Arnold Schönberg. Liedkomposition auf dem Weg in die Atonalität

  • Stefan George: „Das schöne beet betracht ich mir im harren“


    Das schöne beet betracht ich mir im harren,
    Es ist umzäunt mit purpurn-schwarzem dorne,
    Drin ragen kelche mit geflecktem sporne
    Und samtgefiederte geneigte farren
    Und flockenbüschel wassergrün und rund
    Und in der mitte glocken weiß und mild –
    Von einem odem ist ihr feuchter mund
    Wie süße frucht vom himmlischen gefild.



    Arnold Schönberg: „Das Buch der hängenden Gärten op.15, Lied 10

    Die Erstschrift dieses Liedes ist datiert auf März 1908. Es atmet einen ruhigen, betrachtend-meditativen Grundton, den man als Hörer dieses Zyklus nach all den expressiven Ausbrüchen, die man bislang erlebt hat, als regelrechte Erholung empfindet. Und das Ungewöhnliche, weil eigentlich nicht Erwartete ist: Er wird durchgehalten bis zum letzten Takt, - selbst beim letzten Bild vom „feuchten Mund“, bei dem man bei all den bisherigen Erfahrungen einen neuerlichen Ausbruch des hohen sinnlichen Potentials erwarten würde, das in diesem lyrischen Ich schlummert. Und noch etwas ist ungewöhnlich an diesem Lied. Die Atonalität, die „Emanzipation der Dissonanz“ also, wirkt hier stark gedämpft, ja zurückgenommen in immer wieder wie flüchtig aufklingende tonale Harmonik.


    Schon das für diese Zyklus ungewöhnlich lange (10 Takte) Vorspiel lässt das vernehmen. Es besteht aus einer über Einzeltöne vermittelten Abfolge von Akkorden, die die Struktur der melodischen Linie des ersten Verses vorwegnehmen und deren dissonante Klanglichkeit mehrfach in tonale Dur-Harmonik übergeht, die sich allerdings nur kurz zu halten vermag. Und auch in der Harmonisierung der melodischen Linie der Singstimme blitzt immer wieder einmal tonale Klanglichkeit auf. So bei den Worten „beet“ (Takt 11), „harren“ (Takt 13), „dorne“ (Takt 15), „kelche“ (Takt 16), „rund“ (Takt 21) und im Nachspiel.


    Man fragt sich natürlich, warum Schönberg hier in der Ausschöpfung des Potentials der Atonalität solch auffällige Zurückhaltung übt. Vielleicht, so möchte man vermuten, hat ihn die Tatsache dazu bewogen, dass dieses Gedicht ausschließlich aus deskriptiven lyrischen Bildern besteht, die sich auf die Begegnung des lyrischen Ichs mit dem „schönen Beet“ im Garten beziehen, und die auf das Du gerichteten Emotionen nur indirekt mitschwingen, also nicht lyrisch explizit werden. Sobald dieses in diesem Zyklus nämlich geschieht, kommt die Atonalität in ihrem evokativ-klanglichen Potential in vollem Umfang zum Einsatz.


    Was an diesem Lied klanglich so besticht, das ist der überaus reizvolle Gegensatz zwischen der hochgradig expressiven Metaphorik (farben- und konturenreiche Naturbilder) und der großen Ruhe, mit der die melodische Linie sich bewegt und in der der Klaviersatz sie in gar keiner Weise stört. Im Gegenteil: Das Klavier folgt ihr darin mit einer alle klanglichen und rhythmischen Kontraste meidenden Abfolge von Akkorden oder Achtel-Figuren. Das heißt aber nicht, dass der Klaviersatz eigene Expressivität nicht entfalten würde. Das tut er sehr wohl. Aber nicht im Sinne eines klangmalerisch-deskriptiven Reagierens auf die einzelnen lyrischen Bilder, sondern vielmehr im Sinne einer Spiegelung der Emotionen des lyrischen Ichs auf der Ebene der Musik. Darin ist er ein typisches Strukturmerkmal des von Schönberg verfolgten liedkompositorischen Konzepts.


