Ludwig Thuille. Ein Blick in seine Lieder

  • Der Liedkomponist Ludwig Thuille existierte noch bis vor wenigen Jahren im Bewusstsein der liedinteressierten Öffentlichkeit überhaupt nicht. Reclams „Liedführer“ listet ihn unter der Rubrik „Das nachromantische Lied im 20. Jahrhundert“ in einer Reihe mit Namen wie Arnold Mendelssohn, Wilhelm Berger, Hugo Kaun, Felix von Weingartner und Max von Schillings auf und hat zu ihm nichts anderes zu vermerken als: „Ludwig Thuille (1861-1907) ist vor allem durch seinen mittelbaren Einfluß als Lehrer bedeutsam:“


    Nun hat sich der 1861 in Bozen geborene und in Innsbruck und München (bei Rheinberger) ausgebildete Ludwig Wilhelm Andreas Maria Thuille in der Tat als Musikpädagoge hervorgetan. Seit 1883 lehrte er in München Klavier, Harmonielehre und Komposition, gilt als Begründer der sog. (gemäßigten) „Münchner Schule“, und zu seinen Schülern gehören u.a. W. Braunfels und W. Courvoisier. Seine „Harmonielehre“ ist ein Standardwerk. Komponiert hat er natürlich auch (Opern, Sinfonik, Chor- und Kammermusik), diese Werk sind aber völlig unbekannt geblieben.


    Das galt auch für seine Lieder, - bislang. Aber das Erstaunliche ist: In den letzten Jahren „entdeckte“ man diese, - im Unterschied zu denjenigen seiner oben erwähnten Zeitgenossen. Ein besonderes Verdienst kommt in diesem Zusammenhang der Sopranistin Rebecca Broberg zu, die (mit Frank Strobel als Begleiter) im Jahre 2007 unter dem Label „Oehms Classics“ in Kooperation mit „DeutschlandRadio Kultur“ eine CD mit Thuille-Liedern herausbrachte. Dieser Produktion folgten dann später noch zwei weitere nach (sie werden unten genannt).


    Ist es wirklich „erstaunlich“? Es gibt gute Gründe dafür, weshalb man sich dem Liedschaffen dieses Musikpädagogen und Komponisten neuerdings zuwandte, den man eigentlich nur von seiner Freundschaft mir Richard Strauss und dem daraus hervorgegangenen Briefwechsel kannte. Obwohl er die Liedkomposition eigentlich nur gleichsam nebenher betrieb, sind ihm Lieder gelungen, die nicht nur überaus klangschön sind, sondern uns heute in der Art, wie sie den lyrischen Text in seiner dichterischen Aussage musikalisch aufgreifen, durchaus musikalisch etwas zu sagen haben, - und zwar gerade in ihrer die Tradition der liedkompositorischen Linie Schumann-Brahms aufgreifenden und fortsetzenden kantablen Melodik. Das wird hier aufzuzeigen sein.


    Insgesamt 90 Lieder hat Ludwig Thuille komponiert, knapp die Hälfte davon wurde publiziert. Das erste Liederheft, das sein Opus 4 enthielt, erschien 1886. In den Jahren 1888 bis 1892 entstanden die Opera 5, 7 und 12. Mit dem Jahr 1898 begann die letzte Phase seiner Liedkomposition: Die Opera 15 (3 Lieder), 19 (5 Lieder), 23 (3 Lieder), 24 (3 Lieder), 26 (3 Lieder), 27 (4 Lieder), 32 (3 Lieder), 35 (5 Lieder) und 36 (3 Lieder). Er bevorzugte in seinem Liedschaffen zeitgenössische Lyriker, wandte sich aber auch Eichendorff, Keller und – bemerkenswert! - Brentano zu.


    Ludwig Thuille ist – aus meiner Sicht - liedhistorisch nicht so recht zu verorten. Er wurde einerseits von seinem Lehrer Josef Rheinberger in Kontrapunkt und klassischer Musik ausgebildet und orientierte sich in Folge davon an Schumann und Brahms. Im Jahre 1886 geriet er aber durch Alexander Ritter und im Zusammenhang mit seiner Bekanntschaft und Freundschaft mit dem drei Jahre jüngeren Richard Strauss in den Bannkreis der „Neudeutschen Schule“. Das führte aber keineswegs dazu, dass er in seiner Liedkomposition das deklamatorische Konzept Hugo Wolfs ganz und gar übernommen hätte. Er orientierte sich zwar an den Leitlinien der Neudeutschen Schule, war aber – bei aller Modernität im Bereich der Harmonik und des Klaviersatzes - immer bemüht, in der Melodik das Prinzip der Kantabilität zu wahren, wie es ihm von Schubert und Schumann überkommen war. Insofern steht er als Liedkomponist gleichsam zwischen Johannes Brahms und Hugo Wolf, - wenn man die liedkompositorischen Konzepte einmal an Namen festmachen sollte.


    Wenn Ludwig Thuille vonseiten der Musikwissenschaft „klassizistische Tendenzen“ bescheinigt wurden, so weist dies wohl darauf hin, dass er eher in der liedkompositorischen Tradition von Schumann steht und damit Brahms näher ist als Hugo Wolf. Das soll aber hier ein sekundärer Aspekt bleiben. Meine Aufgabe sehe ich darin, einige repräsentative Lieder aus den einzelnen Schaffensphasen vorzustellen, den klanglichen Eindruck zu beschreiben, den sie machen, und in diesem Zusammenhang aufzuzeigen, wie Ludwig Thuille kompositorisch mit dem lyrischen Text umgeht. Ich gehe dabei in erster Linie auf die Lieder ein, deren Notentext ich beschaffen konnte. In einigen Fällen war ich aber auf die Wiedergabe des reinen Höreindrucks angewiesen.

  • Zurzeit sind – wenn ich das recht sehe – folgende CDs mit Aufnahmen von Thuille-Liedern im Handel erhältlich:


    - Ludwig Thuille: Ausgewählte Lieder. Rebecca Broberg, Frank Strobel. OEHMS classics, 2007

    - Ludwig Thuille: Ausgewählte Lieder. Roman Trekel, Hartmut Höll. Capriccio, 2009

    - Ludwig Thuille: Songs. Sophie Bevan (Sopran), Jennifer Johnston (Mezzosopran), Mary Bevan (Sopran), Joseph Middleton (Piano). Champs Hill Records, 2012


    Bemerkenswert ist der Kommentar, mit dem diese Aufnahme eingeleitet wird:
    „A mixture of apprehension and excitement faces the artist who is invitet by a record label to record songs unknown to them. An extra frisson can be added if they are to interpret repertoire by a composer of whom they have never heard.”

  • Zu einer Vorbemerkung drängt es mich noch, bevor ich das erste Lied Ludwig Thuilles hier vorzustellen versuche.
    Mir war – angesichts der Unbekanntheit dieses Liedkomponisten - von vornherein klar, dass dies hier ein absolut monologisches Unterfangen werden wird. Und ich habe mich natürlich gefragt, ob ich mich auf einen Thread einlassen sollte, bei dem nicht einmal die Chance einer Reaktion auf einzelne Beiträge vonseiten der Mitglieder dieses Forums besteht. Gerade las ich, dass ein solches Mitglied sich aus einem Kammermusik-Thread mit der Feststellung verabschiedete, dass das, was es dazu an Beiträgen geliefert hat, sich „nicht ausgezahlt“ habe.


    Ich habe das gut verstanden, und ich sah mich schon oft vor die gleiche Schlussfolgerung aus der mangelnden Resonanz auf meine Beiträge zu einem Thread gestellt, - gerade bei dem letzten zu den Goethe-Liedern Hugo Wolfs zum Beispiel. Man muss wohl, so denke ich inzwischen, sich entscheiden, in welcher Weise man sich hier betätigt: Als Initiator eines Diskurses, der von vornherein auf lebhafte Beteiligung und Kontroversität angelegt ist, oder als gleichsam deskriptiv agierender Präsentator von Musik, wie man sie hörend erfahren und erlebt hat, - und wie man sie in ihrer spezifischen Eigenart versteht. Dann wird, wenn es sich um ein musikalisches Nischen-Thema handelt, die Resonanz eben gering sein, und man muss sich mit gerade mal zwei bis drei „Zugriffen“ auf einen Beitrag begnügen, - und dafür dankbar sein.


    Die Frage liegt mir auf der Zunge:
    Kennt eigentlich einer/eine von euch, so meine Frage an die Liedfreunde dieses Forums, diesen Ludwig Thuille und seine Lieder?
    Schön wäre – und freuen würde es mich –, wenn ich eine Antwort bekäme.

  • Unter blühenden Bäumen
    Hab bei schweigender Nacht
    Ich in seligen Träumen
    Dein, Geliebter, gedacht.


    Duftend streute die Linde
    Blüten nieder zu mir;
    Schmeichelnd kosten die Winde,
    Wie ein Grüßen von Dir!


    Und ein himmlisches Singen
    Schien vom Sternengezelt
    Leis hernieder zu klingen
    Durch die schlafende Welt.


