Max Reger. Sein Liedschaffen, vorgestellt anhand repräsentativer Beispiele

  • „Das Liedschaffen Max Regers (1873-1916) gleicht auch heute noch einem unentdeckten Lande…“, - mit dieser lapidaren Feststellung setzt das Kapitel „Max Reger“ in „Reclams Liedführer“ ein. Und was im Jahr 1973, dem Erscheinungsjahr dieses Standard-Nachschlagewerkes galt, das kann man im Jahr 2014 getrost für weiterhin gültig erklären. Mit Ausnahme vielleicht einiger Lieder aus den „Schlichten Weisen op.76“ ist das liedkompositorische Werk Max Regers bis heute weitgehend unbekannt geblieben. Und dabei hat es einen durchaus bemerkenswerten Umfang: Reger hat 310 Lieder komponiert, darüber hinaus hat er noch zwei Orchesterlieder, zwanzig geistliche Lieder mit Orgelbegleitung und eine Fülle von Orchestrierungen eigener Klavierlieder und solcher anderer Komponisten hinterlassen.


    Das Erstaunliche an diesem Sachverhalt ist: Reger war kein geborener Liedkomponist. Im Grunde seines Wesens war ein orchestral denkender und komponierender Musiker, und man hat seine häufig klaviersatzlastigen und modulationsreichen Lieder abfällig als „Klavierstücke mit Liedbegleitung“ oder „Kammermusik mit obligater Singstimme“ bezeichnet. Schon zu Regers Lebzeiten kritisierte man die „Dissonanzen, die allenfalls zu Mord und Totschlag passen mögen, nicht aber zu einem neckischen Rathe für Verliebte“. Man nahm Anstoß an seiner Gedicht-Auswahl und meinte, weil diese so sehr beliebig sei, bei ihm einen Mangel an literarischer Bildung konstatieren zu müssen. Und schließlich erregte auch der „zu dicke Klavierpart“ Anstoß: Er ersticke die Gesangsstimme, und seine permanente harmonische Modulation mache deren melodische Linie „unsanglich“. Der Musikologe Stephan Krehl stellte 1914 in kritischem Ton fest:
    „Man will und vor allem man kann nicht einfach Melodiebildung in der Tonart herstellen. An die Stelle tritt ein unschönes Durcheinander von Tönen.“


    Aus heutiger Sicht nimmt diese Kritik ihre Maßstäbe und Kriterien vom Typus des romantischen Klavierliedes, wie er durch Schubert und Schumann maßgeblich kreiert und von Hugo Wolf in seinen musikalischen Ausdrucksmöglichkeiten ergänzt, vollendet und zugleich zur Moderne hin geöffnet wurde. Max Regers liedkompositorisches Dilemma war nun aber, dass er sich gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts vor die Frage gestellt sah, wie es nun mit dem Lied weitergehen sollte. Und er war darin nicht der einzige Komponist in dieser Zeitenwende hin zur Moderne. Ein Rückgriff auf die Thematik und das kompositorische Instrumentarium des romantischen Klavierliedes war im Grunde nicht mehr möglich. Er musste zum retrospektivischen Nachklang werden und damit den Geist der Zeit verfehlen. Wie aber sollte und musste das neue Lied aussehen?


    Vollzieht man das Liedschaffen von Max Reger in repräsentativer Weise chronologisch nach – und das soll in diesem Thread versucht werden – dann stellt es sich als eine einzige Suche nach der Antwort auf diese Frage dar. Sein besonderes Problem war dabei, dass er in seinem Wesen konservativ eingestellt war. Er verehrte als junger Mensch Johannes Brahms, und Hugo Wolf widmete er sogar die zwölf Lieder seines Opus 51. Die Radikalität der Hinwendung zur Moderne als kompromisslose Abkehr vom Prinzip der Tonalität kam für ihn nicht in Frage. „Ein wahrer Fortschritt“, so meinte er, könne in der Musik „nur kommen und erwartet werden … aufgrund der genauesten und liebevollsten Kenntnis derer von gestern.“ Fortschritt könne nur „erwachsen … aus Können, dem Können, welches Leute >von gestern< in ewig vorbildlicher Weise uns zur Nachahmung und Nacheiferung besessen haben.“


    In seiner Orchestermusik ging Reger bis an die Grenzen der Tonalität. In seinen Liedern wagte er diesen Schritt nicht. Allesamt bleiben sie, auch wenn sie in der mittleren Phase seines Schaffens harmonisch kühn, z.T. schroff angelegt sein können, dem Prinzip der Tonalität verhaftet. Die ersten Lied-Opera veröffentlichte Reger schon in den Jahren 1891-93, seiner Wiesbadener Zeit (op.4 / 8 und 12). Nach der Rückkehr ins Weidener Elternhaus kamen die Opera 19, 23 und 31 hinzu, die einen starken Einfluss von Hugo Wolf zeigen. Der eigentliche Schwerpunkt von Regers Liedschaffen liegt in seiner Münchener Zeit. 1902 entstanden 36 Lieder, 1903 siebzehn und 1904 mit opus 75 achtzehn Liedkompositionen. Außerdem entstanden in dieser Zeit die ersten „Schlichten Weisen“. Das Opus 75 kann man durchaus als den Höhepunkt von Regers Liedschaffen betrachten. Es folgen noch einige Opera nach: 88 (4 Lieder), 97 (vier Lieder), 98 (11 Gesänge), 104 (sechs Lieder), 142 (fünf neue Kinderlieder und schließlich die „Zwölf geistlichen Lieder“ op.132. Es finden sich darin aber keine wirklich innovativen liedkompositorischen Elemente mehr, wie sie die Lieder der Münchener Zeit durchaus aufweisen.


    Man darf wohl, ohne den Wert und die musikalische Substanz von Regers Liedschaffen schmälern zu wollen, feststellen, dass es ihm nicht gelungen ist, eine Liedsprache zu entwickeln, die dem Anspruch gerecht wird, eine Synthese zwischen den traditionellen Elementen des romantischen Klavierliedes und den Anforderungen der musikalischen Moderne zustande zu bringen.


    Dabei wollte Reger bei all seiner konservativen Grundhaltung ein durchaus moderner Liedkomponist sein. Der Vorwurf der literarischen Unbildung, der im Zusammenhang mit der scheinbaren Beliebigkeit seiner Textwahl immer wieder erhoben wurde, ist sachlich unbegründet. Seine Gedichte wählte er – mit nur wenigen Ausnahmen - nicht aus dem Bestand der großen deutschsprachigen Lyrik aus, sondern griff zu zeitgenössischer Lyrik. Und dies, weil er sich als Liedkomponist dem Auftrag verpflichtet sah, den literarischen Geist der Zeit mit musikalischen Mitteln aufgreifen und zum Ausdruck bringen zu müssen.
    In einem Brief an Anton Gloetzner (vom 25.1.1900) meinte er:


    „Unser Weg im Lied ist die denkbar subtilste Interpretation der geheimsten lyrischen Stimmung! – Ebenso finde ich das Gejammere unserer deutschen >Leib= u Magenblätter des Bildungsphilisters< (Wie z.B. Gartenlaube etc.), daß es keinen >Lyriker< mehr gäbe einfach lächerlich. Z.B. welche wunderbaren, wirklich poetischen Gebilde allerersten Ranges haben unsere neudeutschen Dichter wie D. von Liliencron, J.O. Bierbaum, R. Dehmel, E. Bodmer, Anna Ritter, O. Wiener etc. etc. geschaffen! In meinen opera 35 und 37 habe ich 11 Stücke solcher Poesien vertont! Ich finde, daß unsere moderne Lyrik (von diesen obengenannten Dichtern) viel sensitiver geworden ist! Viel feiner auch!“


    Wenn oben davon die Rede war, dass es sich beim Liedschaffen Regers um „unentdecktes Land“ handelt, so ist der Initiator dieses Threads natürlich nicht so vermessen, zu glauben, dass er mit demselben daran etwas ändern könne. Aber natürlich verbindet er damit eine Hoffnung. Indem in Form eines Querschnitts durch eben dieses Liedschaffen einzelne Lieder vorgestellt, in ihrer kompositorischen Faktur beschrieben und ihrer spezifischen klanglichen Eigenart charakterisiert werden, soll der Versuch gemacht werden, eine Art Zugang zu Regers Lied-Opus zu schaffen und vielleicht auch ein wenig Neugier zu wecken, sich diesem liedhörend und -genießend zuzuwenden.

  • Es ist wohl nicht möglich, dem umfangreichen Liedschaffen Regers in einem solchen Thread in quantitativ angemessener Weise gerecht zu werden. Man wird auswählen müssen. Nun ist eine solche Auswahl natürlich in hohem Maße subjektiv. Immerhin vermag aber wohl der Aspekt der Repräsentativität für die die einzelnen Phasen in der Entwicklung von Regers Liedschaffen, der bei der Auswahl als Leitlinie dienen soll, die Subjektivität der Auswahl und ihre Folgen ein wenig zu reduzieren.


    Folgende Aufnahmen der Reger-Lieder wurden für die liedanalytischen Betrachtungen herangezogen. Sie sind zurzeit allesamt im Handel erhältlich:


    -- Max Reger, Lieder. Frauke May (Mezzosopran), Bernhard Renzikowski (Piano). Erscheinen 2000 bei Arte Nova


    -- Max Reger, Blick in die Lieder. Andreas Weller (Tenor), Götz Payer (Begleitung). SWR Produktion. Erschienen 2006 bei Carus


    -- Max Reger, Ausgewählte Lieder. Thomas Pfeiffer (Bariton), Karl Michael Komma (Klavier). Erschienen bei Bayer Records


    -- Max Reger, Lieder. Markus Schäfer (Tenor), Ernst Breidenbach (Klavier). Erschienen 2007 bei NCA


    Nicht mehr erhältlich, aber ebenfalls (und zwar in einer Schallplattenaufnahme) herangezogen, ist leider die bei der „Deutschen Grammophon“ erschienene Aufnahme:
    Lieder von Max Reger. Dietrich Fischer-Dieskau / Günther Weissenborn.

  • Nicht mehr erhältlich, aber ebenfalls (und zwar in einer Schallplattenaufnahme) herangezogen, ist leider die bei der „Deutschen Grammophon“ erschienene Aufnahme:
    Lieder von Max Reger. Dietrich Fischer-Dieskau / Günther Weissenborn.


    Lieber Helmut, diese LP ist mit ihren 21 Liedern vollständig in einer CD aufgegangen, die sich noch im Handel findet:



    Die Kopplung mit Hans Pfitzner ist offenbar ein Zugeständnis an die größere Kapazität einer CD. Glücklich finde ich solche Kompilationen allerdings nicht, weil die ursprünglichen konzeptionellen Absichten verloren gehen könnten.

    Es grüßt Rüdiger als Rheingold1876


    "Was mir vorschwebte, waren Schallplatten, an deren hohem Standard öffentliche Aufführungen und zukünftige Künstler gemessen würden." Walter Legge (1906-1979), britischer Musikproduzent

  • Vielen Dank für diesen Hinweis, lieber Rheingold - und auch für die Abbildung des zugehörigen Covers. Ich habe mich gefreut, hier von Dir etwas zu lesen (und dabei Deinem "Kätzlein" zu begegnen. Der Gute wäre wohl über diese Bezeichnung verstimmt: Verletzung der Würde einer Katze).


    Es ist verrückt!
    Diese CD habe ich natürlich nicht nur in meiner Sammlung, wie ich eben festgestellt habe, ich habe sie im Falle des Pfitzner-Lied-Threads auch intensiv genutzt. Aber ihre Existenz war mir schlicht entfallen. Es ist einfach zuviel, mit all den vielen Tonträgern, von denen man sich regelrecht überflutet fühlt.
    Vor Jahren habe ich mal den Anlauf dazu gemacht, eine Datei in meinem Computer anzulegen. Seitdem ich mich hier im Forum betätige, komme ich dazu nicht mehr. Mir fehlt einfach die Zeit.


    Ich weiß nicht, - ist das eine Frage des Alters? Zurzeit brauche ich zwei Tage, also viele Stunden, für die Beschreibung der Faktur und das Erfassens des Wesens eines Liedes. Eines einzigen!
    (Aber ich sollte nicht in ein solch persönliches Lamento verfallen)

  • Lieber Helmut Hofmann, weit davon entfernt, ein Reger-Spezialist zu sein (und noch weiter davon entfernt, Dir in der Repertoire-Auswahl dreinreden zu wollen), stelle ich hier einfach meine Favoriten aus dem wahrlich schwer zur Gänze aufzunehmenden Liedschaffen ein: Lieder, zu denen ich eine Beziehung entwickeln konnte. Wie Du ja schon beschrieben hast, meist sind die Dichter Regers Zeitgenossen. Op. 4/1&3&4, op. 14/1, 15/4, 75/18 weichen aber von dieser Reger-Regel ab...


    op. 4/1 Gebet
    op. 4/3 Winterahnung
    op. 4/4 Im April (!)
    op. 14/1 Nachts (Duett)
    op. 15/4 Traum
    op. 31/5 Mein Traum
    op. 35/4 Flieder
    op. 43/5 Wiegenlied (!)
    op. 48/6 Am Dorfsee
    op. 51/5 Mädchenlied (!)
    op. 51/6 Schmied Schmerz
    op. 62/10 Die Nixe
    op. 68/2 Unterwegs
    op. 70/11 Gegen Abend
    op. 75/11 Aeolsharfe
    op. 75/18 Einsamkeit
    op. 88/3 Flötenspielerin (!)
    op. 98/4 Es schläft ein stiller Garten
    op. 142/3 Maria am Rosenstrauch


    Beschäftigt hab ich mich im Lauf der Jahre mit vielleicht der vierfachen Menge des oben genannten Konvoluts; aber es überwog da - auch im Nachhinein - die Skepsis.
    All dies nur am Rande.
    Robert

  • Eine interessante Erfahrung, - eine solche Liste, lieber Robert. Ich habe gleich mit der Liste der Lieder verglichen, auf die ich hier einzugehen gedenke. Und siehe: 11 Lieder aus Deiner Liste finden sich auch bei mir! Auf das Lied "Im April" werde ich gleich als zweites eingehen.


