Otto Klemperer — Zeitlose Monumentalität?

  • Ich habe mir den Schumann-Zyklus vor einiger Zeit zu Vergleichszwecken wieder angehört und kann die hohe Wertschätzung besonders für die Frühlingssymphonie nur unterstreichen. Noch viel mehr als bei der Vierten, wo es einige exemplarische Einspielungen gibt, ist Klemperer bei der Ersten für mich absolut unverzichtbar. Der hochgeschätzte nemorino hat das wunderbar beschrieben:

    Sie sind so völlig aus dem Rahmen des üblichen, die Frühlingssinfonie bleibt bei ihm den zarten Farben, dem geheimnisvollen Wachsen der Natur einiges schuldig, dafür bricht bei ihm der Frühling mit elementarer Gewalt aus und treibt den Winter mit Vehemenz vor sich her. Ich denke da immer an die Beschreibungen der Gräfin Dönhoff oder von Arno Surminski, die den plötzlichen, über Nacht hereinbrechenden Frühlingsbeginn in Ostpreußen so anschaulich geschildert haben.

    Für mich ist das sogar die Aufnahme des Werkes schlechthin. Selbst klanglich ist sie hervorragend (kurioserweise fallen in der Hinsicht die später entstandenden Nr. 2 und 3 ab). Die Durchhörbarkeit der Einspielung ist frappierend, da können sich andere eine Scheibe abschneiden. Ich finde sie auch überhaupt nicht verschleppt, sondern im besten Sinne zeitlos monumental und wie in Stein gemeißelt.


    Die Zweite und die Rheinische sind problematischer, und das aus verschiedenen Gründen. Es ist nicht nur die hier beklagte Langsamkeit, sondern auch der nicht so gute Klang und das nicht mehr so vortrefflich agierende Orchester. Bei der Zweiten kann man aber auf einen m. E. superben Live-Mitschnitt (erschienen bei Testament) ausweichen - leider Gottes nur in Mono, und das 1968 (bei der BBC damals keine Ausnahme). Er entstand wenige Tage nach der Studioeinspielung und ist deutlich packender. Klemperer mochte dieses "kranke Werk" (Günter Wand) und dirigierte es als einziges von Schumann noch mit über 80 im Konzert.


    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões

  • Genau das, was Nemorino treffend beschrieben hat und was Joseph als "zeitlos monumental und wie in Stein gemeißelt" bezeichnet, ist es, was mich an Klemperers Interpretation stört. Korrekt, die Durchsichtigkeit der Orchesterstimmen ist exemplarisch, mit den relativ langsamen Tempi könnte ich leben, aber es ist in der Interpretation nichts von Schumanns Schaffensdrang zu hören (er skizzierte die Sinfonie an vier Tagen), seine Intention "Ich schrieb die Sinfonie, wenn ich sagen darf, in jenem Frühlingsdrang, der den Menschen wohl bis in das höchste Alter hinreißt und in jedem Jahr von neuem überfällt." ist für mich nicht spürbar.


    Schumann fand angeblich Inspiration in einem Gedicht von Alfred Böttger, in dem es u.a. heißt: "„O wende, wende deinen Lauf. Im Tale blüht der Frühling auf!“. Bei Klemperer blüht für mich nichts, er dirigiert die "Frühlingssinfonie" wie die "Eroica" mit dem Unterschied, dass Monumentalität dem Wesensgehalt der "Eroica" wesentlich mehr entspricht als Schumanns 1. Sinfonie, selbst, wenn beide Werke keine Programmmusik darstellen.


    Ich hatte mir gestern die Sinfonie nach langer Zeit wieder einmal angehört und kann mich meinem früher einmal in diesem Forum irgendwo geäußerten Urteil "Fehlinterpretation auf hohem Niveau" immer noch anschließen (aber wunderbar damit leben, wenn es andere Meinungen gibt ;)).