    Otto Franz Gensichen (1847-1933) betätigte sich zunächst als Kritiker und Feuilletonist und war dann Dramaturg am Wallner-Theater in Berlin. Seit 1878 lebte er dort als freier Schriftsteller und publizierte unter dem Pseudonym Otto Franz.


    Das Gedicht wirkt metaphorisch ein wenig überladen. Die lyrischen Bilder weisen wenig Originalität auf und wirken abgegriffen. Allen gemeinsam ist das Stiften einer Einheit zwischen lyrischem Ich und Natur, bzw. Kosmos. Die Blüten der Linde, die „Winde“ und das „himmlische Singen vom Sternenzelt“ neigen sich zum lyrischen Ich hin und umschmeicheln es. Das ist wohl als die metaphorische Evokation einer Vereinigung mit dem Geliebten zu verstehen.

  • Das Opus 4, das insgesamt fünf Lieder umfasst, von denen Gruß das erste darstellt, erschien 1886 bei Breitkopf und Härtel. Es handelt sich um die erste Lied-Publikation Thuilles, bei der er – da er zu dieser Zeit keine Lieder schrieb – auf Kompositionen zurückgriff, die schon einige Zeit zuvor entstanden waren. Man hat es also gleichsam mit einem „Frühwerk“ zu tun, und es ist unter diesem Gesichtspunkt interessant zu beobachten, wie Thuille sich damit liedkompositorisch positioniert. Um es gleich vorweg anzudeuten: Er steht in der Betonung einer weiträumig phrasierten und auf Kantabilität angelegten Melodik ganz in der Tradition des romantischen Klavierliedes eines Robert Schumann und Johannes Brahms.


    Das Lied „Gruß“ steht in E-Dur, weist einen Zweiviertel-Takt auf und ist mit der Anweisung „In mässiger Bewegung“ versehen. In seiner melodischen und harmonischen Klangschönheit ist es zweifellos beeindruckend. Die Melodik ergeht sich regelrecht in ruhigen und weit gedehnten bogenförmigen Bewegungen, und der Klaviersatz ist in seiner Struktur ganz auf die klangliche Einbettung der melodischen Linie hin angelegt, meidet also jegliches eigenständig kontrastive Agieren.


    Gleichwohl erschöpft er sich funktional nicht in einfacher Begleitung, sondern reflektiert in seiner von Strophe zu Strophe sich wandelnden Struktur die jeweilige lyrische Aussage, wobei er zunehmend komplexer wird. In der ersten Strophe besteht er aus einem schlicht lautenmäßig angeschlagenen Wechsel zwischen Einzelton und Akkord pro Takt. In der zweiten wird daraus eine legato artikulierte Abfolge von Achtel- und Viertelakkorden im Diskant über den ganzen Takt gehaltenen Akkorden im Bass. Und in der dritten Strophe erklingen Klangfiguren aus Achteln über Sechzehntel-Arpeggien im Bass. Hier greift der Klaviersatz auf klanglich lieblich wirkende Weise das lyrische Bild vom „himmlischen Singen“ auf, das „vom Sternenzelt“ niederklingt.


    Bei allen drei Strophen ist die melodische Linie der Singstimme in ihrer Struktur so angelegt, dass sich eine Steigerung ihrer Emphase einstellt. Bei den ersten Worten setzt sie jeweils mit ruhigen Schritten in Gestalt einer Folge von Vierteln und Achteln in mittlerer tonaler Lage ein. Dann aber steigt sie mit gedehnten Bögen in höhere Lagen auf, um am Ende – so jedenfalls bei der zweiten und der dritten Strophe – in eine wiederum gedehnte Fallbewegung überzugehen. Die Harmonisierung durchläuft hierbei immer wieder verschiedene Modulationen und pendelt zwischen Dur und Moll hin und her. Die Harmonik meidet allerdings in ihrer Modulationen strikt Übergriffe in die von der Grundtonart E-Dur weitab liegende Tonarten.


    Schon bei der ersten Strophe kann man diese das Lied klanglich so stark prägende Steigerung der melodischen Expressivität durch weite Phrasierung und gedehnte Bogenbewegung hörend erfahren. Der erste Vers wird in einer Abfolge von Vierteln und Achteln in mittlerer Lage deklamiert. Nach dem gedehnten Quartfall bei „Bäumen“ kommt für die Singstimme erst einmal eine Viertelpause. Bei den Worten „in seligen Träumen“ bewegt sich die Vokallinie dann aber mit einem weit gedehnten bogenförmigen Melisma und einem nachfolgenden Quartsprung zu einer langen Dehnung in hoher Lage bei dem Wort „Träumen“ hin, bei dem sie am Ende noch einen – nun verminderten – Quartfall macht. Die Harmonisierung wechselt hier vom Moll des zweiten Verses nach Dur hinüber und verbleibt dort bis zum Ende der Strophe, das melodisch aus einer langen Dehnung auf der zweiten Silbe des Wortes „gedacht“ besteht.


    Bei der zweiten Strophe sind jeweils zwei Verse zu einer Melodiezeile zusammengefasst. Das Wort „Linde“ erhält durch einen gedehnten Terzsprung einen besonderen Akzent, und das Bild von den nieder gestreuten Lindenblüten bringt die melodische Linie mit einer bogenförmig sich absenkenden und wieder ansteigenden Bewegung zum Ausdruck. Bei den Worten „Grüßen von dir“ kommt es wieder zu einer beeindruckenden Steigerung der melodischen Emphase in Gestalt einer weit phrasierten, in hohe Lage ausgreifenden und dann bogenförmig absinkenden melodischen Linie. Klanglich intensivierend wirkt hierbei die durch die Kombination von zwei Achteln und einem Viertel tänzerisch rhythmisierte Klavierbegleitung.


    Das „himmlische Singen“, das im Zentrum der letzten Strophe steht, schlägt sich in einer wiederum weit ausgreifenden Phrasierung und bei den Worten „Singen“ und „Sternenzelt“ stark gedehnten Melodik nieder. Auch hier unterstützt das Klavier mit aufsteigenden Sechzehntel-Arpeggien die Aussage der melodischen Linie der Singstimme. Noch einmal klanglich beeindruckend ist der Schluss des Liedes. Bei den Worten „Durch die schlafende Welt“ sinkt die Vokallinie erst langsam, weil wieder gedehnt, und dann mit einer Kombination aus Sextfall und Sekundanstieg auf die Tonika „A“, auf der sie dann pianissimo ausklingt. In die Arpeggien der Klavierbegleitung schleichen sich bei diesem Schlussvers vereinzelt Terzenklänge ein, die all dem einen reizvoll-lieblichen Ton verleihen.
    Und mit einer arpeggierten akkordischen Bewegung klingt das Lied an aus.

  • Kennt eigentlich einer/eine von euch, so meine Frage an die Liedfreunde dieses Forums, diesen Ludwig Thuille und seine Lieder?


    Lieber Helmut, Ludwig Thuille ist mir sehr wohl ein Begriff, doch leider nicht viel mehr. In meinem Beständen findet sich sein "Lobetanz", für den Otto Julius Bierbaum den Text verfasste. Ich tue mich schwer damit. Das Werk hat mich bisher nicht erreicht. Deshalb bin ich gespannt, ob Du uns seine Lieder näher bringen kannst. Ich habe bereits beschlossen, zumindest eine der von Dir genannten CDs anzuschaffen, um Dir besser folgen zu können.


    Mit herzlichen Grüßen verbleibt Rheingold

    Es grüßt Rüdiger als Rheingold1876


    "Was mir vorschwebte, waren Schallplatten, an deren hohem Standard öffentliche Aufführungen und zukünftige Künstler gemessen würden." Walter Legge (1906-1979), britischer Musikproduzent

  • Wenn ich mich bei Dir dafür bedanke, lieber Rheingold, dass Du auf meine Frage geantwortet hast, so habe ich einen tiefernsten Grund dafür. Ich komme mir jetzt nicht mehr so ganz wie einsam auf weiter Flur vor.


    Dass Du Dir eine von den von mir hier erwähnten CDs mit Liedern von Ludwig Thuille zulegen willst, um meinen Ausführungen zu dessen Liedschaffen folgen zu können, rührt mich. Ich würde Dir aus rein quantitativen Gründen die bei "Oehms classics" erschienene Aufnahme mit Rebecca Broberg empfehlen. Sie enthält aber nicht alle Lieder, auf die ich hier einzugehen beabsichtige. Interpretatorisch finde ich Roman Trekel beeindruckender (erschienen bei Capriccio).


    Das von Dir erwähnte Lied "Lobetanz" kenne ich leider nicht, kann mich also auch hier nicht darauf einlassen. Aber ich werde mich sehr bemühen, Deine Erwartung zumindest ansatzweise zu erfüllen, die Lieder Ludwig Thuilles den daran Interessierten, also auch Dir, näher zu bringen.

