Sommerthema: Klassik als "Unterhaltungsmusik" - ein Sakrileg?

  • Wir sind - wie so oft in letzter Zeit vom eigentlichen Thema abgekommen. Es geht hier darum, ob eine klassische Komposition bedingungslos als unantastbares Kunstwerk oder auch als zum Vergnügen - zur Unterhaltung der edlen Hörerschaft verfasstes Musikstück gesehen werden soll. Das gilt rein als Frage des Standpunkts zu diesem Thema - egal ob im Konzertsaal, in der Oper oder daheim auf der Couch, wo man die Musik als Konserve geniesst.
    (Ob gewisse Leute im Blaumann ins Konzert gehen hat mit diesem Thema nichts zu tun - und wir sollten diesen Leuten keine Bedeutung zumessen, die ihnen gar nicht zukommt)
    Die theoretische Frage orientiert sich vielmehr am Kernpunkt, inwieweit die Musik zum Vergnügen der Publikums geschrieben wurde, oder zur "Selbstverwirklichung" des Komponisten.
    Mein Standpunkt zu diesem Themenkreis dürfte weitgehends bekannt sein.


    mfg aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Es geht hier darum, ob eine klassische Komposition bedingungslos als unantastbares Kunstwerk oder auch als zum Vergnügen - zur Unterhaltung der edlen Hörerschaft verfasstes Musikstück gesehen werden soll. [...] Die theoretische Frage orientiert sich vielmehr am Kernpunkt, inwieweit die Musik zum Vergnügen der Publikums geschrieben wurde, oder zur "Selbstverwirklichung" des Komponisten.


    Wenn ein Werk (völlig gleich, ob es sich um einen Text oder eine Komposition handelt), einem Publikum zugänglich wird, dann obliegt es dem Rezipienten (weitgehend), auf welche Art und Weise er es deutet oder konsumiert. Da gibt es keinen Imperativ. Der Wille oder die Absicht des Komponisten bzw. Autors etc. ist dabei unerheblich.


    Ja, mehr noch, bin ich der Auffassung, dass ein Künstler sich idealerweise mit (öffentlichen) Kommentaren und Erörterungen im Sinne von Rezeptionsanweisungen zurückhalten sollte. Derartiges hat keinen Verbindlichkeitsanspruch.

    "Geduld und Gelassenheit des Gemüts tragen mehr zur Heilung unserer Krankheiten bei, als alle Kunst der Medizin." (W.A. Mozart)

  • Wenn eine Werk (völlig gleich, ob es sich um einen Text oder eine Komposition handelt), einem Publikum zugänglich wird, dann obliegt es dem Rezipienten (weitgehend), auf welche Art und Weise er es deutet oder konsumiert. Da gibt es keinen Imperativ. Der Wille oder die Absicht des Komponisten bzw. Autors etc. ist dabei unerheblich.

    Demnach, lieber Lynkeus, darf Josef Goebbels Liszts "Les Preludes" nehmen, das von Liszt mitgegebene Programm mißachten und die Musik als Untermalung zur Wochenschau benutzen zum Zweck der Kriegspropaganda. Einen Mißbrauch darf man das dann nicht nennen, denn der Wille des Komponisten ist für Dich unerheblich.



    Ja, mehr noch, bin ich der Auffassung, dass ein Künstler sich idealerweise mit (öffentlichen) Kommentaren und Erörterungen im Sinne von Rezeptionsanweisungen zurückhalten sollte. Derartiges hat keinen Verbindlichkeitsanspruch.

    Aha. Wenn ein Klavierstück "Engel" heißt (Liszt) - der Titel zeigt an, dass es hier um religiöse Andacht geht - darf der Interpret das also wie Discomusik spielen und der Hörer das auch so aufnehmen. Mahlers Kindertotenlieder dienen dann vielleicht zum fröhlichen Ergötzen bei Champagner und Kaviar einer angetrunkenen Junggesellenparty. :no:


    Schöne Grüße
    Holger

  • Du bringst, lieber Holger, drei nachdenkenswerte Beispiele, von denen ich jedoch zwei hinsichtlich des Threadthemas für ungeeignet halte, weil sie den Schwerpunkt verlagern.


    Zum ersten: Darf Goebbels Liszts "Les Preludes" nehmen und die Musik als Untermalung zur Wochenschau benutzen zum Zweck der Kriegspropaganda?