    Ich stand bei meiner Auswahl ja vor dem Problem, dass ich grundsätzlich auf Aufnahmen von den Liedern angewiesen bin, da ich mich nicht in der Lage sehe, mir allein auf der Grundlage der Noten einen hinreichenden klanglichen Eindruck zu verschaffen. Von einigen der Lieder auf Deiner Liste verfüge ich über solche sängerischen Realisierungen nicht.


    Was Deine Bemerkung "weit davon entfernt, ein Reger-Spezialist zu sein" anbelangt: Davon bin ich sicher noch viel weiter entfernt. Wie ich im Reger-Thread schon schrieb: Das, was ich hier vorstelle, ist das Ergebnis einer privaten Beschäftigung mit Regers Liedern vor einem knappen Jahr. Ich hatte ursprünglich gar nicht die Absicht, damit ins Tamino-Forum zu gehen, habe mich aber jetzt doch dazu entschlossen, weil ich denke, Reger sollte hier vertreten sein.


    Deine Worte "es überwog da - auch im Nachhinein - die Skepsis" kann ich gut verstehen. Aber unter Regers Liedern gibt es eine ganze Reihe, die einen stark anzusprechen vermögen. Bei dem Lied "April" (op.4. Nr.4) , das Du ja mit einem Ausrufezeichen versehen hast, handelt es sich z.B. um ein solches. Ich hoffe, ich kann deutlich machen, wodurch es sich als Liedkomposition auszeichnet.
    Freilich bin ich sehr skeptisch, was die potentielle Resonanz auf diesen Thread anbelangt.

  • Meinen kommentierenden Bemerkungen zu dem Beitrag von Robert Klaunenfeldt (über den ich mich, weil er auf mich wie eine Art Ouvertüre wirkte, gefreut habe), sollte ich vielleicht noch das Folgende hinzufügen.


    Unter all den Komponisten, auf deren Liedschaffen ich mich in diesem Forum eingelassen habe, fühle ich mich bei Max Reger am meisten unsicher und am wenigsten kompetent. Von den Liedern kenne ich längst nicht alle, - und vom musikalischen Gesamtwerk Regers noch weniger. Dieses Gefühl der Unsicherheit hat aber möglicherweise auch mit der Eigenart dieses Lied-Opus selbst zu tun: Es wirkt, soweit ich es kenne, auf mich wie ein Terrain, in dem man keine zur Orientierung und liedhistorischen Positionsbestimmung tauglichen Anhaltspunkte findet.


    Nun ist es allerdings so, dass auch die Musikwissenschaft im Falle von Reger bei vielen Fragen noch durchaus im Dunkeln tappt. Eine Kennerin der Person und des Werkes (Christiane Wiesenfeldt) formulierte das vor gerade mal knapp vier Jahren so:
    „Noch weiß man (…) nicht, >wo< Reger in der Musikgeschichte denn nun steht. Welche Position nimmt er denn ein, zwischen Tradition und Moderne, zwischen 19. Und 20. Jahrhundert, zwischen fin de siècle-Konservativismus und wilhelminischer Fortschrittsgläubigkeit? (…)
    Regers Musik bleibt ein Phänomen, präsent und herausfordernd, linear und opak, bodenständig und modern. Wie tief die Musik des 20. Jahrhunderts in ihr wurzelt, bleibt – neben vielem anderen – erst noch zu entdecken.“


    Auch bei Regers Liedschaffen stellen sich – wie mir scheint - all diese Fragen. Nicht in diesem Umfang und dieser Komplexität zwar, aber in Ansätzen durchaus. Er war nicht nur als Komponist ganz allgemein, sondern auch als ein solcher von Liedern ein schöpferischer Musiker, der in der Jahrhundertwende, die ihm - wie all seinen Kollegen damals - als musikalische Zeitenwende begegnete, nach Orientierung und neuen Wegen suchte. Die Fülle der Lieder, die er hinterlassen hat, begegnen einem wie eine Dokumentation dieser Suche. Und es hat ganz den Anschein, dass diese letzten Endes erfolglos blieb. Es ist wohl so, wie das eine Kennerin seines Liedschaffens formuliert hat:
    „Am Ende bleiben Lieder, die weder in der historisch überlebten Romantik noch in einer gesellschaftlich scharf umkämpften, ästhetischen Moderne daheim sind“. (Maria Schors)


    Dieser Sachverhalt, der ja eigentlich nur für Musikwissenschaftler interessant und von Bedeutung ist, soll aber nicht Gegenstand oder gar Inhalt dieses Threads sein. Denn er berührt doch letzten Endes die musikalische Aussage dieser Lieder und ihre den Hörer in vielen Fällen sehr wohl anrührende klangliche Schönheit nicht.
    Die Lieder sollen einfach in eben diesem klanglichen Eindruck, den sie machen, und in der ihm zugrundliegenden kompositorischen Faktur beschrieben werden. Allenfalls dort, wo sich ein Vergleich mit einer Vertonung eines lyrischen Textes durch einen anderen Komponisten anbietet – und das wird Richard Strauss sein – könnte ein Blick über den Tellerrand der reinen Liedbetrachtung hinaus gewagt werden.
    Könnte. Es muss aber nicht sein.

  • Friedrich Hebbel: „Gebet“

    Die du, über die Sterne weg,
    Mit der geleerten Schale
    Aufschwebst, um sie am ew’gen Born
    Eilig wieder zu füllen:
    Einmal schwenke sie noch, o Glück,
    Einmal, lächelnde Göttin!
    Sieh, ein einziger Tropfen hängt
    Noch verloren am Rande,
    Und der einzige Tropfen genügt,
    Eine himmlische Seele,
    Die hier unten im Schmerz erstarrt,
    Wieder in Wonne zu lösen.
    Ach! sie weinet dir süßeren Dank
    Als die anderen alle,
    Die du glücklich und reich gemacht;
    Laß ihn fallen, den Tropfen!



    Max Reger: „Gebet“, op.4, Nr.1

    Bei diesem Lied handelt es sich um das früheste unter den im Druck vorliegenden Liedern Regers. Es entstand (vermutlich) in den Jahren 1888/89, also in einer Zeit, in der er noch bei seinen Eltern in Weiden lebte. Es stellt das einzige Lied dar, das aus dieser Zeit der frühen Liedkomposition publiziert wurde. Das Opus 4 erschien 1891 und enthält sechs Lieder.


    Ein Sechsvierteltakt liegt dieser Komposition zugrunde. „Adagio“ lautet die Vortragsanweisung, und immer wieder findet sich im Notentext für die Singstimme die Anweisung „con gran espressione“. In der Tat zeichnet sich dieses Lied durch die hohe Eindringlichkeit der melodischen Linie aus, die sich in ihrer ruhigen Bewegung zu starker Expressivität aufzuschwingen vermag. Auffällig sind in diesem Zusammenhang die Schwankungen in der Dynamik. Zwar setzt das Lied mit einem eintaktigen Vorspiel pianissimo ein, und das Piano ist auch der dynamische Bereich, aus dem die melodische Linie kommt und in den sie immer wieder zurückkehrt. Aber es gibt keine Melodiezeile ohne Crescendo und Decrescendo, und an jenen Stellen, an denen das lyrische Ich das „Glück“ besonders innig anfleht, steigert sich die Dynamik bis in den Forte-Bereich. Der letzte Vers klingt freilich dann im dreifachen Piano aus.


    Man kann eine innere Gliederung in der Faktur ausmachen. Die ersten fünf und die nachfolgenden sechs Verse bilden jeweils eine melodische Einheit, ebenso sind die letzten vier Verse noch einmal untergliedert, indem der Schlussvers deutlich abgesetzt ist. Die kompositorischen Mittel, die zu dieser Binnengliederung eingesetzt werden, sind ein vorübergehendes Zur-Ruhe-Kommen der melodischen Bewegung auf der Quinte oder der Terz und ein zweitaktiges Zwischenspiel.


    Dass es sich hier um ein Jugendlied handelt, erkennt man vor allem daran, dass der für Regers Liedkomposition so typische Reichtum an harmonischen Modulationen fehlt und auch der Klaviersatz in seiner Struktur noch relativ schlicht angelegt ist. Er weist eine bereits deutlich ausgebildete Eigenständigkeit auf, ohne dabei allerdings zum Gegenspieler der Singstimme zu werden. Die klangliche Faszination, die von diesem Lied ausgeht, gründet vor allem darin, dass das Klavier mit seinen ruhig dahinschreitenden Akkorden die Singstimme nicht nur klanglich trägt, sondern dem Ton der innigen Bitte, der der melodischen Linie innewohnt, expressiven Nachdruck verleiht.


    Das geschieht, wie man gleich in der ersten Strophe erleben kann, zumeist mittels weiträumigen, die Taktenden überschreitenden akkordischen Bogenbewegungen. Während die Singstimme den ersten Vers zunächst auf einem gedehnten Quartfall deklamiert und dann in eine ruhige Abwärtsbewegung übergeht, artikuliert das Klavier eine gleichmäßige Abfolge von steigenden und wieder fallenden Terzen, die dann in aufwärtsgerichtete dreistimmige Akkorde übergehen. Wenn sich dann die melodische Linie zweimal nach oben bewegt, um bei den Worten „aufschwebst“ und „ew´gen Born“ in emphatischer Weise aufzugipfeln, folgt ihr das Klavier darin mit seinen Akkorden und intensiviert damit diese melodische Emphase. Überaus eindrucksvoll ist dabei die akkordische Fallbewegung bei der langen melodischen Dehnung auf dem Wort „Göttin“.


    Man muss diesen Effekt der Steigerung der melodischen Expressivität durch den Klaviersatz nicht im einzelnen aufzeigen, schon allein, um dieses so klangschöne Lied nicht analytisch zu zerpflücken. Hingewiesen sei in diesem Zusammenhang deshalb nur noch auf zwei Stellen, an denen das für dieses Lied so typische Zusammenspiel von Singstimme und Klavier in besonders signifikanter und musikalisch beeindruckender, weil die Aussage des lyrischen Textes reflektierender Weise zutage tritt. Bei den Worten „Ach! sie weinet dir süßeren Dank“ beschreibt die melodische Linie der Singstimme eine langsame Fallbewegung, die in Sekundschritten erfolgt und harmonische Modulationen – auch des Tongeschlechts – durchläuft. Das Klavier aber vollzieht eine aus einem arpeggierten Akkord hervorgehende und ebenfalls modulierende Aufstiegsbewegung von Akkorden, die wirkt, als würde sie dem „Ach“ der Melodik seelische Tiefendimension verleihen.


    Und so ist das auch beim letzten Vers, der durch ein zweitaktiges Zwischenspiel in markanter Weise hervorgehoben wird. Wieder macht die melodische Linie eine weiträumig phrasierte bogenförmige Fallbewegung. Und wieder lässt das Klavier gegenläufig seine Akkorde aufsteigen, stellt aber dann bei der gedehnten melismatischen Deklamation des Wortes „Tropfen“ am Ende den harmonischen Einklang mit der Singstimme her.

  • Bislang habe ich es so gehalten, dass ich mich in Nachbetrachtungen zu der Vorstellung der einzelnen Lieder eines Komponisten noch einmal in die Faktur vertiefte und mich auf diese oder jene ihrer spezifischen Eigenarten in detaillierter Weise einließ.
    Davon möchte ich von jetzt an ablassen. Es scheint mir sinnvoller, hie und da in kurzer und gleichsam impressionistischer Weise auf den Eindruck einzugehen, den ein Lied im neuerlichen Hören auf mich gemacht hat, und dies auf dem Hintergrund des ihm zugrundeliegenden lyrischen Textes.


    Das ist allein schon deshalb sinnvoll, weil bei mir zwischen dem manuskriptmäßigen Verfassen einer liedanalytischen Betrachtung und ihrem Einstellen ins Forum in der Regel ein längerer Zeitraum (Wochen bis Monate) liegt, in dem mir das Lied – so es denn nicht eines ist, das man ständig mit sich herumträgt – in seiner Klanglichkeit mehr oder weniger stark entfallen ist. Ich schreibe dann also sozusagen über eine Neubegegnung.


    Und aus einem noch anderen Grund scheint mir dieses Verfahren sinnvoll. Man kann das Lied in seiner Ganzheit als musikalisches Werk und klangliches Gebilde auf diese Weise dem Anderen, der es nicht kennt, viel besser näher bringen, als dies mit einer detaillierten, in seine musikalische Struktur vordringenden Betrachtung möglich ist. Diese ist nur dem von Nutzen, der das Lied schon kennt. Bei dem, dem das Lied unbekannt ist, muss sie – wie ich immer mehr denke – nichtssagend bleiben und kann den eigentlichen Sinn von Liedbetrachtung in einem Forum eigentlich nicht erfüllen.


    Was mir im Falle dieses Liedes - "Gebet" - beim Wiederhören sofort auffiel, das ist sein gleichsam choralartiger Grundton, - sowohl in der Art und Weise, wie sich die melodische Linie bewegt und entfaltet, wie auch in der klanglichen Gestalt des Klaviersatzes. Das ist - so dachte ich - die für Reger ganz typische, und hier schon in einem ganz frühen Lied vernehmbare Weise, einen lyrischen Text in Musik umzusetzen. Der klanglich choraltartige Grundton des Liedes reflektiert primär mit den kompositorischen Mitteln des musikalischen Klanges den lyrisch-sprachlichen Grundton des Hebbel-Gedichts. Dieser ist, in den Bildern und im sprachlichen Gestus der Ansprache an das "Glück", ebenfalls ein großer, - einer, der mit dem Bild vom "Tropfen" ein wenig an Klopstock erinnert.

