Meine persönliche Referenzaufnahme - Vol. 4 - Bachs Brandenburgische Konzerte

  • Obwohl ich viele Alternativaufnahmen kenne und einige davon besitze bin ich der -aus meiner Sicht sogar für jeden Takt begründbaren- Meinung, dass Harnoncourt mit seiner zweiten Aufnahme aus den Jahren 1980 bis 83 immer noch unerreicht ist.



    Damit meine ich keineswegs die Schnelligkeit, denn da hat ja in der HIP-Szene seit der o.g. MAK-Einspielung ein gewisser Trend, wenn nicht schon Wettbewerb eingesetzt. Es muss(te) ja irgendwie immer ein Grund gefunden werden, warum man die Konzerte überhaupt "schon wieder" aufnimmt. Bei Harnoncourt war es klar, dass die zweite Einspielung einfach überfällig war, sowohl hinsichtlich seiner -sehr von den ersten Versuchen abweichenden- starken Entwicklung als Interpret, als auch aufgrund der spieltechnischen Anfangsschwierigkeiten der ersten Aufnahme. Danach ging es bei weiteren Aufnahmen des Klassikmarktes hin und wieder um andere Besonderheiten. Auf die Frage, warum z.B. Goebel diese aberwitzigen Tempi wählte, soll er einmal sinngemäß geantwortet haben "weil wir es konnten". Der erste Satz des 3. oder vor allem des 6. Konzertes gleicht wirklich einer Karikatur, einer zu schnell gespielten LP, allerdings mit richtiger Tonhöhe. Ein anderes italienisches Ensemble setzte seine eher ruppige Art in den Vordergrund, womit es bis heute nicht alleine blieb, sondern natürlich noch übertroffen wurde. Heute findet man immer wie neue und andere "Spezialgründe" für eine Neuaufnahme, wie etwa eine plötzlich entdeckte und angeblich zwingend notwendige solistische Streicherbesetzung, noch originalere als die angeblich doch nicht ganz originalen Hörner, und und und....
    Einige von den neuen Aufnahmen gefallen mir recht gut, andere weniger.


    Warum aber bevorzuge ich also immer noch Harnoncourts zweite Einspielung?


    Vor allem aus musikalischen Gründen!
    Ich höre da z.B. in sofern "richtige" und ausgewogene Tempi, als sie sich an der innewohnenden Balance einer bewegten rhetorischen Figur und am menschlichem Atem orientieren. Die Figur ist ein mit Bedeutung versehenes Motiv, bestehend einer bestimmten Gruppe von Noten, welches einer gestischen Bewegung (wie beim Reden) entspricht. All das soll den sehr unterschiedlichen und oft auch aufeinanderprallenden Emotionen (den Affekten) fühlbaren Ausdruck verleihen. Bei Harnoncourt werden anstelle eines nur soliden, historisch "richtigen", brillianten oder vor allem flotten Abspielens von Noten bewegende Geschichten erzählt, Diskussionen, ja leidenschaftliche Auseinandersetungen geführt.
    Die herzallerlieben und süßen Blockflöten im 4. Konzert werden z.B. dem als gnadenlosen Peitscher von Continuoakkorden fungierendem Rest des Orchesters im ersten Tutti (Satz 1) gegenübergestellt. Im 6. führen die Bratschen einen Streit um die Takteins aus, während die ehemals doch so sehr als solistisches Edelinstrument angesehenden Gamben nur noch "stumpfsinnige" Tonwiederholungen in akkordischer Achtel-Begleitung beitragen dürfen. Das Ganze wandelt sich dann genial an einer impressionistische Stelle, bei dem die Begleiteinstrumente eine weiches Bogenvibrato spielen, während die Bratschen das vormals rustikale Motiv mit dem Quartsprung in einen hochemotionalen Ausdruck umformen, indem sie einen süssen und bewegenden Septsprung spielen (mit weicher Artikulation im Gegensatz zu vorher). Diese allesamt "unglaublichen" und sicher auch damals "unerhört" erfahrenen Dinge sind von Bach so einkomponiert worden, aber man muss es auch erkennen und entsprechend spielen. Bei Harnoncourt wird es klar hörbar, während andere deftig bis "unaware" über diese Dinge hinwegschrubben.