    Wer hat ihn denn gehindert? Das Beispiel liefert natürlich gehöriges Empörungspotenzial, trifft doch die Noblesse klassischer Musik auf die Niederträchtigkeit nationalsozialistischer Propaganda. Es geht hier aber nicht mehr darum, wie ein Rezipient die Musik hört und deutet, sondern was andere damit anstellen. Mittelbar besteht da schon eine Verbindung: Wer eine Komposition als unantastbares Kunstwerk begreift und das Hören zur Unterhaltung ablehnt, wird sicher auch eine derartige Verwendung als mißbräuchlich bezeichnen. Die eigentliche Frage in diesem Zusammenhang wäre aber für mich, inwieweit man Musikwerke auszugsweise oder auch komplett zur Erzielung und Verstärkung von Affekten gebrauchen darf.


    Zum zweiten:

    Wenn ein Klavierstück "Engel" heißt (Liszt) - der Titel zeigt an, dass es hier um religiöse Andacht geht - darf der Interpret das also wie Discomusik spielen und der Hörer das auch so aufnehmen.

    Ich kenne das Stück leider nicht, konnte es auch bei youtube nicht finden. Auch hier geht es um eine andere Frage, nämlich der nach der Veränderung von Kompositionen. Da gibt es einerseits freilich rechtliche Festlegungen, andererseits sind Variationen, Transkriptionen und dergleichen mehr in der Musik ja gang und gäbe. Prinzipiell darf aber natürlich ein Interpret das als Discomusik spielen und Hörer dürfen das so aufnehmen, wenn es ihnen denn gefällt. Ob man das persönlich für angemessen oder gelungen hält, ist eine andere Frage.


    Das steht in Zusammenhang mit deinem dritten und zur Thematik recht passenden Beispiel: Ein Kunstwerk sollte meines Erachtens einerseits eine gewisse Bedeutungsoffenheit besitzen, andererseits für sich sprechen. Und da wären wir bei den Kindertotenlieder von Mahler. Man kann niemandem verbieten, diese „zum fröhlichen Ergötzen bei Champagner und Kaviar einer angetrunkenen Junggesellenparty“ zu hören, in solchem Falle wäre dieser hier :no: mehr als angebracht. Denn sowohl textlich als musikalisch werden diese Lieder wohl kaum zu der bei solchen Anlässen erwünschten Stimmung und Atmosphäre beitragen. Gäbe es jedoch eine derartige Festgesellschaft, verriete das viel über deren Kunstverständnis oder die Lebenseinstellung der Beteiligten. Und das gälte dann auch für jene, die Liszt zur Discomucke verwursten und die, die das goutieren.

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  • Natürlich "darf" Goebbels das. Wo soll denn die Institution sein, die das verbietet. Und vielleicht hat er es sogar mit tiefem eigenen Gefühl begründet. Das können wir nicht wissen. Ich persönlich halte es noch nicht mal für verwerflich, obwohl ich verdammt viel an Goebbels verwerflich finde, aber die Auswahl der Musik? Nein.

    ich weiß, dass ich nichts weiß. Aber ganz sicher bin ich mir da nicht.

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  • Wer eine Komposition als unantastbares Kunstwerk begreift und das Hören zur Unterhaltung ablehnt, wird sicher auch eine derartige Verwendung als mißbräuchlich bezeichnen.

    Lieber Lynkeus,


    ja, so ist es. Aber die Frage ist eben doch, ob bestimmte Musik und Kunst nicht verlangt, als Kunstwerk Ernst genommen zu werden. Musik wird doch geschrieben und gehört zu einem bestimmten Zweck. Ein Kirchenlied z.B. hat primär erst einmal eine liturgischen Aufgabe zu erfüllen. Natürlich kann man dieses auch als Atheist singen, weil man das Lied schön findet. Nur dann verliert dieses Lied vollständig seinen wesentlichen Sinn. Kunstmusik will letztlich nicht als Gebrauchsmusik behandelt werden. Wenn ich mich darüber hinwegsetze, dann bekomme ich letztlich keinerlei bezug zu dem, was dieses Musikstück eigentlich ausdrückt und ausdrücken will. Wer durch Musik unterhalten werden möchte, der soll bitte solche Musik hören, die ausdrücklich zu diesem Zweck komponiert wurde. Die gibt es doch reichlich.