  • Ja, der junge Max Reger - es ist glaub ich nicht ganz erwiesen, ob er das Lied schon mit 15, 16 oder doch erst mit 17, 18 Jahren komponiert hat, aber jung war er auf jeden Fall - reagiert sehr empfindsam mit einem "weltlichen Choral(vor)spiel" auf dieses "Gebet", bei welchem der Titel spielerisch mehr Religiöses verheißt als die Lektüre dann bereitstellt. Aber Hebbel hat viele wirklich dunkle Gedichte geschrieben, und dieses ragt als eines der genuin hellen aus seinem lyrischen Werk heraus. So verbraucht diese Vokabel in aller Kunstbetrachtung ist - ich finde es einfach: schön! Wie eben auch das Lied. (Beinah sticht mich der interne Tamino-Hafer, und ich setze noch "vor mir" dazu - sowas kriegt man nicht mehr aus dem Ohr, wie das "klassisch" in Nestroys "Einen Jux will er sich machen" ...)
    Und ich möchte auf Hans Pfitzners Lied op. 26 Nr. 1 hinweisen, 1916 und somit von einem 47jährigen komponiert, bald nach Vollendung des "Palestrina", auf dasselbe Hebbel-Gedicht. Pfitzners Achtel schreiten belebter denn Regers Viertel, auch die Harmonik ist üppiger, der Ambitus der Singstimme (meiner Erinnerung nach) weiter, die Führung derselben exzentrischer. Aber ich will gar nicht auf eine Wertung hinaus! - Persönlich hab ich Regers Version erst im Hebbel-Jahr 2013 kennengelernt, Pfitzners Lied viel, viel früher. Sie ERGÄNZEN sich m.E. wunderbar.

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  • Emanuel Geibel: „Im April“

    Du feuchter Frühlingsabend,
    Wie hab' ich dich so gern!
    Der Himmel wolkenverhangen,
    Nur hie und da ein Stern.


    Wie leiser Liebesodem
    Hauchet so lau die Luft,
    Es steiget aus allen Talen
    Ein warmer Veilchenduft.


    Ich möcht' ein Lied ersinnen,
    Das diesem Abend gleich,
    Und kann den Klang nicht finden,
    So dunkel, mild und weich.




    Max Reger: „Im April“, op.4, Nr.4

    Dieses Lied setzt in seinem dreitaktigen Vorspiel mit einer Munterkeit ein, die man, wenn man von den lyrischen Bildern Geibels ausgeht, eigentlich nicht erwartet. Der Himmel ist „wolkenverhangen“, die Luft „hauchet leis“, ein warmen „Veilchenduft“ steigt „aus den Talen“, und Reger lässt „Allegretto quasi Andante“ eine im Dreivierteltakt rhythmisierte, weil aus Achteln und Sechzehnteln bestehende und tänzerisch wirkende Folge von Figuren im Bass erklingen, die die ganze erste und den größten Teil der zweiten Strophe klanglich prägt. Nur die zweite Strophe hebt sich davon zum Teil deutlich ab. Das tut sie nicht aber nur in der Struktur des Klaviersatzes, sondern auch in der zugrundliegenden Harmonik: Es ist ein C-Dur, das mitten im Lied eine neue klangliche Farbe mit sich bringt. Denn die erste und dritte Strophe stehen in E-Dur.


    Überlässt man sich dem, was Singstimme und Klavier zu sagen haben, dann spürt man alsbald, was Reger zu dieser lebhaft-tänzerischen Rhythmisierung des Liedes bewogen hat. Er hat es offensichtlich von seiner letzten Strophe her komponiert. Die abendliche Erfahrung des ersten Frühlingshauches, der ihm wie ein „Liebesodem“ begegnet, beflügelt das lyrische Ich so sehr, dass es „ein Lied ersinnen“ möchte. Es kann zwar „den Klang nicht finden“, ihm ist aber nach jubelndem Singen zumute, - und dies schlägt sich in der innerlichen Beschwingtheit dieser Komposition nieder. Das geht so weit, dass im Klaviersatz immer mal wieder Triller, z.T. sogar mit Vorschlag, und arpeggierte Akkorde erklingen.


    Für den klanglichen Eindruck, den das Lied macht, ist natürlich das Zusammenspiel von Klaviersatz und melodischer Linie der Singstimme maßgeblich. Und da ist es nun so, dass letztere sich in ruhiger, keineswegs tänzerisch-lebhafter Weise entfaltet. Sie bewegt sich in bedächtigen Schritten und gerne auf der gerade eingenommenen tonalen Ebene verbleibend, und hierbei ist sie in ihrer deklamatorischen Struktur durchaus wortorientiert. Die Worte „Der Himmel ist wolkenverhangen“ werden staccato und mit einer triolischen Bewegung auf den ersten Silben des Wortes „wolkenverhangen“ deklamiert. Bei dem Vers „Nur hie und da ein Stern“ tragen die Worte „hie“ und „Stern“ eine Dehnung, und die melodische Linie bewegt sich im Raum eine Quarte auf einer tonalen Ebene, so dass das lyrische Bild gleichsam musikalisch imaginiert wird.


    Die zweite Strophe erklingt im dreifachen Piano. Ein fünftaktiges Zwischenspiel geht ihr voraus, das von lebhaften Achtelbewegungen mit den Figuren des Vorspiels geprägt ist. In dieser Strophe nimmt jedoch der Klaviersatz eine andere Gestalt an. Aus dem Zusammenspiel von Achteln und Sechzehnteln in Bass und Diskant entsteht ein schwebendes Klangbild, in dem Terzen dominieren und das die ruhig fallende melodische Linie mit ihren zarten Bildern auf beeindruckende Weise trägt. Ein lieblicher Ton begegnet einem hier, - auch durch das C-Dur bedingt, in dem die melodische Linie harmonisiert ist. Das Wort „Veilchenduft“ trägt eine lange, in Sekunden fallende und das Taktende überschreitende melodische Dehnung.


    Bei der dritten Strophe kehren die tänzerisch wirkenden Achtelfiguren im Bass wieder, sie wirken aber klanglich kompensiert durch die zweistimmigen und z.T. arpeggierten Akkorde im Diskant. Die melodische Linie der Singstimme beeindruckt durch ihre enge Anschmiegung an den sprachlichen Gestus und die Aussage des lyrischen Textes. Auf dem Wort „sinnen“ liegen silbengetreu zwei Achtel, und das Wort „Abend“ wird mit einem lang gedehnten Sekundfall besonders akzentuiert. Die beiden letzten Verse werden überaus ruhig auf einer langsam über eine ganze Oktave fallenden melodischen Linie deklamiert, die am Ende in den lang gehaltenen Grundton mündet. Sie wirkt deshalb so innig und eindringlich, weil sie sich in Gestalt von langen Dehnungen absenkt, die gegen Ende immer mehr zunehmen. Die Worte „dunkel“, „mild“ und „weich“ erklingen ausschließlich in melodischen Dehnungen.


    Das Klavier trägt und umspielt diese fallende melodische Linie immerfort mit seinen tänzerischen Achtel-Sechzehntel-Figuren, die auch im Nachspiel noch fortklingen, dabei aber „ppp“ langsam in den tiefen Bass absinken.

  • Lieber Helmut, in der Vorliebe für dieses Lied "Im April" sind wir uns offensichtlich einig. So möchte ich Deinen schönen Beitrag hierzu nur ein wenig ergänzen. Ja, die fast durchgehend daktylische Bewegung der linken Klavierhand prägt dieses original in D-Dur geschriebene Lied. (Du hast offensichtlich eine transponierte Ausgabe in Es-Dur vorliegen. Sämtliche Lieder op. 4 sind "für mittlere Singstimme" komponiert.) Das tänzerische Moment wird nicht nur durch die ganz anders angelegte Singstimmenfaktur relativiert - auch die Dynamik spielt hier eine wesentliche Rolle. Für Pianisten ist es eine echte Herausforderung, Regers bezaubernder und höchst sinnreicher Dynamik zu entsprechen. Die Bezeichnungen gehen nur von ppp bis p. Crescendo-Gabeln lassen den konkreten zu erreichenden Lautstärkegrad offen. Ich meine, Mezzoforte sollte nicht überschritten werden. Dann verströmt dieses Lied wahrlich "leisen Liebesodem". Zum Umfang der Singstimme: Bis Takt 32 (von 40!) spielt sich alles innert einer kleinen Sexte ab. Welcher Reichtum in dieser Reduktion! Erst dann, im Abgesang wird ein tieferes Register angesteuert. Regers SPÄTERE Harmonik ist eigentlich nur beim "Veilchenduft" (Takt 22 - Anfang 23) zu vernehmen... Dafür ist in der Mittelstrophe die Nähe zu Faurés Mittelteil des im selben Jahr (1891) komponierten Verlaine-Lieds "Mandoline" op. 58/1 verblüffend. - Übrigens gehört "Im April" zu DEN Liedern, die auch als Solo-Klavierstück bereits tragen...
    Noch zu "Gebet": Im Henle-Werkverzeichnis wird eine Briefstelle Regers zitiert, wo er schreibt, dass er dieses Lied "mit 17 Jahren" komponiert habe - also wohl 1890.

  • Zit: "Du hast offensichtlich eine transponierte Ausgabe in Es-Dur vorliegen. Sämtliche Lieder op. 4 sind "für mittlere Singstimme" komponiert."


    Das wollte ich eben gerade, meinen Beitrag hinsichtlich der harmonischen Angaben richtigstellend, hier vermerken. Es ist mir aufgefallen, als ich mich vor dem Lied noch einmal intensiv zuwandte und dabei die Noten zur Hand nahm. Da steht - "Edition Schott" - dick und fett außen drauf: "Reger, Lieder, für hohe Singstimme und Klavier". Und innen drin, unten und ganz klein: "Ausgabe für mittlere Stimme und Klavier". Und ich hab´s überlesen.


    Bin zu spät gekommen, - mit meinem Korrekturversuch. So ist das eben, wenn ein Dilettant am Werk ist.
    Er sollte das alles lassen! Er "sollte" nicht nur, - er muss eigentlich.
    Denn es geht ja nicht nur um solche formalen Aspekte. Von solch tiefer reichenden Dingen, wie "Regers späterer Harmonik", die in Takt 22 aufklingt, und der Nähe der Mittelstrophe zu Faurés Lied "Mandoline", weiß er gleich überhaupt nichts.

  • Also ich sehe das nicht eng - ob man ein Lied nun in der originalen Tonart beschreibt oder in einer transponierten Version. Der Wesen eines Liedes wird doch durch eine Ganztontransposition nicht entstellt. Außerdem war ICH unkonzentriert, indem ich "Es-Dur" geschrieben hab, wo Du doch ausdrücklich vom E-Dur-Rahmen und dem zugehörigen C-Dur-Mittelteil ausgegangen bist.
    Was wir beide bislang unerwähnt gelassen haben: wie sehr die belebten Bordun-Quinten im Bass die erste und dritte Strophe prägen. Beim späteren Reger sehr selten: so ein harmonisches Kontinuum, das durch alle Polyphonie hindurch Ruhe, Zusammenhang und organisches Weben stiftet.
    Im übrigen bitte ich Dich meine Beiträge wirklich als Ergänzung, nicht als (gar nicht angebrachte) "Korrektur" zu nehmen. Auch dann, wenn ich schlicht mal anderer Meinung sein sollte in Bezug auf ein bestimmtes Lied.
    Robert

  • Zu: „Gebet“

    Dankenswerterweise hat Robert Klaunenfeld darauf hingewiesen, dass Hebbels Gedicht „Gebet“ auch von Hans Pfitzner vertont wurde (Op.26, Nr.1). Mir war das, obgleich ich das Lied kenne und damals erwog, es in meinen Pfitzner-Thread einzubeziehen, bei der Abfassung meiner obigen Liedbetrachtung nicht bewusst. Es war mir, wie das leider immer wieder einmal geschieht und auch ein wenig betrüblich ist, schlicht und einfach entfallen.


    Das Lied von Pfitzner unterscheidet sich in seiner Faktur und seiner Klanglichkeit deutlich von dem Regers. Ihm liegt ein ganz anderer kompositorischer Umgang mit dem lyrischen Text zugrunde. Es ist sowohl melodisch, wie auch harmonisch, in der Struktur der melodischen Linie und in seinem Klaviersatz ungleich komplexer und differenzierter als das von Reger.


    Wenn man es auf eine einfache Formel bringen möchte, könnte man sagen:
    Der eine, Pfitzner nämlich, lässt sich mit seiner Musik auf die dichterischen Aussagen der einzelnen Verse bis in deren semantische Tiefendimension ein, was zu einer aus kleineren Einheiten gebildeten und ausgeprägt wortorientierten Melodik führt, die weit ausgreifende Phrasierung meidet. Und dass die Harmonisierung höchst reich an Modulationen ist, gehört zu diesem kompositorischen Ansatz.


    Dagegen überlässt sich Reger – wohl auch, weil er sich als junger Mensch von eben mal siebzehn Jahren gerade entschlossen hat, Musiker zu werden – ganz dem musikalischen Ausdruck der dichterischen Grundaussage, die ihm in diesem Gedicht begegnet. Die Folge ist, dass das Lied in seiner Melodik viel stärker als bei Pfitzner auf weite, emphatisch akzentuierte und kantable Phrasierung angelegt und in ihrer Harmonisierung weit weniger differenziert ausgerichtet ist.


