Hallo Stabia,
Michael Korstick ist gewiss ein Pianist, der polarisiert (dies aber ganz sicher nicht wegen technischer Defizite).
Im seinem Falle glaube ich den Grund zu verstehen: Zwei Eigenschaften kennzeichnen seine Interpretationen: zum Einen die Texttreue. Die Realisierung dessen, was der Komponist unmissverständlich fordert, wird unmissverständlich umgesetzt.
Nun lässt sich aber nicht Alles in Noten schreiben, die Werke erfordern, erzwingen ja in jedem Moment vom Interpreten Entscheidungen. Und da sucht Korstick nach den Lösungen, die ihm selbst plausibel erscheinen, offensichtlich nach einem langen Analyse- und Denkprozess, kombiniert mit musikalischer Empfindung und Erfahrung. Ich finde es interessant, dass er „nicht Alles ganz anders“ spielt (laut eigener Aussage hat er eher nur Verachtung für Interpreten, die glauben, man müsse „Alles ganz anders als die Anderen“ machen). Mit der selben Begründung spielt er aber auch nichts "so wie Andere" in dem Sinne, dass das die Tradition ist. So kommen wirklich außergewöhnliche Aufnahmen zustande.
Das Interview mit Korstick, das in der Textbeilage zur Aufnahme der Hammerklaviersonate abgedruckt ist, gibt ein schönes Beispiel, denn er begründet darin die Wahl seiner Tempi, wobei er auch ganz klar sagt, dass die Richtigkeit der Entscheidung für den extrem langsamen dritten Satz nicht beweisbar ist. Gute Gründe sind es aber allemal – vor Allem sind es Gründe, bei denen nicht er selbst, sondern der Komponist im Mittelpunkt steht.
Als Ergebnis sind aus meiner Sicht extreme, radikale Aufnahmen entstanden – aber Beethoven hat ja auch extreme und radikale Werke geschrieben: die Hammerklaviersonate finde ich zum Beispiel moderner als Vieles aus dem 20. Jahrhundert, und Korstick hat (wie auch manch anderer große Pianist) die Gabe, diese Radikalität „herüberzubringen“ – und damit meine ich wirklich: in unsere Zeit zu retten, in der Lautstärke, Dissonanzen, die musikalische Entwicklung usw. die Ohren ganz anders geprägt haben als die der Hörer zu Beethovens Zeit. Ein Gestaltungsmittel neben vielen ist die Dynamik, die ihm der moderne Konzertflügel bietet. Dass er dabei das Klaviermöbel nicht immer mit Samthandschuhen behandelt, finde ich ganz angemessen. Beethoven hat das mit seinen Flügeln auch nicht gemacht.
Meine ganz persönliche Sicht auf die eingespielten Aufnahmen ist:
opp. 53 , 111 und 120 sind beeindruckend geschlossen gespielt, in den Tempi rasant, aber doch nicht wirklich extrem, die Zeiten für die Sätze bei op. 53 sind praktisch identisch mit denen der Pollini-Aufnahme. Gulda spielt die Diabelli-Vaiationen sicher „extremer“ als Korstick. Details spielen gar nicht die große Rolle, aber am Ende hat man wirklich Beethoven gehört. Etüdenhaft? – ich finde es eher großartig, dass der Hörer nicht in den Gefühlen des Interpreten versinkt, sondern dass die Musik für sich selbst sprechen darf.
Op. 106 finde ich absolut großartig: ich teile nicht das Urteil, dass man im langsamen Satz den Faden verliert.
Noch zur Aufnahme der Milhaud-Konzerte: da lernt man Korstick von einer ganz anderen Seite kennen, farbig, brillant, sogar elegant. Bei dieser Aufnahme ist der Flügel sicher nicht kaputtgegangen. Interessant wäre dennoch, wenn man Aimard oder Tharaud zum Vergleich hören könnte.
Nun ist es ja – dem Himmel sei Dank – so, dass nicht jedem das Selbe gefallen muss. Und damit wären wir wieder beim Polarisieren: es ist doch ein Segen, dass es Interpreten gibt, die polarisieren, und zwar auf Grund ihrer künstlerischen Statur (wäre es auf Grund von Werbekampagnen, ich würde anders urteilen).
Beste Grüße
Pylades