    Ich kenne das Stück leider nicht, konnte es auch bei youtube nicht finden. Auch hier geht es um eine andere Frage, nämlich der nach der Veränderung von Kompositionen. Da gibt es einerseits freilich rechtliche Festlegungen, andererseits sind Variationen, Transkriptionen und dergleichen mehr in der Musik ja gang und gäbe. Prinzipiell darf aber natürlich ein Interpret das als Discomusik spielen und Hörer dürfen das so aufnehmen, wenn es ihnen denn gefällt. Ob man das persönlich für angemessen oder gelungen hält, ist eine andere Frage.


    Das steht in Zusammenhang mit deinem dritten und zur Thematik recht passenden Beispiel: Ein Kunstwerk sollte meines Erachtens einerseits eine gewisse Bedeutungsoffenheit besitzen, andererseits für sich sprechen.


    In der Frage der Deutungsoffenheit stimme ich Dir voll zu. Beispiel: Richters Aufnahme von Beethovens op. 2 Nr. 3 (siehe den Thread) - er spielt das Menuett "ernster" als die meisten anderen. Nur gehört zu dieser Deutungsoffenheit ein gewisser verbindlicher Rahmen. Ein religiöses Klavierstück (Liszt hat die Gattung erfunden) verzichtet ganz bewußt auf jedes ulterhaltsame, virtuose Brillieren - womit andere "weltlichere" Liszt Stücke ja so üppig glänzen. Hier dagegen spricht der Asket Liszt - das Stück will den Hörer in eine Stimmung kontemplativer Andacht versenken. Wenn der Interpret/Hörer das nicht beachtet bzw. dazu nicht bereit ist, dann verliert er schlicht den Zugang zu dieser Musik und betrachtet das Tonmaterial nur äußerlich als Reizquelle. (Um einen drastischen Vergleich zu gebrauchen: Das wäre ungefähr so, wenn man ein Aktbild von Tizian als Porno-Darstellung ansieht.)



    Natürlich "darf" Goebbels das. Wo soll denn die Institution sein, die das verbietet. Und vielleicht hat er es sogar mit tiefem eigenen Gefühl begründet. Das können wir nicht wissen. Ich persönlich halte es noch nicht mal für verwerflich, obwohl ich verdammt viel an Goebbels verwerflich finde, aber die Auswahl der Musik? Nein.

    Da tust Du Goebbels wirklich zu viel Ehre an, lieber Klaus. Der Propagandist hat sich einfach eine "heroische" Musik herausgesucht, die als Untermalung für die Kreigsbilder paßt. Liszts Programm hat er, bzw. der, welcher die Musik aussuchte, wohl nie gelesen. Auch wenn man das nicht moralisch betrachten will, ist das auf jeden Fall eine perfide Zweckentfremdung welche dem Musikstück sehr wohl schaden kann. Die Assoziation setzt sich in den Köpfen fest.


    Schöne Grüße
    Holger

  • Dass ich Goebbels Ehre antue will ich nicht gelesen haben!
    Aber es bleibt doch wohl so, dass er von seinem Handeln überzeugt war, und daher die für ihn besten Mittel benutzt hat. Das ist erst einmal wertfrei. Die Alternative wäre ja: "Ich bin schlecht, also wähle ich Mittel, die ich dadurch nicht beschmutzen kann...". Und das ist einfach nur albern.

    ich weiß, dass ich nichts weiß. Aber ganz sicher bin ich mir da nicht.

  • Lieber Holger, im Wesentlichen bin ich geneigt, dir in Vielem zuzustimmen. Eine Äußerung wie: "Mahlers Sinfonik verlangt vom Hörer Aufmerksamkeit", wäre ich auch bereit zu treffen. Dennoch wäre das nur mein subjektives Verständnis.


    Aber die Frage ist eben doch, ob bestimmte Musik und Kunst nicht verlangt, als Kunstwerk Ernst genommen zu werden.

    Es mag spitzfindig erscheinen, aber ich komme nicht umhin: Kunst kann m.E. gar nichts verlangen. Im Aufeinandertreffen von Betrachter und Werk mag ein solche Zuschreibung stattfinden und vielen Werken ist etwas immanent, das eine große Anzahl von Betrachtern zu dieser Einschätzung bringt; das war's dann aber schon. Ein Künstler kann meinetwegen auch der Ansicht sein, sein Werk verlange dies und jenes, aber da sind wir beim Ausgangspunkt, nämlich der Ansicht, der Wille des Künstlers ist unerheblich bzw. sollte dieser hinlänglich durch das Werk zum Ausdruck kommen, um die Wahrscheinlichkeit von Fehldeutungen (im Sinne des Schöpfers) zu minimieren. Formulierungen wie "wesentlicher Sinn" oder "was ein Musikstück eigentlich ausdrückt oder ausdrücken will" sind mir suspekt.


    Ein Werk muss für sich sprechen. Der Schöpfer hat sich dann Erläuterungen über den Sinn und darüber, was das Werk ausdrücken will, zu enthalten. Andernfalls ist das Werk gescheitert. Es obliegt dem Rezipienten, Sinnzuschreibungen vorzunehmen.


    Wer durch Musik unterhalten werden möchte, der soll bitte solche Musik hören, die ausdrücklich zu diesem Zweck komponiert wurde.

    Gilt umgekehrt dasselbe? Musik und Werke, die zur Unterhaltung entstanden, sind dann auch nur als solche zu rezipieren. Schluss also mit all dem analytischem Gequatsche und Interpretieren von Shakespeare-Werken?


    Der Künstler entscheidet eben nicht, wie sein Werk wahrgenommen wird. Es wimmelt ja in der Kulturgeschichte von verkannten Genies, von Menschen, deren Zeit erst kommen sollte. Und im Internet (aber nicht nur da) ist die Zahl von Künstlern und solchen, die es meinen zu sein, Legion. Leute, die mit peinlicher Prosa und lausiger Herz-Schmerz-Lyrik dem großen Musenkuss Ausdruck verschafft zu haben glauben.

    "Geduld und Gelassenheit des Gemüts tragen mehr zur Heilung unserer Krankheiten bei, als alle Kunst der Medizin." (W.A. Mozart)

  • Kunst kann m.E. gar nichts verlangen. Im Aufeinandertreffen von Betrachter und Werk mag ein solche Zuschreibung stattfinden und vielen Werken ist etwas immanent, das eine große Anzahl von Betrachtern zu dieser Einschätzung bringt; das war's dann aber schon.

    Der Kunstcharakter von Kunst, lieber Lynkeus, kann doch nicht nur eine Frage der Statistik und des subjektiven Beliebens sein. Ein Kunstgegenstand verlangt erst einmal, als solcher wahrgenommen zu werden. Die Rede ist zwar metaphorisch (Ansprüche stellen kann letztlich nur ein redender Mensch), aber trotzdem berechtigt. Ist ein Bild oder eine Vase nur ein Gebrauchsgegenstand, dann kann man solche Dinge einfach übermalen oder die Vase in den Mülleimer schmeißen und durch eine andere ersetzen. Dafür wird man nicht belangt. Bei Kunstwerken aber steht so etwas sogar unter Strafe. Es gab diesen tragischen Fall, wo die Mutter eines Bilderdiebes die Bilder von unschätzbarem Wert aus dem Mittelalter verbrannte, nur um ihren Sohn vor Strafverfolgung zu schützen. Dafür bekam sie eine langjährige Haftstrafe. Es gehört zu unserer Kultur, dass wir Kunstwerken einen besonderen Status zubilligen, der verlangt, mit ihnen in besonderer Weise umzugehen. Natürlich gibt es im einzelnen Streit darüber, welchen Gegenständen Kunstcharakter zukommt. Aber das ändert nichts an diesem Status.



    Formulierungen wie "wesentlicher Sinn" oder "was ein Musikstück eigentlich ausdrückt oder ausdrücken will" sind mir suspekt.

    Für einen Interpreten, etwa Alfred Brendel, ist genau das aber seine Existenzbedingung. Wenn er nicht davon überzeugt wäre, dass es diesen "wesentlichen Sinn" eines Musikstücks gibt, könnte er seinen Beruf nicht ausüben.



    Ein Werk muss für sich sprechen. Der Schöpfer hat sich dann Erläuterungen über den Sinn und darüber, was das Werk ausdrücken will, zu enthalten. Andernfalls ist das Werk gescheitert. Es obliegt dem Rezipienten, Sinnzuschreibungen vorzunehmen.

