Französischer Gesangsstil

  • Guten Tag,


    ich beschäftige mich zur Zeit intensiv mit Massenets Werther. Von Thill bis Kaufmann habe ich mich durch mehrere Aufnahmen gehört. Ich lese immer wieder davon, dass die Oper heute immer von "im italienischen Stil" singenden Sängern vorgetragen wird und nicht mehr im ursprünglichen "französischen Gesangsstil".


    In welchen Kriterien unterscheiden sich diese Gesangsstile, was sind die stilgebenden Merkmale?


    Ganz herzlichen Dank im voraus.

    Beste Grüße, KFB


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    Being individual is more important than being popular

  • Wenn Sie sich mit dem Werther schon intensiv beschäftigt haben werden Ihnen schon einige Unterschiede zwischen den verschiedenen Aufnahmen aufgefallen sein. Etwa der Unterschied zwischen einem Corelli/Di Stefano/Kaufmann und einen Thill/Vanzo/Kraus


    Ich empfinde das A und O immer die Sprache. Nur ganz wenige nicht-Franzosen kommen in diesem Fach an die natives heran. Was gab es da einmal vor 70-100 Jahren einmal in allen Stimmlagen für eine unglaubliche Vielfalt hervorragender französischer (und belgischer) Sänger...
    Riskieren Sie auch noch einige Aufnahmen vor Thill (Arien und Szenen, keine Gesamtaufnahmen - bzw Cesar Vezzani und Charles Friant haben glaube ich große Querschnitt aufgenommen).
    Da gibt es viel zu entdecken. Edmond Clément oder Tito Schipa um nur zwei zu nennen.


    Die tragenden Säulen der französischen Gesangskunst sind: diction, clarté, élégance.


    Also die Sprache, die Aussprache - hören Sie wie die Franzosen ihre Sprache, die Worte beinahe liebkosen und und wie ein Gourmand fein abschmecken. Die Sprache ist ganz klar und deutlich. Das setzt allerdings voraus, dass die Stimme einen guten Sitz hat, weit genug "vorne" - denn mit einer gutturalen, halsigen, gaumigen, verknödelten Stimme lässt es sich nicht klar und gut phrasieren. Die italienische Sprache ist naturgemäß etwas offener und breiter und auch gutturaler. Viele Italiener tun sich im französischen Fach oft schwer, die entsprechende Leichtigkeit zu finden und zwar in der Sprache etwas "schmäler" zu werden, aber wiederum nicht zu eng und gepresst.

    Eine klare, saubere Gesangslinie ohne angeschliffene Töne, zu viele portamenti und schmieriges Schluchzen.


    Und vor allem Leichtigkeit. Das bedeutet aber überhaupt nicht automatisch oberflächlich und leichtgewichtig. Es bedeutet vor allem die Schwere und die Anstrengung nicht hörbar zu machen. Nichts ist im französischen Repertoire uneleganter als die Elefanten im Porzellanladen, die sich durch die Partitur quetschen und stemmen.


    Der Werther und Massenet im allgemeinen hat schon eine eher dichte und teilweise schwere Orchestrierung, da muss man handwerklich schon solide sein, um die Balance zwischen packend und leichtfüßig zu halten.
    Das französische Repertoire ist gar nicht so leicht zu singen wie es scheinen mag. Es verlangt viel Fertigkeit, stimmliche Elastizität und Fingerspitzengefühl.

  • Lieber Karl-Friedrich Börne,


    es freut mich, dass Du hier einen Thread eingerichtet hast, in der wir uns einmal intensiver mit der Frage nach den Spezifika des französischen Gesangsstils befassen können!


    La Gioconda hat in ihrer Antwort auf Deine Frage ganz treffend darauf hingewiesen, wie zentral für die französische Tradition in der Gesangskunst die Sprache ist. Französische Komponisten entwickeln ihre melodischen Linien wirklich eher als die Komponisten anderer Länder aus dem Klang der Sprache. Von den Sängern werden deshalb zunächst einmal Klarheit der Artikulation und Eloquenz der Aussprache verlangt. Da aber die Franzosen, wie Gioconda ganz treffend anmerkt, ihre Sprache lieben - oder anders gesagt: in ihre Sprache verliebt sind, darf sich dabei auch nichts in den Vordergrund drängen, was die Schönheit und Anmut, die Noblesse und die Eleganz der Sprache stört oder gar überlagert. In der französischen Tradition also steht nicht die Produktion prachtvoller Töne im Vordergrund sondern vielmehr das Bemühen, die Worte ganz vorne - gleichsam im Bereich von Zähnen und Lippen - zu formen: schlank, leicht, klar und vor allem plastisch. Und ganz wichtig ist es, die Farbwerte der französischen Oral-Vokale und Nasal-Vokale richtig zum Klingen zu bringen und harmonisch mit den Konsonanten zu verbinden.


    Nirgends kann man das besser hören als bei dem von Gioconda schon genannten Edmond Clément! Da hört man dann auch, welch ein Reichtum an Farben und Nuancen aus der Sprachmelodie gewonnen werden kann und wie das die Hörer verzaubert - obwohl der Sänger nicht mit der Opulenz einer Prachtstimme aufwartet und obwohl er ganz darauf verzichtet, -ich sag es mal etwas flapsig - Ausdruck zu produzieren! Hör Dir die Traumerzählung des Des Grieux (Manon) oder eben das Ossian-Lied (Werther) von Edmond Clément an! Da wirst Du schnell verstehen, was Gioconda erläutert hat.


