Hilding Rosenberg galt als einer der bedeutendsten, wenn nicht sogar als der bedeutendste schwedische Komponist im 20. Jahrhundert. Durch die Wiederentdeckung der spätromantischen Schweden (Atterberg, Peterson-Berger, Stenhammar, Rangström) und die späte aber bis heute anhaltende Rezeption von Allan Pettersson hat sich das relativiert.
Ich zitiere einen längeren Artikel von Christoph Schlüren:
Die Geschichte der Musik des 20. Jahrhunderts in Schweden ist undenkbar ohne die zentrale Gestalt Hilding Rosenberg. Geboren am 21. Juni 1892 in Skåne, lernte der Gärtnerssohn früh Orgel, Klavier und Geige spielen und kam 1914 als Organist nach Stockholm, wo er bei dem Clara Schumann-Schüler Richard Andersson Klavier studierte. Das musikalische Klima stand ganz im Zeichen der Nationalromantik, doch nun lernte Rosenberg die Musik des französischen Impressionismus, Scriabins und Schönbergs kennen. Er konzentrierte sein Studium auf Komposition und Dirigieren und lernte Wilhelm Stenhammar kennen, der einige seiner frühen Werke aus der Taufe hob. Stenhammar, der ihn Anfang der 20er Jahre in Kontrapunkt unterwies, wurde sein enger Freund und Mentor und half ihm, eine lineare Tonsprache zu entwickeln, die sich der Fesseln der nordischen Tradition entledigte. Rosenbergs dissonanzgewürzte, im Spannungsfeld zwischen Expressionismus, Spätromantik und neuer Sachlichkeit angesiedelte Werke der 20er Jahre provozierten den Widerstand der mehrheitlich konservativen Vertreter des schwedischen Musiklebens, doch Anfang der 30er Jahre begann er sich allmählich durchzusetzen. Seine Schüler Karl-Birger Blomdahl, Sven-Erik Bäck, Ingvar Lidholm und Åke Hermanson (unter denen Bäck der genialste, Hermanson der radikalste war), begründeten nach dem Zweiten Weltkrieg die 'Monday Group', die auf Jahrzehnte die Szene der neuen Musik in Schweden dominieren sollte. Rosenberg stand im Zenit der öffentlichen Hochachtung und galt bis zu seinem Tod am 19. Mai 1985 in Stockholm als unanfechtbare Autorität schwedischer Tonkunst. Seither ist ein stetiger Rückgang der Aufführungen seiner Musik zu beobachten, der die Frage nahelegt, ob sein Werk und Wirken nicht doch etwas überschätzt wurde.
Unter der Dominanz der Rosenberg-Schule litt ein einzelgängerischer Gigant wie Allan Pettersson, dessen Eigenart in keine Schublade paßte. Man warf Pettersson vor, er besitze nicht die adäquate Technik und den Geschmack, um seine gewaltigen Visionen überzeugend zu formen. Rosenberg, wie auch sein wichtigster Generationsgenosse Gösta Nystroem, war zweifellos im Vollbesitz aller handwerklichen Möglichkeiten. Doch ist es auch für diese beiden bezeichnend, daß sie stilistisch durchaus Chamäleons glichen. Intellektuell war Rosenberg ein couragierter Modernist, in seinem Herzen jedoch blieb er Romantiker. Diese beiden Strömungen zu etwas Neuem zu verschmelzen gelang ihm nicht immer – als überzeugendste Beispiele müssen einige seiner Sinfonien, Orchester- und Streicherkonzerte (besonders die 3 Purcell-Hommages 'Riflessioni' vom Anfang der 60er Jahre) und Streichquartette gelten.
Ab Mitte der 30er Jahre pflegte Rosenberg häufig einen geradezu archaisierenden Stil, so in der heimeligen Idyllik des Weihnachtsoratoriums 'Die heilige Nacht' (1936) und der 5. Sinfonie 'Hortulanus' mit Altsolo (1944) oder in ehernen Strenge der oratorischen 4. Sinfonie 'Johannes’ Offenbarung' (1940), die im großen Entwurf und der kantigen Faktur von vielen seiner Anhänger zusammen mit dem "Operatorium" 'Joseph und seine Brüder' (1946-48) als sein Hauptwerk angesehen wird. Zur gleichen Zeit entstanden aber auch musikantische, teils sehr amüsante und in einer Schostakowitsch und Ravel verwandten Weise der Unterhaltungsmusik zugewandte Werke wie die Opera buffa 'Marionetten' und das Ballett 'Orpheus in Town' (beide 1938). In den fünfziger Jahren ging sein Schaffen vornehmlich in eine andere, komplexere Richtung, was sich ab 1949 in der Komposition der Streichquartette Nr. 7-12 niederschlug (die letzten fünf entstanden alle 1957). Rosenberg hat hier seine eigene Art flexibler zwölftöniger Satztechnik entwickelt, über die er für den Rest seines Lebens frei verfügte, so auch in den in ihrer verborgenen Schlichtheit berührenden 6 Moments musicaux für Streichquartett von 1972, die dem Andenken Carl Nielsens gewidmet sind. Rosenberg war ein Eklektizist, die Einflüsse Sibelius’, Nielsens, Bartóks, Strawinskys, insbesondere Hindemiths, auch der Franzosen und Russen sind unüberhörbar, und in seinen besten Werken scheint durch diese Fusion eine melancholische Eigenart durch, die meist verborgen bleibt. Wie viele nordische Komponisten kommt seine Persönlichkeit am deutlichsten in den langsamen Sätzen zum Ausdruck. Doch mit ihrer besessenen Energetik und präzisen Kontrapunktik hinterlassen die schnellen Sätze fast immer einen sehr vitalen Eindruck, zumal in den Aufnahmen unter Rosenberg selbst. Er hat für fast alle Gattungen viele Werke geschaffen, darunter 6 Opern, 6 Ballette, 8 Sinfonien, 7 Solokonzerte, ca. 30 weitere Orchesterwerke und eine Vielzahl an Kammer-, Chor- und Klaviermusik. Wer seine Musik kennenlernen möchte, kann mit einer der Instrumentalsinfonien einsteigen, so der pathetischen Zweiten, 'Sinfonia grave' (1928-35), der nordisch-dunklen, epischen Dritten (1939), der vielschichtig balancierten Sechsten, 'Sinfonia semplice' (1951), oder der abgeklärten Achten (1976) – stets ist die organische Formung, der Sinn für Einheit in der Vielfalt zu bewundern. In ihrer Vielseitigkeit nie langweilig sind die Streichquartette, die auch hierzulande gewiß Interesse fänden, würde man sie nur kennen. Und ganz im spielerischen Element ist der Musikant Rosenberg in konzertanter Musik, sei sie solistisch wie das einst vom großen Charles Barkel herrlich dargebotene 1. Violinkonzert von 1924 oder ein kollektiver Wettstreit wie das 'Louisville Concerto' von 1954 mit seinem exquisiten Ideen- und Farbenreichtum.
Christoph Schlüren
('Kleiner Lauschangriff' für Klassik Heute, 12/2001)