    Grüße aus der Nähe von Hamburg


    Norbert


    Das Beste in der Musik steht nicht in den Noten.

    Gustav Mahler


  • es ist in der Interpretation nichts von Schumanns Schaffensdrang zu hören (er skizzierte die Sinfonie an vier Tagen), seine Intention "Ich schrieb die Sinfonie, wenn ich sagen darf, in jenem Frühlingsdrang, der den Menschen wohl bis in das höchste Alter hinreißt und in jedem Jahr von neuem überfällt." ist für mich nicht spürbar.

    Lieber Norbert,


    ….. auch ich kann wunderbar mit anderen Meinungen leben, das ist ja gerade das Spannende, sonst würde jede Diskussion gleich im Sande verlaufen. Ich spüre bei Klemperer schon "jenen Frühlingsdrang", von dem Schumann sprach, als er sein erstes großes Werk für Orchester binnen vier Tagen zu Papier brachte.

    Bei "Klempereur" bricht nur der Frühling, im Gegensatz zu anderen Lesarten, plötzlich und mit elementarer Gewalt herein, wie das in Gegenden der Fall ist, wo es lange, kalte, schnee- und eisreiche Winter gibt. Ich habe gestern als Beispiel an Ostpreußen erinnert, deren Bewohner in vielen Erzählungen und Berichten immer wieder davon sprachen, wie ohne jede Vorankündigung plötzlich der Winter vom Frühling hinweggefegt wurde. Vielleicht passen Klemperers Tempi nicht ganz dazu, da wäre auch eine flottere Gangart durchaus denkbar, aber die Wucht und die Gewalt eines solchen Umschwungs hat er mit großer Leidenschaft (immerhin hatte er zum Zeitpunkt der Aufnahme bereits das 80. Lebensjahr erreicht) und Überzeugung getroffen. Ich möchte hier Emanuel Geibels Gedicht "Hoffnung" zitieren, in dessen zweiter Strophe es heißt: "Und drängen die Nebel noch so dicht / sich vor den Blick der Sonne / sie wecket doch mit ihrem Licht / einmal die Welt zur Wonne". Und dieses Licht bricht sich bei Klemperer mit einer Vehemenz sondergleichen Bahn.


    Schumanns Sinfonien fristeten ja über viele Jahre ein Schattendasein, sowohl im Konzertsaal als auch im Plattenstudio. Das hat sich erst gründlich Ende der 1950er Jahre geändert, vor allem durch die bahnbrechende GA, die George Szell zum 150. Geburtstag des Komponisten vorgelegt hat (CBS). Es gab zwar vorher schon einige bemerkenswerte Einzelausgaben, so die Frühlingssinfonie mit Fricsay (DGG), die 2. & 3. unter Schuricht (Decca) und vor allem die legendäre Furtwängler-Aufnahme der Vierten von 1953 (DGG), ansonsten herrschte ziemliche Ebbe, aber eine Aufnahme der Ersten möchte ich noch nennen, die mir besonders ans Herz gewachsen ist: Ernest Ansermet mit dem Orchestre de la Suisse Romande von 1951. Eine tontechnisch nicht sonderlich spektakuläre, aber musikalisch eine ganz wunderbare Interpretation. Ansermet läßt die geheimnisvollen Farben des Frühlings, die zarten Stimmungen und die bange Vorfreude auf die schönste aller Jahreszeiten vor unserem Ohr erstehen, wie ich sie in dieser Schönheit in keiner anderen Aufnahme so empfunden habe. Auch hier muß ich wieder an Emanuel Geibels "Hoffnung" denken, wo es an anderer Stelle heißt: " ….. auf leisen Sohlen über Nacht kommt doch der Lenz gegangen". Gerade diese "leisen Sohlen" sind es, die Ansermet vorschweben, ganz gleich, ob er des Dichters Zeilen gekannt hat oder nicht. Sie müßte eigentlich Deinem Empfinden besonders entgegenkommen.