    So sehe ich das im Großen und Ganzen auch! :) Autoren sind keineswegs die einzig berechtigten oder gar besten Interpreten ihrer eigenen Werke. Der Versuch, die Rezeption steuern zu wollen, geht auch bezeichnend immer wieder schief. Allerdings - Beispiel: Programmmusik - darf der Komponist solche Erläuterungen selbstverständlich geben. Eine "Symphonische Dichtung" ist eine Gattung, wo diese Erläuterung vom Werk nicht zu trennen ist - anders als bei sogenannter "absoluter Musik".



    Gilt umgekehrt dasselbe? Musik und Werke, die zur Unterhaltung entstanden, sind dann auch nur als solche zu rezipieren. Schluss also mit all dem analytischem Gequatsche und Interpretieren von Shakespeare-Werken?

    Es gibt natürlich die Fälle von solchen Werken, die erst später von uns Kunstcharakter erlangen. Restaurationen und Denkmalschützer können davon berichten. In adligen Häusern wurden z.B. Portraits von Familienangehörigen oder kunstvolle Tapeten nur als Gebrauchsgegenstände behandelt und nicht besonders gepflegt. Heute denken wir da aber anders. Ein anderes Beispiel ist Andre Malrauxs "imaginäres Museum". Wenn ich z.B. Kultgegenstände aus Fernost zusammen mit Kunstobjekten aus Europa zusammen in ein Museum stelle, dann werden sie zu Kunstwerken erst durch diese Umgebung, von uns als (Kunst-)Betrachtern dazu gewissermaßen erhoben. Die Frage ist dann, wie man das interpretiert. Meine Auslegung: Solche Dinge haben in der Tat Eigenschaften, die sie zu Kunstwerken machen, sie werden in solchen Kulturen oder im kultischen Kontext nur nicht entdeckt. Was aber nicht heißt, dass sie nicht als solche gelten könnten. Die Geltung des Trägheitsgesetzes z.B. ist ja auch nicht abhängig vom Zeitpunkt seiner faktischen Entdeckung, idealiter gilt es immer (die andere Ansicht wäre ein psychologistisches Mißverständnis). In vielen Fällen ist der unterhaltende vom ernsten Charakter ja nicht zu trennen. Hier ist es in der Tat eine Frage der Gewichtung des Interpreten, welche Dimension überwiegt. Die schönen Wiener Walzer von Johann Strauß sind sicher primär Unrterhaltungsmusik, etliche (sicher nicht alle) haben aber auch eine tiefere Dimension, die man heraushören kann.



    Der Künstler entscheidet eben nicht, wie sein Werk wahrgenommen wird. Es wimmelt ja in der Kulturgeschichte von verkannten Genies, von Menschen, deren Zeit erst kommen sollte. Und im Internet (aber nicht nur da) ist die Zahl von Künstlern und solchen, die es meinen zu sein, Legion. Leute, die mit peinlicher Prosa und lausiger Herz-Schmerz-Lyrik dem großen Mußenkuss Ausdruck verschafft zu haben glauben.

    Die Rezeptionsästhetik sagt umgekehrt, dass sich der Künstler schon während des Schaffensprozesses an die Stelle des Rezipienten setzt, sein Werk mit den Augen seines Betrachters betrachtet. John Dewey z.B. führt sehr schön aus, dass ein ästhetischer Gegenstand anders als ein Gebrauchsobjekt schon so hergestellt wird, damit er nur betrachtet wird. Eine Schuh-Plastik bekommt von vornherein ganz andere Eigenschaften als ein Schuh, der wirklich getragen wird. Beispiel: Van Goghs Schuh-Bilder. Sie werden auf dem Bild ganz anders betrachtet als in der Realität. Im Alltag stehen sie z.B. in der Diele, haben also einen Ort, an den sie hingehören. Van Gogh stellt die Schuhe aber abstrakt auf eine leere Fläche. Damit wandelt sich nicht zuletzt die alltägliche Wahrnehmung in eine ästhetische. Was Dein Beispiel angeht: Auch schlechte Kunst ist erst einmal Kunst. Ein Kunstobjekt minderer Qualität ist eben immer noch etwas anderes als ein Gebrauchsding. :hello:


    Schöne Grüße
    Holger

  • Zitat

    Wer durch Musik unterhalten werden möchte, der soll bitte solche Musik hören, die ausdrücklich zu diesem Zweck komponiert wurde. Die gibt es doch reichlich.