    Gleich an den die beiden ersten Verse beinhaltenden Melodiezeilen lässt sich das vernehmen. Die melodische Linie beschreibt nach einem ruhigen (Viertelnoten) Anstieg mit nachfolgendem Quartfall eine kleine Bogenbewegung und mündet bei dem Wort „harren“ in einen kleinen, leicht gedehnten Sekundfall. Das Klavier begleitet das mit einer statisch wirkenden Akkordfolge, in der es zweimal einen tonalen Akkord aufleuchten lässt, der die positiven Empfindungen des lyrischen Ichs reflektiert. Und dieser Klaviersatz bleibt auch noch bis zum Ende der zweiten Melodiezeile erhalten. Aber da die melodische Linie bei den Worten „purpurn-schwarzem dorne“ von ihrer ruhigen kleinschrittigen Bewegung abgeht und eine Kombination aus vermindertem Sextsprung und Quintfall beschreibt, geht auch das Klavier - in eben diesem Reagieren auf die melodische Linie – von seinem akkordischen Gestus ab und artikuliert im Diskant und im Bass triolische Achtel-Figuren. Bei dem Bild von den „Kelchen mit geflecktem Sporne“ hingegen geht der Klaviersatz in eine fallende Abfolge von Achtel-Akkorden mit angehängtem Einzelton über. Er reflektiert darin die ihrerseits chromatisch langsam fallende melodische Linie, die bei dem Wort „sporne“ in einen lang gedehnten Sekundfall mündet.


    Große Ruhe geht von der Melodik bei dem Vers „Und samtgefiederte geneigte farren“ aus. Lange Dehnungen auf den Silben „samt-„ und „-neigte“ prägen sie klanglich, und das Klavier entspricht dem mit gehaltenen Akkorden im Diskant und steigenden und fallenden Achtel-Figuren im Bass. Bei den Worten „flockenbüschel wassergrün und rund“ beschreibt die Vokallinie eine beeindruckende Fallbewegung aus kleinen Sekundsprüngen, die am Ende (bei „rund“) in einen überraschenden, kurz in Dur harmonisierten und leicht gedehnten Quartsprung übergeht. Wie ein weit gespannter, weil gedehnter chromatischer Bogen wirkt sie bei dem Vers „Und in der mitte glocken weiß und mild“. Man empfindet das als dem lyrischen Bild musikalisch vollkommen gemäß, zumal das Wort „mild“ am Ende eine aus einem Sekundfall hervorgehende Dehnung trägt, bei der das Klavier das melodische Motiv des Liedanfangs aufklingen lässt.


    Ihren expressiven Höhepunkt erreicht die Melodik – und das ist nicht verwunderlich – bei dem letzten lyrischen Bild. Bei den Worten „feuchter mund“ beschreibt sie einen aus einer langen Dehnung auf dem Wort „feuchter“ hervorgehenden, überaus ausdrucksstarken Septsprung mit Dehnung auf dem Wort „mund“, bei dem sich in der Akkordfolge des Klaviersatzes zwei harmonische Rückungen ereignen. Und danach fällt die melodische Linie in ganz langsamen, weil immer wieder mit keinen Aufwärtsbewegungen in Sekunden und kleinen Dehnungen verbundenen Schritten von einem hohen E“ zu einem tiefen „Cis“ ab. Das tut sie am Ende mit einem verminderten Septfall. Sie bleibt dort aber nicht, sondern beschreibt innerhalb des Wortes „gefild“ eine Sprungbewegung über fast das gleiche Intervall. Es ist wieder eine Septe, aber dieses Mal keine verminderte, sondern eine große. Und sie mündet in ein gedehntes „B“ in mittlerer Lage, zu dem das Klavier einen lang gehaltenen Akkord aus den Tönen „G-F-B-Es- F“ beiträgt, der im Nachspiel zu einem D-Dur-Akkord moduliert. Dieser löst sich zwar gleich wieder in atonale Klanglichkeit auf, aber er setzt am Ende noch einmal einen musikalischen Akzent, der für den Charakter dieses Liedes typisch ist.