    Herausgekommen ist dabei zwar ein kompositorisch einfacheres, schlichteres Lied, - aber eines, das - im Unterschied zu dem Pfitzners – liedhafter, musikalisch wie mehr aus einem Guss ist und deshalb auch klanglich eingängiger wirkt.



    Zu: „Im April“

    Ein wahrlich mitreißender, frühlingshafter klanglicher Jubel begegnet einem in diesem Lied. Vielleicht hat er seine Quelle in dem Entschluss des noch ganz jungen Max Reger, sein Leben der Musik und dem Komponieren derselben zu widmen. Der muss natürlich das Gedicht Geibels sozusagen von seinem Ende, der Quintessenz seiner Verse her lesen: „Ich möcht´ ein Lied ersinnen…“.
    Es ist ja durchaus bemerkenswert, dass die melodische Linie bei diesen Worten nach dem anfänglichen Quartsprung auf der damit eingenommenen tonalen Ebene verharrt und dem Wort „ersinnen“ dann, durch silbengetreue Deklamation auf nur einem Ton eine Sekunde höher, ein besonderer melodischer Akzent verliehen wird.


    Aber es ist das Klavier, das dieses Lied im Grunde in dem ihm eigenen Jubel erklingen lässt. Im tänzerisch rhythmisierten, im Bass von aus aufsteigenden und wieder fallenden Achteln und Sechzehnteln gebildeten Figuren geprägten Klaviersatz vernimmt man im Diskant eine höchst eingängige, von Melismen klanglich angereicherte Melodie, die von Anfang an da ist, die Singstimme nicht nur begleitet, sondern auch trägt, in deren Pausieren munter weiter präsent ist und wie selbstverständlich ein fünftaktiges Nachspiel für sich reklamiert.
    Das ist zweifellos eines von den Liedern Regers, die den Hörer in Bann zu schlagen und ihn länger zu begleiten vermögen.

  • Anna Ritter: „Mein Traum“

    Liegt nun so still die weite Welt,
    Die Nacht geht schwebend durch das Feld,
    Der Mond lugt durch die Bäume.
    Da steigts herauf aus tiefem Grund,
    Da flüsterts rings mit süßem Mund,
    Die Träume sind's, die Träume.


    Sie tragen Mohn im gold'nen Haar,
    Und singend dreht sich Paar um Paar
    In wundersamem Reigen -
    Nur einer steht so ernst bei Seit',
    In seinen Augen wohnt das Leid,
    Auf seiner Stirn das Schweigen.


    O Traum, der meine Nächte füllt,
    Der meinen Tag in Tränen hüllt,
    Willkommen doch, willkommen!
    Du bist's allein, der Treue hält,
    Da alles and're mir die Welt
    Genommen hat, genommen.
    (Reger: Genommen hat: Willkommen,
    Willkommen, mein schöner Traum!)


    Anna Ritter (geb. Nuhn) wurde 1865 in Coburg geboren und starb 1921 im Marburg. Sie war eine zu ihrer Zeit durchaus hochgeschätzte Lyrikerin, die 1898 ihren ersten Lyrik-Band veröffentlichte, der 1918 seine dreißigste Auflage erlebte. Der zweite, der 1900 erschien, war weniger erfolgreich. Sie war Mitarbeiterin der Zeitschrift „Die Gartenlaube“. Mit Max Reger stand sie in einem Briefwechsel. Er hat insgesamt sechzehn Gedichte von ihr vertont. Ihre Lyrik zeichnet sich durch eine affektiv aufgeladene, epigonal romantische Metaphorik aus.



    Max Reger: „Mein Traum“, op.31, Nr.5

    Dieses Lied, das Ende 1898/Anfang 1899 entstand, ist ein signifikantes Beispiel für die melodisch-harmonische Schönheit, die Regers Liedkomposition entfalten kann. Dabei ist der Einfluss von Johannes Brahms hier unüberhörbar. Gleichwohl erschöpft sich das Lied aber nicht in einer schieren Brahms-Nachfolge, sondern weist eine ausgeprägt eigene Liedsprache auf. Sie zeigt sich im Zusammenspiel einer ruhig geführten, weit phrasierten und kantabel angelegten melodischen Linie der Singstimme mit einem Klaviersatz, der reich ist an aus Achtelbewegungen sich generierenden klanglichen Figuren, die eine Vielfalt von Modulationen durchlaufen. Immer wieder wird man gefangen genommen durch ausgesprochen klangschöne Passagen, und der liebliche Schluss des Liedes wirkt wie eine Krönung des Ganzen.


    Das Lied steht in E-Dur, weist einen Viervierteltakt auf und ist mit der Anweisung „Sehr ruhig“ versehen. „Pianissimo e tranquillo“ setzt das Vorspiel mit aus dem tiefen Bass triolisch aufsteigenden Achteln ein, die in triolische Achtelfiguren im Diskant übergehen. Man empfindet das als eine klangliche Einführung in den atmosphärischen Raum, der durch die lyrischen Bilder generiert wird. Und das ist ja im Grunde die Intention, die Reger mit seinem ganzen Liedschaffen verfolgt. Nicht eine aus der Struktur und dem Detail der lyrischen Aussage hervorgehende Kombination von melodischer Linie und Klaviersatz hat er im Sinn (wie das bei Hugo Wolf der Fall ist), sondern die Entfaltung einer die lyrische Metaphorik und ihre Aussage gleichsam adäquat repräsentierenden Klanglichkeit.


    An diesem Lied kann man dies auf beeindruckende Weise erleben, wobei sich in den kompositorischen Mitteln, mit denen Reger arbeitet, in den drei Strophen eine große Vielfalt abzeichnet. In der ersten Strophe bewegt sich die melodische Linie der Singstimme ruhig über auf und ab steigenden Achteln im Diskant und gebundenen Akkorden im Bass. In ihrer Struktur reflektiert sie dabei die Aussage des lyrischen Textes, und dies zumeist mit aus einer aus einen melodischen Dehnung hervorgehenden Fallbewegung. So etwa bei den Worten „schwebend durch das Feld“, „Bäume“ und – besonders expressiv – „süßem Mund“. Hier erstreckt sich die melodische Dehnung mit Sextfall und Sekundanstieg über fast drei Takte, und das Klavier begleitet in schönster Brahms-Manier mit bogenförmig ansteigenden und wieder fallenden Sexten im Diskant. Die Worte „Die Träume sind´s, die Träume“ werden auf durch Pausen voneinander abgesetzten Melodiezeilen deklamiert, die wiederum eine lange Dehnung oder – klanglich ähnlich wirkend – einen Legato-Sekundfall aufweisen. Das alles wirkt – auch wegen der gegenläufig in Bass und Diskant sich bewegenden Achtel – klanglich überaus eindringlich.


    Bei der zweiten Strophe bewegt sich die melodische Linie ein wenig lebhafter, und sie wirkt, weil triolische Figuren in sie eingelagert sind, zierlicher. Das Klavier begleitet jetzt mit Folgen von akkordischen Dreiergruppen im hohen Diskant, und all das reflektiert klanglich das Bild vom „wundersamen Reigen“, den die Träume singend bilden. Deutlich abgehoben davon ist dann die zweite Vers-Dreiergruppe der Strophe, eingeleitet mit den Worten „Nur einer steht so ernst bei Seit´“. Nach einer kurzen Pause, in der das Klavier nur ein hohes „Dis“ anschlägt, das um eine kleine Sekunde fällt, deklamiert die Singstimme auf ebenfalls in kleiner Sekunde langsam fallender melodischer Linie eben diese Worte. Im Klavierdiskant erklingen dabei klanglich eindringlich wirkende Oktavrepetitionen. Und das bleibt so bis zu dem ausdrucksstarken verminderten und gedehnten Sextfall, den die melodische Linie bei dem Wort „Schweigen“ beschreibt.


    Die dritte Strophe schließt mit den Worten „O Traum“ fast unmittelbar an. Nur eine Fermate liegt auf dem „Dis“ bei der zweiten Silbe des Wortes „Schweigen“. Die melodische Linie der Singstimme entfaltet nun eine größere Emphase, indem sie in Gestalt von gedehnten Fallbewegungen immer wieder in höhere Lagen emporsteigt. So bei den Worten „Nächte“, „Tag“, „Tränen“ und „willkommen“. Bei diesem Wort steigert sie sich gar mit einem Sekundfall in hoher Lage ins Fortissimo. Auch das Klavier agiert in dieser Strophe nun ausdrucksstark, - mit lebhaften Achtelfiguren in Bass und Diskant, die gegen Ende sogar in den permanenten Wechsel von Akkorden und einzelnen Achteln übergehen. Erst zum Ende des Liedes klingt die Emphase wieder ab. Das „Willkommen, willkommen, mein schöner Traum“, das Reger dem lyrischen Text hinzugefügt hat, wird ruhig auf einer zunächst in mittlerer Lage verbleibenden melodischen Linie deklamiert. Überaus einschmeichelnd wirken dann Melodik und Harmonik des Schlusses mit dem gedehnten Sekundanstieg bei den Worten „mein schöner Traum“, wobei sich in den fallenden Terzen eine harmonische Rückung ereignet.

  • Der Einfluss von Johannes Brahms, unter dem der junge Reger stand, ist in diesem Lied unüberhörbar. Schon 1893 meinte er, dass Brahms der einzige zeitgenössische Komponist sei, von dem man etwas lernen könne. Dabei nahm er einerseits Bezug auf die Art und Weise, wie Brahms das Prinzip der Polyphonie kompositorisch handhabt – wobei der Orientierungspunkt sein anderes großes Vorbild, Bach nämlich, war - , aber andererseits war es auch dessen ganz spezifische Melodik, die ihn beeindruckte. Und das kann man in diesem Lied vernehmen, wobei mit „Melodik“ natürlich nicht nur die Struktur der melodischen Linie, sondern auch deren Harmonisierung gemeint ist.


    Schon das dreitaktige Vorspiel mit seinen triolisch aus der Tiefe aufsteigenden Achteln, denen dann aus der Höhe herabsteigende Terzen und chromatisch fallende Sexten folgen, atmet den kompositorischen Geist von Johannes Brahms. Und in tatsächlich beeindruckender Weise begegnet man ihm dann bei der sich in schweifend weit phrasierter Bewegung und in langen Dehnungen ergehenden Melodik bei den Worten „Da flüstert´s rings mit süßem Mund, / Die Träume sind´s, die Träume“. Bei der langen, das Taktende überschreitenden Dehnung auf dem Wort „süßem“ beschreiben Sexten im Klavierdiskant über schweifenden Achtelbewegungen im Bass eine Fallbewegung, die in ihrer klanglichen Lieblichkeit schlechterdings überwältigend ist, - und zweifellos von Brahms inspiriert.


    Aber wie das liedkompositorische Werk von Richard Strauss (worauf noch einzugehen sein wird) , diente auch das von Johannes Brahms dem jungen Reger letzten Ende nur dazu, ein eigenes liedkompositorisches Konzept zu entwickeln. Und das ist ihm erstaunlich rasch gelungen. Bei aller Inspiriertheit durch Brahms: Dieses Lied atmet eine durchaus eigene Liedsprache. Man begegnet ihr vor allem in der das Liedmodell von Brahms überschreitenden melodischen und harmonischen Komplexität der Komposition. Jede Strophe weist einen ganz eigenen Ton in der Struktur und der Harmonisierung der melodischen Linie und im Klaviersatz auf.


    Und der Grund dafür ist rasch ausgemacht: Reger will kompositorisch so tiefgreifend wie möglich auf die jeweilige lyrische Aussage und die sie transportierende Metaphorik reagieren. Darin erweist er sich als der sich von Brahms abheben wollende moderne Liedkomponist. An die Stelle jenes märchenhaft-phantastischen Bildes von den Träumen, die „Mohn im goldnen Haar“ tragen und sich im „wundersamen Reigen“ drehen, tritt lyrisch mit einem Mal jener „eine“ Traum „ernst bei Seit´“, in dessen Augen „das Leid“ wohnt. Und Regers Liedmusik fängt dieses lyrische Bild mit einer zu der anfänglich klanglich schweifenden, Brahms-Harmonik und –Melodik atmenden Liedsprache geradezu kontrastiv wirkenden Kombination aus Vokallinie und Klaviersatz ein.


    Auf einer geradezu nüchtern anmutenden, weil sich syllabisch exakt auf einer tonal eng begrenzten Ebene in mittlerer Lage bewegenden melodischen Linie werden die drei letzten Verse der zweiten Strophe deklamiert. Und das Klavier hat nun von seinen anfänglichen, klanglich süß fallenden Sexten über dem weit ausgreifenden Auf und Ab von Achteln im Bass abgelassen und ist zu klanglich vergleichsweise trocken wirkenden, weil sich in scheinbarer Endlosigkeit ergehenden Achtelakkord-Repetitionen im Diskant über dreistimmigen Akkorden im Bass übergegangen.

  • Friedrich Rückert: „Der Himmel hat eine Träne geweint“

    Der Himmel hat eine Träne geweint,
    Die hat sich ins Meer zu verlieren gemeint.
    Die Muschel kam und schloß sie ein:
    Du sollst nun meine Perle sein.
    Du sollst nicht vor den Wogen zagen,
    Ich will hindurch dich ruhig tragen.
    O du mein Schmerz, o du meine Lust,
    Du Himmelträn´ in meiner Brust!
    Gib, Himmel, daß ich in reinem Gemüte
    Den reinsten deiner Tropfen hüte.



