Max Reger. Sein Liedschaffen, vorgestellt anhand repräsentativer Beispiele

  • Danke für Deinen Beitrag und das Einfügen des Links zu der Ameling-Aufnahme, lieber Stimmenliebhaber.
    Ja, in der CD mit "Weihnachtsliedern", die Fischer-Dieskau interpretiert, findet sich dieses Lied nicht, wohl aber die Reger-Lieder "Uns ist geboren ein Kindelein", "Laßt uns das Kindlein wiegen" und "Maria sitzt am Rosenbusch". Dieses habe ich in Beitrag 85 hier vorgestellt.
    Mit Freude habe ich Dein Bekenntnis gelesen, "Mariä Wiegenlied" betreffend: "Eigentlich war es immer mein Lieblingslied von Reger."

  • "Maria sitzt am Rosenbusch". Dieses habe ich in Beitrag 85 hier vorgestellt.

    Ja, das ist zwar auch wiegend, aber nicht so volksliedhaft einfach, sondern schon sehr anspruchsvoll und harmonisch sehr kühn. Ich habe es, glaube ich, nie gesungen.


    FiDi singt übrigens eindeutig "Maria sitzt am Rosenbusch" und nicht, wie fälschlich im Video angegeben, "Rosenstrauch":



    Definitiv gesungen habe ich hingegen diese Lieder:

    "Uns ist geboren ein Kindelein", "Laßt uns das Kindlein wiegen"


    Harmonisch auch ambitioniert, teilweise auf engstem Raumdie kühnsten Modulationen, aber doch machbar. Ebenso das folgende Lied, das durch die am Ende aller Strophen refrainartig wiederkehrende "O Jesulein..." und durch den choralhaften Charkter noch volkstümlicher wirkt als das vorige.



    Sozusagen mein zweitliebstes Reger-Lied. :)

    Beste Grüße vom "Stimmenliebhaber"

  • Zit: "FiDi singt übrigens eindeutig "Maria sitzt am Rosenbusch" und nicht, wie fälschlich im Video angegeben, "Rosenstrauch"."


    Diese Angabe ist nicht "fälschlich", sondern korrekt. Das Lied trägt bei Max Reger den Titel: „Maria am Rosenstrauch“ ( op.142, Nr.3). Und dies deshalb, weil das Gedicht von Ernst Ludwig Schellenberg betitelt ist: „Maria am Rosenstrauch“.
    Im ersten Vers wird aus dem "Rosenstrauch" ein "Rosenbusch":


    Maria sitzt am Rosenbusch
    Und wiegt den Jesusknaben;
    Kommen drei Englein in leichtem Husch
    Und bringen die schönsten Gaben.

  • Dann war wohl deine eigene Liedbetitelung "Maria sitzt am Rosenbusch" in deinem Beitrag 91 (diese Seite ganz oben) der Irrtum, auf den ich mich dann meinerseits bezog.

    Beste Grüße vom "Stimmenliebhaber"

  • Eben, auf der Suche nach einer Aufnahme des Reger-Liedes "Mittag" (Op.76, Nr.35, auf das ich hier noch kurz eingehen möchte) bei Amazon und Youtube, die leider erfolglos blieb, stelle ich fest:
    "Mariä Wiegenlied" und "Waldeinsamkeit", beide hier in diesem Thread besprochen und beide den "Schlichten Weisen" zugehörig, sind auffällig häufig bei Youtube vertreten.


    Und nun frage ich mich:
    Hätte Reger, wenn er das erleben könnte, seine Freude daran? Seine anderen Lieder, denen er große Bedeutung zumaß und großes kompositorisches Format verlieh, findet man nicht, - wohl aber seine "Schlichten Weisen", denen gegenüber er zu seinen Lebzeiten eine höchst ambivalente Haltung einnahm.
    Ich bin mir unsicher, weiß keine Antwort.