    Bei allen mir sonst bekannten Interpretationen (außer Pablo Casals) klingt z.B. auch das Mordentmotiv aus dem ersten Satz des 3. Konzerts ( g,fis. g) zackig und eher ruppig, bei Harnoncourt aber wie eine Teil aus einer runden Körperbewegung, wodurch der ganze 1. Satz beginnt, eine im Körper fühlbare, schwingende Dimensionen zu erlangen.
    Beim Concentus musicus Wien wurden hier - wie auch im 6. Konzert - vom Timbre her sehr unterschiedliche klingende Originalinstrumente benutzt. Wenn dann eine Figur von einem Instrument zum nächsten wandert, ist das sehr reizvoll zu hören. Die Bratschen sind von der Grösse und vom Klang her sehr unteschiedlich, was man auch hören kann.


    Auch das Fugenmotiv im letzten Satz des 4. Konzerts wird mit einem bewussten, aufspringendem Gestus gespielt, nicht zu schnell heruntergerasselt und in der Tongebung hinsichtlich Non-Vibrato oder Con-Vibrati hochexpressiv und abwechslungsreich musiziert.


    Es gäbe hunderte Stellen und Argumente, die man für diese in den 80er Jahren entstandenen Aufnahmen finden könnte. Ich betrachte sie als Glücksfall, den Harnoncourt vielleicht heute gar nicht mehr so hinbekäme. Hier wird musikantisch (als Steigerung von musikalisch) gespielt, voller Energie, Leidenschaft und gleichzeitig mit viel Geschmack und geistiger Durchdringung. Ich bedaure auch fortwährend, dass der spezielle Geigenton von Alice Harnoncourt nicht mehr solistisch zu vernehmen ist, ebenso das sehr individuell sprechende Continuospiel Harnoncourts.


    Hier wurden diese Konzerte noch einmal zeitnah in sehr ähnlicher Interpretation aufgenommen, zusammen mit der Orchestersuite Nr. 3 und einer sehr vorzüglichen Kaffeekantate:



    Zudem gibt Harnoncourt hier zu jedem Konzert sehr interessante Erklärungen ab und lässt die Solisten auch einmal verschiedene Details solistisch vortragen.....sehr anschaulich, leider aber mit einem mich tatsächlich nervenden Fragesteller. Die DVD ersetzt mir die CDs aber nicht, weil ich finde, dass manche Aspekte und Details auf den Studioaufnahmen noch etwas besser gelungen sind.


    Der einzige Nachteil mit diesen CDs ist für mich, dass ich sie einfach zu gut kenne....
    Mein Wunsch, es einfach einmal neu und anders zu hören hat mich oft zu anderen Interpretationen mit dem Ergebnis geführt, dass ich Harnoncourts Aufnahme immer noch für die Unverzichtbarste halte und wieder zu ihr zurückkehre.


    Dennoch möchte ich nicht verhehlen, dass mir durchaus auch andere Einspielungen zusagen. Hier möchte ich vor allem nennen: Akademie für Alte Musik Berlin, Bach Collegium Japan (Masaaki Suzuki) und neuerdings auch das Dunedin-Consort. Die Akademie und das Bach Collegium spielen klangschön, vom Tempo und anderen Dingen her ausgewogen, nicht selbstdarstellerisch ruppig und dennoch sehr engagiert und keineswegs langweilig. Beim Dunedin Consort ist mir ihr rhetorisches Verständnis bei einer warmen Musikalität und einem recht überzeugendem , von den Figuren her abgeleiteten Tempoverständnis aufgefallen. Diese Aufnahme muss man schon als sehr gelungen und als "berechtigt" bezeichnen. Zudem lässt eine Linn-Multichannel-SACD bei Freunden des High-End-Klangs echte Hoffnungen aufkommen. Die BIS-Aufnahmen Suzukis sind diesbezüglich ja auch recht gut.....zu wenig Hall hat der Aufnahmeort in Kobe wohl nicht, manchen mag es ggf. zu viel werden. Gerade die Suzuki-Aufnahmen verlangen immer nach sehr gut auflösendem Abspiel-Equipment.



    Gruss
    Glockenton

    "Jede Note muss wissen woher sie kommt und wohin sie geht" ( Nikolaus Harnoncourt)

  • Ist Harnoncourt 1980er nicht auch die oder eine der ersten, die die Blockflöten im 4. Konzert als "Echo" räumlich weiter hinten? positionieren? Ich bilde mir jedenfalls ein, mal so eine Aufnahme gehört zu haben. (Es ist sicher nicht MAK und die und Harnoncourt kenne ich am längsten und besten.)