    Max Reger: „Der Himmel hat eine Träne geweint“

    Für dieses Lied, das im Sommer 1899 komponiert wurde, fehlt mit der Notentext. Die folgenden Ausführungen können sich also allein auf den Höreindruck stützen. Angaben zur Tonart, zum zugrundliegenden Takt und zu den Vortragsanweisungen sind nicht möglich.
    Der Klaviersatz, der im kurzen Vorspiel aufklingt und in seiner Grundstruktur bis zum sechsten Vers einschließlich so verbleibt, suggeriert mit seinem gleichförmigen Auf und Ab zwischen zwei tonalen Ebenen wohl das Wogen des Meeres. Es wohnt ihm aber auch etwas vom schimmernden Glanz der Perle inne, weil ihm die tiefen Bässe fehlen und er dadurch hell und leicht schwebend wirkt. Die kommen erst mit dem Vers „O du mein Schmerz, o du meine Lust“ in das Klangbild und verleihen ihm damit das Gewicht, das der lyrische Text mit der letzten Vierer-Versgruppe verlangt.


    Das Lied besticht klanglich durch die Binnenspannung, die sich zwischen der rhythmisch-ruhigen Gleichförmigkeit des Klaviersatzes und der Struktur der melodischen Linie der Singstimme entfaltet. Diese reflektiert nämlich in ihrer Anlage und ihrer Phrasierung die vielfältigen seelischen Regungen des lyrischen Ichs und die lyrischen Bilder, in denen sie sich ausdrücken, auf eine höchst beeindruckende Weise. Obgleich sich die Vokallinie durchgängig sehr ruhig bewegt, wirkt sie, als würde sie von einer untergründigen Erregung angetrieben. Das schlägt sich nicht nur in der deklamatorischen Gestalt nieder, sondern auch in der Phrasierung und der Harmonisierung. Diese wirkt, was die Modulationen anbelangt, für ein Lied von Reger ausgesprochen behutsam. Das zentrale lyrische Bild hat sich mit der ihm innewohnenden Ruhe auch in der Harmonik des Liedes niedergeschlagen. Allenfalls die harmonische Rückung in eine im Quintenzirkel nahe liegende Tonart kommt als kompositorisches Ausdrucksmittel zum Einsatz. Sie entfaltet dabei aber eine starke klangliche Wirkung.


    All das begegnet einem gleich am Liedanfang. Die melodische Linie macht, in Dur harmonisiert, nach einer Aufstiegsbewegung und einem Fall einen neuerlichen Anstieg, und dieser mündet bei dem Wort meint in eine harmonische Moll-Rückung. Und auch beim zweiten Vers durchläuft die melodische Linie in ihrem Auf und Ab sowohl in der Tonart als auch im Tongeschlecht zwei Modulationen. Man empfindet sie aber in ihrer klanglichen Milde als dem lyrischen Bild vollkommen gemäß. Die Melodiezeilen, die auf den beiden ersten Versen liegen, greifen ineinander und bilden eine Einheit. Mit dem dritten Vers, kommt ein neues Bild in das Gedicht, und die Melodik greift dies auch auf: Sie beschreibt eine mit einer Modulation verknüpfte Fallbewegung, die ganz ruhig wirkt, weil sie syllabisch exakt deklamiert wird. Der lyrisch-deskriptive Grundton hat sich hier in ganz und gar adäquater Weise in der Musik niedergeschlagen.


    Und das gilt durchgängig für das ganze Lied. Damit es in seiner Schönheit hier nicht zerpflückt wird, soll nur noch auf repräsentative Beispiele hingewiesen werden. Die seelische Dimension der Ansprache „Du sollst…“ wird durch weit nach oben ausgreifende melodische Bogenbewegungen zum Ausdruck gebracht. Bei den Worten „Ich will hindurch dich ruhig tragen“ bewegt sich die melodische Linie hingegen, ganz von dem lyrischen Wort „ruhig“ geprägt, in silbengetreuer Deklamation langsam in tiefe Lage hinab und hält dort inne, - einem Zwischenspiel Raum lassend.


    Mit den Worten „O du mein Schmerz“, mit denen die letzte Gruppe von vier Versen eingeleitet wird, kommt eine neue lyrische Dimension in das Gedicht: Das lyrische Ich überlässt sich einem lyrisch-reflexiven Monolog. Und auch dies schlägt sich in der Musik in voll adäquater Weise nieder. Nun tauchen mit einem Mal aus melodischen Dehnungen hervorgehende Sekundfall-Bewegungen auf. Danach aber, wenn mit den Worten „du Himmelsträn´“ die „Träne“ angesprochen und eine Beziehung zwischen dem „Ich“ und dem „Du“ hergestellt wird, kommt melodische Emphase in das Lied. Die melodische Linie schwingt sich in der Wiederholung der Worte „du Himmelsträn´“ in immer höhere Lagen empor.


    Die an den Himmel gerichtete Bitte wird hingegen wieder auf einer melodischen Linie deklamiert, die zunächst einmal auf einer tonalen Ebene verbleibt, um sich dann aber beim letzten Vers in der Wiederholung des Wortes „den reinsten“ in neuerliche Emphase zu steigern. Bei den Worten „deiner Tropfen“ beschreibt die Vokallinie einen in große Höhe ausgreifenden melodischen Bogen. Dieser mündet bei dem Wort „hüte“ zwar in den Grundton, der ist aber mit der Dominante harmonisiert, und erst im Nachspiel erfolgt die Modulation zur Tonika hin und die melodische Linie kommt wirklich zur Ruhe.

  • Die kompositorische Intention, die hinter Regers Lied steht, wird einem so recht bewusst, wenn man die Vertonung dieses Gedichts von Robert Schumann hört. Sie findet sich als Nummer eins in dem Zyklus „Zwölf Gedichte aus >Liebesfrühling<“, op.37. Wo es Reger darum geht, die seelische Dimension des zentralen lyrischen Bildes, die sich in den letzten vier Versen (eingeleitet mit den Worten „O du mein Schmerz“) auftut, mit musikalischen Mitteln so umfassend wie möglich auszuloten, folgt Schumann mit seiner Melodik und dem ihr zugeordneten Klaviersatz in enger Anbindung der lyrisch-sprachlichen Aussage der einzelnen Verse, wobei die Musik dabei eine gleichsam interpretatorische Funktion erfüllt.


    Der Klaviersatz ist durchgehend akkordisch angelegt. Die harmonischen Modulationen, die er durchläuft, bewegen sich nicht weit von der Grundtonart As-Dur weg. Die Vortragsanweisung lautet „einfach“, und dem Lied wohnt in der Tat ein melodisch schlichter Grundton inne. Er wurzelt vor allem darin, dass die melodische Linie der Singstimme sich ruhig und in einem relativ engen tonalen Raum bewegt und Sprünge oder Fallbewegungen über große Intervalle meidet. Jedem Vers ist eine eigene kleine Melodiezeile zugeordnet. Diese Zeilen greifen allerdings ineinander, indem sie zum Beispiel mit dem Ton einsetzen, mit dem die vorangehende endete. Auf diese Weise bilden sich melodische Einheiten, die mit einer Kadenz abgeschlossen werden.


    Schließlich trägt zu dieser Anmutung von volksliedhafter Schlichtheit auch noch die Tatsache bei, dass melodische Figuren sich wiederholen. So weist die melodische Linie des dritten Verses die gleiche Struktur auf wie die des vierten. Und der siebte Vers („O du mein Schmerz…“) wird auf einer melodischen Linie deklamiert, die der des ersten Verses gleicht. Dass man es hier allerdings nicht mit einem wirklichen Volkslied zu tun hat, das erkennt man einerseits an der Harmonisierung der melodischen Linie, andererseits aber auch an der Art und Weise, wie sie in ihrer Struktur die jeweilige lyrische Aussage reflektiert. So wird zum Beispiel der Vers „Die Muschel kam und schloss sie ein“ mit einer harmonischen Rückung deutlich von der Melodik des zweiten Verses abgesetzt. Es geht schließlich hier um ein neues lyrisches Ereignis. Und der Vers „Du sollst nicht vor den Wogen zagen“ erhält eine hohe musikalische Eindringlichkeit durch den verminderten Quintsprung, der sich melodisch vor „den Wogen“ ereignet und anschließend in einen Sextfall mündet. Das lyrisch-sprachliche „du sollst“ prägt auf diese Weise die melodische Linie der Singstimme.


    Auf musikalische Eindringlichkeit ist auch der Schluss des Liedes angelegt. Der Vers „Den reinsten deiner Tropfen hüte“ wird in höchst expressiver Weise wiederholt. Dies nicht nur in einer Fallbewegung, die sich von der melodischen Erstfassung, die in steigender Linie angelegt ist, abhebt, sondern auch mittels einer sich fast über zwei Takte erstreckenden Dehnung, die nun auf dem Wort „Tropfen“ liegt. Volksliedhaft schlicht, aber nach dieser expressiven melodischen Dehnung umso ausdrucksstärker, wirkt dann der einfache, in den Grundton mündende Terzfall auf dem Wort „hüte“.


    Schumann Lied will in seiner Melodik und dem ihr zugeordneten Klaviersatz die Idyllik des zentralen lyrischen Bildes von der „Himmelsträne“ die sich in eine „Perle“ verwandelt musikalisch zum Ausdruck bringen. Die seelische Dimension des lyrischen Ichs, die zwischen „Schmerz“ und „Lust“ sich erstreckt, bleibt dabei weitgehend ausgeklammert. Reger hingegen hat sie aufgegriffen.

  • Otto Julius Bierbaum: „Traum durch die Dämmerung“

    Weite Wiesen im Dämmergrau;
    Die Sonne verglomm, die Sterne ziehn.
    Nun geh' ich zu der schönsten Frau,
    Weit über Wiesen im Dämmergrau,
    Tief in den Busch von Jasmin.


    Durch Dämmergrau in der Liebe Land;
    Ich gehe nicht schnell, ich eile nicht;
    Mich zieht ein weiches, samtenes Band
    Durch Dämmergrau in der Liebe Land,
    In ein blaues, mildes Licht.



    Max Reger: „Traum durch die Dämmerung“

    Dieses Lied komponierte Reger im Sommer 1899. Im Erstdruck erschien es im Dezember dieses Jahres. Es steht in Des-Dur, weist einen Zweivierteltakt auf und ist mit der Anweisung „Sehr ruhig und langsam“ versehen. Vom klanglichen Eindruck her, den es macht, ist es ganz offensichtlich von dem Bild des „Gehens“ her komponiert, das dem „Traum durch die Dämmerung“ zugrundeliegt. Hervorgerufen wird dieser Eindruck durch den Klaviersatz mit seinen triolisch alternierenden Sechzehntel-Akkorden im Diskant, denen im Bass Bewegungen von zumeist oktavischen Achteln zugeordnet sind. Das ganze Lied über bleibt diese Struktur des Klaviersatzes erhalten, allerdings nehmen die alternierenden Sechzehntel-Triolen vielerlei Gestalten an und reflektieren in ihrer jeweiligen Klangfarbe und den zahlreichen harmonischen Modulationen jeweils die Aussage der lyrischen Bilder.


    Das Lied weist eine innere Gliederung auf, die gleichsam den Wandel der lyrischen Perspektive reflektiert. Die Verse eins und zwei, drei bis fünf, sechs und sieben und acht bis zehn sind in der Melodik nicht nur durch Pausen voneinander abgesetzt, sie weist auch eine je eigene Struktur und Harmonisierung auf. In den beiden ersten Versen spricht das lyrische Ich noch nicht von sich selbst. Es wird ein metaphorisches Szenario entworfen: „Weite Wiesen im Dämmergrau…“. Die melodische Linie weist hier einen gleichsam deskriptiven Gestus auf. Sie besteht aus einer bogenförmig fallenden und wieder steigenden Figur aus Achteln und Sechzehnteln, die sich mehrfach auf nicht weit voneinander entfernten tonalen Ebenen wiederholt.


    Nach einer Pause von fast einem ganzen Takt artikuliert sich das lyrische Ich dann erstmals selbst: Es will zu der „schönen Frau“ gehen. Hier nun macht die melodische Linie eine in Sekunden ansteigende triolische Aufstiegsbewegung. Und wenn wieder die lyrische Schilderung einsetzt („Weit über Wiesen im Dämmergrau“), beschreibt sie erneut eine – dieses Mal weiter phrasierte – nach unten gerichtete Bogenbewegung. Sie mündet nach einer Sechzehntelpause bei den Worten „tief in den Busch von Jasmin“ in eine erst ansteigende und dann rasch über eine ganze Quinte fallende melodische Figur. Sie bildet das lyrische Bild klanglich ab.


    Mit Vers sechs kommt eine Steigerung der Expressivität in die melodische Linie. Sie vollzieht, pianissimo einsetzend, einen langsamen Anstieg, der deshalb so expressiv wirkt, weil in insistierender Weise auf einer sich in nur kleinen Sekunden anhebenden tonalen Ebene deklamiert wird, wobei permanent harmonische Rückungen erfolgen und die Dynamik sich langsam ins Forte steigert. Das hat sie dann bei den Worten „Ich gehe nicht schnell“ erreicht, die in höherer Lage auf nur einer tonalen Ebene deklamiert werden, wobei die Dynamik aber schon wieder ins Piano absinkt. Bei „ich eile nicht“ bewegt sich die Vokallinie dann ruhig auf der tonalen Ebene eines „Ces“ und überlässt sich dort einer langen Dehnung.


    Das Bild vom „weichen samtenen Band“ bewirkt bei der melodischen Linie, dass sie nach zweimaligem Auf und Ab einen raschen triolischen Aufstieg zum höchsten Ton des Liedes macht: Schließlich fühlt sich das lyrische Ich „gezogen“. Ruhig, weil mit mehr melodischen Dehnungen, wird dann das Bild „Durch Dämmergrau in der Liebe Hand“ in zunächst mittlerer, dann aber um eine Terz ansteigender tonaler Lage deklamiert. Und am Ende des Liedes ereignet sich erneut eine Steigerung der Expressivität. Bei schrittweise erfolgender harmonischer Rückung steigt die melodische Linie in silbengetreuer Deklamation der Worte „In ein blaues, mildes Licht“ in ruhigen Schritten um jeweils eine Sekunde an, wobei ihr das Klavier mit seinen Sechzehntel-Akkorden folgt.


    Im dreifachen Piano endet das Lied in einer langen Dehnung auf einem hohen „F“, wobei im Klavier sechzehntel-Oktaven in die Höhe steigen und in einen sechsstimmigen Akkord münden. Man meint, bei dieser überaus ausdrucksstarken melodischen Bewegung „ins blaue, milde Licht“ mit einbezogen zu werden.

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  • Das Opus 29 von Richard Strauss wurde 1895 publiziert. Man darf davon ausgehen, dass Max Reger dieses Lied gekannt hat. Schließlich waren Straussens Liedkompositionen - neben denen von Johannes Brahms – die Vorlage, mit der er sich in seinem Bestreben, einen eigenen Liedton zu finden, intensiv auseinandersetzte. Er hat ja ganz bewusst insgesamt vierzehn lyrische Texte, die bereits von Strauss vertont worden waren, für eigene Kompositionen ausgewählt, so dass man von einem regelrechten Konkurrenzverhältnis zu Strauss sprechen kann.


    Die Vertonung des Bierbaum Gedichts durch Richard Strauss weist ein ganz anderes liedkompositorisches Konzept und eine andere ihm zugrunde liegende Rezeption des lyrischen Textes und seiner Metaphorik auf, und es scheint mir bemerkenswert, dass der noch junge, gerade mal 26 Jahre alte Max Reger einen ganz eigenen liedkompositorischen Ansatz gefunden hat, - einen, der semantische Dimensionen des lyrischen Textes erschließt, die im Lied von Richard Strauss musikalisch nicht zugänglich sind.


    Was natürlich nicht heißen soll, dass Regers Komposition in ihrer liedkompositorischen Qualität die von Strauss übertreffe. Die des Strauss-Liedes gründet in einer mit ihrem Melisma geradezu in Bann schlagenden Melodik, die sich auf einen Klaviersatz zu stützen und sich darin zu bewegen vermag, der in der permanenten Wiederholung einer strukturell immer gleichen musikalischen Figur eine regelrecht suggestive, das evokative Potential der lyrischen Bilder mit klanglichen erschließende Wirkung entfaltet. Die Art und Weise, wie Strauss die melodische Linie bei den ersten beiden Versen in zwei Fallbewegungen in den nächtlichen Tiefen eines Fis-Dur versinken, dann sie aber, nachdem sie bei den letzten Worten wie auf der tonalen Ebene vom tiefen „Cis“ und „Dis“ wie verhaftet zu sein scheint, mit einem Mal – bei den Worten „nun geh ich hin zu der schönen Frau“ - sich zu einem hohen „F“ aufschwingen und dort einen weit ausholenden melodischen Bogen beschreiben lässt, das ist kompositorisch ganz einfach großartig. Auch deshalb, weil dieser Umschlag in der Struktur der melodischen Linie mit einer wie in harmonische Helle mündenden Rückung von Fis-Dur nach B-Dur verbunden ist.


    Bei den beiden letzten Versen der ersten Strophe („Weit über Wiesen…“) reflektiert melodische Linie in ihrer Struktur und ihrer Harmonisierung auf wiederum beeindruckende Weise das lyrische Bild. Sie bewegt sich zunächst auf nur zwei, um eine Sekunde sich hebenden tonalen Ebenen, dabei in ebenfalls harmonisch ansteigende Chromatik gebettet, beschreibt dann aber zu dem Wort „tief“ hin einen Quartsprung zu einem hohen „F“, das eine Dehnung trägt und damit diesem Wort einen musikalischen Akzent verleiht. Bei den Worten „in den Busch von Jasmin“ geht es dann aber melodisch in zwei Fallbewegungen über eine Septe und eine Quinte in die tiefe Lage eines „Des“, wobei die Harmonik nach wieder nach dem für diesen für diesen Liedteil grundlegenden B-Dur hin moduliert.


    Wo immer man hinhört in diesem Lied, - man vernimmt die großartig umgesetzte kompositorische Intention und fühlt sich tief berührt davon. Strauss geht es um das musikalische Einfangen des evokativen Potentials der lyrischen Bilder. Deshalb lässt er zum Beispiel bei den Worten „Mich zieht ein weiches samtenes Band“ die melodische Linie leicht stockend rhythmisiert ganz langsam über das Intervall einer Septe aus tiefer in hohe Lage emporsteigen, um sie dann bei den Worten „blaues, mildes Licht“ einen weit gespannten, weil in hoher Lage gedehnten Bogen beschreiben zu lassen, der dieses lyrische Bild geradezu klanglich strahlen lässt. Nein, nicht „strahlen“ sondern aus dem Innersten heraus hell leuchten, - denn die Musik verbleibt hier ja im Pianissimo, und die melodische Linie fällt zu ihrem Ende hin, bei dem Wort „Licht“ also, wieder auf ein tiefes „F“ ab. Aber Strauss belässt es bei dieser melodischen Gewichtung des Wortes „Licht“ nicht. Am Ende des Liedes trägt es eine lange Dehnung auf einem „Cis“, zu dem die melodische Linie in – wiederum im Aufgreifen des Bildes vom „nicht Eilendenden“ – leicht schleppend rhythmisierten Sekundschritten emporsteigt.


    Aus der vorangehenden Beschreibung der Vertonung dieses Gedichts durch Reger dürfte hervorgehen, dass dieser eine ganz andere kompositorische Intention verfolgte. Man erkennt sie schon beim ersten Hören an der weitaus stärker ausgeprägten inneren Vielgliedrigkeit der Musik. Regers Lied ist in seinem Aufbau, der dem Wechsel der lyrischen Perspektive folgt, in der Struktur der melodischen Linie und in ihrer Harmonisierung deutlich komplexer als das von Strauss. Und der Grund? Ihm geht es nicht primär um das musikalische Erfassen der Aura der lyrischen Bilder, sondern darum, sich in das lyrische Ich zu versetzen und es in seinem Gehen hin zu der „schönsten Frau“ musikalisch zu begleiten und dabei wiederzugeben, was sich seelisch in ihm ereignet.


    Und darin ist seine Komposition sicher nicht ein so melodisch in Bann schlagendes Lied wie jenes von Strauss, aber doch eines, das klanglich zu beeindrucken vermag, weil es die Aussage des lyrischen Textes in ganz und gar adäquater, den Hörer unmittelbar ansprechender Weise zu Musik werden lässt.

  • Otto Julius Bierbaum: „Flieder“

    Stille, träumende Frühlingsnacht...
    Die Sterne am Himmel blinzelten (Reger: „schauten“) mild,
    Breit stand der Mond wie ein silberner Schild,
    In den Zweigen rauschte es sacht.
    Arm in Arm und wie in Träumen
    Unter duftenden Blütenbäumen (Reger: „Bäumen“)
    Gingen wir durch die Frühlingsnacht.


    Der Flieder duftet berauschend weich;
    Ich küsse den Mund Dir liebeheiß,
    Dicht überhäupten uns blau und weiß
    Schimmern die Blüten reich.
    Blüten brachst Du uns zum Strauße,
    Langsam gingen wir nach Hause,
    Der Flieder duftete liebeweich...




    Max Reger: „Flieder“, op.35, Nr.4

    Dieses Lied entstand im Sommer 1899 und wurde Ende dieses Jahres publiziert. Es steht in E-Dur und weist einen Zweivierteltakt auf. Vorgetragen werden soll es „nicht zu langsam, sehr ausdrucksvoll“. Obgleich es durchkomponiert ist, kann man in den beiden Strophen eine ähnliche innere Gliederung ausmachen. Die ersten Vier Verse bilden eine Einheit, ebenso die drei letzten. Mit einer Pause sind sie voneinander abgesetzt, und überdies ist im zweiten Teil der Strophe die melodische Linie expressiver angelegt. Bei der zweiten Strophe ist der letzte Vers durch eine eintaktige Pause von den vorangehenden Melodiezeilen abgehoben, und die melodische Linie erreicht mit ihrer langsamen Aufstiegsbewegung den Höhepunkt ihrer Emphase.


    Mit seiner ruhigen, fast schon schwebend wirkenden Melodik und dem über große Strecken arpeggienhaft angelegten Klaviersatz fängt dieses Lied die dichterische Aussage und den Gehalt der lyrischen Bilder nicht nur in vollkommener Weise ein, man hat sogar den Eindruck, dass sich hier eine Potenzierung derselben mit musikalischen Mitteln ereignet. Melodik und Klaviersatz sind in ihrem Zusammenspiel auf große Expressivität angelegt und erfahren darin jeweils gegen Ende der beiden Strophen sogar noch eine Steigerung, wobei die Dynamik entweder vom Piano ins Fortissimo anwächst oder, wie sich dies im letzten Vers ereignet, „dolcissimo“ in dreifachen Piano versinkt.


    Mit ruhigen, gedehnten und bogenförmigen Bewegungen setzt die melodische Linie der Singstimme ein, verbleibt dabei bis zum zweiten Vers auf einer tonalen Ebene und macht erst bei den Worten „breit stand der Mond“ eine etwas lebhaftere Aufstiegsbewegung über das Intervall einer Septe. Danach, bei den Worten „wie ein silberner Schild“ fällt sie aber wieder in ruhigen Sekundschritten ab und klingt bei „rauschte es sacht“ erst einmal in Gestalt einer neuerlichen Fallbewegung aus. Eine mehr als eintaktige Pause folgt, derweilen das Klavier weiterhin im Bass seine triolisch-arpeggienhaft absteigenden Sechzehntel erklingen lässt, mit denen es die melodische Linie in diesem ersten Teil des Liedes begleitet.


    Bei den drei letzten Versen der ersten Strophe bestimmt eine Kombination aus Akkorden und Sechzehnteln in lebhafter Bewegung die Struktur des Klaviersatzes, und auch in die Melodik kommt etwas mehr Bewegung. Die Vokallinie wirkt nun, als würde sie sich in lebhaften Schritten zu den beiden langen Dehnungen bei den Worten „Träumen“ und „Frühlingsnacht“ hinbewegen Es ist deutlich vernehmbar, dass die Melodik hier die Tatsache reflektiert, dass der lyrische Text von einem „Gehen durch die Frühlingsnacht“ spricht.


    Mit der zweiten Strophe kommt große Emphase in das Lied. Bei den Worten „Der Flieder duftet berauschend weich“ steigt die melodische Linie mit einem Crescendo in Sekundschritten an und gipfelt auf einem hohen „Fis“ auf, wobei sie sich vom Pianissimo bis ins Forte gesteigert hat. Forte geht es auch weiter, und das Bild vom „Küssen des Mundes“ bringt mit einem emphatischen Terzsprung und nachfolgender Dehnung sogar eine Steigerung ins Fortissimo mit sich. Das Klavier artikuliert hier eine mit Modulationen verbundene akkordische Fallbewegung, was die Emphase der Melodik noch weiter steigert. Mit dem Bild von den „schimmernden Blüten reich“ kommt allerdings wieder mehr Ruhe in die Bewegung der melodischen Linie, die sich nun für den Rest des Liedes ins Piano, am Ende sogar ins Pianissimo zurücknimmt.


    In beeindruckender Weise werden die Worte „Langsam gingen wir nach Hause“ deklamiert. Hier erfolgt sogar ein Taktwechsel von zwei zu drei Vierteln. Das Wort „langsam“ trägt auf seiner ersten Silbe eine Dehnung. Danach macht die Vokallinie eine rasche, mit einer rhythmischen Irritation verbundene Abwärtsbewegung, um das Wort „Hause“ dann auf einem lang gedehnten Sekundfall erklingen zu lassen. Das Klavier begleitet hier mit klanglich zart wirkenden Sechzehntel-Figuren, die Terzen enthalten.


    Der letzte Vers wird pianissimo auf einer zunächst lang gedehnten melodischen Linie deklamiert, die die tonale Ebene eines „Gis“ nur einem um eine Sekunde verlässt. Und bei dem Wort „liebeweich“ beschreibt sie dann eine tatsächlich auch lieblich wirkende Bogenbewegung, bevor sie auf der eine Fermate tragenden Quinte endet. Aufsteigende und in einen Akkord mündende Quinten im Klaviersatz steigern die Zartheit dieses lyrisch-melodischen Bildes auf eindrucksvolle Weise.

  • Bierbaum ergeht sich in diesem Gedicht in Bildern, die in ihrem geballten affektiven Potential und in der Häufung, in der das alles auftritt, den unguten Geschmack von Kitsch erwecken. Es duftet auffällig häufig in diesen Versen, und die Szene des „liebeheißen“ Küssens wird überdies noch in einer regelrecht peinlichen, weil sprachlich geziert wirkenden Weise „dicht blau und weiß überhäuptet“.


    Hier soll aber keine Lyrik-Kritik betrieben, sondern der Frage nachgegangen werden, was den Komponisten Reger bewogen haben mag, aus einem derlei lyrisch fragwürdigen Produkt ein Lied zu machen. Man hat ihm immer wieder einmal vorgeworfen, dass ihm jegliches literarische Urteilsvermögen abgegangen sei, und man könnte ein Lied wie dieses als Beleg dafür tatsächlich in Anschlag bringen. Das wäre aber zu billig, weil argumentativ zu vordergründig. Und überdies geschähe Reger dabei unrecht, das zentrale Anliegen seiner Liedkomposition betreffend.


