl dies der Thread der Waldsteinsonate ist und nehme das auf meine Kappe:


    Ich liebe diesen Satz auch so, weil wir seit vielen Jahren in unserem Männerchor ein Lied singen, dass Friedrich Silcher nach einem Text von Friedrich von Matthisson nach der Melodie dieses himmlischen Andante gestzt hat: "Heil'ge Nacht, o gieße du Himmelsfrieden in dies Herz". Wollen wir hoffen, dass es so kommt!


    Liebe Grüße


    Willi:)

    1. "Das Notwendigste, das Härteste und die Hauptsache in der Musik ist das Tempo". (Wolfgang Amadeus Mozart).
    2. "Es gibt nur ein Tempo, und das ist das richtige". (Wilhelm Furtwängler).

  • Danke auch Dir, MMüller, für Deinen Beitrag!


    Und natürlich hoffe - und weiß - ich jetzt auch, dass Willi weitermacht. Ich habe schon oft die Besprechungen gelesen und die Aufnahmen dazu mit Noten gehört, selbst wenn ich mich nur ganz selten zu Wort gemeldet habe.


    Wenn ein Pianist, eine Pianistin etwas zu sagen hatte respektive hat, dann gibt es viele Lösungen und darunter ganz viele richtige ...


    Da bin ich mir sicher.


    PS: Der zweite Satz der Appassionata ... den kann ich so einigermaßen klimpern. Der Rest ist weg und war gewiss auch nie wirklich da.


    :)Wolfgang

    Lieber Fahrrad verpfänden denn als Landrat enden!

  • Langer Rede kurzer Sinn: da ich, soweit ich weiß, immer noch die Verantwortung für diesen Thread habe, möchte ich auch, dass er nicht zu einem Diskussionsforum für kontroverse Thesen über unterschiedliche Interpretationsansätze wird, und das gilt auch für alle Threads, die ich eröffnet habe und noch eröffnen werde.

    Lieber Willi,


    das respektiere ich natürlich. Genau deswegen habe ich im Falle von Schuberts D 960 meine Beiträge auf meine Kolumnenseite gestellt, um Dein Vorgehen nicht irgendwie zu stören. Damit die Leser wissen, wovon ich spreche, hier der Link:


    Franz Schubert: Romantiker, klassischer Romantiker? Interpretationswege am Beispiel der Klaviersonate B-Dur D 960


    So werde ich es in Zukunft also auch bei Beethoven machen. Für mich macht eine Diskussion über Interpretationsansätze, die Kontroversen gezielt ausgrenzt, wenig Sinn. Ich werde also Deine Beiträge weiter interessiert lesen, mich aber mit eigenen Beiträgen in Deinen Threads nicht mehr beteiligen.


    Um es nochmals zu betonen: Für mich ist "Dilettantismus" nichts Negatives, wenn er bescheiden bleibt. Denn er hat den Vorzug der Unbefangenheit und entdeckt oft Dinge, für welchen ein allzu normorientierter Sachverstand den Blick eher zu verlieren droht. Und als Musikliebhaber sind wir alle Dilettanten. Doch die uneitle Offenheit dafür, vom "Kenner" und Sachverständigen etwas zu lernen und auch mal Kritik einzustecken, sollte bleiben.


    Dir wünsche ich jedenfalls weiter gutes Gelingen!


    Ich möchte aber doch einmal etwas Grundsätzliches anmerken: Die Mitgliedschaft in einem Forum ist freiwillig. Jeder kann selbst mitgestalten durch die Eröffnung von eigenen Threads. Und ich bin auch der Meinung, dass der Threadersteller den "Stil" vorgeben darf, der diskutiert wird. Was nur nicht geht, ist, dass Leute, die sich an Interpretationsvergleichs-Threads nie beteiligen, dann, nur weil sie Ressentiment gegen Bildung, Sachverstand und keinerlei Ahnung und Werschätzung für geisteswissenschaftliche Methodik haben, den Diskutanten ihre Art der Diskussion diktatorisch aufzwingen wollen mit polemischer Attitüde gegen meine Person, weil ich der Repräsentant dieser Richtung bin.