  • So herausragend aus dem lyrischen Zyklus dieses Gedicht in seiner sich auf die schiere Evokation von „umzäunter“ Gartenlandschaft beschränkenden Sprachlichkeit ist, so sehr ist es auch Schönbergs Liedkomposition darauf. Natürlich sind alle diese in ihrer naturhaft-sinnlichen Dichte so beeindruckenden lyrischen Bilder solche, die sich im Auge des lyrischen Ichs einstellen, - der erste Vers macht das ja sinnfällig. Und unterschwellig fließt auch dessen Seelenlage in sie ein, - in ihrer so hohen sinnlichen Dichte, gipfelnd in der Assoziation von Glockenblume und „feuchtem Mund“, in dessen „Odem“ sie sich als „süße Frucht von himmlischem Gefild“ erweist. Auch wenn in diese gartenhaften Natur-Erfahrungen all das eingeht, was das lyrische Ich der geliebten Frau gegenüber empfindet, die ja Teil dieser Gartenwelt ist, dieses Gedicht bleibt gleichwohl primär, in seiner Metaphorik also, lyrische Evokation eines repräsentativen Teils dieser Welt, eines Gartenbeets nämlich.


    Und dass Schönbergs Lied auf diese Verse ebenso aus dem Zyklus herausragt, in seiner Melodik mitsamt ihrer Harmonisierung und dem sie tragenden, begleitenden und kommentierenden Klaviersatz, das zeigt wieder einmal, wie eminent textorientiert er bei der Komposition dieses Zyklus vorgegangen ist. Es sind gleich mehrere kompositorische Aspekte, die das Lied zu einem werden lassen, das sich von den sie umgebenden anderen Kompositionen abhebt, - ohne sie freilich deshalb an liedmusikalischem Rang zu überragen. Die melodische Linie der Singstimme ist in ihrer deklamatorischen Struktur und in ihrer Phrasierung in bemerkenswerter Weise auf kantable Entfaltung angelegt. Aber was noch stärker die herausragende Position dieses Liedes konstituiert, das ist der hohe Grad an Klanglichkeit, den der Klaviersatz entfaltet.


    Es ist ein in diesem Zyklus herausragend hoher Anteil an Konsonanz, der den Klaviersatz klanglich prägt. Schon das bemerkenswert lange, zehn Takte in Anspruch nehmende Vorspiel bewegt sich größtenteils im tonalen Bereich, konsonante Dur-Harmonik dabei sogar berührend, und es geht erst in den letzten vier Takten zu dem über, was eigentlich ja dominantes musikalisches Ausdrucksmittel dieses Zyklus ist: Die atonal sich artikulierende Dissonanz. Auch in der Begleitung der Singstimme wirkt das Klavier so, als möchte es sich eigentlich konsonanter Harmonik überlassen und greife zur Dissonanz nur deshalb, weil die Aussage der melodischen Linie dies reklamiert. Bei den Worten „das schöne Beet“, „im Harren“, „Dorne“, „Kelche“ „und rund“ und „himmlischem Gefild“ vernimmt man für einen kurzen Augenblick tonale Harmonik.


    Ohnehin ist das Lied klanglich sehr stark von einer gleichsam symbiotischen Anbindung des Klaviersatzes an die melodische Linie geprägt. Die aus einem Sekundanstieg hervorgehende Fallbewegung der melodischen Linie bei den Worten „Das schöne Beet“ greift die akkordische Bewegung der beiden ersten Takte des Vorspiels auf. Und diese Fallbewegung erweist sich als klangliches Leitmotiv dieses Liedes. Man begegnet ihr immer wieder: Bei den Worten „Dorne“, „Kelche“, und „Sporne“. Das wellenartige Fallen der melodischen Linie bei den Bildern der „samtgefiederten geneigten Farren“ und der „wassergrünen und runden Flockenbüschel“ stellt eine gleichsam elaborierte Form dieser Fallbewegung dar, und sie erweist sich in all diesen ihren klanglichen Erscheinungsformen in diesem Lied als Ausdruck der tiefen Ruhe, die dem lyrischen Ich in seinem meditativen „Harren“ in diesem Gartenbeet entgegenkommt.