    Es gibt die alte Aufnahme sogar auf CD, und ich habe sie sofort gekauft, als sie auf CD herauskam:

    Sie ist gekoppelt mit weiteren Schumann-Werken, u.a. auch mit einer schönen 2. Sinfonie, diese sogar in Stereo!


    Doch hier geht es ja um Klemperer und seine Schumann-Aufnahmen. Ich gebe gerne zu, daß ich, was ihn betrifft, nicht ganz frei von Voreingenommenheit bin: Jede Klemperer-Aufnahme war und ist für mich ein Ereignis, natürlich nicht alle im gleichen Maße. "Seine" Frühlingssinfonie gehört aber für mich zu den unverzichtbaren Einspielungen. Joseph II. hat zu Recht auf die klanglichen Defizite der Aufnahmen von Nr. 2 & 3 hingewiesen, die ich zwar nicht so gravierend empfinde, aber ich gebe gerne zu, daß diese beiden Werke wohl die schwächsten (vielleicht weil sie zuletzt aufgezeichnet wurden) aus der Reihe sind, was vielleicht auch damit zu tun hat, daß der Aufnahmezeitraum sich über fast ein Jahrzehnt erstreckt. Auch ich halte die Vierte von 1960 insgesamt für am besten gelungen, doch gerade bei dieser Sinfonie ist die Konkurrenz besonders stark (Furtwängler, Karajan, Szell, Sawallisch).


    Ich wünsche Dir noch einen schönen restlichen Pfingstmontag!


    LG Nemorino

    Die Welt ist ein ungeheurer Friedhof gestorbener Träume (Robert Schumann).

  • [...] aber eine Aufnahme der Ersten möchte ich noch nennen, die mir besonders ans Herz gewachsen ist: Ernest Ansermet mit dem Orchestre de la Suisse Romande von 1951. Eine tontechnisch nicht sonderlich spektakuläre, aber musikalisch eine ganz wunderbare Interpretation. Ansermet läßt die geheimnisvollen Farben des Frühlings, die zarten Stimmungen und die bange Vorfreude auf die schönste aller Jahreszeiten vor unserem Ohr erstehen, wie ich sie in dieser Schönheit in keiner anderen Aufnahme so empfunden habe. Auch hier muß ich wieder an Emanuel Geibels "Hoffnung" denken, wo es an anderer Stelle heißt: " ….. auf leisen Sohlen über Nacht kommt doch der Lenz gegangen". Gerade diese "leisen Sohlen" sind es, die Ansermet vorschweben, ganz gleich, ob er des Dichters Zeilen gekannt hat oder nicht.

    Es gibt die alte Aufnahme sogar auf CD, und ich habe sie sofort gekauft, als sie auf CD herauskam:

    Sie ist gekoppelt mit weiteren Schumann-Werken, u.a. auch mit einer schönen 2. Sinfonie, diese sogar in Stereo!

    Auch wenn es ein wenig vom Thema wegführt: Was für eine Einspielung! Das ist mittlerweile sogar meine Lieblingsaufnahme der Zweiten (noch vor Bernstein)! Allein wie Ansermet den geheimnisvollen Beginn herüberbringt, sagenhaft. Und die Paukenschläge ganz am Ende erzeugen regelrecht Gänsehaut. Der ausgezeichnete Klang tut sein Übriges (eben Decca).

    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões

  • Hallo,


    leider scheint das Interesse an Otto Klemperer und seinen zeitlosen Aufnahmen nicht sonderlich groß zu sein. Das ist schade. Hat dieser große Künstler, einer der bedeutendsten Dirigenten des vergangenen Jahrhunderts, doch ein breites Spektrum von Einspielungen hinterlassen, die noch vor einigen Jahren den Grundstock fast jeder Klassik-Sammlung bildeten.