    Leider ist inzwischen die französische Tradition fast verloren gegangen. Das war ein Verdrängungsprozess, der schon im ersten Teil des 20. Jahrhunderts begonnen hat und sich in der zweiten Hälfte dann massiv beschleunigte. Selbst in Partien wie Werther, Romeo, Faust, und José werden jetzt eher Sänger besetzt, die aus der italienischen Tradition kommen und diese Partien singen als stammten sie von italienischen Komponisten des Verismo. Wirklich herausragende französische Tenöre hat es in den letzten fünf oder sechs Dekaden allerdings nicht mehr viele gegeben. Natürlich Simoneau (der ist freilich französisch sprechender Kanadier gewesen), Vanzo und Legay! Und weiter?
    Nun: immerhin hat es Tenöre gegeben, die zwar selber nicht aus einem französisch sprachigen Land kamen, aber doch die vokale ars gallica gepflegt haben. Zuvorderst wären da Gedda und Kraus zu nennen, vielleicht noch Leech. Aber man muss nur mal schauen, welche Besetzungen der großen Tenorpartien in den Gesamteinspielungen französischer Opern des 19. Jahrhunderts angeboten. Da stehen denn doch die am Markt geschätzten Tenöre im Vordergrund, und denen ist die "l'amour de la parole" ganz fremd. Schönheit und Poesie der Sprachgestaltung bleiben bei ihnen ebenso auf der Strecke wie elegische Anmut, die für Partien wie Des Grieux und Werther, Nadir und Romeo, aber auch Vasco und Aeneas doch ganz wesentlich ist.


    Es lohnt sich, diesem Unterschied zwischen italienischer und französischer Tradition durch vergleichendes Hören weiter nachzuspüren: Wir sind ja in verschiedenen Threads schon in einer intensiveren Diskussion darüber gewesen.


    Ich erinnere an den Threads
    'Welche Anforderungen stellt "klassische Musik" an die Hörer?'oder: 'Musikkritik - Vergleichendes Hören - und ähnliche Unarten'
    und natürlich an die Threads 'Welche Arie von welchem Tenor?'


    Bei einem solchen vergleichenden Hören kann man schnell feststellen, wie sehr wir uns schon daran gewöhnt haben, diese französischen Arien von Sängern zu hören, die zwar in französischer Sprache singen aber sich nicht der französischen Tradition verpflichtet wissen. Und wir haben uns nicht nur daran gewöhnt, wir genießen es auch, wenn Werther sein Leiden heraussingt als sei er Canio und wenn Romeo die Pracht seiner stimmlichen Mittel ausstellt.
    Vielleicht darf ich an dieser Stelle noch mal einen Gedanken aufnehmen, den ich schon mal in einer früheren Diskussion zu formulieren versucht habe:
    Bei einem langen und intensiven Hören vieler verschiedener Aufnahmen der[/color] Vasco-Arie (Meyerbeer L'Africaine - oder wie es jetzt wieder heißt Vasco da Gama) ist mir sehr deutlich geworden, dass man über ein solches vergleichendes Hören einzelner Arien nicht nur Sänger und ihre Gesangsleistungen genauer kennen lernt und begründeter beurteilen kann.
    Vor allem erfährt man durch das Hören verschiedener Deutungen mehr über die jeweilige Arie selbst und darüber, was in ihr mitgeteilt wird, worum es in ihr geht und was sie uns zu sagen hat. Wir können gerade durch das intensive vergleichende Hören viel erfahren über die dramatische Funktion der Arie, ihre ästhetischen Potentiale und ihre emotionalen Botschaften.
    Im konkreten Fall der Vasco-Arie ist mir nun aufgefallen, dass es einen wirklich grundsätzlichen Unterschied zwischen den Aufnahmen gibt, die in französischer Sprache und von Sängern der französischen Gesangsschule gesungen werden, und solchen Aufnahmen, die in italienischer Sprache und im italienischen Stil gesungen werden. Die Arie gewinnt jeweils einen ganz anderen Charakter und so wird auch die Figur des Vasco unterschiedlich profiliert! Vielleicht sollten wir das mal in dem Thread
    Welche Arie von welchem Tenor? eingehender darstellen und diskutieren. Hier ist mir erst mal nur wichtig, den Eindruck selber zu thematisieren. In den meisten italienisch gesungenen Aufnahmen (Tagliavini wäre eine der wenigen Ausnahmen) erscheint Vasco als der - etwas plakativ zugespitzt - Eroberer! Besonders imponierend bei Lauri-Volpi oder Pertile, aber auch bei Cortis und Gigli - bei Monaco sowieso! Es dominiert der Gestus des Besitzergreifens.
    Bei den aus der französischen Kulturtradition kommenden Tenören hört man eher, wie fasziniert und hingerissen sie sind, wie das, was sie sehen, sie bewegt und verzaubert. Und selbst das 'Monde nouveau, tu m'appartiens. Sons donc à moi, à moi, ô beau pays' klingt vor allem überwältigt und berauscht. Wenn man Paul Franz, Fernand Ansseau, George Thill oder auch Sidney Rayner hört, ist das irgendwie eine andere Arie als bei den genannten Italienern. Mir ist jetzt gar nicht wichtig, die einen gegen die anderen auszuspielen. Vielmehr wollte ich nur aufmerksam machen, wie man über ein vergleichendes Hören erfahren kann, was alles in einer Arie drin ist (oder was aus ihr alles herausgelesen werden kann!).