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Ja, er hat die Flöten aus einem Nebenraum spielen lassen. Ein Indiz dafür, dass das so gewollt ist, sieht er darin, dass die beiden Blockflöter durch den sehr späten Einsatz ihrer Instrumente im 3. Satz des Konzerts genug Zeit hatten, wieder ihren ursprünglichen Platz im Orchester einzunehmen. Bei der DVD wurde in einer Bibliothek gefilmt. Die Echoflöten spielen da von Empore und gehen dann im 3. Satz herunter, während das Orchester schon mit der Fuge beginnt. Das klappt wunderbar...


    Zudem glaube ich, dass er immer noch der Einzige ist, der es so handhabt(e), weiß es aber nicht ganz genau.


    Gruß
    Glockenton


    PS.: die ärgerliche Korrekturfunktion und die blöde Touchscreen-Tastatur des iPads machten einigen Bearbeitungen erforderlich.

    "Jede Note muss wissen woher sie kommt und wohin sie geht" ( Nikolaus Harnoncourt)

  • Ich habe die Aufnahme von Concerto Köln inzwischen gekauft und gehört. Im Vergleich zu den vier anderen Einspielungen, die ich habe, kommt es mir, laienhaft ausgedrückt, so vor, als ob hier die Stücke sowohl besser durchhörbar sind als auch von den Musikern besser durchgehört worden sind (wenn man das so sagen kann). Mir erscheinen die Aufnahmen differenzierter, manchmal, salopp gesagt, fetziger oder wilder, aber gleichzeitig dabei kultiviert, und voller Spielfreude, die Musiker hören aufeinander. Ich jedenfalls bin sehr angetan.

  • Meine zweite - und in diesem Thread letzte - Nominierung ist die Aufnahme mit dem Cafe Zimmermann


    Wieder einmal stelle ich eine Übereinstimmung mit Alfred fest - scheinbar haben wir trotz ansonsten ganz unterschiedlicher Vorlieben im Bereich der Barock-Musik einen ähnlichen Geschmack.


    Wie das Ensemble Café Zimmermann hier die Brandenburgischen Konzerte interpretiert, ist einfach grandios, voller Pep und tänzerischem Esprit. "Bach swingt", könnte man etwas anachronistisch sagen. Die kammermusikalische Besetzung kommt der Durchhörbarkeit entgegen, und man kann sich bestens an den Klangfarben der Instrumente erfreuen. Unterstützt wird das durch die vom Label alpha gewohnt gute Aufnahmequalität. So macht der olle Bach selbst mir Spaß, obwohl ich eigentlich wenig Begeisterung für seine Orchesterwerke hege. :jubel:


    Café Zimmermann hat die Brandenburgischen Konzerte nicht am Stück aufgenommen, sondern zwischen 2000 und 2010 im Rahmen einer Aufnahmeserie der "Konzerte mit mehreren Instrumenten" auf 6 CD. Sie sind daher auf diese 6 CD verteilt, inzwischen aber auch separat als Doppel-CD erhältlich:



    Allerdings lohnen sich auch die anderen Konzerte!

    Der Traum ist aus, allein die Nacht noch nicht.

  • Banner Trailer Gelbe Rose
  • Café Zimmermann habe ich seinerzeit gehört und sofort gekauft. Eine glanzvoll virtuose Einspielung. Wenn man ihr eine Schwäche anhängen möchte, so wäre das - etwa im Vergleich zu Savall, den ich hier ebenfalls empfehlen möchte - eine gewisse Eindimensionalität im Getrimmtsein auf Tempo und Timing. Ein Freund von mir besitzt eine hervorragende Anlage mit aktiven Bipol-Strahlern, da klingt Café Zimmermann tatsächlich sehr viel lebendiger und musikalischer als bei mir, wo akustisch die aggressive Spielweise vorwiegt (z.B. Konzert No. 3). Soviel zur Subjektivität von Höreindrücken ..


    :hello:

    Zerging in Dunst das heilge römsche Reich


    - uns bliebe gleich die heilge deutsche Kunst!

  • Hallo farinelli,


    es freut mich, Dich hier nach langer Pause wieder zu erleben.


    Die CD mit Café Zimmermann habe ich nicht; ein Vergleich auf YouTube bringt, was den Klang betrifft, wenig. Deine Eindrücke von Tempo und Aggressivität (das ist auf YouTube gut zu hören) decken sich mit meinen.





    Hier beeindruckt mich besonders das voluminöse Klangbild der Bläser im Konzert Nr. 1 und der satte, warme, tiefe Streicherklang im Konzert Nr. 6.
    Erbitte Deine Meinung dazu, falls Du die CD hast?


    Viele Grüße
    zweiterbass

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler