Der Liedkomponist Ludwig Thuille existierte noch bis vor wenigen Jahren im Bewusstsein der liedinteressierten Öffentlichkeit überhaupt nicht. Reclams „Liedführer“ listet ihn unter der Rubrik „Das nachromantische Lied im 20. Jahrhundert“ in einer Reihe mit Namen wie Arnold Mendelssohn, Wilhelm Berger, Hugo Kaun, Felix von Weingartner und Max von Schillings auf und hat zu ihm nichts anderes zu vermerken als: „Ludwig Thuille (1861-1907) ist vor allem durch seinen mittelbaren Einfluß als Lehrer bedeutsam:“
Nun hat sich der 1861 in Bozen geborene und in Innsbruck und München (bei Rheinberger) ausgebildete Ludwig Wilhelm Andreas Maria Thuille in der Tat als Musikpädagoge hervorgetan. Seit 1883 lehrte er in München Klavier, Harmonielehre und Komposition, gilt als Begründer der sog. (gemäßigten) „Münchner Schule“, und zu seinen Schülern gehören u.a. W. Braunfels und W. Courvoisier. Seine „Harmonielehre“ ist ein Standardwerk. Komponiert hat er natürlich auch (Opern, Sinfonik, Chor- und Kammermusik), diese Werk sind aber völlig unbekannt geblieben.
Das galt auch für seine Lieder, - bislang. Aber das Erstaunliche ist: In den letzten Jahren „entdeckte“ man diese, - im Unterschied zu denjenigen seiner oben erwähnten Zeitgenossen. Ein besonderes Verdienst kommt in diesem Zusammenhang der Sopranistin Rebecca Broberg zu, die (mit Frank Strobel als Begleiter) im Jahre 2007 unter dem Label „Oehms Classics“ in Kooperation mit „DeutschlandRadio Kultur“ eine CD mit Thuille-Liedern herausbrachte. Dieser Produktion folgten dann später noch zwei weitere nach (sie werden unten genannt).
Ist es wirklich „erstaunlich“? Es gibt gute Gründe dafür, weshalb man sich dem Liedschaffen dieses Musikpädagogen und Komponisten neuerdings zuwandte, den man eigentlich nur von seiner Freundschaft mir Richard Strauss und dem daraus hervorgegangenen Briefwechsel kannte. Obwohl er die Liedkomposition eigentlich nur gleichsam nebenher betrieb, sind ihm Lieder gelungen, die nicht nur überaus klangschön sind, sondern uns heute in der Art, wie sie den lyrischen Text in seiner dichterischen Aussage musikalisch aufgreifen, durchaus musikalisch etwas zu sagen haben, - und zwar gerade in ihrer die Tradition der liedkompositorischen Linie Schumann-Brahms aufgreifenden und fortsetzenden kantablen Melodik. Das wird hier aufzuzeigen sein.
Insgesamt 90 Lieder hat Ludwig Thuille komponiert, knapp die Hälfte davon wurde publiziert. Das erste Liederheft, das sein Opus 4 enthielt, erschien 1886. In den Jahren 1888 bis 1892 entstanden die Opera 5, 7 und 12. Mit dem Jahr 1898 begann die letzte Phase seiner Liedkomposition: Die Opera 15 (3 Lieder), 19 (5 Lieder), 23 (3 Lieder), 24 (3 Lieder), 26 (3 Lieder), 27 (4 Lieder), 32 (3 Lieder), 35 (5 Lieder) und 36 (3 Lieder). Er bevorzugte in seinem Liedschaffen zeitgenössische Lyriker, wandte sich aber auch Eichendorff, Keller und – bemerkenswert! - Brentano zu.
Ludwig Thuille ist – aus meiner Sicht - liedhistorisch nicht so recht zu verorten. Er wurde einerseits von seinem Lehrer Josef Rheinberger in Kontrapunkt und klassischer Musik ausgebildet und orientierte sich in Folge davon an Schumann und Brahms. Im Jahre 1886 geriet er aber durch Alexander Ritter und im Zusammenhang mit seiner Bekanntschaft und Freundschaft mit dem drei Jahre jüngeren Richard Strauss in den Bannkreis der „Neudeutschen Schule“. Das führte aber keineswegs dazu, dass er in seiner Liedkomposition das deklamatorische Konzept Hugo Wolfs ganz und gar übernommen hätte. Er orientierte sich zwar an den Leitlinien der Neudeutschen Schule, war aber – bei aller Modernität im Bereich der Harmonik und des Klaviersatzes - immer bemüht, in der Melodik das Prinzip der Kantabilität zu wahren, wie es ihm von Schubert und Schumann überkommen war. Insofern steht er als Liedkomponist gleichsam zwischen Johannes Brahms und Hugo Wolf, - wenn man die liedkompositorischen Konzepte einmal an Namen festmachen sollte.
Wenn Ludwig Thuille vonseiten der Musikwissenschaft „klassizistische Tendenzen“ bescheinigt wurden, so weist dies wohl darauf hin, dass er eher in der liedkompositorischen Tradition von Schumann steht und damit Brahms näher ist als Hugo Wolf. Das soll aber hier ein sekundärer Aspekt bleiben. Meine Aufgabe sehe ich darin, einige repräsentative Lieder aus den einzelnen Schaffensphasen vorzustellen, den klanglichen Eindruck zu beschreiben, den sie machen, und in diesem Zusammenhang aufzuzeigen, wie Ludwig Thuille kompositorisch mit dem lyrischen Text umgeht. Ich gehe dabei in erster Linie auf die Lieder ein, deren Notentext ich beschaffen konnte. In einigen Fällen war ich aber auf die Wiedergabe des reinen Höreindrucks angewiesen.