  • Dieses erste hier vorgestellte Lied Ludwig Thuilles scheint mir, obgleich es eine frühe Komposition darstellt, durchaus repräsentativ für seine liedkompositorische Grundhaltung und die ihr zugehörige Liedsprache zu sein. Beeindruckende melodische und harmonische Schönheit geht von ihm aus. Die melodische Linie der Singstimme ist in ihrer Struktur nicht deklamatorisch auf die enge Anbindung auf das lyrische Wort ausgerichtet, sie will den Geist der lyrischen Bilder gleichsam sinnlich werden lassen und orientiert sich dabei an den Prinzipien klangliche Schönheit und kantable Phrasierung.


    Darin zeigt sich, was die grundsätzliche liedkompositorische Orientierung Thuilles anbelangt, seine Nähe zu Schumann und Brahms. Die wird er in dieser engen Anbindung bei seinem späteren Liedschaffen zwar nicht beibehalten und in Melodik und Klaviersatz zeitgemäße Ausdrucksformen entwickeln, aber ganz preisgeben wird er sie nicht. Auch wenn in die Melodik später stärker, als dies in diesem Lied der Fall ist, eine intensivere deklamatorische Bindung an die Struktur des lyrischen Textes kommt, so bleibt doch das liedkompositorische Leitprinzip einer liedhaften-kantablen melodischen Linie und eines Klaviersatzes erhalten, der diese zwar akzentuiert und kommentiert, aber keinesfalls eine absolute Eigenständigkeit entwickelt.


    Bei diesem Lied ist das alles noch gleichsam im „Frühstadium“. Zunächst, bei den ersten fünf Versen, besteht der Klaviersatz aus einer schlichten Kombination von Einzelton im Bass und Akkord im Diskant. Aber da es Thuille ja darum geht, lyrische Bilder mit den Mitteln der Musik in ihrem seelischen Dimensionen klanglich auszuleuchten, lässt er bei den Worten „Und ein himmlisches Singen“ die melodische Linie einen ausdrucksvollen Bogen beschreiben, den das Klavier nun mit arpeggienhaft auf- und absteigenden Sechzehnteln begleitet. Und schon vorher, bei den Versen, in denen es um das Gedenken des Geliebten in seligen Träumen unter blühenden Bäumen und in schweigender Nacht geht, legt er die Vokallinie so an, dass sie in schwärmerisch wirkender Weise weit phrasierte melodische Bögen beschreibt und bei den Worten „in seligen Träumen“ in Gestalt einer Dehnung auf einem hohen „E“ aufgipfelt.


    Thuille scheut sich auch nicht, das Klavier dort, wo der lyrische Text dies nahelegt, klangliche Schönheit entfalten zu lassen. Vor dem Vers „und ein himmlisches Singen“ moduliert der Klaviersatz über Terzenbewegungen von Moll nach Dur hinüber. Und bei den Worten „die schlafende Welt“ am Ende des Liedes bilden sich aus fallenden Achteln in Diskant und aufsteigenden Sechzehnteln im Bass am Ende des Taktes klanglich überaus reizvolle fallende Terzen, die in einen arpeggierten Akkord münden. In Einheit mit der melodischen Linie der Singstimme, die aus einer langen Dehnung heraus einen Sextfall mit nachfolgendem Sekundanstieg beschreibt, empfindet man dies als eine Musik, die dem lyrischen Bild in vollkommener Weise gerecht wird.

  • Lieber Helmut,


    auch wenn ich mich, mangels Kenntnisse, nicht beteiligen kann, lese ich dennoch stets höchst interessiert mit und möchte Dir danken und Dich ermutigen, weiterhin Deine Beiträge zu erstellen - Du bist ganz sicher nicht allein auf weiter Flur, und Deine Betrachtungen haben, wie ich sicher sagen kann, eine große Leserschaft hier im Forum.


    Nachtrag: ich habe bereits folgende CD bestellt:



    damit ich das Geschriebene besser nachvollziehen und gegebenenfalls in aller Bescheidenheit mitkommentieren kann.


    liebe Grüße

  • Danke, lieber Don Gaiferos, für die ermutigenden Worte und die Abbildung des Covers der CD. Es handelt sich dabei um die jüngste Aufnahme von Thuille-Liedern, die einen guten Querschnitt durch das Liedschaffen des Komponisten bietet. Auf zwei CDs kann man insgesamt 31 Lieder hören, die insgesamt 9 Lied-Opera abdecken.
    Das ist von daher - aber auch von der Qualität der sängerischen Interpretation - eine zweifellos lohnenswerte Anschaffung.
    Ich werde allerdings nur auf einen kleinen Teil der hier zu hörenden Lieder eingehen können.

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  • Lieber Helmut Hofmann,
    du hast mehr interessierte Leser als du ahnst. Ich freue mich auf deine Beiträge und danke dir für deine außerordentlich fundierte Darstellung.

    Freundliche Grüße Siegfried

  • Nachdem so viele Mitglieder ihr Interesse an diesem Thread bekundet haben - was mir sehr erfreut hat - und überdies noch die Ansicht bekundeten, sich eine der CD anzuschaffen, um meine Ausführungen gleichsam konkretisieren zu können, sollte ich vielleicht angeben, in welchen Aufnahmen die Lieder zu hören sind, auf die ich in diesem Thread einzugehen beabsichtige.


    Ich möchte chronologisch vorgehen, musste mich bei der Auswahl der Lieder aber an dem für mich erreichbaren Notenmaterial orientieren, so dass einige Opera keine Berücksichtigung finden konnten. Dennoch sollte sich, so denke ich, ein repräsentatives Bild von Thuilles Liedschaffen einstellen.


    Hier also die Liste der Lieder, die – im folgenden hier vorgestellt werden sollen. Die CDs, auf denen sie sich finden, sind oben (Beitrag 2) mit ihren Interpreten angegeben. Hier nenne ich der Einfachheit halber nur den Namen des jeweiligen Verlags.


    „Gruß“, op.4, Nr 1 ………………………………..........Oehms / Champs Hill
    „Die Verlorene“, op.4, Nr.2 ……………………........Oehms / Champs Hill
    „Im Mai“, op.4, Nr.2 …………………………….........Oehms / Champs Hill
    „Allerseelen“, op.4, Nr.4 ………………………….......Oehms / Champs Hill
    „Mädchenlied“, op.15, Nr.1 ……………………........Champs Hill
    „Lied der jungen Hexe“, op.15, Nr.3 ………….....Champs Hill
    „Sehnsucht“, op.15, Nr.2 ………………………........Champs Hill
    “Wenn die Sonne weggegangen”, op.24, Nr.1.. Oehms
    „Der Spinnerin Lied“, op.24, Nr.2 ………………....Oehms
    „Zauberblick“, op.26, Nr.1 ………………………......Capriccio / Champs Hill
    „Der traurige Jäger“, op.26, Nr.2 ………………....Capriccio / Champs Hill
    „Seliges Vergessen“, op.26, Nr.3……………… .....Champs Hill / Champs Hill
    „Devotionale“, op.27, Nr.1……………………….......Capriccio
    „In meiner Träume Heimat“, op.27, Nr.2………..Capriccio
    „In goldener Fülle“, op.27, Nr.3…………………....Capriccio


    Man sieht also: Die 2013 bei „Champs Hill records“ erschienene und oben in ihrem Cover abgebildete CD, auf der sich zwei Sopranistinnen und ein Mezzosopran betätigen, enthält 10 der insgesamt 15 zur Besprechung vorgesehenen Lieder. Eine Empfehlung wage ich dennoch nicht zu geben, da ja auch der Aspekt der Interpretation zu berücksichtigen ist. Gerade habe ich mir einmal das oben vorgestellte Lied „Gruß“ in den Interpretationen von Rebeca Broberg (Oehms) und Sophie Bevan (Champs Hill) vergleichend angehört. Die letztere spricht mich zwar in diesem Fall mehr an als die erste, da Sophie Bevan fließender und stimmiger phrasiert und dabei mehr Expressivität entfaltet, das ist aber ein ganz und gar subjektives Urteil. Ich könnte mir gut vorstellen, dass Rebecca Broberg mit ihrer auf prononcierte Deklamation angelegte Interpretation einen anderen Hörer (andere Hörerin) eher zu überzeugen vermag.

  • Der Liedkomponist Ludwig Thuille existierte noch bis vor wenigen Jahren im Bewusstsein der liedinteressierten Öffentlichkeit überhaupt nicht. Reclams „Liedführer“ listet ihn unter der Rubrik „Das nachromantische Lied im 20. Jahrhundert“ in einer Reihe mit Namen wie Arnold Mendelssohn, Wilhelm Berger, Hugo Kaun, Felix von Weingartner und Max von Schillings auf und hat zu ihm nichts anderes zu vermerken als: „Ludwig Thuille (1861-1907) ist vor allem durch seinen mittelbaren Einfluß als Lehrer bedeutsam:“


    Eine bessere Informationsquelle als »Reclams Liedführer« bietet bezüglich des Komponisten Ludwig Thuille und dessen Umfeld das Buch »Die Deutsche Musik der Gegenwart« von Rudolf Louis (317 Seiten).