    Es gibt zwei Möglichkeiten des Zugangs zur Musik: Entweder man bemüht sich um ein Sinnverstehen mit dem Risiko des Missverständnisses und diversen Weisen des Misslingens wie Fehldeutungen oder Überinterpretation. Das sind die Probleme, die Hermeneutiker als die des "hermeneutischen Zirkels" nur zu gut kennen. Entweder man nimmt dieses Risiko auf sich, oder aber - das ist die andere Partei - man verteufelt das risikobelastete Sinnerschließungsbemühen als "philosophisch", hält so eine Interpretationsarbeit der Sinnerschließung der "Bedeutung" für subjektiv-beliebig und verzichtet entsprechend auf dieses Unternehmen. Dann endet man aber in letzter Konsequenz damit, dass die Musik bloße Reizquelle ist für dann wirklich nur noch subjektiv-beliebige Assoziationen und das Gehörte einzig und allein nach dem unverbindlichen Beliebigkeitskriterium "gefällt mir- gefällt mir nicht" beurteilt wird. So etwas ist für mich indiskutabel - denn das ist das Ende eines verantwortlichen Umgangs mit Kunst. Eine solche Rezeption ist nicht vom Bemühen getragen, dem Kunstcharakter von Kunstwerken irgendwie gerecht zu werden, sondern nur egoistisch-hedonistisch ein Konsumieren. Das ist aber unsere Zeit. Jede Zeit bekommt halt, was sie verdient. Hier zitiere ich gerne mein großes Vorbild Arturo Benedetti Michelangeli, der mal gesagt hat: "Musik ist ein Recht, aber nur für den, der sie auch verdient!"


    Dann weiter viel Spaß mit Beethoven! :hello:


    P.S.: Wenn es Dich interessiert, kannst Du meinen Beitrag über die Waldsteinsonate, den ich in nächster Zeit irgendwann als Kolumnenbeitrag einstellen werde, ja lesen!


    P.S. ff.: Ich meinte die Stelle Takt 32-34. In meiner Henle-Ausgabe sind da Staccato-Punkte notiert. Beethoven wusste also genau, wo er sie setzt und wo nicht. Die Hütchen-Akzente stehen wohl in der kommentierten Ausgabe von Artur Schnabel.


    Schöne Grüße zum 1. Mai

    Holger

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  • Wenn ein Pianist, eine Pianistin etwas zu sagen hatte respektive hat, dann gibt es viele Lösungen und darunter ganz viele richtige ...

    :thumbup:


    Lieber Wolfgang, lieber Willi,


    hier wurde wirklich viel Wind um die Int von Valentina Lisitsa gemacht. Unnötig !

    Genau wie WolfangZ lese ich Deine Besprechungen immer mir Gewinn, auch wenn ich hier im Sonatenbereich dazu weiter nichts schreibe.


    8) Ich möchte es mal ganz einfach und unkompliziert ausdrücken:

    Ich finde es schon beachtlich, wenn eine Pianistin, wie Valentina Lisitsa solche grosse Musik überhaupt so spielen kann ......

    Gruß aus Bonn, Wolfgang

  • Und warum "unnötig", lieber Wolfgang? Weil sie alles richtig macht? Du warst sicher noch nie in einer Meisterklasse, wo die angehenden Pianisten unterrichtet werden. Der "Star" Lang Lang hat sich mal bei Barenboim in seine Meisterklasse reingetraut und den ersten Satz der "Appassionata" vorgespielt. Im Film wurde das dokumentiert. Daraufhin hat Barenboim seinen Vortrag zerpflückt und ihm klein klein gezeigt, welche eklatanten, sinnentstellenden Fehler er macht. Was Lisitsa sich im Introduzione-Satz leistet, sind haarsträubende Anfängerfehler, die Joachim Kaiser in seinem Buch ganz genau beschrieben hat. Würde sie es wagen, sich in die Meisterklasse von Jerome Rose oder Barenboim zu begeben, würde ihr dasselbe widerfahren wie Lang Lang. Ich kenne natürlich sehr, sehr viele wirklich akzeptable Interpretationen der Waldstein-Sonate. Keine der mir bekannten leistet sich solche eklatanten Schwächen in diesem Satz, wie Lisitsa. Das kann man natürlich ignorieren, nur an der Wahrheit ändert es nichts.


    So - und das soll genügen zum Thema Lisitsa.


    Schöne Grüße

    Holger

  • Werter Holger,

    ich lese gerne deine Beiträge, nur wie ich sie bewerte, behalte ich ab jetzt für mich.

    Jetzt "die beleidigte Leberwurst" zu spielen, nu ja....

    Ich werde deine Kolumne lesen und einfach mal schauen, was du an Musik empfiehlst, denn da scheinen wir Übereinstimmungen zu haben, auch ohne "Bewertungstechnik".

    Ich denke, wir alle können Kritik vertragen, nur wenn verdeckt, in Floskeln, Andeutungen, Vergleichen und seltsamen Aphorismen, dazu Abwertungen, Angriffe auf Beiträge gestartet werden, reagiere ich empfindlich.

    Grüße

    Thomas

  • Hallo, liebe Beethoven-Klavierfreunde,


    ich schaue immer wieder gerne in die Klavierthreads. Leider habe ich aufgrund meiner beruflichen Inanspruchnahme nicht viel Energie, mich an den Diskussionen zu beteiligen. Die klavieristische Kompetenz von Holger Kaletha habe ich sicher nicht. dennoch beschäftige ich mich als Laie und Liebhaber seit meinem 16. Lebensjahr regelmäßig mit diesen Themen, u.a. auch den beethoven-Sonaten. ich habe viele Interpretationen gehört und einiges auch auf CD.