    Hört man genau auf die Musik dieses Liedes, dann vernimmt man recht deutlich die liedkompositorische Intention, die dahintersteht. Es geht Reger nicht – im fundamentalen Unterschied zu dem von ihm so sehr verehrten Hugo Wolf – um das In-Musik-Setzen von literarisch bedeutender Lyrik im Sinne ihrer Interpretation und des Auslotens der dichterischen Aussage. So denkt er kompositorisch nicht, - und so war auch der jeweilige Griff nach dem lyrischen Text nicht motiviert. Das Motiv war bei ihm ein ganz anderes:
    Er wollte durch den lyrischen Text und seine Metaphorik zur Entfaltung von melodischer und harmonischer Klanglichkeit angeregt werden, die den affektiven Gehalt der jeweiligen lyrischen Bilder auf der Ebene der Musik sinnlich fassbar werden lässt.


    Die literarische Qualität muss ihm dabei ein Aspekt von gleichsam sekundärer Relevanz sein. Es geht ihm in der Liedkomposition nicht um diese, sondern um das affektive Potential, das ihm in der Metaphorik eines Gedichtes begegnet und das ihn in seiner musikalischen Sensibilität anzusprechen vermag. Im Grunde war er darin ein Kind der Zeit, in der die Psychoanalyse in die Welt trat und auch den Geist künstlerischer Produktivität erfasste.
    In einem Brief an die Schriftstellerin Ella Kerndl (vom 1.Okober 1900) meinte er, Lyrik könne und müsse „Ausblicke in bisher unentdeckte seelische Zustände und Konflikte“ geben. Und in einem anderen Brief an dieselbe Adressatin (27.Juni 1900) findet sich ein Satz, der ins Zentrum seines liedkompositorischen Konzepts führt: „Unser Weg im Lied ist die denkbar subtilste Interpretation der geheimsten lyrischen Stimmung“.


    Die Begriffe „subtile Interpretation“ und „geheime lyrische Stimmung“ müssen – wie ich denke – als Schlüsselwörter für das liedkompositorische Schaffen Max Regers gelesen und verstanden werden, - zumal er sie in diesem Brief im Superlativ gebraucht hat. Dieses Lied „Flieder“ lässt – wie hoffentlich in seiner Vorstellung deutlich geworden sein dürfte - an jeder Stelle seiner Faktur diese musikalische „Interpretation“ von „lyrischer Stimmung“, wie sie sich in dichterischer Metaphorik sprachlich verdichtet, vernehmen.
    Die Problematik eines solchen liedkompositorischen Ansatzes besteht freilich darin, dass bei dem kompositorischen Sich-Einlassen auf die „geheime lyrische Stimmung“, wie sie die lyrischen Bilder evozieren, die innere Einheit und Geschlossenheit des Liedes, seine Entfaltung aus einem melodischen und harmonischen Zentrum heraus, in Gefahr geraten kann.

  • Von Otto Julius Bierbaum (1865-1910) hat Reger insgesamt zehn Gedichte vertont. Von dessen Lyrik, in der sich stark der Geist des Jugendstils niederschlug, die aber in auffällig vielfältiger Weise in alle möglichen Masken schlüpfte – vom Rokoko über die Anakreontik und Romantik bis zum Volksliedton – fühlte er sich stark angesprochen. Man kann bei Reger ohnehin eine ausgeprägte Affinität zur Lyrik seiner Zeit – insbesondere der vom Jugendstil angehauchten - feststellen. Neben drei Volksliedtexten hat er bei seiner Textwahl nur drei „Klassikern“ gegriffen: Heine, Hölderlin und einmal zu Goethe.


    Ansonsten aber suchte er in der zeitgenössischen Lyrik nach Texten, die ihn zu Liedkompositionen zu inspirieren vermochten. In einem Brief an Ernst Guder (18.8.1899) findet sich die Frage, die viel über seine liedkompositorische Motivation und den dahinterstehenden Ansatz verrät, - der eben von der Musik her kommt und nicht – wie bei Hugo Wolf - von der kompositorischen Auseinandersetzung mit dem lyrischen Text selbst. Reger sah sich nicht als dem lyrischen Gedicht gegenüberstehend, im Sinne des Herausgefordert-Seins von dessen dichterischer Aussage, wie das bei Hugo Wolf der Fall war, er suchte nach ihm als Quelle der musikalischen Inspiration:


    „Weißt Du nicht einige schöne Gedichte zum Komponieren?? Wenn ja, so gebe mir selbe an; ich bin immer auf der Textsuche. Heute fand ich wieder 3 Gedichte, die komponierbar sind, es sind ganz moderne Sachen. Was macht Cords? (…) Schreibt er noch Lieder? Sag ihm, er soll mit den Texten sehr vorsichtig sein. Er soll sich mal Otto Julius Bierbaum: Erlebte Gedichte anschaffen; da findet er gewiß welche drinnen. Auch bei Detlev von Liliencron kann er einige finden.“


    Dass dieser Vorwurf der literarischen Unbildung, der Reger gegenüber immer einmal erhoben wurde, jeglicher Berechtigung entbehrt, kann man aus vielen seiner brieflichen Äußerungen zur zeitgenössischen Lyrik entnehmen. Sie zeigen nämlich einen durchaus reflektierten Umgang mit derselben. Zu Bierbaum findet sich zum Beispiel in einem Brief an Ella Kerndl (27.6.1900) die Bemerkung:
    „Ein Dichter lebt, von dem man sehr viel an kurzreimbaren Texten erwarten kann: das ist O. J. Bierbaum – allein mir scheint, der Herr hat sich in letzter Zeit etwas zum >Wohlleben< geneigt und produziert lange nicht mehr mit der idealen Weichheit und Keuschheit, wie er sie in den Texten >Traum durch die Dämmerung<, >Flieder<, >Frauenhaar< hat. Sehr schade!“.


    Bemerkenswert scheint mir hier ganz kleine Hinweis auf das, was Reger an Bierbaums Lyrik so angesprochen hat, dass es ihn zur Liedkomposition animierte: „Ideale Weichheit“ und „Keuschheit“. Damit spielt er wohl auf die bewusst vom Naturalismus sich distanzierende und abhebende, das Exquisite suchende und in ihrer Metaphorik ein hohes affektives Potential aufweisende lyrische Sprache dieses Dichters an.

  • Detlev von Liliencron: „Glücks genug“

    Wenn sanft du mir im Arme schliefst,
    ich deinen Atem hören konnte,
    im Traum du meinen Namen riefst,
    um deinen Mund ein Lächeln sonnte
    - Glücks (Reger: „Glückes“) genug!


    Und wenn nach heißem, ernsten Tag
    du mir verscheuchtest schwere Sorgen,
    wenn ich an deinem Herzen lag
    und nicht mehr dachte an ein Morgen
    - Glücks (Reger: „Glückes“) genug!




    Max Reger: „Glückes genug“, Op.37, Nr.3

    Das Manuskript dieses Liedes trägt den Schlussvermerk: „Schneewinkl 23. Juny 1899“. Veröffentlicht wurde es im Dezember dieses Jahres. Es weist einen Zweivierteltakt auf, steht in H-Dur, und die Vortragsanweisung lautet: „Sehr ruhig und ausdrucksvoll“. Der Grundton des Gedichts von Detlev von Liliencron, das beseligte Bekenntnis der Erfahrung tiefen Glück im liebeerfüllten Zusammenleben mit dem Anderen also, ist hier – so empfindet man dies jedenfalls – in vollkommener Weise musikalisch eingefangen. Ganz wesentlich trägt zu diesem Eindruck die spezifische Eigenart der melodischen Linie der Singstimme bei, die in der Art ihrer deklamatorischen Entfaltung große Ruhe ausstrahlt, dann aber, wenn es um das Zentrum der Liebeserfahrung geht, in expressiver Weise aufzugipfeln vermag.


    Mit einer aufsteigenden Sechzehntel-Triole setzt das Klavier im eintaktigen Vorspiel ein und geht dann im Diskant in eine alternierende Folge von Sechzehnteln und Sechzehntel-Akkorden über, die die Grundstruktur des Klaviersatzes im ganzen Lied bildet. Dieser durchläuft allerdings sehr viele harmonische Modulationen. Die melodische Linie der Singstimme setzt auftaktig ein und bewegt sich während der ganzen ersten Strophe sehr ruhig. Sie neigt dazu, zunächst eine Sprungbewegung zu beschreiben und dann langsam in kleinen Schritten abzufallen, was ihr klanglich die Anmutung von Innigkeit verleiht.


    Harmonische Rückungen dienen oft dazu, ein bestimmtes lyrisches Wort besonders zu akzentuieren, wie man gleich am Anfang bei dem Wort „sanft“ vernehmen kann. Besonders ausdrucksstark wirkt die chromatische Fallbewegung in Gestalt einer verminderten Sexte bei den Worten „hören konnte“. Hier endet die Melodiezeile ausnahmsweise mit einem Sekundanstieg. Ansonsten aber dominieren zärtlich wirkende langsame Fallbewegungen, wie etwa bei den Worten „du meinen Namen riefst“.


    Klanglich besonders expressiv ist die melodische Linie der Singstimme jeweils bei dem Schlussvers „Glückes genug“ angelegt. Reger hat in Liliencrons „Glücks“ ein „e“ eingefügt, weil das aus melodischen Gründen brauchte. Im ersten Fall liegt eine lange Dehnung auf der ersten Silbe des Wortes „Glückes“, die bei der zweiten in einen Quartfall übergeht und sich in einer Abstiegsbewegung bei „genug“ fortsetzt. Die hohe musikalische Expressivität der Melodik erfährt dadurch eine Steigerung, dass die alternierenden Sechzehntel-Figuren im Klaviersatz in ihrer Fallbewegung permanent harmonische Modulationen durchlaufen und sich die Dynamik vom Pianissimo ins Forte steigert, gegen Ende aber wieder ins Pianissimo zurückfällt. Im zweiten Fall beschreibt die melodische Linie eine bogenförmig gedehnte Bewegung im tonalen Raum eine Quarte, hält auf einem hohen „Dis“ kurz inne und macht am Ende einen ausdrucksstarken Quintfall, der sie „ppp“ zum Ruhepunkt führt.


    Zuvor hat die Melodik in der zweiten Strophe eine Steigerung ihrer Expressivität erfahren, in der sich die Aussage der ersten beiden Verse niederschlägt, in denen es um den „ernsten Tag“ und „Sorgen“ geht. Die Vokallinie steigt in fast schon dramatisch wirkender Form langsam an, gipfelt forte bei dem Wort „du“ auf und hebt es damit in markanter Weise hervor. Danach ereignet sich dies in gesteigerter Form noch einmal. Bei den Worten „deinem Herzen“ macht die Vokallinie einen verminderten Terzsprung zum höchsten Ton des Liedes, - und dies fortissimo. Die Worte „und nicht mehr dachte an ein Morgen“ werden auf einer langsam fallenden und in Moll harmonisierten melodischen Linie deklamiert, die hohe Eindringlichkeit entfaltet. Am Ende geht sie dann in eine bogenförmige und mit einer Modulation des Tongeschlechts verbundene Aufwärtsbewegung über, die das Wort „Morgen“ klanglich regelrecht aufleuchten lässt.


    Und obwohl in der Vokallinie hier eine Viertelpause folgt, überträgt sich dieser klangliche Aufschwung bei dem Wort „Morgen“ auf das „Glückes genug“ in Gestalt eines innigen Jubels.

  • Das ist so ein Fall, wo man beim Nachdenken über ein Lied, und dabei die Genese aus dem lyrischen Text berücksichtigend, zu der Auffassung kommen kann: Lyrisch-sprachliche Direktheit und metaphorische Beschränkung auf das Wesentliche, also den Kern der lyrischen Aussage, können für einen Liedkomponisten wie Reger, dem es um das musikalische Erfassen der „geheimen lyrischen Stimmung“ geht, ein kompositorisch überaus nützliches Regulativ sein. Er gerät nicht in die Gefahr, sich in das klangliche Auskosten der lyrischen Bilder zu verlieren und damit die innere Einheit des Liedes in Gefahr zu bringen.


    Beim vorangehenden Lied „Flieder“ wurde auf diesen Aspekt eingegangen und angedeutet, dass man die liedhafte Geschlossenheit der Komposition durchaus als ein wenig brüchig erfahren kann. Und hier nun, bei diesem Lied „Glückes genug“, stellt man - erfreut und mit einer gewissen Genugtuung – fest, wie intensiv sich Reger auf die lyrische Sprache in ihrer syntaktischen Gestalt eingelassen und dabei ein melodisch und harmonisch in sich geschlossenes und eben darin höchst beeindruckendes Lied hervorgebracht hat.


    Liliencrons kleines Gedicht weist ja – in der für ihn so typischen, blumige Metaphorik meidenden, eher sachlichen Diktion – im Grunde nur eine genuin lyrische Partikel auf: Das evokative „Glückes genug“. Eingebettet ist sie in einen unter der temporal-konditionalen Vorgabe des „Wenn…“ stehenden, sprachlich vorwiegend narrativ wirkenden Kontext. Und genau diesen lyrisch-sprachlichen Sachverhalt bildet die Liedmusik Regers ab. Das konditionale „Wenn“ schlägt sich melodisch in einer zweimaligen ruhigen Fallbewegung nieder, die dann, wenn das Rufen des Namens und das Lächeln angesprochen wird, das um den Mund „sonnt“, wenn also gleichsam eine lyrische Konkretion erfolgt, in eine gemessen sich entfaltende Bewegung der melodischen Linie auf mittlerer tonaler Ebene übergeht.