  • Regers größter liedkompositorischer Erfolg, „Mariä Wiegenlied“ also – der Verlag Bote und Bock brüstete sich in einer Werbung mit 100 000 verkauften Exemplaren des Notentexes – gehört nicht einem der großen anspruchsvollen Liedopera an (also 62 bis 70), sondern dem Opus 76, den „Schlichten Weisen“. Es handelt sich dabei um 60 Lieder, die auf insgesamt sechs Bände verteilt sind. Als Reger 1904 mit der Komposition seiner „Schlichten Weisen“ einsetzte, wollte er ganz bewusst gleichsam kompositorische Gegenbilder zu seinen bisherigen Liedern schaffen, denen man einen zu mächtigen Klaviersatz und ein Übermaß an harmonischen Modulationen vorwarf. Also lautete sein kompositorisches Grundprinzip nun: Volksliedhaft anmutende Melodik, relativ einfach strukturierter Klaviersatz und eine Reduktion auf das unbedingt erforderliche. Das gelang ihm nicht immer, besonders bei der Harmonik – seiner kompositorischen Leidenschaft - fiel ihm die Enthaltsamkeit schwer. Eine Bemerkung ist diesbezüglich recht aufschlussreich: „Sollte die Harmonik nicht immer ganz bazillenfrei sein, so bitte ich alle tonalen Keuschheitsapostel um Vergebung“.


    Die „Schlichten Weisen“ erwiesen sich alsbald für die Verleger als Verkaufserfolg, so dass Reger sich entschloss, das kompositorische Unterfangen, das ursprünglich begrenzt sein sollte, fortzusetzen. Allerdings stieß er bei den Rezensenten wiederum auf Kritik, - nun gleichsam in die Gegenrichtung weisend. Das sei, so hielt man ihm entgegen, letztendlich bedeutungslose Gebrauchsmusik und eigentlich unter seinem Niveau. Selbst bei seinem frühen Biographen Eugen Segnitz (Max Reger, Historia –Verlag Leipzig, 1922), der ihm als Menschen und Komponisten sehr zugetan war, kann man lesen:
    „Diese 60 Lieder sind unvergleichlich leichter verständlich und ausführbar als jene anderen, aber, seien wir offen, nur zu oft auch auf mittelmäßige Texte und, für einen Reger, doch etwas schwach komponiert.“
    Mit den „mittelmäßigen Texten“ hat Segnitz sicher recht, - aber das ist ein Grundproblem bei Reger überhaupt. Was die Liedmusik anbelangt, so mag ich ihm nicht in dieser generellen Weise zustimmen, Es gibt eine ganze Reihe von Liedern in diesem Opus 76, die Dokumente hochgradiger Kompositionskunst darstellen. Auch bei allem Bestreben nach Einfachheit: Man begegnet immer wieder regelrechten kompositorischen Finessen, - sie sind allerdings, wie bei „Mariä Wiegenlied aufzuzeigen versucht wurde – auf höchst kunstfertige Weise in der Faktur verborgen.
    Verblüffend ist die thematische Vielfalt der Lieder. Da gibt es alles, vom Zarten und Tiefernsten, über das Heitere bis zum scherzhaft Ausgelassenen, wo Reger seinen Humor voll entfalten konnte. Typische Titel sind: „Am Brünnele“, „Hans und Grete“, „Der verliebte Jäger“, „Des Kindes Gebet“ „Schmeichelkätzchen“, „Vorbeimarsch“, „Lutschemund“, „Der Postillon“, „Schelmenliedchen“, „Zwei Mäuschen“ …Aber es finden sich auch Titel wie „Waldeinsamkeit, „Wenn die Linde blüht“, „Maiennacht“, "Mittag", „Minnelied“…


    Regers eigene Haltung zu seinen „Schlichten Weisen“ erweist sich – wenn man seine diesbezüglichen brieflichen Äußerungen studiert – auf eigenartige Weise ambivalent. Auf der einen Seite nahm er sie offensichtlich sehr ernst. An Theodor Kroyer schreibt er am 19. März 1904:
    „Ich beabsichtige jedes Jahr 1-2 solcher kleinen Sammlungen herauszubringen. Ich will damit dem deutschen Volke so nach und nach eine große Sammlung von möglichst einfachen u. doch aristokratischen Gesängen mit selbstredend leichtester Klavierbegleitung geben. Hoffentlich findet diese Idee u. auch op. 76 – die erste Reihe der beabsichtigten Sammlung – Ihren Beifall“
    Auf der anderen Seite amüsiert er sich aber immer wieder über den Erfolg, den er mit diesen Liedern beim Publikum hatte. Aus einem Brief an Lauterbach und Kuhn (12.November 1904):
    Wie mir aus Dresden geschrieben wird, hat Charlotte Huhn letzthin in Dresden mit meinen Schlichten Weisen durchschlagenden Erfolg gehabt. Darauf (auf die S.W.) beißen alle an; es ist zum Brüllen!“

