Teil I
Die Krönung von Henry Tudor zum englischen König markierte 1485 das Ende der fast dreißigjährigen Wirrnisse der Rosenkriege, welche Teile der musikalische Überlieferung und Produktion jener Zeit zerstörte oder absorbierte. Das Ende des 15. Jahrhunderts zusammengestellte Eton Choirbook zeigt Erstaunliches - oder auch nicht: Englische Kontinuität lässt sich durch sporadisch anfallende Banalitäten nicht erschüttern. Die formalen Eigenheiten der Antebellum-Literatur, wie etwa der ausgeprägte Diskantsatz, Dreiklänge oder eigenwillige rhytmische und melodische Wendungen leben fort. Gegenüber den Einflüssen Dunstables und seiner späten Zeitgenossen bleiben kontinentale Impulse zunächst eher marginal. Wichtiges Element dieser Eigenständigkeit ist die Liturgie des Sarum-Ritus, dessen musikalische Komponenten nicht unerheblich von kontinentaleuropäischen Beispielen abweichen. Noch die heutige so unprotestantisch anmutende Liturgie der Anglikanischen Kirche ist Produkt dieses überaus prunkvollen Sarum-Usus, der einen entsprechend prachvoll klingenden musikalischen Anteil verlangte. Diesen Anteil kennzeichnet eine sehr komplexe, vielstimmig-klangprächtige Kontrapunktik, die in ihrem ornamentalen Charakter im Vergleich mit Josquin zu einer mehr horizontalen als vertikalen Verdichtung des Materials führt.
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Eine Gesamteinspielung der aufführbaren Werke des Eton Choirbook stammt von "The Sixteen", die CD's sind auch einzeln erhältlich. Rechts eine neue Auswahl weniger bekannter Stücke durch das Huelgas Ensemble.
Die reich-dekorative zeitgenössische Architektur des Perpendicular ist wohl mehr als nur parallele Erscheinung - vielfach festgestellt, da unübersehbar. Ornamentale Linearität, mäandrierende Verstrebungen, Mannigfaltigkeit kennzeichnen Musik wie Baukunst jener Zeit in England. Aufführungen etwa in der King's College Chapel machen somit Kontinuitäten auf verschiedenen Ebenen erfahrbar.
Unter den im Eton Choirbook vertretenen Komponisten ist es neben Fayrfax und Browne vor allem William Cornysh, dessen flamboyanten Werken die spätgotische englische Baukunst so sehr entspricht. Er war Hofkomponist des musikliebenden ersten Tudorkönigs. Das Gewölbe der Kapelle Heinrich VII. im Scheitel von Westminster Abbey ist so etwas wie das optische Äquivalent dieser Musik.
Hier die bislang einzige "monographische" Einspielung der Werke von William Cornysh.
Dem angesprochenen Sinn für liturgische Festlichkeit tragen Formate wie das Magnificat Rechnung, welches, ähnlich wie Hymnen, in überdurchschnittlich großer Zahl überliefert ist. Möglichweise stammen die frühesten mehrstimmigen Kompositionen von der Insel. Die häufig diskantlastigen Werke entspringen in ihrer englischen Frühform dem improvisationsgebunden dreistimmigen Fauxbourdon. Später verdichtet sich das Satzgefüge und die Zahl der Stimmen wird ausgeweitet. Textverständlichkeit ist kein wichtiges Gebot, doch werden inhaltsbezogene Zäsuren durch Wechsel der Stimmenzahl, Kadenzen oder Fermaten (nach)vollzogen. Das großartigste Canticum aus dem Beginn der Tudorzeit stammt von Cornysh, wobei auch hier, typisch englisch, die canti fimi älterer Stücke dieses Genres die Grundlage bilden. Nur in zwei späteren Magnificat von Thomas Tallis finden sich nach kontinentaleuropäischer Manier canti firmi über Choralthemen. Der Stil ist hier bereits imitierend.
Die Unbekanntheit John Brownes ist kaum verwunderlich. An den Werken liegt's allerdings nicht.
Marien-Antiphone und Freie Motetten zeugen von einer besonderen Form der Marienverehrung. Colleges in Cambridge, Eton und Oxford schrieben solche abendliche Gesänge als halbliturgisch vor. Die frühesten Werke sind dreistimmig mit einem vom Tenor ausgehenden wandernden Pseudo-cantus-firmus. Mit der Tudorzeit werden die Formen wesentlich komplizierter. Bemerkenswert sind John Brownes "Salve regina", "O Maria Salvatoris mater" und "O regina mundi". Ein weiteres herausragendes Stück ist wiederum Cornyshs "Salve regina", wie sein Magnificat ein imitationsarmes Werk von raffinierter Klangestaltung, häufigem Stimmlagenwechsel und extremen Ambitus von mehr als drei Oktaven. Zwecks Erlangung dieser expressiven Effekte werden seit 500 Jahren Soprane vermittels einer üblen Tessitura gequält. Englische Kontinuität...
Fortsetzung folgt !