    Ich möchte deshalb hier noch einen Versuch starten, die Diskussion über ihn und seine musikalische Hinterlassenschaft nicht gleich wieder einschlafen zu lassen. Und zwar möchte ich diese Aufnahme in den Mittelpunkt stellen, eines Werkes, das sicher nicht zum Kernrepertoire Klemperers gehört hat, aber immerhin in zwei Aufnahmen (einer Studioproduktion und einem Live-Mitschnitt) vorliegt. Ich persönlich habe nur die Studioaufnahme in meiner Sammlung, in dieser Ausgabe:

    BERLIOZ: Symphonie fantastique, Op. 14

    mit dem Philharmonia Orchestra London (Aufnahme: 4 & 9/1963, Kingsway Hall, London). Produzent: Walter Legge.

    Es gibt sie aber noch in diversen anderen Editionen:

    oder:

    In beiden Fällen handelt es sich um die gleiche Aufzeichnung.


    Dann gibt es noch den bereits weiter oben genannten Live-Mitschnitt:

    aus der Royal Festival Hall, London, aus dem Januar 1966. Ein Doppel-Album mit weiteren Werken, u.a. Beethovens Violinkonzert (mit Menuhin).


    Ich besaß die Studio-Aufnahme bereits auf LP und war auf Anhieb total begeistert. Zweifellos eine Aufnahme, die aus dem üblichen Rahmen fällt, was bei Klemperer ja nicht ganz ungewöhnlich ist, aber insgesamt eine großartige Aufführung, die bis heute zu meinen Lieblingsversionen gehört.

    Beim ersten Erscheinen auf LP (Columbia STC 91352) schrieb der Kritiker Carl-Heinz Mann darüber in FonoForum:

    "Die geistige Höhenluft einer großen, einer vollkommenen Aufnahme liegt über dieser Einspielung. Alle Akzente, alle Gestik, alle Ausbrüche dieser zerklüfteten, grellfarbigen Partitur sind eingefangen - aber schlanker, klarer, durchsichtiger und ohne jede artistische Kühle, die hier fast unausweichlich scheint. Weniger wirr als Berlioz' phantastischer Geist, weniger romantisch und doch in idealer, überzeitlicher Erfüllung der Musik - ein seltener Vorgang.

    ….. Klemperer gibt bereits der tastenden Einleitung Einheit und Ziel. Schon hier läßt der schneidende, stampfende Begleitrhythmus aufhorchen, der den äußersten Gegensatz zur sensibel ausgehörten Melodik bedeutet. Allein die kurze Einleitung des Ballwalzers zeigt (Klemperer) als den Meister des orchestralen Kolorits, der Beginn der 'Szene auf dem Lande' seinen Sinn für die Musik gewordene Rede: Eine kleine Wendung im Thema des Englischhorns vom Gewohnten weg, und alle Naivität, alle ländliche Idylle ist verschwunden. Diese scheinbar friedliche Welt trägt das zerrissene Antlitz des kranken Helden dieser Sinfonie. Die Beklemmung, die sich gewöhnlich erst am Ende des Satzes einstellt, ist vom Beginn an eingefangen.

    Völlig verwandelt scheinen die letzten beiden Sätze. Alles Illustrative ist entfernt, die schaurige, echte Größe leuchtet durch alle thematische Bizarrerie, durch alle rhythmische Ungeheuerlichkeit hindurch. Zu bewundern ist - neben der Leistung Klemperers - das superb spielende, sensibel reagierende Orchester .... eine der bemerkenswertesten Schallplatten der letzten Monate."

    Ich habe den Text in gekürzter Form wiedergegeben; er drückt auf unnachahmliche Weise aus, was man beim Hören dieser ungewöhnlichen Interpretation empfindet. Vielleicht gibt es noch den einen oder anderen Klemperer-Fan, der sie kennt und schätzt.


    LG Nemorino

    Die Welt ist ein ungeheurer Friedhof gestorbener Träume (Robert Schumann).