  • Dass es viele überaus ernst zu nehmende, weil kompositorisch kunstvoll gestaltete und in ihrer musikalischen Aussage bedeutsame Lieder in Regers Opus 76 gibt, die darin gar nicht als „schlichte“ Weisen anmuten, zeigt zum Beispiel das Lied „Mittag“ auf ein Gedicht von Ernst Ludwig Schellenberg (op.76, Nr.35). Ich liebe es sehr, weil Regers Musik die lyrischen Bilder in klanglich beeindruckender Weis einfängt, wobei der Harmonik und dem Klaviersatz – wie für Reger typisch – eine bedeutende Funktion zukommt.
    Es ist, wenn ich mich nicht irre, in nur einer zurzeit erhältlichen CD enthalten, und Youtube hat es leider nicht im Angebot. Ich selbst höre es in einer sehr alten, der letzten Liedaufnahme des Tenors Wolfgang Anheisser (eine 1974 bei Electrola erschienene LP, mit Georg Fischer als Begleiter). Sie enthält eine Auswahl von 33 Liedern aus den „Schlichten Weisen“ Regers. Zu finden ist es im - auf dem Markt noch angebotenen - vierten Band der „Hermann Prey-Lied-Edition“.


    Ernst Ludwig Schellenberg: „Mittag“


    Zwischen Mohn und Rittersporn
    Hab´ ich träumend heut´ gelegen.
    Wogend strich das reife Korn,
    Mittagsglut auf allen Wegen.


    Nur ein weißes Wölkchen zog
    Durch die glanzdurchflirrten Räume,
    Und mein weites Sehnen flog
    Leuchtend durch das Blau der Träume.


    Was dieses Lied so beeindruckend und kompositorisch bedeutsam macht, das ist, dass es Reger darin auf beeindruckende Weise gelingt, die lyrische Duplizität von Schellenbergs Gedicht musikalisch einzufangen: Die Ruhe und Stille des Mittags-Bildes und die Emphase der seelischen Entgrenzung, die sich in den beiden letzten Versen ereignet. Das ist ihm nur möglich, indem er auf ganzer Linie gegen die kompositorischen Grundprinzipien seines Projekts „Schlichte Weisen“ verstößt. Weder mutet die melodische Linie volksliedhaft einfach an, noch ist der Klaviersatz strukturell einfach angelegt. Und die Harmonik moduliert permanent, greift dabei im Quintenzirkel weit aus und wird auf diese Weise, aber auch in der Struktur des sie klanglich realisierenden Klaviersatzes, zu einem wesentlichen Faktor der musikalischen Aussage des Liedes.


    Die beiden ersten Verse bilden – obwohl die beiden Melodiezeilen durch eine Achtelpause voneinander getrennt sind - eine melodische Einheit. Die Grundtonart A-Dur herrscht hier vor, und die melodische Linie fängt die Ruhe und Statik des lyrischen Bildes mir einem ruhigen Auf und Ab in ihrer Bewegung ein, die bei dem Wort „träumend“ in expressiver Weise aufgipfelt und am Ende, bei dem Wort „gelegen“ in einen bogenförmigen Quintsprung mit nachfolgender Dehnung mündet. Piano herrscht durchweg vor.


    Beim zweiten Bild, das eine landschaftliche Impression artikuliert, wandeln sich die Struktur der melodischen Linie und ihre Harmonisierung. Cis-Dur herrscht nun vor. Die Vokallinie bewegt sich nun ruhig in mittlerer tonaler Lage, gipfelt in expressiver, weil mit einer Rückung nach B-Dur verbundener Weise bei „Mittagsglut“ in einem verminderten Septsprung auf, um danach über einen Quartfall langsam in tiefe Lage abzusinken. Bei dem Wort „Wegen“ beschreibt sie eine lieblich wirkende Bogenbewegung, die in einem Quintfall auf einem tiefen „E“ endet. Der Klaviersatz entfaltet in dieser Passage des Liedes mittels triolischer Terzfolgen im Diskant eine große Ausdrucksstärke im Sinne einer musikalischen Imagination der beiden lyrischen Bilder.