    Ich will nun mal auch im Hinblick auf Willi darauf hinweisen, dass wohl Alfred diesen thread hier eröffnet hatte. ich finde es positiv bemerkenswert, dass Willi sich so ausführlich mit den Interpretationen in deskriptiver partiturorientierter Art beschäftigt. Aber wenn Willi seine Abhandlungen in einem für die Mitglieder zugänglichen thread veröffentlicht, kann er diesen nicht verbieten, dazu Stellung zu beziehen.


    Zu Valentina Lisitsa habe ich keine konkrete Erfahrung außer eine wirklich lobenswerte CD der DG mit den Violinsonaten von Charles Ives, wo sie zusammen mit Hilary Hahn diese komplexen Werke spielt. Das spricht schon mal für eine hohe professionelle Kapazität der Pianistin.


    Wenn Profi-Musiker ihre Interpretationen auf Tonträger oder auf Youtube veröffentlichen ist es vergleichbar mit wissenschaftlichen Vorträgen und Präsentationen der Methoden und der Ergebnisse auf Tagungen/Kongressen. Ein wesentlicher Part ist die jeweils anschließende Diskussion und Erörterung mit dem Auditorium. Daher sollte auch z.B. Valentina Lisitsa sich darüber im Klaren sein, dass Ihre Interpretationen analysiert und bewertet werden können. Die Aussage, dass man froh sein sollte, dass sie die Waldsteinsonate so hinkriege wäre z.B. vergleichbar mit einem Statement, dass man froh sein sollte, dass ein Chirurg immerhin eine Operation auf Standard-Niveau hinkriege. Dass würde heute kein Patient oder Krankenkassenangestellter als herausragende Leistung anerkennen.


    Ich finde es zum Beispiel in diesem Thread schade, dass auf meinen Beitrag mit dem Hinweis auf die Live-Aufnahme Barenboims aus den 70er Jahren keine Stellung bezogen wurde, z.B. durch Holger.


    Wie auch immer, die Waldsteinsonate ist ein tolles hochenergetisches Werk mit beträchtlichen technischen Highlights. Ich finde es übrigens immer interessant, wie die Pianisten mit dem Mittelsatz umgehen, eher als Funktion zwischen den virtuosen Top-Sätzen oder nur als 'Erholungspause' dazwischen.


    LG Siamak

  • Zitat von AcomA02

    Aber wenn Willi seine Abhandlungen in einem für die Mitglieder zugänglichen thread veröffentlicht, kann er diesen nicht verbieten, dazu Stellung zu beziehen.

    Das habe ich keineswegs getan, lieber Siamak, das ist auch seit Jahren so gewesen. Keiner kann oder muss meiner Ansicht sein. Gedacht war jedoch von Anfang an daran, dass die Taminos, die hier mitarbeiten wollten oder sollten, dies unter gleichen oder ähnlichen Bedingungen tun sollten, und für mich bedeutete das, die Partitur zur Grundlage jedweder Besprechung und jedwedes Vergleiches zu machen. Dazu gehörte für mich auch, dass beim Abhören die entsprechenden Abhörgeräte, CD/DVD-Player und Soundkarte u. angeschlossenen Verstärker auf die gleiche Lautstärke eingestellt blieben, um belastbare Aussagen über die Einhaltung dynamischer Gestaltungen in den einzelnen Interpretationen machen zu können. Ebenfalls habe ich stets die Spielzeiten der einzelnen Sätze miteinander verglichen, stets unter der Maßgabe, ob die einzelnen Pianisten Beethovens Wiederholungsangaben beachteten oder nicht. So beachten Pianisten wie der große Wilhelm Backhaus so gut wie keine Wiederholungsvorschrift, andere Pianisten wie der ebenfalls große Claudio Arrau jede Wiederholungsvorschrift. Nur unter diesen Umständen kann man ebenfalls belastbare Aussagen über die Tempogestaltung machen.

    Da dieses Procedere mit einem erheblichen Arbeitsaufwand verbunden war und ist, war ich mit meiner Arbeitsweise bald ziemlich allein als Produzent der Besprechungen. Aber das empfand ich als nicht so schlimm, und das sit auch ziemlich lange gut gegangen.

    Wenn du aber verstehen willst, warum ich letztlich in Beitrag 213 diese kurze und bündige Stellungnahme abgegeben habe, dann musst du den Beitrag Nr. 183 und die folgenden lesen.


    Liebe Grüße


    Willi:)

    1. "Das Notwendigste, das Härteste und die Hauptsache in der Musik ist das Tempo". (Wolfgang Amadeus Mozart).
    2. "Es gibt nur ein Tempo, und das ist das richtige". (Wilhelm Furtwängler).

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