    Durchaus. Dazu gehören nach meiner Einschätzung Sinfonien, Konzerte, Streichquartette, zahlreiche Lieder (aber nicht alle)


    Ich müsste einiges nachlesen, um differenziert antworten zu können - fürs erste sollte es aber mal reichen.
    Natürlich gab es auch Musik für spezielle Verwendung
    Dazu gehört vor allem die geistliche Musik, die alles sollte nur nicht unterhalten


    Dann die Militärmusik, die einerseits den Gegner einschüchtern sollte, die eigene Kampfmoral stärken und Angst bei den eigenen Truppen quasi im Trommelwirbel zu ersticken....


    Hymnen und Fanfaren zu Ehren eines Landes, eines Herrschers und auch als "Markierung" bei gesellschaftlichen Ereignissen


    Musik bei Theatherstücken um die Stimmung zu verstärken (seit der Antike)
    Die Oper ab etwa 1597 sollte diese Tradition wieder erneuern - entwickelte sich aber in eine ganz andere Richtung.
    Inwieweit Oper als "Unterhaltung" gesehen werden kann, wird vermutlich von der Art der Oper abhängen - darüber könnte man noch detailliert diskutieren.


    Prinzipiell waren aber - bis etwa 1900 - alle Musikgattungen dazu gedacht - dem Publikum zu "gefallen" (so vermeiden wir das doch etwas zu genau definierte und eventuell sogar als abwertend gesehene Wort "Unterhaltung"


    Indes war Musik bis zu Beginn der 20. Jahrhunderts NICHT dazu gedacht, Missfallen beim Hörer auszulösen, selbst in Verdis oft letalen Szenarien verströmen die Sänger meist Wohlklang pur.


    Und schon gar nicht ist es Aufgabe der klassischen Musik, Unlustgefühle beim Hörer zu erzeugen, die der Komponist dann mit einer Handbewegung wegwischt, weil seine Selbstverwirklichung ja die "öffentliche Hand" finanziert - egal ob seine Musik anhörbar ist - oder nicht....


    Es ist IMO der falsche Weg - immer wieder neue Bevölkerungsschichten der klassischen Musik zuführen zu wollen - und gleichzeitig besonders die "sperrige" Musik in den Mittelpunkt zu stellen, die selbst ein Gutteil der traditionellen Klassikhörer nicht hören will. - Denn der Mensch von heute (und vermutlich auch jener der Vergangenheit?) liebt keine Komplikationen, Unannehmlichkeiten und geistigen Anstrengungen, die ihm nicht in barer Münze abgegolten werden.....
    "Spaß" ist das Zauberwort unserer Zeit - und wer keinen "Spaß" anzubieten hat - der wird auf die Seite geschoben.....


    mfg aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



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  • "Dazu gehört vor allem die geistliche Musik, die alles sollte nur nicht unterhalten"
    Das heißt, sobald es anfängt, Spaß zu machen, aber nichts wie raus aus Kirche? Und wer bei der Militätmusik lustig mit dem Fuss wippt, ist ein verdammter Pazifist? Nein, ich glaube, das ist zu kurz gedacht. Diese Musik hat wohl eine "zweite Bedeutungsebene, die aber doch wohl die erste, nämlich zu gefallen, überhaupt nicht einschränkt.
    Beispiel geistliche Musik: Ein Requiem ist doch wohl geistliche Musik. Ich bin Agnostiker und Gegner der Kirche, aber ich höre das Requiem von Berlioz sehr gern. Und ich fühle mich beim Hören gut unterhalten. Das soll falsch sein?
    Auch wird mir hier ein Unterhaltungsbegriff genutzt, der mir nicht behagt. So ist eine Achterbahn, auf der Menschen Angst haben, fast in Panik geraten, nur zur Unterhaltung da - und das funktioniert hervorragend! Insofern können sehr wohl auch Unlustgefühle unterhaltsam sein. Horrorfilme sind auch ein Beispiel dafür. Überhaupt kennen wir wohl alle das Vergnügen, mit den Grenzen zu spielen, und sei es auch nur die ein kleines bisschen zu scharfe Currywurst mit ihrem schönen Schmerz.
    Daher muss man wohl das Wort "Unterhaltung" wohl überdenken.


    Tschö
    Klaus

    ich weiß, dass ich nichts weiß. Aber ganz sicher bin ich mir da nicht.