    Das gilt auch für die zweite Strophe, zu der eine aufsteigende Quartenkette in klanglicher lieblicher Weise überleitet. Bei dem Bild von den „glanzdurchflirrten Räumen“ steigen im Diskant Terzen aus hoher Lage in mittlere herab, die melodische Linie gipfelt auf einem hohen „Dis“ auf und geht dann bei dem Wort „Räume“ in einen weit gedehnten Quintfall über.


    Seinen Höhepunkt in musikalischer Expressivität erreicht das Lied bei den beiden letzten Versen. Die melodische Linie steigt, mit permanenten Rückungen in der Harmonisierung und einem Crescendo verbunden, in Sekundschritten an und geht dann mit einem Quartsprung in eine lange Dehnung bei dem Wort „Sehnen“ über. Als wäre das aber des musikalischen Ausdrucks noch nicht genug, steigert sie sich mit einem zweifachen Sekundanstieg hin zu einem gedehnten, fortissimo deklamierten und wiederum mit einer harmonischen Rückung nach H-Dur verbundenen Sekundfall in hoher Lage bei dem Wort „leuchtend“. Das Klavier unterstützt diese hochgradige Expressivität der melodischen Linie mit aufsteigenden triolischen Achtelketten im Bass und fortissimo artikulierten vierstimmigen Akkorden im Diskant.
    Und mit einer noch einmal ruhig sich in tiefe Lage absenkenden Vokallinie klingt das Lied dann aus. Nicht aber, ohne noch einmal eine ausdrucksstarke, lieblich anmutende Bogenbewegung in Gestalt einer Kombination aus Quintsprung und Sekundfall zu beschreiben. Harmonisch wird sie vom Klavier mit einer Rückung von der Dominante in die Tonika begleitet.

  • So kann es gehen. Man denkt: Du hast ja nun das Liedschaffen Regers in einem repräsentativen und chronologisch angelegten Querschnitt in mehr oder weniger angemessener Weise mit der Besprechung einzelner Lieder dargestellt und kannst diesen Thread also guten Gewissens abschließen und verlassen. Aber da er dir am Herzen liegt – und das immer nach tut – machst du es auf angemessene Weise: Mit einem kleinen Reger-Liederabend.
    Das tat ich gestern. Und für mich kann als Interpret nur Dietrich Fischer-Dieskau in Frage, - in Form eines Auflegens der 1965 bei der DG erschienenen LP mit Günther Weissenborn als Begleiter auf den Plattenteller. Sie erschien später als CD in Koppelung mit Pfitzner-Liedern im Rahmen der „Fischer-Dieskau-Edition“.



    Ich freute mich auf diesen Abend: Lieder-Hören ohne Papier vor sich und Kuli in der Hand ereignet sich in meinem Tamino-Leben fast kaum noch.
    Und nun geschah dreierlei. Das erste wunderte mich gar nicht. Ich hörte viele Lieder, die ich auf der Grundlage anderer Aufnahmen analysiert hatte, in einer Schönheit, die mir gar nicht gegenwärtig war. Plötzlich enthüllte sich eine melodische Figur in ihrer eminenten lyrischen Wortgebundenheit. Hier ist eben ein singulärer Lied-Interpret gesanglich am Werk.


    Auch das zweite setzte mich nicht weiter in Erstaunen. Lieder Regers, die ich lieb gewonnen und als bedeutende Kompositionen erkannt hatte, begegneten mir als solche wieder. Etwa „Waldeinsamkeit“, op.76,Nr.3 (Beitrag 70), „Äolsharfe“, op.75, Nr.11 (Beitrag 59) und
    „Im April“, op.4,Nr.4 (Beitrag 11). Sie entzückten mich noch einmal, dieses Mal in noch gesteigerter Form.


    Dann aber dieses: Ich erkannte, dass ich dem Liedkomponisten Reger in der Auswahl der Lieder, die ich hier vorstellte, nicht ganz gerecht geworden bin. Ich habe eine wesentliche Dimension seines Liedschaffens nicht genügend berücksichtigt. Es ist nicht die der musikalischen Stimmungsbilder, wie sie diese gerade erwähnten Lieder auf meisterhafte und hoch beeindruckende Weise verkörpern. Es ist die musikalische Evokation von in lebensweltlicher Situation sich manifestierender existenziell-seelischer Befindlichkeit, die Reger auf liedkompositorisch ebenso großartige Weise gelungen ist.
    Bewusst wurde mir das, als ich dieses Lied auf einen lyrischen Text von Emanuel Geibel hörte:


    Das sterbende Kind, op.23, Nr.3

    Wie doch so still dir am Herzen
    Ruhet das Kind!
    Weiß nicht, wie Mutterschmerzen
    So herbe sind!