    Wir werden uns daran gewöhnen müssen, dass heute auch in einer Partie wie Werther eher Sänger reüssieren, die reiche stimmliche Mittel entfalten und ihre Gefühle und Leidenschaften effektvoll auszustellen wissen, als Sänger, denen es darum geht, melodische Linien, ihre harmonische Faktur und ihren poetischen Sinn aus der Sprache heraus zu formen.


    Aber Du, lieber Karl-Friedrich Börne, sagst ja in Deiner Signatur " Being individual is more important than being popular"! So hoffe ich denn, dass die spezifische französische Tradition der Gesangskunst nicht verloren geht und weiter Freunde und Bewunderer findet.


    Immerhin: Ich bewundere seit einiger Zeit einen jungen Tenor, der die französische Gesangskunst pflegt! Ich habe ihn inzwischen als Aeneas (Berlioz: Les Troyens), Faust (Gounod), Robert (Meyerbeer) und Henri (Verdi: Les vêpres siciliennes) bewundern konnte: Bryan Hymel.


    Soviel erst mal für heute! Ich bin gespannt, ob dieser Thread auch andere Opernfreunde und Melomanen interessieren wird. Hoffen wir es!



    Mit besten Grüßen


    Caruso41

    ;) - ;) - ;)


    Wer Rechtschreibfehler findet, darf sie behalten!

  • Vielen Dank für die ausführlichen und hilfreichen Antworten.
    Wenn ich das Gesagte richtig interpretiere, wäre dann allerdings der allerorts in dieser Rolle hochgelobte J. Kaufmann mit seiner gaumigen, wie schrieb man hier "knödeligen" Stimme, eigentlich fehlbesetzt?
    Liegt das dann vor allem am Diktat der Medien?

    Beste Grüße, KFB


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  • Vielen Dank für die ausführlichen und hilfreichen Antworten.
    Wenn ich das Gesagte richtig interpretiere, wäre dann allerdings der allerorts in dieser Rolle hochgelobte J. Kaufmann mit seiner gaumigen, wie schrieb man hier "knödeligen" Stimme, eigentlich fehlbesetzt?
    Liegt das dann vor allem am Diktat der Medien?

    Man kann jede Partie auf unterschiedliche Weisen angehen. Man kann einen Werther sehr lyrisch, poetisch und verinnerlicht anlegen - wenn man ein eher lyrischer Tenor ist (Clément, Schipa, Giacinto Prandelli, Kraus) und die dramatischen Stellen, wo man sich über das Orchester hörbar machen muss clever anhand des Textes und mit "accento", mit intensiver Akzentuierung des Textes, bewältigen, wenn man das Volumen und die Stimmgewalt nicht hat. Man kann den Werther auch mehr als extrovertierten "Seelenstripper" verstehen oder mit größer kalibrigen Stimmen (César Vezzani, Corelli, di Stefano, Kaufmann) eher auf den großen Bogen, auf den stimmlichen Effekt setzten als auf fein ausgefeilte, duftige Phrasen.
    Ich finde, beide Zugangsweisen haben ihre Berechtigung - WENN sie gesanglich durchdacht und gesanglich gut ausgeführt werden. Bei Kaufmann finde ich extrem störend, dass die Stimme nur im forte in der Höhe beeindruckend ist. Das ist auf die Dauer eintönig und monoton. Die piani klingen halsig und verquetscht, die vielen Zwischentöne, das mezza voce, die voix-miste, das geht unter, weil die Stimme generell nicht besonders gut trägt, weil sie so weit hinten sitzt; kommt daher wenn man eher auf einen breiten, wuchtigeren Klang gehen möchte - dann riskiert man, dass die Stimme gaumig, knödelig klingt und im Extremfall schwerfällig und schwer manövrierbar wird, Elastizität und Spannkraft verliert. Die Aussprache ist durch diese breite Stimmführung auch schwammig. Verve als Interpret und das Aussehen für die Rolle hat er - aber ich finde die Stimme und noch mehr seine Art zu singen im französischen Repertoire für mein Verständnis, wie ich diese Musik verstehe, nicht passend. Da gefällt mir am ehesten noch sein Don José....
    Diktat der Medien - ja auch. Generell glaube ich aber dass das Publikum (heutzutage) eher den äußerlichen Effekt, den "großen Bogen", die Emphase wünscht. Dann klingen allerdings auch Bellini, Donizetti oder Gounod oder Verdi schnell wie Puccini oder Mascagni.


    Wie gefällt er Ihnen - oder was gefällt Ihnen bei anderen Sängern besser?
    Ich finde es immer enorm lohnend sich ein Stück herzunehmen zB die "évocation de la nature" "O nature, pleine de grace", das so viele Zwischentöne und Nuancen erfordert, und das von verschiedenen Sängern zu hören. Manchmal glaubt man gar nicht, das das dieselbe Musik ist... Viel Spaß dabei! :)

  • Ganz ohne Frage hat Jonas Kaufmann die für den Werther stimmige "Physique du rôle"!
    In einer Bühnenaufführung kann ich ihn durchaus akzeptieren - auch wenn er nicht wirklich den Ansprüchen genügen kann, die in der französischen Tradition der Gesangskunst höchste Priorität haben. Die habe ich ja oben bereits kurz skizziert und muss nichts davon wiederholen.