    In der Eile zitiere ich mal zwei Textpassagen, die zu diesem Threadthema passen könnten; auf Seite 221 heißt es:
    »Das Lied ist bekanntlich die Kunstgattung, an der sich der angehende Komponist zuerst zu versuchen pflegt, und auch der Musiker, der sonst in keiner Weise nach den Lorbeeren des Komponisten verlangt, - ein Heft Lieder hat er zum mindesten doch an die Öffentlichkeit gebracht. Die Massenproduktion hat auf keinem anderen musikalischen Gebiete eine solche Ausdehnung gewonnen wie auf diesem und es bedürfte seitenlanger Namensaufzählungen, wollte ich alle, die sich auf diesem Felde nicht etwa bloss betätigt, sondern irgendwie hervorgetan haben, auch nur nennen.«


    Im Kapitel IV. Das Lied - Kirchen, Chor- und Kammermusik heißt es auf Seite 224:
    »Jedenfalls spielt im Gesamtschaffen Schillings´ das Lied keine wesentliche Rolle, ebensowenig wie bei Ludwig Thuille, so wertvoll das einzelne auch sein möge, was beide Meister uns an lyrischen Gaben beschert haben.«


  • Die Lieder sind bei Belinda Loukota unter Oberbegriffen gebündelt, was sich so darstellt:
    ...vom Küssen
    1 Spinnlied - aus des Knaben Wunderhorn
    2 Mädchenlied - Otto J. Bierbaum
    3 Die Kleine - Joseph von Eichendorff
    4 Sommermorgen - Karl Stieler
    5 Sommermittag - Theodor Storm
    ...vom Lieben
    6 Im Mai - Wilhelm Osterwald
    7 Frau Nachtigall - aus des Knaben Wunderhorn
    8 Es klingt der Lärm der Welt - Karl Stieler
    9 Lied der jungen Hexe - Otto J. Bierbaum
    10 Gruß - Otto Gänsichen
    ...vom Träumen

    11 Ganymed - Robert Hamerling
    12 Die Verlassene - Hermann Lingg
    13 Zauberblick - Joseph von Eichendorff
    14 Seliges Vergessen - Joseph von Eichendorff
    ...vom Trauern
    15 Klage - Karl Stieler
    16. Allerseelen - Hermann von Gilm
    17 Sehnsucht - Otto J. Bierbaum
    18 Des Narren Regenlied - Otto J. Bierbaum
    19. Der traurige Jäger - Joseph von Eichendorff


    Auch zu dieser CD einige Daten, die beim Anbieter in der Regel so nicht einzusehen sind:
    Diese CD wurde 2013 im Wiener Konzerthaus aufgenommen.
    Das Booklet umfasst 14 Seiten und enthält alle Liedtexte in deutscher Sprache und eine kompakte, engbedruckte Seite (diese auch in Englisch), auf der Irene Suchy recht gute Informationen zu dieser CD gibt.
    Die vom mir ausgewählte Leseprobe sieht so aus:
    »Thuille gilt als Jugendstil-Komponist mit einer Neigung zum Volkstümlichen, vielleicht zur Nostalgie. Die Wahl seiner Gedichte zur Vertonung bestätigt einen Komponisten, der die Zeit zwischen Traum und Wachen, die Sehnsucht, die leise Welt, begleitet vom Frühlingswind in seine Musik fasst. Er wählt Gedichte von nächtlichen Ritten, von Rosenblättern und Liebesworten, die auf Bergesgipfeln und unter Birnbäumen spielen. Immer wieder ist es die Stille, die Einsamkeit, die sich abkehrt vom Lärm der Welt, Musik vom Schweigen und der Wortlosigkeit. Die Feierstunden der vom ihm gewählten Poesie sind dort, wo die Poesie aufhört und die Musik anfängt, am Übergang von Mensch zur Natur, von Tag zu Nacht. Ein paar der Gedichte werden uns in der Vertonung der Größeren im Ohr sein: "Allerseelen" in der Vertonung von Richard Strauss, Hermann Linggs "Immer leiser wird mein Schlummer" von Brahms. Es lohnt sich die Ohren zu öffnen für Thuilles Varianten.«

  • Zit. hart: "Eine bessere Informationsquelle als »Reclams Liedführer« bietet bezüglich des Komponisten Ludwig Thuille und dessen Umfeld das Buch »Die Deutsche Musik der Gegenwart« von Rudolf Louis (317 Seiten)."


    Das mag für das Lied um die Jahrhundertwende gelten, auf das sich das erste Zitat, das hart aus diesem Buch bringt, bezieht, - also für "das Umfeld". Aber da bin ich anderer Meinung. Rudolf Louis vertritt hier zwar eine interessante Position, was die Einordnung des Liedes der Jahrhundertwende in die allgemeine Geschichte des Kunstliedes anbelangt - interessant und diskussionswürdig ist zum Beispiel seine Einschätzung des Liedschaffens von Richard Strauss -, er bleibt aber insgesamt zu allgemein. Das Kapitel über das Lied umfasst nur knapp 28 Seiten.


    Zu Ludwig Thuille hat Rudolf Louis auf Seite 224 nur anzumerken: "Jedenfalls spielt im Gesamtschaffen Schillings´ das Lied keine wesentliche Rolle, ebensowenig wie bei Ludwig Thuille, so wertvoll das einzelne auch sein möge, was beide Meister uns an lyrischen Gaben beschert haben". Das war´s denn auch schon, was man in diesem Buch über den Liedkomponisten Ludwig Thuille erfährt. Und ich sehe meine Aufgabe nun darin, solche "wertvollen lyrischen Gaben" hier vorzustellen.


    Zu. (zit) "Thuille gilt als Jugendstil-Komponist mit einer Neigung zum Volkstümlichen, vielleicht zur Nostalgie."


    So etwas kann man in Booklets lesen. Auch in jenem, das der CD mit seinen Liedern, die bei Oehms erschienen ist, beiliegt, meint Rebecca Broberg: "Ludwig Thuille gilt als der Jugendstil-Komponist schlechthin". Diese These wäre zu überprüfen. Ich habe sie bei meiner Vorstellung Ludwig Thuilles zur Threaderöffnung nicht übernommen, weil ich sie für zumindest problematisch, wenn nicht gar für falsch halte.

  • Ludwig Thuille kenne ich durch sein Klavierkonzert und das populär-gefällige Sextett für Bläser und Klavier. Zu den Liedern kann ich mich nicht äußern. Ich würde hier durchaus von einem spätromantisch-volkstümlichen Tonfall sprechen, ähnlich wie in der Kammermusik seines Zeitgenossen Joseph Rheinberger


    Der Begriff Jugendstil ist in der Literatur und in der Musik wohl eher problematisch - was einen nicht daran hindern muss, ihn ob seines griffigen Wesens in der Architektur und Gebrauchskunst zu übertragen. Eher würden mir dann aber die Lieder des Abschieds des zwanzigjährigen Erich Wolfgang Korngold einfallen. Es erscheint mir dabei fast symptomatisch für eine mögliches Zuordnung, dass ein junger, hochbegabter Komponist überhaupt solche Lieder vertont. Ein Moment parfümierter Künstlichkeit, harmonisch quasi wuchernden Raffinements, einer gleichermaßen süffigen wie weltschmerzlichen Grundhaltung - das würde mir eher zu diesem Stil einer überladenen, überzüchteten Zeit um die Jahrhundertwende einfallen, welche - von manchen herbeigesehnt - abrupt mit dem Ersten Weltkrieg endete (der Zeitgeist, nicht unbedingt die Charakteristika des Jugendstils).


    Ich weiß aber, dass beispielsweise das Reclam-Bändchen Lyrik des Jugendstils gerade auch Tanzlieder im Volkston von Bierbaum (der oben auch in dem CD-Hinweis von hart erscheint), Dauthendey oder Liliencron enthält - neben schwüler Liebeslyrik und eskapistischer Landschaftsdichtung.


    Jetzt bin eigentlich gespannt, welche Texte Thuille vertont hat.


    :hello: Wolfgang

    Lieber Fahrrad verpfänden denn als Landrat enden!

  • Zit.: "Jetzt bin eigentlich gespannt, welche Texte Thuille vertont hat."
    Die werden alle hier nicht nur abgedruckt, sondern auch zu interpretieren versucht. Hierbei wird der Aspekt der Einordnung in den "lyrischen Geist der Zeit" Berücksichtigung finden, - und natürlich auch das, was Ludwig Thuille liedkompositorisch daraus gemacht hat.


  • Jetzt bin eigentlich gespannt, welche Texte Thuille vertont hat.


    Zum Vergleich mit den Aufnahmen der Frauenstimme, kann man diese Lieder auch mit dem Bariton Roman Trekel hören, einem Bariton, dessen Stimme in den letzten fünfzehn Jahren an Reife gewonnen hat.
    Das Booklet umfasst 19 Seiten und enthält alle Liedtexte in deutscher Sprache. Die vier Seiten des einleitenden Textes (auch in Englisch) stammen von Matthias Wiegand. Als Aufnahmedatum wird der 12. November 2009 angegeben.