    Aber es gibt in der Melodik dieses Liedes nicht nur diese, vom Klavier im Vorspiel wie programmatisch vorgegebene Fallbewegung. Sie weist auch Sprünge auf, und diese ereignen sich im Verlauf des Liedes immer häufiger: Zuerst bei dem Wort „rund“, dann bei „Mitte“, und gegen Ende des Liedes sogar über große Intervalle bei den Worten „Mund“ und „Gefild“. Sie sind wohl als musikalischer Ausdruck von Emotionalität zu vernehmen und aufzufassen. Schönberg wollte das lyrische Ich in diesem Lied musikalisch nicht als emotional distanzierten Betrachter eines Gartenbeets verstehen und musikalisch darstellen.
    Und darin erweist er sich als höchst feinsinniger, den lyrischen Text in seinen semantischen Tiefendimensionen erfassenden Leser der Gedichte Georges.

  • Stefan George: „Als wir hinter dem beblümten tore“


    Als wir hinter dem beblümten tore
    Endlich nur das eigne hauchen spürten,
    Warden uns erdachte seligkeiten?
    Ich erinnere dass wie schwache rohre
    Beide stumm zu beben wir begannen,
    Wenn wir leis nur an uns rührten,
    Und dass unsre augen rannen –
    So verbliebest du mir lang zu seiten.



    Arnold Schönberg: Das Buch der hängenden Gärten op.15“, Lied 11

    Auch dieses Lied ist in der Erstschrift auf März 1908 datiert. Es weist einen ganz eigenen, in seiner Klanglichkeit aus den anderen nicht herausragenden – dafür ist es zu still -, sondern sich von ihnen absetzenden Charakter auf. Man könnte es durchaus in die Nähe der Gattung „Accompagnato-Rezitativ“ stellen, entfaltete das Klavier bei all seiner dieser Gattung gemäßen Zurückhaltung nicht doch eine ausgeprägte Eigenständigkeit. Das Eigentümliche an diesem Lied ist, dass das, was das Klavier zu ihm beizutragen hat, gerade dadurch ein ganz besonderes Gewicht erhält, dass es sich über weite Passagen auf die Funktion des Accompagnare zurücknimmt. In den Takten neun bis dreizehn besteht der Klaviersatz im wesentlichen nur aus lang gehaltenen drei- bis vierstimmigen Akkorden. Auch in den Takten 17-20 ist das so, obwohl dort auch vereinzelt aufklingt, was für den Klaviersatz ansonsten typisch ist: Wie eingestreut wirkende Sechzehntel- und Zweiunddreißigstel-Bewegungen, die zumeist fallende Tendenz aufweisen, gelegentlich aber auch aufwärts gerichtet sind.


    Im Vorspiel treten sie ja bereits im ersten und zweiten Takt auf. Und achtet man darauf, wo sich dies im weitere Verlauf des Liedes ereignet, dann wird rasch deutlich, dass sie die Erregung reflektieren, die im lyrischen Ich in der Erinnerung an das gerade Erlebte nachklingt. Da das Lied „sehr ruhig“ vorgetragen werden soll, geht ihnen, obgleich sie aus sehr kleinen Notenwerten bestehen und häufig wellenartige Fallbewegungen beschreiben, jede stürmische Rasanz ab. Gleichwohl wirken sie eindringlich, und dies deshalb, weil sie im Hintergrund einer sich äußerst ruhig und langsam bewegenden melodischen Linie erklingen.