    Wenn ich aber Kaufmann zu Hause als Werther nicht sehen kann sondern allein über die Lautsprecher höre, dann finde ich ihn ehrlich gesagt nur schwer erträglich.
    Gioconda hat schon ausgeführt, welche Eigenheiten seiner Stimme und seiner Gesangstechnik ihn für dieses Fach eher problematisch erscheinen lassen. Dem kann ich nur ganz und gar zustimmen.


    Hinzu kommt noch etwas: in seiner Art, die Partie zu singen will sich die elegische Anmut, die viele von Werthers Gesangslinien erst so unwiderstehlich und den Hörer süchtig macht, nicht recht entfalten. Stattdessen vermittelt er seine Bekümmertheit, seinen Liebesschmerz und sein Leiden in histrionischen Gesten, die der musikalischen Linie aufgesetzt sind, ja: sie fast erdrücken! Ganz abgesehen davon, dass dies eher in der italienischen Oper akteptabel wäre als in der franzöischen , es verändert auch das Profil der Figur, die etwas Extrovertiertes bekommt, das nun wirklich nicht zu ihr passt.


    Wenn man Vezzani hört, erlebt man, wie auch mit einer echt großen Stimme immer wieder dieses "nach Innen"-Süchtige von Massenets Werther Gestalt gewinnen kann - eben weil er ganz plastisch die Linien aus dem Wort formt.


    Nun wird nicht Jeder den kompletten Werther in einer Aufnahme von 1930/31 hören wollen.
    Das ist meiner Meinung nach auch nicht unbedingt nötig. Unter den Werther-Interpreten der jüngeren Interpretationsgeschichte fehlt es ja nicht vollständig an Sängern, die durchaus den Anforderungen der französischen Gesangskultur entsprechen. Da wäre einmal Alagna zu nennen, dessen Stimme allerdings leider nicht mehr in bestem Zustand war, als er die Gesamtaufnahme machte. Ihn sollte man in dem Mitschnitt seines Rollendebuts in London hören.
    Deshalb wäre meine erste Empfehlung Ramon Vargas, der in seiner Aufnahme unter Jurowski wirklich dem Ideal näher kommt als die meisten Interpreten nach Gedda und Kraus.


    Aber mit dieser Bemerkung will ich einer gründlichern Diskussion über Werther-Interpreten nicht vorgreifen!


    Beste Grüße


    Caruso41

    ;) - ;) - ;)


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  • Da wäre einmal Alagna zu nennen, dessen Stimme allerdings leider nicht mehr in bestem Zustand war, als er die Gesamtaufnahme machte. Ihn sollte man in dem Mitschnitt seines Rollendebuts in London hören.

    Ich bin kein wahnsinnig großer Fan von Alagna, aber der Werther ist mit Abstand eine seiner besten Rollen, in denen ich ihn gehört habe.
    Radames, Manrico, Chénier, Calaf, Riccardo (Maskenball) - zum vergessen. - da hat er mittlerweile so viel stimmliche Substanz verpulvert, die er im französischen Fach viel passender einsetzen hätte können. Auch sein Roméo in seiner besten Zeit war schon etwas.


    Ich habe seinen Werther in Wien vergangenes Jahr gehört - stimmlich wohl auch nicht ganz fit und stellenweise ist er mit der doch dichten Orchestrierung ein wenig an seine Grenzen geraten. Trotzdem hat er einen schwachen Abglanz von dem vermittelt, was noch aus der französischen Tradition stammt. Allein die Sprache ist Gold wert, den Instinkt für die Musik, Gespür für timing und Nuancen (auch wenn sie ihm gesanglich nicht immer so gelungen sind wie er sie beabsichtigt hat).

  • Ich bin kein wahnsinnig großer Fan von Alagna, aber der Werther ist mit Abstand eine seiner besten Rollen, in denen ich ihn gehört habe.
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    Ich habe seinen Werther in Wien vergangenes Jahr gehört - stimmlich wohl auch nicht ganz fit und stellenweise ist er mit der doch dichten Orchestrierung ein wenig an seine Grenzen geraten. Trotzdem hat er einen schwachen Abglanz von dem vermittelt, was noch aus der französischen Tradition stammt. Allein die Sprache ist Gold wert, den Instinkt für die Musik, Gespür für timing und Nuancen (auch wenn sie ihm gesanglich nicht immer so gelungen sind wie er sie beabsichtigt hat).


    Das hast Du ganz treffend formuliert, liebe Gioconda!


    Frage: wie findest Du denn Vargas in der Partie??
    Sein Timbre ist sicher nicht französisch und man hört auch, dass französisch nicht seine Muttersprache ist, aber ich ziehe ihn als Werther eigentlich allen Tenören unserer Tage vor - eben weil er die Standards der französischen Gesangkultur ernst nimmt und ihnen auch sehr überzeugend gerecht wird.


    Vielleicht wäre Bryan Hymel eine Alternative. Er hat den Werther auch im Repertoire, aber ich habe ihn in der Partie noch nicht gehört.



    Beste Grüße
    Caruso41



    :angel:

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  • Vargas ist als Interpret halt so wahnsinnig blass. Da dürfen es beim Werther bei aller Gesangskultur stimmlich schon auch hier und da kräftigere Farben sein.
    Vargas ist ein sehr solider und bemühter Sänger - obwohl er sich mit Ballo und vor allem Don Carlo meiner Meinung nach stimmlich langfristig total übernommen hat. Das hört man mittlerweile leider auch.
    Manon war ok. Werther hab ich ihn nicht live gehört. Ich finde ihn wie gesagt solide aber in keiner Beziehung außerordentlich. Aber im Vergleich zu vielen anderen immer noch sehr gut. Alles ist eben relativ...
    Von Hymel noch gar nichts live gehört.