    1 Im Mai - Wilhelm Osterwald / op. 4,3
    2 Allerseelen - Hermann von Gilm zu Rosenegg / op. 4,4
    3 Ganymed - Robert Hamerling / op. 4,5
    4. Waldesgang - Karl Stieler / op. 7,1
    5 Nachtlied - Karl Stieler / op. 7,3
    6 Botschaft - Karl Stieler / op. 7,4
    7 Nächtliche Pfade - Karl Stieler / op. 7,5
    8 Nicht daheim - Karl Stieler / op. 7,6
    9 Jahreszeiten - Karl Stieler / op. 7,8
    10 Waldeinsamkeit - Heinrich Leuthold / op. 12,1
    11 Die Nacht - Hermann von Gilm zu Rosenegg / op. 12,2
    12 Sehnsucht - Otto Julius Bierbaum / op. 15,2
    13 Des Narren Regenlied - Otto Julius Bierbaum / op. 19,3
    14 Zauberblick - Joseph von Eichendorff / op. 26,1
    15 Der traurige Jäger - Joseph von Eichendorff / op. 26,2
    16 Devotionale - Joseph von Eichendorff / op. 27,1
    17 In meiner Träume Heimat - Carl Hauptmann / op. 27,2
    18 In goldener Fülle - Paul Remer / op. 27,3
    19 Die Insel der Vergessenheit - Anna Ritter / op. 27,4
    20 Der Alte - Gustav Falke / op. 32,2
    21 Abendlied - Gottfried Keller / op. 32,3
    22 Neujahrslied - Otto Julius Bierbaum / ohne Opuszahl

  • Das von Dir erwähnte Lied "Lobetanz" kenne ich leider nicht, kann mich also auch hier nicht darauf einlassen.


    Lieber Helmut, ich darf erwähnen, dass "Lobetanz" kein Lied sondern ein Singspiel in drei Akten ist. Es wurde 1898 in Karlsruhe uraufgeführt. Allerdings enthält das Werk viele liedhafte Elemente, wodurch Du am Ende so Unrecht nun auch wieder nicht hast. :)


    Herzlich grüßt Rheingold

    Es grüßt Rüdiger als Rheingold1876


    "Was mir vorschwebte, waren Schallplatten, an deren hohem Standard öffentliche Aufführungen und zukünftige Künstler gemessen würden." Walter Legge (1906-1979), britischer Musikproduzent

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  • Danke für den Hinweis, lieber Rheingold. Ich hab´s inzwischen auch gemerkt, - und ich habe mich geschämt. Ich merke, wie sich bei mir bei meiner ständigen Beschäftigung mit nur einer musikalischen Gattung, dem Lied nämlich, ein Tunnelblick einstellt und ich zu verblöden beginne. Das wird sich ändern müssen!


    Ganz bezeichnend ist zum Beispiel, dass ich zwar in dem Buch von Rudolf Louis "Die deutsche Musik der Gegenwart" (Hamburg 2012) das Kapitel über das Lied so gründlich studiert habe, dass es von vorne bis hinten mit Strichen, Farbmarkierungen und Anmerkungen verunstaltet ist, das Kapitel über die Oper aber gar nicht zur Kenntnis nahm. Hätte ich das getan, wüsste ich sogar einiges über Thuilles "Lobetanz". Dort steht nämlich u.a.:


    "Die Partituren von >Lobetanz< und >Gugeline" enthalten das köstlichste, was die auf das eigentliche musikalische Märchen ausgehende Richtung innerhalb der deutschen Oper der Gegenwart gezeitigt hat. Dieselben Vorzüge, die Humperdincks Hänsel und Gretel-Musik ihren besonderen Wert verliehen, Frische, Einfachheit und Gesundheit in Erfindung wie Ausführung, paaren sich hier mit Eigenschaften, die man bei Humperdinck vergeblich suchen würde." (S.96/97)


    Aber lassen wir´s damit gut sein (will sagen: Diese persönlichen Bemerkungen bitte nicht kommentieren!). Und nochmals ein Danke (auch für die Behutsamkeit, mit der Du mir das dringend erforderliche Lichtlein aufgesteckt hast)!

  • Immer leiser wird mein Schlummer,
    Nur wie Schleier liegt mein Kummer
    Zitternd über mir.
    Oft im Traume hör ich dich
    Rufen drauß vor meiner Tür,
    Niemand wacht und öffnet dir,
    Ich erwach und weine bitterlich.


    Ja, ich werde sterben müssen,
    Eine Andre wirst du küssen,
    Wenn ich bleich und kalt.
    Eh die Maienlüfte wehn,
    Eh die Drossel singt im Wald:
    Willst du mich noch einmal sehn,
    Komm, o komme bald!
    (Thuille: „Komme bald, o komme, komme bald!“)


    Hermann Lingg wurde 1820 in Lindau geboren und starb 1905 in München. Er war Militärarzt in der bayerischen Armee und wurde 1851 krankheitshalber pensioniert. Er betätigte sich als Dramatiker, Erzähler, Epiker und Lyriker. Nur in seinen Balladen und seiner Lyrik vermochte er beachtliches dichterisches Potential zu entfalten. Seinen Gedichten wohnt häufig ein elegischer Ton inne, und sie vermögen durch ihre unsentimentale, realitätsbezogene Metaphorik zu überzeugen.


    Man kann das an diesem Gedicht auf beeindruckende Weise erfahren. Die existenzielle Situation, in der sich das lyrische Ich befindet, wird mit lyrisch-deskriptiven Aussagen und Bildern gezeichnet, die in ihrer Direktheit fast schon zu erschrecken vermögen. Die Feststellung „Ja, ich werde sterben müssen“ ist im Kontext der lyrischen Bilder von verstörender prosaischer Schroffheit.


    Aber den genuin lyrischen Ton beherrscht Hermann Lingg auch. Die beiden ersten Verse weisen großes evokatives Potential auf, weil die lyrischen Bilder in der Verstörung von Begriffen der Alltagssprache („Schlummer“, „Kummer“) durch befremdliche sprachliche Kombinatorik höchst eindringlich wirken. „Schlummer“ wird „leiser“, und „Kummer“ wird zu einem „Schleier“, der „zitternd“ über einem zu liegen vermag.

  • Ludwig Thuille hat diesem Lied den Titel „Die Verlassene“ gegeben, den das zugrunde liegende Gedicht Hermann Linggs ja nicht trägt. Er will damit wohl die Situation sprachlich zum Ausdruck bringen, die gleichsam die Quelle einer Musik ist und die dem Hörer in berührender Weise als wehmütig-stille Klage begegnet, die dort, wo es um die Nähe des Todes geht, eine beeindruckende Steigerung ihrer Expressivität erfährt. Immer wieder einmal tritt zwar ein Dur in die Harmonisierung der harmonischen Linie der Singstimme, es kann sich dort aber nicht halten. Es-Moll ist als zugrundliegende Tonart angegeben. Zwar durchläuft die Harmonisierung der melodischen Linie der Singstimme vielfältige Modulationen, sie verbleiben aber – wie das für Thuille durchaus typisch ist – in einem harmonisch engen Raum. Die Vortragsanweisung lautet „Langsam“.


    Die Singstimme setzt schon in der zweiten Takthälfte des Vorspiels ein. Das Klavier artikuliert ein lebhaftes Auf und Ab von Sechzehnteln im Diskant, dessen Intervalle zunehmend größer werden. Man kann dies als musikalischen Ausdruck der inneren Erregung des lyrischen Ichs verstehen. Die ersten beiden Verse werden auf einer mit einem Quartsprung einsetzenden melodischen Linie deklamiert, die in ihrem langsamen Sekundfall einen ausgeprägten Klageton aufweist. Diese beiden Melodiezeilen sind in ihrer Struktur identisch, nur dass die zweite höher einsetzt, so dass sich Eindruck einer Intensivierung des Klagetons einstellt. Auf dem Wort „Kummer“ liegt ein lang gedehnter kleiner Sekundfall. Danach fällt die melodische Linie wie erschlaffend langsam über eine ganze Septe ab, und eine fast zweitaktige Pause folgt, in der das Klavier das Auf und Ab der Sechzehntel nun in aufsteigender Linie erklingen lässt, womit klanglich etwas mehr Entspannung in den Klaviersatz kommt.


    Auch die Melodiezeile, die die nächsten beiden Verse umfasst („Oft im Träume…“), mündet in eine Pause, und es wird, wenn man unter diesem Aspekt die Struktur der melodischen Linie in Augenschein nimmt, deutlich, dass Thuille die Pause einsetzt, um die Einsamkeit und Verlassenheit musikalisch zu suggerieren, aus der heraus das lyrische Ich sich artikuliert. Ganz intensiv spürt man dies bei den beiden letzten Versen der ersten Strophe. Die Worte „Niemand wacht und öffnet dir“ werden auf einer melodischen Linie deklamiert, die einen ausdrucksstarken verminderten Quintsprung mit Dehnung bei dem Wort „wacht“ beschreibt, danach rasch in Sekundschritten abfällt und dann verstummt. Denn es folgt eine zweitaktige Pause, in der das Klavier im Diskant die Bewegung der melodischen Linie nachklingen lässt.