    Und dann ereignet sich der emphatische Aufschwung der Melodik bei dem lyrisch expressiven „Glückes genug“. Er wird auf kompositorisch subtile Weise vorbereitet: Mit einem in Sekundschritten sich vollziehenden Fallen der melodischen Linie bei den Worten: „ein Lächeln sonnte“, dem eine Pause von einem ganzen Takt folgt. Die lange Dehnung in hoher Lage auf dem Wort „Glückes“, die pianissimo einsetzt und in ein Forte übergeht, folgt auf der letzten Silbe ein Quartfall, der bei dem Wort „genug“ in einen silbengetreuen doppelten Sekundanstieg übergeht. Er ist im Vortrag mit einem Ritardando und einem ins Pianissimo mündenden Decrescendo versehen. Harmonisch ereignet sich dabei eine permanente Modulation, die drei Stufen übergreift.


    Es ist eine beeindruckend verhaltene Emphase, die sich hier auf allen Ebenen der Musik – der melodischen Bewegung, ihrer Harmonisierung und der dynamischen Differenzierung – ereignet. Und in eben dieser expressiven Zurückhaltung, die Reger hier wahrt, vernimmt man, wie sehr er auf die Anbindung seiner Liedmusik an den verhalten innigen Grundton des lyrischen Textes bedacht war.

  • Diese Komposition gehört zu den am häufigsten aufgeführten Liedern Regers. Er selbst hat ihm eine Spitzenstellung eingeräumt. Vielleicht hängt das ja auch, neben der ihm zweifellos eigenen hohen liedkompositorischen Qualität, mit dem biographischen Hintergrund seiner Entstehung zusammen. Das Autograph weist, wie oben ja schon angegeben, am Ende den Vermerk auf: „Schnewinkl 23. Juny 1899 / Max Reger“. Im Frühjahr dieses Jahres hielt sich Reger längere Zeit Im Haus von Auguste von Bagenski auf und verliebte sich in deren Tochter Elsa. Ihr widmete er zehn kurz hintereinander entstandene Lieder, darunter auch „Glückes genug“. Als sie sich zunächst nicht entschließen konnte, reagierte Reger, wie Elsa – die ja dann doch seine Frau wurde – in ihren Lebenserinnerungen berichtet, so:


    Reger zerriss „den Strauß der 10 Liebeslieder, gab sie nicht, wie gewollt, in einem Band mir gewidmet heraus, sondern verstreute sie in verschiedene Bände. Ich besitze noch das Manuskript der 10 Lieder in der ersten Fassung. Sie sollten als op.35 in einem Band herauskommen.“ (Mein Leben mit und für Reger. Erinnerungen, Leipzig 1930).


    Was das Autograph anbelangt: Ich blicke gerade auf ein mir vorliegendes Faksimile, und zwei Gedanken stellen sich ein. Der eine:
    Im Vergleich zu den Lied-Autographen Schuberts, die häufig – wie etwa das der „Winterreise“ – ein nur mühsam zu entzifferndes handschriftliches Chaos darstellen, ist das hier der Inbegriff von Ordnung, Sorgfalt und Sauberkeit. Alles ohne jegliche Korrekturen, kalligraphisch regelrecht schön anzusehen und gleichsam druckreif schwarz und rot vorgelegt.


    Womit ich aber beim zweiten, und eigentlich wichtigeren Gedanken wäre:
    Reger hat ganz offensichtlich größten Wert auf die den Vortrag seiner Lieder betreffenden Anweisungen gelegt. Sie sind – wie das in nahezu all seinen Autographen der Fall ist – mit roter Tinte über, unter und in den schwarzen Notentext gesetzt: Genaue und differenzierte Vortragsanweisungen und Zeichen aller Art, Dynamik und Agogik betreffend. Die im Vortrag sich realisierende Klanglichkeit war für ihn ein zweifellos ganz wesentlicher Faktor seiner Liedkomposition.

  • Richard Dehmel: „Wiegenlied“
    Bienchen, Bienchen,
    Wiegt sich im Sonnenschein,
    Spielt um mein Kindelein,
    Summt dich in Schlummer ein,
    Süßes Gesicht.


    Spinnchen, Spinnchen,
    Flimmert im Sonnenschein,
    Schlummre, mein Kindelein,
    Spinnt dich in Träume ein,
    Rühre dich nicht.


    Tief Edelinchen
    Schlüpft aus dem Sonnenschein,
    Träume, mein Kindelein,
    Haucht dir ein Seelchen ein,
    Liebe zum Licht.




    Max Reger: „Wiegenlied“, op.43, Nr.5
    Dieses Lied komponierte Reger im Herbst 1899. In Druck ging es im Mai 1900, und es ist der Kammersängerin Lilli Lehmann-Kalisch „verehrungsvoll zugeeignet“. „Leicht, anmuthig, schnell (aber nicht zu sehr)“ soll es vorgetragen werden. Die zugrundeliegende Tonart Es-Dur erfährt zwar, wie bei Reger üblich, viele Modulationen, sie wirken aber auffällig verhalten und bleiben im engeren Rahmen des Quintenzirkels.


    Der klangliche Reiz, der von dem Lied ausgeht, wurzelt darin, dass der wiegende Rhythmus, der sich auf der Basis des Sechsachteltaktes entfaltet, auf die melodische Linie der Singstimme übergreift, deren Bewegung ganz und gar eine wiegende ist. Sie ereignet sich in permanentem Auf und Ab über zumeist größere Intervalle, das aber durchweg legato, so dass sich der klangliche Eindruck einer bogenförmigen Wellenbewegung einstellt. Eine stark suggestive Wirkung geht von diesen melodischen Bewegungen aus, zumal sie das Klavier mit seinen aus einer Kombination von punktierten Vierteln, Sechzehnteln und Achteln rhythmisch akzentuiert.


    Und es gibt noch einen Faktor, der diese suggestive Wirkung bedingt. Es ist die immer wieder sich ereignende Wiederkehr von melodischen Figuren, jedenfalls was ihre Grundstruktur anbelangt. Schon in der ersten Strophe begegnet man dem. Auf „Bienchen“ und „Sonnenschein“ liegt die gleiche Sprung- und Fallbewegung, und die Worte „Summt dich in Schlummer ein“ werden auf einer melodischen Linie deklamiert, die der auf dem dritten Vers („Spielt um mein Kindelein“) sehr ähnlich ist. Bei den dritten und vierten Versen der beiden folgenden Strophen wendet Reger das gleiche kompositorische Prinzip an: Die melodischen Linien ähneln einander in ihrer Struktur.


    Dort, wo das Kind in der den Schlaf beschwörenden Weise direkt angesprochen wird, bewegt sich die melodische Linie jeweils in einer Weise, die ebenfalls klanglich stark suggestiv wirkt: Es ist ein aus einer langen Dehnung heraus erfolgender Fall über ein großes Intervall, dem ein schrittweiser Anstieg in die Ausgangstonlage folgt. Bei den Worten „Schlummre, mein Kindelein“ (Vers 3, zweite Strophe) beschreibt die Vokallinie einen Oktavfall aus der langen Dehnung auf der Silbe „Schlumm“- und steigt dann in vier Schritten wieder zum Ausgangston hinauf. Bei „Träume, mein Kindelein“ (dritte Strophe) wiederholt sich das in der fast gleichen Weise.


    In melodisch besonders expressiver Weise ist jeweils der letzte Vers der Strophe gestaltet, in dem sich die Zärtlichkeit der Ansprache an das „Kindelein“ gleichsam sprachlich verdichtet. Und es wiederholt sich auch hier die melodische Grundfigur. Es ist eine aus einer mehr oder weniger langen Dehnung hervorgehende Fallbewegung, die sich anschließend gleichsam wieder aufrichtet, indem sie entweder auf der tonalen Ebene verharrt, aber dabei eine harmonische Rückung in die Grundtonart erfährt, oder indem sie, wie das bei der dritten Strophe der Fall ist, auch noch zusätzlich einen Schritt nach oben macht. In allen Fällen hat dies aber die Wirkung einer gleichsam Ruhe ausstrahlenden Kadenz.


    Reger weicht vom lyrischen Text ab, indem er am Ende des Liedes eine Melodiezeile mit den Worten „Träume, mein Kindlein“ anfügt. Wieder ereignet sich die melodische Bewegung, die so typisch und klanglich prägend für dieses Lied ist, - nur diesmal in gleichsam gesteigerter Form. Aus einer lagen Dehnung auf der ersten Silbe des Wortes „träume“ ereignet sich ein Quintfall, und danach bewegt sich die Vokallinie sehr langsam, weil nochmals mit einer Dehnung bei dem Wort „Kindelein“ gestreckt, nach oben, um auf dem Grundton zur Ruhe zu kommen. Auch die Harmonik moduliert zur Grundtonart hin.

  • Dieses Lied besticht durch seine sich am Grundton des Volksliedes orientierende Schlichtheit in der Melodik, die darin – aber natürlich auch in dem sich im Sechsachteltakt wiegenden Klaviersatz – die Einfachheit der lyrischen Sprache und ihrer Bilder reflektiert. Die innere Geschlossenheit, und damit auch die klangliche Eingängigkeit des Liedes speist sich dabei aus mehreren Quellen: Aus der kompositorischen Beschränkung auf wenige, allerdings verschiedene Modifikationen durchlaufende melodische Motive und aus der Tatsache, dass das Klavier sich ebenfalls dieser Motive annimmt und sie auf seine Weise in die Liedmusik einbringt. Ein weiterer wichtiger Faktor ist dabei die den Strophencharakter betonende melodische Gewichtung des jeweils letzten Verses und die – über den lyrischen Text hinausgehende – das Lied in seiner zentralen Aussage akzentuierende und beschließende Wiederholung der Worte „Träume, mein Kindelein“.


    Eigentlich ist das, so denkt man, wenn man Dehmels Verse diesseits von Regers Vertonung derselben liest, ein für einen Liedkomponisten gefährlicher lyrischer Text. Im diminutivischen Ton der ihm sprachlich und metaphorisch zugrundeliegt, könnte er eine Verführung zu musikalischer Süßlichkeit darstellen. Reger ist ihr in gar keiner Weise erlegen, und das zeigt, dass er – gleichsam hinter diese diminutivische Fassade blickend – den poetischen Kern des Gedichts erfasst hat: Die das Einschlafen beschwörende Zuwendung dem Kind gegenüber. Für das klangliche Auskosten der lyrischen Bilder lässt der leichtfüßig wiegende, sich in den tänzerisch beschwingten Achtel-Sechzehntelfiguren des Klaviersatzes artikulierende Grundrhythmus des Liedes gar keinen Raum.


    Und auch die Melodik hält sich ganz und gar fern davon. Zwar weist sie immer wieder Passagen mit weit ausgreifenden und z.T. fallend angelegten Dehnungen in der Vokallinie auf. Diese sind aber allesamt melodischer Niederschlag des beschwörend-appellativen Grundtons dieses lyrischen Textes: „Schlummre“, „rühre dich nicht“, „träume“. Und aus dieser, der lyrischen Aussage verpflichteten kompositorischen Intention geht auch die Grundstruktur der melodischen Linie hervor: In ihrem auffällig großschrittigen Durchmessen großer tonaler Räume. Eine mehrfach wiederkehrende melodische Figur ist ganz typisch für dieses Lied und verkörpert seinen musikalischen Geist. Es ist der aus einer längeren Dehnung kommende Fall der melodischen Linie über ein großes Intervall, dem dann eine Rückkehr in drei, vier entschiedenen Schritten zum tonalen Ausgangspunkt folgt. Und dieser Geist ist der einer überaus innigen, das Einschlafen gleichsam beschwörenden Zuwendung dem Kind gegenüber.

  • Von Richard Dehmel (1863-1920) hat Reger insgesamt sechs Gedichte vertont. Sie kannten sich persönlich und standen in einem lebhaften Briefwechsel miteinander. Es gab sogar ein gemeinsames Projekt eines Oratoriums, aus dem allerdings nichts wurde.


    Ein Brief, den Dehmel am 31. März 1910 an Reger richtete, ist sehr interessant, weil er Einblick in die Interessen der Beiden, Liedkomposition betreffend, gibt. Der eine, Reger nämlich, war permanent auf der Suche nach Gedichten, die ihn zur Vertonung anzuregen vermochten, und der andere war durchaus interessiert daran, dass seine Gedichte in Musik gesetzt werden. Das ist durchaus nicht selbstverständlich. Es gibt viele Beispiele dafür, dass Autoren sich gegen die Vertonung ihrer Gedichte sperrten, sie gar ausdrücklich ablehnten.


    Diese Stelle aus dem Brief lautet:
    „Hier also, lieber Reger, schicke ich Ihnen den versprochenen Band >Weib und Welt<. Und da Beckeraths mir gesagt haben, daß Sie auch nach Texten für Kinderlieder suchen, lege ich noch den >Kindergarten< bei. In >Weib und Welt< sind es besonders die Gedichte >Siegerin< und >Gesang der Nacht<, zu denen ich mir immer Musik von Ihnen gewünscht habe. Ale Gegenstück (quasi im Vorspiel) zu dem Nachtgesang lege ich Ihnen noch ein neues Gedicht >Der Schwimmer< im Manuskript bei. Vielleicht können Sie überhaupt einen ganzen Zyklus Meerlieder zusammenstellen; Sie finden Texte genug dazu in >Weib und Welt<. Das Geburtstagsoratorium, von dem ich Ihnen bei Beckeraths sprach, werde ich in einigen Wochen gedruckt schicken. Aber in >Weib und Welt< finden Sie ebenfalls einen Text, der sich – glaube ich – gut für ein Oratorium eignen würde (die >Lebensmesse<).
    Mit doppelten Grüßen von Göttertisch zu Göttertisch
    Ihr Richard Dehmel“

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