  • Liebe Gioconda,


    da urteilst Du für meine Begriffe doch etwas hart!



    Ich kann nicht bestreiten, dass Vargas als Persönlichkeit und Darsteller auf der Bühne nicht unmittelbar für sich einnimmt. Aber wenn man sich ganz auf seine sängerische Leistung konzentriert, dann erlebt man ungemein fein nuancierte, ebenso klug konzipierte wie emotional fesselnde Rollenportraits. Gerade bei Werther.


    Über seine sichere Technik, sein Stilempfinden und seinen Geschmack werden wir nicht streiten müssen. Du wirfst ihm nun vor, er sei als Interpret jedoch blass. Das kann ich nicht nachvollziehen - jedenfalls nicht solange es um das französische Fach geht und speziell um Werther. Da belebt er jede seiner fein ausgeformten Phrasen mit wundervollen dynamischen Nuancen und einer Fülle von Schattierungen und Farben. So vermittelt er - für mich zumindest - die Glut des jungendlichen Überschwanges und das Berauschtsein an seiner Liebe ebenso glaubhaft wie seine Wut und Verzweiflung. Vor allem hört man bei ihm, was meiner Meinung nach für Massenets Werther ganz wichtig ist, dass seine Schwärmereien und Ekstasen, seine Melancholie und sein Leiden immer auch einen Zug von Narzissmus haben. Das ist ja bei vielen Tenorpartien in der französischen Oper ein Charakteristikum: die Herren neigen zu Ichbezogenheit und Eigenliebe und sind ziemlich überspannt, oft unerträglich larmoyant. Ich finde, dass gerade bei Vargas dieser Wesenszug des Werther genau erfasst wird. - Vielleicht liegt es eben daran, dass er Dich und manch anderen Opernliebhaber nicht recht erreicht. Da haben es die Interpreten, die "einfach nur" leidenschaftlicher Liebhaber und dann tief Enttäuschter, Verzweifelter und Leidender sind, vielleicht leichter.


    Aber: ich will um Himmels willen nicht psychologisieren. Davon verstehe ich nicht wirklich was. Ich wollte Dich nur ermutigen, Dich noch mal auf den Werther von Vargas neu einzulassen. Dabei sollte man ruhig die CD-Einspielung aus Berlin nehmen, obwohl manche seiner Mitschnitte aus der nämlichen Zeit ein wenig spontaner und direkter, vielleicht damit auch wirkungsvoller sind.
    Wie auch immer: ich zögere nicht, Vargas in eine Linie zu stellen mit Tenören wie Muratore, Ansseau, Fleta, Tagliavini und Legay!



    Friant, Thill und Vezzani wären dann eine andere Linie... - und auch die genieße und schätze ich!


    Mit bestem Gruß


    Caruso41


    .

    ;) - ;) - ;)


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  • Vielen Dank für die vielen interessanten Ausführungen und Anregungen. Jetzt habe ich erst einmal neues geistiges Material, um mich mit der Angelegenheit vertieft zu befassen.

    Beste Grüße, KFB


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  • Lieber Karl-Friedrich Börne,


    ich bin neugierig, welche Erfahrungen Du dabei machst und welche Einsichten Du gewinnst. Du wirst doch sicher mal darüber berichten? Ich fände das sehr spannend.
    Irgendwie irritiert mch ja immer wieder, wie wenig Interesse viele Opernfreunde und Stimmenliebhaber an Fragen des Gesangsstils haben. Wenn ich hier manchmal lese, dass Sänger in Partien gerühmt werden, für die sie ausser einer mehr oder weniger prächtigen Stimme eigentlich gar nichts mitbringen, dann graust es mich schon sehr!


    Also: Viel Vergnügen und viel Gewinn bei Deinen Erkundungen in Reich der französischen Oper!
    Dass Du dabei vom Werther ausgehst, macht wirklich Sinn, denn diese Partie können eher lyrische Tenöre ebenso überzeugend singen wir dramatische Tenöre.



    Übrigens: vielleicht interessiert Dich auch die eingehende Debatte, die hier im Forum mal über Interpreten des Chapelou, also den Postillon von Lonjumeau geführt wurde!


    Da wurden auch verschiedentlich Fragen des französischen Stils thematisiert.
    Guckst Du hier:


    Der beste Chapelou?


    Und das ist Chapelou mit der Madame de Latour:



    Beste Grüße


    Caruso41

    ;) - ;) - ;)


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  • Lieber Caruso41,


    das liegt sicherlich einfach an den medial indoktrinierten und irgendwann als eigene Meinung angenommenen Geschmacksdiktaten.
    Der oben zitierte Herr Kaufmann kann mich weder als Werther noch als als Wagnersänger überzeugen. Alle hier im Forum ausgesprochenen Empfehlungen gefallen mir quasi durch die Bank besser. Gleichwohl wird er förmlich weltweit als DER Star am Wagnerhimmel gehandelt und nebenbei beherrscht er noch zig andere Fächer, verhilft vorgeblich der französischen Gesangskultur zur Résurrection? Vielleicht dank seiner Physiognomie, ohne welche er AMHA nicht mal in der ersten Garde genannt würde.
    Gut, es sollte hier auch nicht primär um Herrn Kaufmann gehen; er kam ja nur über die Einspielung mit Sophie Koch hier ins Spiel.
    Meinem persönlichen Hörgeschmack kommt nach stundenlangem Vergleichshören bisher die Gedda-Aufnahme am nächsten.
    Vielen Dank noch einmal!