    Auf Stirn und Lippen und Wangen
    Ist schon vergangen
    Das süße Rot.
    Und dennoch heimlicherweise
    Lächelt es leise.
    Leise küsset es der Tod.


    Es traf mich ziemlich. Ich machte die Erfahrung dessen, was Liedkomposition vermag: Sie kann im lyrischen Text emotionale, affektive, ja auch kognitive Dimensionen erschließen, die diesem zwar eigen sind, die die lesende Rezeption aber nicht ohne weiteres begleiten. Das menschlich zutiefst Erschreckende, was diese Verse Geibels lyrisch-sprachlich zum Ausdruck bringen, gewinnt über die Musik Regers darauf erst seine erschütternde Wirkung. In die immer wieder in Moll-Harmonisierung fallende und bei dem Wort „Schmerzen“ in klanglich tatsächlich schmerzlicher Weise aufgipfende melodische Linie drängt sich mit einem Mal bei den Worten „das süße Rot“ eine kleine, wie verloren wirkende, ganz und gar in Dur harmonisierte und überaus lieblich anmutende kleine Melodiezeile. Aber das nachfolgende „und dennoch“ bringt schon wieder das trist fallende Moll mit sich. Und am Ende des Liedes, bei den Worten „leise küsset es der Tod“ verharrt die melodische Linie pianissimo in tiefer Lage und vermag sich daraus nur noch zweimal in einem Sekundschritt kurz zu erheben: Bei der Wiederholung des Wortes „leise“ und beim Artikel „der“. Und bei dem Wort „Tod“ erklingt, wie eine Erlösung wirkend, Dur-Harmonik.


    Ich sollte den Thread fortsetzen, - und weiß doch, dass man einmal zu einem Ende kommen muss, damit man sich hier im Forum einem neuen Liedkomponisten und seinem Werk zuwenden kann.

  • Hier ist eben ein singulärer Lied-Interpret gesanglich am Werk.

    Das ist Dietrich Fischer-Dieskau zweifellos! Ich seher zwar Siegfried Lorenz und Thomas Quasthoff auf einem ähnlich hohen Level, doch kenne ich von keinem von beiden Reger-Liedinterpretationen (ich müsste nochmal akribisch verschiedene Liederabendmitschnitte durchforsten, um ganz sicher zu sein). Von den heute noch aktiven Liedinterpreten sehe ich ehrlich gesagt keinen einzigen auf diesem extrem hohen Level: Gerhaher nicht und Görne und Kaufmann schon gleich gar nicht (ist in allen drei Fällen auch eine Frage des subjektiven Stimmgeschmacks), am ehesten noch Jochen Kupfer und Timothy Sharp.

    Beste Grüße vom "Stimmenliebhaber"

  • Banner Trailer 2 Gelbe Rose
  • Das Lied „Das sterbende Kind“ lässt – um das im Nachtrag zu meinem obigen Beitrag noch anzumerken – gut und auf durchaus beeindruckende Weise die liedkompositorische Intention Regers erkennen. Er greift zu lyrischen Texten, die ihn emotional unmittelbar ansprechen. Die literarische Qualität (die in diesem Fall ja keineswegs gering ist) spielt dabei eine nachgeordnete Rolle. In der Liedkomposition schöpft er dann dieses emotionale Potential mit den Mitteln der Musik voll aus, wobei er insbesondere der Harmonik und der Struktur des Klaviersatzes große Aufmerksamkeit widmet.


    Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang seine Bemerkung:
    „Schubert konnte noch Goethe komponieren, denn er war ein musikalischer Naturbursche, er nahm die Texte ganz naiv, und während des Komponierens hatte er so geniale Einfälle, dass damit eigentlich alles getan war. Ich bin ein moderner Mensch und damit auch kritisch veranlagt. Ich lege vielmehr in solche Texte hinein, dabei übermannt mich die Größe des Gedichtes so, dass es mir wie Wahnsinn vorkommt, da noch etwas hinzufügen zu wollen.“

  • Vielen Dank für die ausführlichen Beschreibungen, es freut mich sehr, daß so viel Energie in Regers Liedwerke investiert wurde, nur schade, daß so wenige Musikbeispiele dabei waren...
    Wäre es sinnvoll, ein Kandinski Bild nur durch Beschreibungen erfassen zu wollen?