    Und noch isolierter wirkt die Vokallinie bei den Worten „Ich erwach und weine bitterlich“. Denn dieses Mal setzt sie bei den beiden ersten Worten sogar ohne Klavierbegleitung ein, und wieder folgt ihr am Ende eine Pause. Das Wort „bitterlich“ weist eine starke melodisch-klangliche Intensität auf, denn es wird auf einem Sekundfall deklamiert, bei dem auf der ersten Silbe eine Dehnung liegt. Zudem sind ein Diminuendo und ein Ritenuto vorgeschrieben, und die Klavierbegleitung, die aus Sechzehntel-Sexten im Diskant besteht, bewegt sich ausschließlich im Moll-Bereich.


    Mit der zweiten Strophe kommt eine leichte Wandlung in den klanglichen Charakter des Liedes. Die Worte „Ja, ich werde sterben müssen“ werden in gleichsam ruhig-konstatierendem Ton deklamiert, und das gilt auch für die beiden folgenden Verse. Die Singstimme verbleibt in silbengetreuer Deklamation länger auf einer tonalen Ebene, und nur bei dem Wort „kalt“ kommt eine längere melodische Dehnung in sie. Das Klavier artikuliert permanent Sechzehntelakkord-Repetitionen, was der Aussage der melodischen Linie starke Nachdrücklichkeit verleiht. Und die tiefe innere Erregung, aus der die defätistischen Aussagen des lyrischen Ichs kommen, führt sogar dazu, dass sich zweimal ein Takt- und einmal ein Tonartwechsel ereignen. Bei „wirst du küssen“ tritt ein Dreivierteltakt in das Lied, der beim dritten Vers („Wenn ich bleich und kalt“) in einen Zweivierteltakt übergeht, der bis zum Ende des Liedes gültig bleibt. Die Tonart moduliert nach a-Moll hinüber, das bei letzten Vers („Komme bald …“) in c-Moll übergeht.


    Mit den Worten „Eh die Maienlüfte wehn“ kommt ein zärtlich elegischer Ton in die melodische Linie der Singstimme. Bei diesem (vierten) Vers und beim fünften weist sie die gleiche Grundgestalt auf: Sie fällt in ruhiger Bewegung bogenförmig ab, steigt wieder an und mündet bei dem Wort „wehn“ in einen gedehnten Sekundfall. Bei „Wald“ verharrt sie kurz auf einem hohen „Dis“, von dem aus sie dann beim zweitletzten Vers ihre Bewegung fortsetzt. Klanglich eindrucksvoll ist diese bogenförmige Bewegung der melodischen Linie deshalb, weil das Klavier sie mit Terzen im Diskant mitvollzieht.


    Bei den Worten „Willst du einmal mich noch sehen“ steigert sich die melodische Linie ins Forte. Sie steigt mit einem verminderten Terzsprung zu einem „Fis“ bei dem Wort „einmal“ empor und verleiht diesem einen besonderen Akzent durch eine Dehnung mit kleinem Sekundfall. Das Klavier akzentuiert diese Emphase dadurch, dass es den melodischen Bewegungen mit triolischen Sechzehntel-Akkorden folgt.


    Auch der Bitte „Komme bald“ wird starker musikalischer Nachdruck verliehen, insbesondere dadurch, dass sie wiederholt wird und die beiden kleinen Melodiezeilen darauf unterschiedlich angelegt sind. Bei der ersten macht die Vokallinie einen verminderten Quintfall mit nachfolgendem Sekundsprung zu dem Wort „bald“ hin. Er ist mit einer Rückung nach Es-Dur verbunden und hebt dieses Wort in markanter Weise hervor. Das geschieht auch bei der Wiederholung. Hier fällt die melodische Linie aber in kleinen Sekunden ab und ist in Moll harmonisiert. Sie wirkt, als könne das lyrische Ich nicht so recht daran glauben, dass die Bitte sich erfüllen werde. Es weiß schließlich um die Nähe des Todes. Überraschend aber ist, dass bei dem Wort „bald“ eine Rückung nach Dur erfolgt und im Klavier ein arpeggierter Akkord erklingt.
    Ist doch noch ein letzter Funke von Hoffnung da?

  • Das Gedicht wurde auch von Johannes Brahms und Hans Pfitzner vertont. Eine Besprechung dieser beiden Lieder findet sich im Thread „Hans Pfitzner und seine Lieder, Beiträge 121 und 122 (vom 21./ 22.6.2013).
    Wenn Pfitzner mit seiner hochdifferenzierten melodischen Linie, diesen in vielgestaltiger Weise sich artikulierenden und dynamisch und harmonisch differenzierten Fallbewegungen die seelischen Regungen des lyrischen Ichs ausleuchtet, so stellt sich bei Brahms schon nach wenigen Takten der Eindruck ein, dass sich hier das lyrische Ich in seelenvoll schlichter Weise aussingt, - in volksliedhaft schlichter, aber tief berührender Melodik seine innerste Seele offenbart. Auch hier dominiert die Fallbewegung in der melodischen Linie, aber sie entfaltet eine ungleich stärkere musikalische Expressivität, als dies bei Pfitzner der Fall ist.


    Der Hauptgrund liegt darin, dass bei Brahms die Vokallinie ist in ihrer Struktur liedhaft einfach, auf melismatische Kantabilität hin angelegt ist und in ihren einzelnen Melodiezeilen so gestaltet, dass diese ineinandergreifen und sich ein klanglich-strophisches Gesamtbild ergibt. Und wenn irgend möglich, wird das volksliedhafte Grundmodell des Strophenliedes gewahrt, - freilich nicht in seiner reinen Form, sondern in Gestalt des variierten Strophenliedes.


    Hört man die drei Lieder auf den gleichen Text hintereinander – das von Brahms, von Ludwig Thuille und von Pfitzner – so wird einem ganz unmittelbar bewusst, dass Pfitzner der liedhistorisch modernste Komponist von den dreien ist. Zwar steht auch er noch in der Tradition des romantischen Kunstliedes, aber er vertraut nicht mehr allein dem expressiven Potential einer am Modell des Volkslieds ausgerichteten Melodik, sondern gestaltet die melodische Linie der Singstimme deutlich differenzierter und lässt sie harmonisch komplexere Modulationen durchlaufen, - in der Absicht, die emotionale Komplexität des lyrischen Bilde besser musikalisch auszuleuchten.


    Ludwig Thuille ist – bei diesem Lied - in seiner Liedsprache sozusagen zwischen Brahms und Pfitzner anzusiedeln. Er lässt die Melodiezeilen so ineinandergreifen, dass sich größere melodische Einheiten bilden, bei denen sich Kantabilität zu entfalten vermag. Aber die innere melodische Geschlossenheit, wie Brahms sie auf so beeindruckende Weise zu wahren vermag, gibt es bei ihm nicht, weil er das expressive Potential des lyrischen Textes stärker auszuschöpfen bestrebt ist. Ein Vers wie „Niemand wacht und öffnet dir“ zum Beispiel erfordert für ihn eine in ihrer klanglichen Expressivität markant von der vorangehenden sich abhebende Melodiezeile.


    Das Lied von Johannes Brahms ist in seiner Melodik, die in ihrer Moll-Harmonisierung ganz und gar von der fallenden Linie geprägt wirkt, wohl die eingängigste der drei Kompositionen. Aber die beiden anderen können, was die musikalische Ausschöpfung der lyrischen Aussage anbelangt, sehr wohl mithalten. Hörenswerte und auf ihre je eigene Weise klanglich beeindruckende Lieder sind sie allesamt.

  • Nun grünt der Berg, nun blüht das Tal
    In Maienlust und Duft,
    Und Vogelsang und Sonnenstrahl
    Wogt durch die linde Luft.
    Was Leben hat, das lobt den Mai
    In Blüten und Gesang,
    Komm süßes Lieb, daß nicht uns zwei
    Der Frühling finde krank.
    Die liebste Ehr´, die ihm geschieht
    Zu dieser schönen Zeit
    Ist doch, wenn Aug´ in Auge
    Sieht voll stiller Seligkeit.


    Vergessen sei des Winters Gram,
    Vergessen alles Weh;
    Ich denk´ nur eins: die Wonne kam,
    Daß ich mein Liebchen seh´!
    Nun tritt hinaus in Maienpracht
    Und atme Leben ein;
    Sieh nur wie klar der Frühling lacht
    Zutiefst ins Herz hinein.
    Die liebste Ehr´, die ihm geschieht
    Zu dieser schönen Zeit
    Ist doch, wenn Aug´ in Auge
    Sieht voll stiller Seligkeit.


    Karl Wilhelm Osterwald wurde 1820 in Bretsch geboren und starb 1887 in Mühlhausen. Er wirkte als Lehrer in Halle und in Merseburg und wurde 1865 zum Direktor am Gymnasium in Mühlhausen ernannt. Neben pädagogischen Schriften veröffentlichte er zahlreiche Gedichte, vorwiegend Naturlyrik , Wander- und Kirchenlieder. Auch Liebeslyrik findet sich darunter. Robert Franz hat mehr als sechzig Gedichte Osterwalds vertont.


    Der pädagogische Grundton ist in diesem Lied, bei all der naturbezogenen Metaphorik, die es aufweist, unüberhörbar. Es geht um seelische Erbauung in der Begegnung mit dem Frühling. Selbst dem „Liebchen“ wird dabei gleichsam eine Funktion zugewiesen: Die größte Ehre wird dem Frühling zuteil, wenn er „Aug´ in Auge“ „voll stiller Seligkeit“ erfahren wird. Das Liebchen soll „kommen“, auf dass der Frühling beide, das lyrische Ich und es selbst, nicht „krank“ vorfindet.
    Da hat sich wahrlich ein Schulmeister poetisch betätigt.

  • Dies ist ein Lied von einer regelrecht mitreißenden musikalischen Beschwingtheit. Es ist als Strophenlied mit Refrain angelegt, steht in A-Dur, weist einen Dreivierteltakt auf, und die Vortragsanweisung lautet: „Munter, doch nicht zu rasch“. Befürchtete Thuille mit diesem einschränkenden „doch“, dass es bei allzu hohem Tempo im Vortrag zu einem Verlust der seelischen Dimension kommen könnte, die der Melodik in der großen Emphase des Refrains innewohnt? Man möchte es vermuten, denn im Zentrum dieses Refrains steht das – wiederholte – lyrische Wort „stille Seligkeit“.


    Schon das viertaktige Vorspiel wirkt klanglich und rhythmisch beschwingt. In zwei Bogenbewegungen steigen Achtel empor, wobei der klangliche Reiz darin besteht, dass sich in dieser Bewegung eine melodische Linie abbildet, die Elemente der Vokallinie vorausnimmt. Auch diese ist von ausgeprägter Frische und Lebendigkeit. Jedes der beiden lyrischen Bilder trägt eine – von Pausen eingegrenzte – kleine Melodiezeile. Beide sind in ihrer Struktur identisch und wirken in der Lebhaftigkeit ihrer Bewegung wie eine Art Anlauf zur dritten Melodiezeile, die die Worte „in Maienlust und Duft“ umfasst und mit dem Oktavsprung am Anfang und dem gedehnten Sekundfall am Ende wie ein melodischer Höhepunkt wirkt. Diese den ersten beiden Versen zugeordnete Melodik begegnet einem bei den Versen fünf und sechs (Was Leben hat…“) noch einmal, was den Eindruck einer Strophenliedkomposition noch intensiviert.


    Auch bei den Worten „und Vogelsang“ und „und Sonnenstrahl“ beschreibt die melodische Linie, von einer Achtelpause unterbrochen, die gleiche Bewegung, im zweiten Fall nur um eine Terz nach oben versetzt. Und wieder empfindet man die dritte zugehörige Melodiezeile wie eine melodische Steigerung. Bei „die linde Luft“ beschreibt die Vokallinie einen verminderten Quintsprung und mündet nach zwei raschen Schritten in eine Dehnung bei dem Wort „Luft“. Bei den beiden letzten Versen vor dem Refrain „(Komm, süßes Lieb…“) ist Thuille jedoch von dem Prinzip der Wiederholung von Melodiezeilen abgewichen. Nicht nur die Aussage des lyrischen Textes dürfte der Grund dafür gewesen sein, sondern auch die Notwendigkeit, dem Lied vor dem Einsatz des Refrains eine innere strophische Geschlossenheit mittels eine Kadenz zu verleihen. Bei den Worten „süßes Lieb“ macht die melodische Linie einen lieblich wirkenden Quartfall mit Dehnung, und bei den letzten Worten („Frühling finde krank“) steigt sie in markanter, weil gedehnter und für dieses Lied auffällig langsamer weise in kleinen Sekundschritten an, um mit einer Dehnung bei dem Wort „krank“ zu vorläufiger Ruhe zu finden.


    Den Refrain empfindet man als eine Art Ausbruch der Gefühle, die dieses Lied von Anfang an, aber in gleichsam verhaltener Form in sich trägt. Zwar setzt die Vokallinie zunächst wieder in der gewohnten Weise ein: Mit zweimal gleichen melodischen Schritten und einer nachfolgenden melodischen Steigerung und Gestalt von Sprung- und Fallbewegungen bei den Worten „zu dieser schönen Zeit“. Auch das Klavier begleitet hier noch mit dem Legato von sich bogenförmig auf und ab bewegenden Achteln, wie es das bislang getan hat.


    Die beiden letzten Verse mit dem zentralen Bild der „stillen Seligkeit“, die „Aug´ in Auge“ sehend erfahren wird, bringen aber eine deutliche Steigerung der Emphase mit sich. Sie werden wiederholt, - wiederum um einen Steigerungseffekt zu erzielen. Beim ersten Mal beschreibt die melodische Linie nur eine kleinschrittige Bogenbewegung in hoher Lage, die bei dem Wort „Seligkeit“ in einen lang gedehnten Fall mündet. Bei der Wiederholung des Verses steigt sie aber bei den Worten „wenn Aug´ in Auge“ in drei Schritten über eine ganze Dezime an, macht bei dem Wort „stiller“ einen ausdrucksstarken Sextfall und klingt nun bei dem Wort „Seligkeit“ mit einem ruhigen Sekundschritt zum Grundton hin in Gestalt einer langen Dehnung aus.

  • Rebecca Broberg, die Interpretin dieses Liedes, versteht das ganze Opus 4 Thuilles, das sie sängerisch in der bei „Oehms classics“ erschienenen Aufnahme präsentiert hat, als „die Geschichte einer Liebe, die vorbei ist und deren Apotheose in den Tod des Liebeskranken führt“. Und zu diesem Lied „Im Mai“ führt sie – im Verfolg dieses interpretatorischen Ansatzes – aus: „Sehr kurzatmig und fast manisch sind hier die Phrasen: eine Mischung vo physischer und psychischer Krankheit. Die schwindsüchtige Verlassene hat vom Frühling ein Lebenszeichen des Geliebten wie eine Dosis Morphium bekommen. Sie verbraucht sich im Refrain, in dessen Langamtigkeit und Umfang.“


    Ich bekenne – und bedauere -, dass ich ihr darin nicht zu folgen vermag. Das Lied „Gruß“ ist für sie musikalischer Ausdruck einer Liebe, die „noch jung und frisch“ ist, „selig allein und voller Hoffnung“. Das Lied „Die Verlassene“ kommentiert sie mit den Worten: „Der Geliebte ist nicht gekommen“. (…) Das Lied bringe „Resignation“ zum Ausdruck. Und sie fährt fort: : „Mit der Vorahnung der Hoffnungslosigkeit wehen die Maiendüfte bei der letzten Bitte >komme bald!< - bald wird es keine Maienlüfte mehr geben.“


    Dieses Lied „Im Mai“ atmet klanglich einen Schwung und eine Emphase, die man beim besten Willen nicht als musikalischen Ausdruck eines lyrischen Ichs verstehen kann, das unter einer „physischen und psychischen Krankheit“ leidet. Gewiss, die melodische Phrasierung dieses Liedes ist – zumindest in den Versen, die nicht zum Refrain gehören – sehr kurzschrittig angelegt, umfasst zumeist gerade mal einen Takt. Das aber als „Kurzatmigkeit“ oder gar „Manie“ des lyrischen Ichs zu hören und zu verstehen, halte ich für die Implantierung eines interpretatorischen Ansatzes, für den das Lied in seiner spezifischen musikalischen Gestalt keine Grundlage liefert.


    Der unbefangene Hörer versteht diese Phrasierung als Ausdruck inneren Jubels, den die Begegnung mit dem Frühling, mit „Maienlust und Duft“ beim lyrischen Ich auslöst. Schon die wie rauschhaft bogenförmig nach oben strebenden Achtel des Vorspiels stimmen ja genau darauf ein. Und auch in der melodischen Linie der Singstimme findet sich dieses klangliche Element der gleichsam rauschhaften Steigerung: Die kleinen Melodiezeilchen (Phrasen) weisen nämlich in ihrer Aufeinanderfolge eine Tendenz nach oben auf und münden ja am Ende der beiden Verspaaren der Strophen in eine gedehnte Fallbewegung in hoher Lage.


    Und es ist von daher nur konsequent, dass die beiden Strophen in der Emphase, die ihnen melodisch von Anfang an innewohnt, in einen Refrain münden, in dem diese Emphase zu ihrem Höhepunkt findet. Zwar setzt die melodische Linie auch hier zunächst in kleinschrittiger Phrasierung ein, aber in den beiden letzten Versen, dort, wo es um die „stille Seligkeit“ geht, kommt die weit ausgreifende, gedehnte und sich forte in große Höhe aufschwingende Phrase in das Lied.


    Der Interpretationsansatz, den Rebecca Broberg bei diesem Lied vertritt, ist nicht zu halten. Ludwig Thuille hat das Gedicht von Wilhelm Osterwald ganz einfach wörtlich genommen und in vollkommen adäquater Weise in Musik gesetzt. Das Lied ergeht sich ohne jegliche Moll-Einfärbung oder gar chromatische Brüche in dem reinen A-Dur, in dem es mit dem Vorspiel antritt. Und das in der beschwingten Rhythmisierung des Dreivierteltakts.

  • Stell´ auf den Tisch die duftenden Reseden,
    Die letzten roten Astern trag´ herbei,
    Und laß uns wieder von der Liebe reden,
    Wie einst im Mai.


    Gib mir die Hand, daß ich sie heimlich drücke,
    Und wenn man´s sieht, mir ist es einerlei,
    Gib mir nur einen deiner süßen Blicke,
    Wie einst im Mai.


    Es blüht und duftet heut´ auf jedem Grabe,
    Ein Tag im Jahr ist ja den Toten frei,
    Komm an mein Herz, daß ich dich wieder habe,
    Wie einst im Mai.


    Hermann von Gilm zu Rosenegg wurde 1812 in Innsbruck geboren und starb 1864 in Linz. Nach einem Jurastudium trat der in den Staatsdienst und war in verschiedenen Ämtern, u.a. im Innenministerium, tätig. Daneben betätigte er sich als Dramatiker und Theaterkritiker. Bekannt und literarisch bedeutsam wurde er allerdings durch seine Lyrik. Neben in ihrer Sprachlichkeit volksnahen, von leicht elegischer Sentimentalität geprägten Natur- und Liebesgedichten verfasste er auch politische Lyrik („Jesuitenlieder“), die ihm Ärger einbrachten. Gottfried Benn schätzte ihn sehr.


    Dieses Gedicht vermag durch den lyrischen Grundton, den sprachlich durchgehaltenen und darin einfachen und klaren Aufforderungscharakter der einzelnen Verse, sehr wohl zu beeindrucken. Das „Laß und reden“ ist so etwas wie die lyrische Keimzelle des Gedichts, und der ihm ganz eigene Reiz besteht darin, dass sich um all die Imperative, dieses „stell“, „laß, „gib“ und „komm“ ganz zarte lyrische Bilder ranken, die ihm all die ein wenig schroff wirkende Direktheit, die Aufforderungen nun einmal an sich haben, zu nehmen vermögen.


    Aber es ist ja ohnehin eine Vision, die all dem zugrunde liegt. Das „Komm an mein Herz“ ist nicht einlösbar. Auch wenn ein Tag im Jahr den Toten frei ist, - ihre Rückkehr kann nur visionär beschworen werden. Ist dies die Wurzel dieses so zarten und in blumige Metaphorik gehüllten imperativischen Grundtons, der dem Gedicht eigen ist?

  • Es ist kein Zufall, dass dieses Gedicht Hermann von Gilms fast zeitgleich von Richard Strauss und von Ludwig Thuille vertont wurde. Beide waren zu dieser Zeit befreundet und tauschten einige ihrer Kompositionen zur Begutachtung aus. Eine kurze vergleichende Betrachtung soll im Anschluss vorgenommen werden. Hier im Voraus nur so viel: Die Komposition von Ludwig Thuille mutet klanglich so an, als sei sie intensiver auf den Ausdruck von Einsamkeit und Verlassenheit abgestellt, als dies bei Strauss der Fall ist. Auffällig ist in diesem Zusammenhang die Dominanz von Moll als Tongeschlecht.


    Während das Lied von Strauss längere Dur-Passagen aufweist und man den Eindruck gewinnt dass das Moll immer wieder gleichsam zum Dur hinwill und die auch erreicht, sind bei Thuille nur vier ganze Verse in Dur harmonisiert: Zweimal das „Wie einst im Mai“ und außerdem: „Und laß und wieder von der Liebe reden“ und „Es blüht und funkelt heut auf jedem Grabe“. Bei anderen Versen stellt sich das Dur buchstäblich im letzten Moment, auf dem letzten Wort also ein, so, als wolle es sich gegenüber dem Moll durchsetzen, schaffe das aber nicht. Das ist bei den beiden ersten Versen der Fall (bei den Worten „Reseden“ und „herbei“), beim siebten Vers („Blicke“) und bei der ersten Wiederholung von „Wie einst im Mai“.


    Prägend für den klanglichen Eindruck, den die Melodik macht, sind die vielen Fallbewegungen, die man durchaus als Ausdruck eines Seufzers aufnimmt. Schon das Vorspiel lässt sie aufklingen. Nach einer Abfolge von Moll- und verminderten Akkorden schält sich aus dem akkordischen Untergrund die melodische Linie des ersten Verses andeutungsweise heraus. Und die stellt sich nach dem kleinen sprunghaften Anstieg zu dem Wort „Tisch“ hin im folgenden als schrittweise Fallbewegung in Moll-Harmonisierung dar.


    Herausgehoben werden im folgenden Vers die „roten Astern“, und zwar in Gestalt eines weit nach oben ausgreifenden melodischen Bogens. Danach sinkt die melodische Linie erst einmal wieder ab, fängt sich aber gleichsam mit einer Modulation nach Dur hin bei dem letzten Wort der Verses: „herbei“. Klanglich ungetrübt, weil in Dur harmonisiert und ohne große Fallbewegungen in hoher Lage verbleibend, wirkt die Vokallinie beim dritten Vers. Allerdings ist bemerkenswert, dass hier beim letzten Wort, „reden“ nämlich, eine Modulation nach Moll hin erfolgt. Ist für das lyrische Ich das „Reden von der Liebe“ nicht die wahre Erfüllung?


    Das dreimalige „Wie einst im Mai“ wird von Thuille interessanterweise kompositorisch ganz unterschiedlich behandelt. Beim ersten Mal werden die Worte in reiner Dur-Harmonisierung auf einer zunächst in tiefe Lage fallenden, dann aber mit einem großen Sprung wieder steigenden melodischen Linie deklamiert. Im zweiten Fall ereignet sich bei dem Wort „Mai“ ein Septsprung mit nachfolgendem Sekundfall, der ihm einen starken Akzent verleiht. Und melodisch und harmonisch regelrecht lieblich erklingt die letzte Fassung dieser Worte: In Gestalt einer bogenförmig nach oben ausgreifenden, von terzbetonten Klängen im Klavier begleiteten und am Ende auf der Tonika endenden melodischen Linie.


    Ausgeprägte Expressivität entfaltet die Vokallinie bei jenen Versen, in denen das Du direkt mit einer Bitte angesprochen wird. Die Worte „Gib mir die Hand, daß ich sie heimlich drücke“ werden zunächst auf nur einer tonalen Ebene deklamiert. Zu dem Wort „drücke“ hin steigt die melodische Linie aber stark an und beschreibt einen kleinen Bogen in hoher Lage. Ähnlich sieht die Vokallinie bei dem Vers „gib mir nur einen deiner süßen Blicke“ aus. Auch hier am Ende (bei dem Wort „süßen) ein expressiver Aufstieg in hohe Lage mit einer Fallbewegung am Ende, die freilich in Dur harmonisiert ist.


    Zum höchsten Ton des Liedes steigt die melodische Linie bei den Worten „Komm an mein Herz“ auf. Danach aber beschreibt sie wieder eine Fallbewegung über große Intervalle, so dass sie bei dem Wort „habe“ in unterer Mittellage endet. Das Klavier begleitet hier mit Moll-Akkorden. Es ist also eine Bitte, in der die Unerfüllbarkeit auf klanglich schmerzliche Wiese mitschwingt.

  • Lieber Helmut, liebe Freunde, sie sich mit Ludwig Thuille beschäftigen bzw. zu beschäftigen beginnen!


    Neulich kam ich gesprächsweise auf Ludwig Thuille. Ja, wie spricht man den überhaupt aus? Wir waren uns plötzlich nicht sicher. Französisch? Der Namen Thuille soll sich vom Flüsschen "La Thuille" in Savoyen im Umfeld des Mont Blanc herleiten. So ein Gewässer habe ich nicht gefunden, wohl aber eine gleichnamige Gemeinde dieses Namens in dem Gebiet, allerdings nur mit einem L. Diese Gemeinde, die aus mehrerer verstreuten Ortsteilen besteht, ist italienisch. Die Vorfahren des Komponisten, der in Bozen geboren wurde, sollen aus Savoyen nach Tirol ausgewandert sein. Die Hälfte seines kurzen Lebens verbrachte Thuille in München, wo ihn auch eine sehr enge Freundschaft mit dem drei Jahre jüngeren Richard Strauss verband. Davon zeugt ein sehr sensibler Briefwechsel.


    Das nur in aller Kürze.


    Ich freue mich auf Antwort.


    Gruß Rheingold

    Es grüßt Rüdiger als Rheingold1876


    "Was mir vorschwebte, waren Schallplatten, an deren hohem Standard öffentliche Aufführungen und zukünftige Künstler gemessen würden." Walter Legge (1906-1979), britischer Musikproduzent

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