    Beste Grüße, KFB


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  • Lieber Caruso,


    ich bin auch schon seit ca. einem Jahr ein Fan von Bryan Humel. Das erste Mal hab ich ihn in Les Troyens aus der Met gehört. Und vor kurzem hab ich ihm im Kino in Verdis sizilanischer Vesper aus London gesehen. Er ist einer der wenigen Tenöre die sowohl den französischen als auch den italienischen Gesangsstiel singen kann. Er sieht zwar nicht so gut aus wie Herr Kaufmann , kann aber viel besser singen. Anlässlich der Premiere der französischen Don Carlo Fassung an der Rheinoper hab ich mal einen Dramaturgen gefragt, warum an den Opernhäusern fast nur die italienische Fassung gespielt wird. Da bekam ich zur Antwort das die Italienische Fassung viel eingänglicher für das Publikum sei als die Französische und das die meisten Tenöre den französichen Carlo nicht im Repertroire haben, da er viel schwieriger und anstrengender sei als der italienische. Ramon Vargas hab ich mal bei einer Gala Veranstaltung an der Rheinoper erlebt. Er singt zwar alles perfekt, sieht aus wie ein knudelliger Teddybär, aber an seiner Stelle könnte auch ein ROboter auf die Bühne stellen. Er hat leider überhaupt keine Ausstrahlung.

  • Lieber Rodelfo,


    nur mal ganz schnell zu Bryan Hymel:


    Seinen Robert kann man immerhin in zwei Versionen auf CD beziehungsweise DVD hören:


    . . .


    Es gibt auch eine Carmen mit ihm:



    Es wäre sicher sinnvoll, diesen interessanten Sänger in einem eigenen Thread vorzustellen und zu diskutieren!


    Seinen Aeneas habe ich jetzt dreimal live gehört. Und jedes Mal hat er mich mehr überzeugt:
    Besonders großartig war er in der Met in der Aufführung am 5, Januar 2013.
    Da diese Auführung im Radio übertragen wurde, konnte ich sie mitschneiden und mir auf CD brennen.
    Darüber bin ich sehr froh, da auch Susan Graham als Dido sensationell gut war!


    Zu Deinen anderen Punkten komme ich später!
    Dann werde ich auch noch mal auf Karl-Friedrich Börne eingehen.


    Heute war das Wetter nicht ideal zum Sitzen am PC! Und jetzt beginnt die Sportschau!



    Einen schönen Abend noch!


    Caruso41

    ;) - ;) - ;)


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  • Lieber Karl-Friedrich Börne


    da hast Du Dich wirklich gut entschieden! Gedda ist immer ein hervorragender Sänger und gerade als Werther ein Vergnügen. Die Stimme passt bestens zu der Figur, klingt zur Zeit der Aufnahme noch jugendlich und hat doch schon die hier erforderlichen Farben und Schattierungen. Vor allem versteht sich Gedda vorzüglich auf den französischen Stil, um den es hier in desem Thread ja primär geht! Auch ich höre die Aufnahme immer wieder gern - zumal man hier die vielleicht hinreißendste Charlotte aller Aufnahmen hat.
    Wenn ich gleichwohl Gedda nicht an die Spitze meiner Liste der idealen Werther-Interpreten setzen würde, dann liegt das daran, dass ich ihn etwas glatt und studiert finde. Vielleicht liegt es ja daran, dass im Studio nicht die rechte Atmosphäre gegeben war? Vielleicht wurde die Aufnahme auch aus zu vielen Einzel-Takes zusammen gesetzt? Wie auch immer: ich höre nicht, dass dieser Werther von seiner Liebe und seiner Leidenschaft verzehrt wird, dass ihn seine Verzweiflung und sein Schmerz zerstören. Etwas hochtrabend gesagt: dieser junge Mann leidet nie und nimmer unter der Krankheit zum Tode.


    Deshalb würde ich George Thill wohl vor Gedda setzen. Seine Gesamtaufnahme gehört für mich zu den großen Aufnahmen der Schallplattengeschichte. Dass man es damals nicht für nötig hielt, den Intonationspatzer beim zweiten hohen B in Pourquoi me reveiller zu korrigieren, kommt uns heute kurios vor. Aber ich verstehe das so: vielleicht war man sich einfach sicher, dass so etwas den Gesamteindruck einer gloriosen Gesangsleistung in keiner Weise schmälert. Und in der Tat singt Thill mit einem gloriosen Ton, herrlich souverän und kontrolliert, ohne alle Äusserlichkeiten, ganz darauf vertrauend, dass sich durch die clarté de la diction und im Klang seiner reichen Stimme alles mitteilt, was diesen Werther bewegt.


    Aber auch Thill ist für mich nicht der ideale Werther. Da kämen eher Muratore, Ansseau und vor allem Friant in die Diskussion. Von denen existieren nur leider keine Gesamtaufnahmen.
    Aber es gibt doch einen Werther, der eine Gesamtaufnahme vorgelegt hat, und den ich als idealen Interpreter der Partie empfinde. Nur leider singt er in russischer Sprache. Es ist Ivan Koszloski! Auch wenn er nicht in französischer Sprache singt, sind seine Eleganz und sein Raffinement so idiomatisch, dass man schliesslich kaum mehr bemerkt, dass er russisch singt. Er hat eine reiche Palette von Farben und dynamischen Abstufungen wie kein anderer. Er hat die Poesie und den elegischen Ton für den jungen Mann ebenso wie die Verletztheit und Verzweiflung des Enttäuschten. Vor allem aber gibt es bei ihm nicht ein Wort, nicht einen Ton, nicht eine Phrase, die nicht ganz von Innen kommen und - besonders wichtig - nach Innen zurückführen und zurückwirken.


    Vielleicht ist eine bejahrte und russisch gesungene Gesamtaufnahme nicht der Werther für jeden Massenet-Süchtigen. Aber gehört muss man sie haben! Dann kann man ja ansonsten gut mit Gedda und - davon habe ich früher schon gesprochen - mit Vargas leben. Vielleicht auch noch - je nach Geschmack mit Alagna.


    Übrigens: wenn man nicht ganz so darauf fixiert ist, dass die Partie des Werther im französischen Stil gesungen werden muss, gibt es schon noch weitere Aufnahmen, die zu hören sich lohnt. Ich denke an Feruccio Tagliavini (mit Pia Tassinari), Giuseppe di Stefano (mit Giulietta Simionat), an José Carreras (Mit Federica von Stade).
    Und: Placido Domingos Studio-Aufnahme finde ich gründlich misslungen, aber sein Mitschnitt aus München unter Lopez-Cobos mit Brigitte Faßbaender ist schlicht aufregend!!


    Ein ganz großer Jammer ist es, dass leider Tito Schipa keine Gesamtaufnahme vom Werther hinterlassen hat.



    Beste Grüße


    Caruso41

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  • Lieber Rodolfo,


    Deine Frage, ob man nicht Verdis Don Carlo viel öfter in der französischen Fassung spielen sollte, müsste vielleicht besser in einem eigenen Thread diskutiert werden. Ich habe dazu keine dezidierte Meinung und finde gut, dass dieses Werk tatsächlich sehr unterschiedlich wirkt je nach dem ob man es in einer der italienischen oder in einer der französischen Fassung spielt.


    Allerdings: das Werk in der französischen Sprache aufzuführen und dann mit Sängern zu besetzen, die doch singen, als seien sie in einer italienischen Oper, das finde ich schlimm! Ich war seinerzeit ganz begeistert als Claudio Abbado sich entschloss, eine Gesamtaufnahme in französischer Sprache zu produzieren. Aber als ich die dann hörte, war ich total desillusioniert. Keiner der Sänger hat auch nur den leisesten Zugang zu dem, was wir hier in dem Thread als französische Tradition der Gesangskunst diskutieren. Grausig!


    Zum Glück ist ja inzwischen die Aufnahme von Antonio Pappano verfügbar, auf der man doch wenigstens idiomatische Sänger bekommt!


    Auf Ramon Vargas gehe ich nicht noch mal eigens ein. Deine Einwände sind absolut berechtigt. Ich hatte ja auch schon gesagt, dass er durch seine Persönlichkeit und Darstellung auf der Bühne nicht eben für sich einnimmt. Aber: zum Glück sieht man ihn ja auf der wunderbaren Aufnahme, die er gemacht hat, nicht! So kann man sie voll genießen. Aber darüber habe ich mich ja schon ausgelassen!


    Beste Grüße! Genieße den Tag!


    Caruso41

    ;) - ;) - ;)


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  • Ein ganz großer Jammer ist es, dass leider Tito Schipa keinen Gesamtaufnahme vom Werther hinterlassen hat.


    Beste Grüße
    Caruso41

    Da müssen wir uns leider mit den Studio Arien und den paar live Szenen mit Gianna Pederzini, wo er allerdings stimmlich nicht mehr taufrisch war, begnügen.

  • Suche nach einem idealen "Werther"

    Aber auch Thill ist für mich nicht der ideale Werther. Da kämen eher Muratore, Ansseau und vor allem Friant in die Diskussion. Von denen existieren nur leider keine Gesamtaufnahmen.

    Ja, lieber Caruso, das ist wohl wahr. Ich habe mir heute die Mühe gemacht - was heißt Mühe, es war ein Vergnügen - einige "Werther"-Vertreter, die dem Ideal meines Erachtens schon sehr nahe kommen, in wichtigen Szenen der Massenet-Oper zu hören. Der von Dir schon erwähnte und gelobte Charles Friant ist wirklich wunderbar. Man höre nur "Claire de lune" (mit Germaine Cernay), "J'aurais sur ma poitrine" oder das berühmte "Pourquoi me réveiller" - die Vorträge lösen, zumindest bei mir, große Begeisterung für das französische Singen aus. Hinsichtlich Phrasierung und sängerischer Intelligenz hält Friant hier sogar den Vergleich mit Edmond Clément (Referenz: Clements Aufnahmen v. 1911) aus.


    Beim Wiederhören der "Werther"-Szenen mit Gaston Micheletti (1892-1959) erlebte ich dann eine noch größere Überraschung. Sein Tenor ist ein lyrischer, herrlich timbrierter mit einem raschen Vibrato, das aber zu keiner Sekunde störend wirkt! Seine Töne haben allesamt Intensität und Leuchtkraft, die exponierten Spitzentöne singt er mit ebenso konzentrierter wie schlanker Tongebung. Die Aufnahmen des Korsen aus den Jahren 1927-1929 - erschienen bei Malibran - sind einfach herausragend!


    Auch Lucien Muratore (1876-1954) hatte die Qualitäten eines französischen Tenors. Seine Stimme, deutlich dunkler als beispielsweise die Clements oder Escalais', trifft dennoch stets den Nerv der Musik. "Un autre son époux" serviert er förmlich mit der Emphase der Verzweiflung. Großartig! (Referenz: Aufnahme v. 1906).


    Und schließlich habe ich in meine kleine "Werther"-Auswahl noch Léon Campagnola (1875-1955) einbezogen. Der, ebenso wie Muratore, aus Marseille stammende Sänger verfügte über einen prächtigen Spinto-Tenor, als "Werther" bringt er zuweilen Effekte des Verismo ein, singt aber gleichzeitig mit der Brillanz eines französischen Heldentenors. Für mich war auch er ein erstklassiger "Werther".


    "Menschen, die nichts im Leben empfunden haben, können nicht singen."
    Enrico Caruso


    "Non datemi consigli che so sbagliare da solo".
    ("Gebt mir keine Ratschläge, Fehler kann ich auch allein machen".)
    Giuseppe di Stefano

  • Lieber Manfred,


    Deine Anmerkungen zu den idiomatischen Werther-Interpreten habe ich mit Interesse gelesen. Und ich kann Dir voll und ganz zustimmen.


    Nur zu Léon Campagnola kann ich nichts sagen, da ich von ihm keine Szenen aus Werther habe.
    Wenn mich nicht alles täuscht, habe ich auch noch nie welche von ihm gehört.
    Ich werde also mal auf die Suche gehen, denn natürlich hast Du mich neugierig gemacht.


    Beim Suchen habe ich übrigens eine andere Entdeckung gemacht:


    In der Anthologie wird Werthers "Pourquois me reveiller?" von Ernest van Deyck gesungen.


    Er singt überraschend schnell, mit einer sehr plastischen Diktion und etwas ungewohnten Phrasierungen.
    Als Wagnertenor wird er ja immer als Exponent des Bayreuther "Sprechgesanges" genannt.
    Auch hier bei Massenet ist ihm am Wort mehr gelegen als an der Weise. Aber: nicht uninteressant! Und: mit fabelhaft müheloser und sehr genauer Intonation in jeder Lage! War schon interessant! Viele Aufnahmen dieses seinerzeit so wichtigen Belgiers gibt es ja nicht. Deshalb habe ich mich gefreut, durch unsere Werther-Debatte mal wieder auf ihn gestossen zu sein.


    Beste Grüße


    Caruso41

    ;) - ;) - ;)


    Wer Rechtschreibfehler findet, darf sie behalten!

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  • Hat mir vor vielen Jahren Tore in eine andere Welt geöffnet.


    Ich hatte das Glück, in den sechziger Jahren oft nach München zu kommen und da bin ich immer wieder im Schallplatten-Antiquariat von der Höhn gewesen, wo man viel Auswahl an Portraits von Sängern früherer Zeiten vorfand. Da habe ich viele LPs gekauft, die ich auch heute noch gerne höre und auf denen teilweise Aufnahmen sind, die noch immer nirgends auf CD eröffentlicht wurden. Das waren oft Labels, die heute niemand mehr kennt wie TAP, rococo, everest, odyssee, odeon, scala usw.


    Besonders die Aufnahmen französischer Sänger haben mich damals ungeheuer fasziniert. Für mich, der bis dahin Partien der französischen Oper fast nur von Sängern gehört hatte, die entweder total deutsch klangen (von Beilke und Trötschel über Schock und Fehenberger bis zu Metternich und Greindl) oder aber ganz im italienischen Stil sangen (ich nenne mal nur Beispiele wie Simionato, del Monaco, Uzunow und Bastianini), eröffnete sich da - wie Du richtig sagst - auch eine ganz neue Welt! Escamillo von Journet ist halt doch was anderes als von Metternich, und Carmen von Suzanne Juyol oder Solange Michel ist auch was anderes als von Margarethe Klose oder Georgine von Milinkovic.


    Was anderes? Ja, etwas total anderes - allerdings geht es dabei jetzt nicht um Qualität von Stimme und Technik, sondern um Stilfragen. Aber das genau ist ja das Thema dieses Threads!


    Mit der genannten Anthologie habe ich dann später noch viel mehr von dieser anderen Welt der Oper erkundet! Sie ist ein Schatz!
    Ganz wundervoll ist auch eine andere Schatztruhe:



    L'AGE D'OR DE L'OPERA-COMIQUE


    von ODEON (ORX 503-4-5)
    3 LPs mit einem großartigen Einführungstext von Jean-Louis Caussou und sehr guten Würdigungen der Sänger (Von Victor Maurel bis André Pernet)



    Aber die gibt es wohl weder auf CD noch zum Downloaden. Oder?


    Beste Grüße


    Caruso41

    ;) - ;) - ;)


    Wer Rechtschreibfehler findet, darf sie behalten!

  • Mit großem Interesse habe ich die fachkundigen Ausführungen über den französischen Gesangsstil gelesen. Seit dem letzten Beitrag sind zwei Jahre vergangen - gibt es inzwischen neben Bryan Hymel (dessen Bluray-Aufnahmen von Carmen, Les Troyens und Robert le Diable schon ganz oben auf meiner Einkaufsliste stehen) einen anderen Tenor, den die Kenner empfehlen würden? Ich habe es ja nicht so mit historischen Aufnahmen und höre und schaue mir Opern zu Hause am liebsten auf DVD oder Bluray an, daher nützen mir die großen Interpreten der Vergangenheit leider wenig.

    Der Traum ist aus, allein die Nacht noch nicht.