    Man darf wohl, ohne den Wert und die musikalische Substanz von Regers Liedschaffen schmälern zu wollen, feststellen, dass es ihm nicht gelungen ist, eine Liedsprache zu entwickeln, die dem Anspruch gerecht wird, eine Synthese zwischen den traditionellen Elementen des romantischen Klavierliedes und den Anforderungen der musikalischen Moderne zustande zu bringen.

    das kann ich nicht ganz unkommentiert stehenlassen... im Gegensatz zum verflachenden Kitsch und der populären Melodik anderer Kollegen hat Reger kompositorisch eine Synthese zwischen einer freien Harmonik des Spätwerk von Franz Liszt, der farblichen Möglichkeiten von Debussy und einer strengen Regulierung der Akkordverbindungen gefunden, die nicht irgendwelchen zufälligen Klaviergriffen entspringen, sondern seinen komplexen Berechnungen.

    Welcher Komponist hätte denn diese Synthese geschafft? Strauß hat nichts Modernes in seinen Liedern, nicht mal die beliebten op.68 können ernsthaft modern genannt werden. (gemessen am einzigen Modernen Stück von Strauß... der Elektra)
    Mahler hat Volkslieder umgestaltet und Stravinskys Methoden vorweggenommen
    Zemlinsky? Schreker? Schönbergs Frühwerk enthält alle seine klanglichen Vorbilder (darunter noch sehr viel Wagner)
    Solche Ansprüche hat vielleicht später erst Benjamin Britten (mit 50 Jahren Abstand) geschafft, aber kein Deutscher, bestenfalls Alban Berg.


    Regers Akkorde waren vermutlich immer harmonisch begründet (was man von ganz wenigen seiner Zeitgenossen sagen kann, die eher Effekte komponierten.) - er konnte nicht anders komponieren,
    Daß die Zeitgenossen das nicht leicht zu singen oder hören fanden ist verständlich. Deren Kritik an der Melodik Regers werde ich nach und nach im Detail zurückweisen und aufblättern... Es ist leicht, etwas herabzusetzen, was man nicht begreift.

    Regers "heiße Phase" seiner 70er und 80er Opuszahlen enthalten die kompliziertesten Werke wie die Orgelvariationen op.73, die Bach Variationen op. 81, aber auch die Schlichten Weisen. der Unterschied zwischen op.75 und 76 ist eklatant.
    Es war also kein unkontrollierbarer Drang, nur in der äußersten Komplexität zu komponieren, aber die "harmonische Unruhe" muß wohl als Grundbedingung Regers akzeptiert werden - vor allem aber das Eingeständnis, für längere Zeit erst mal nicht zu begreifen, was Reger in einer Komposition beabsichtigt... die harmonischen Umdeutungen, die komplexer sind als alles, was R.Strauß versucht hat... Reger lässt die Zuhörer bei seinen Melodischen Linien gerne im Unklaren, wie wenn man bei einer Bergwanderung eine Zeitlang Nebel gehen muß um sich den Ausblick auf den Gipfel erst zu verdienen.


    Ich möchte mit einer Aufnahme der Flötenspielerin op. 88/3 eins der für mich wichtigsten Reger Lieder präsentieren.
    Meine Partnerin Katharina Gebauer ist in der beneidenswerten Lage, durch ihr absolutes Gehör auch Reger Lieder mühelos singen zu können. Die musikalische Arbeit besteht zunächst in absolvierten musikalischen Kilometern, erst ein Überblick über viele verschiedene Werke eröffnet Einblicke in die schwierigen Fälle. (Ich spiele seit 30 Jahren Reger: Orgel-, Klavierwerke und Lieder)



    Viel Vergnügen,
    Wolfgang

    Im übrigen bin ich der Ansicht, dass gepostete Bilder Namen des Fotografen, der dargestellten Personen sowie eine genaue Angabe des Orts enthalten sollten.
    (frei nach Marcus Porcius Cato Censorius)