    Im achttaktigen Vorspiel bewegen sich im Bass zunächst Sechzehntel in große Tiefe, es folgt eine Reihe von länger gehaltenen dissonanten Akkorden, von denen einer, obgleich er „ppp“ artikuliert wird, klanglich herausragt, weil er aus den Tönen „Dis-H-F-C“ gebildet ist und dann in die Terz „F-A“ übergeht. Und nach einem langsamen Auf und Ab im Sekundintervall um ein „A“ in mittlerer Lage erklingt unmittelbar vor dem Einsatz der Singstimme pianissimo eine in sehr hoher Diskantlage in einem kleinen Sekundschritt ansteigende Oktave. Das Klavier hält sie danach über den ganzen ersten Takt der melodischen Linie und schlägt sie im zweiten noch einmal an. Im Bass erklingt derweilen nichts anderes als ein tiefes „Cis“. Das Klavier will die Singstimme sich selbst überlassen, als wolle es Raum schaffen für die Erzählung, die nun von dieser kommen wird, - setzt sie doch mit den Worten ein „Als wir…“.


    Das lyrische Ich artikuliert sich hier ausschließlich aus der Retrospektive, und die melodische Linie reflektiert dies, indem sie einen ruhig sich entfaltenden narrativen Gestus annimmt. Die Deklamation erfolgt dabei zwar zumeist syllabisch exakt, verfällt dabei aber nicht in ein rezitativisches Staccato, sondern verfolgt eine melodisch gebundene Linie. Ihr Ort, von dem sie ausgeht und zu dem sie immer wieder in Schritten von kleinen und großen Sekunden zurückkehrt, ist der tonale Raum einer Quinte in tiefer Lage (von einem tiefen „As“, bzw. „A“ an aufwärts).


    Das Bemerkenswerte und für die Grundstruktur der melodischen Linie Bezeichnende ist nun, dass sie immer wieder einmal einen im Grunde überraschenden, weil von ihrer bisherigen Art des Sich-Bewegens stark abweichenden Sprung über ein größeres Intervall vollzieht oder eine weit nach oben ausgreifende Bogenform beschreibt, wobei sich jedes Mal markante harmonische Modulationen ereignen. Die Stellen, an denen das geschieht, haben etwas gemeinsam: In allen Fällen reflektiert hier die Melodik den lyrischen Nachklang von das lyrische Ich besonders berührenden sinnlichen Liebeserfahrungen.


    Zum ersten Mal begegnet man dem bei den Worten „Endlich nur das eigne hauchen spürten“. Die melodische Linie steigt hier mit einem Terz- und einem Quintsprung in obere Mittellage empor und fällt von dort aus in einer wellenartigen Bewegung zu einem tiefen „C“ ab, von dem aus sei (Bei „spürten“) noch einmal einen Terzsprung macht. Das Klavier meldet sich hier zum ersten Mal wieder mit einer Kombination aus dissonanten Akkorden, geht danach allerdings für zwei Takte ins Schweigen über. Ganz seiner Rolle und Funktion entsprechend, meldet es sich wieder, wenn die Singstimme, von Erinnerungen übermannt, bei der Deklamation des Wortes „“seligkeiten“ aus tiefer Lage heraus am Ende einen Septsprung beschreibt.


    Und es entfaltet einen wahren Wirbel von wellenartig fallenden Zweiunddreißigstel-Figuren, wenn die melodische Linie bei den Versen, in denen sich das lyrische Ich mit dem Bild von dem „Schwachen Rohre“ seinen emotional bewegenden Erinnerungen hingibt, ungewöhnlich weit ausgreifende und zum Teil gedehnte Bewegungen beschreibt: Eine hoch nach oben ausgreifende Bogenbewegung bei „rohre“ und ein verminderter triolischer Septfall bei „stumm“, der zum dem Wort „beben“ hin in einen großen Septsprung übergeht, dem bei den restlichen Worten des fünften Verses eine langsame chromatische Fallbewegung folgt.


    Noch zwei Mal verfällt die ansonsten sich so ruhig-narrativ bewegende melodische Linie in einen von den lyrischen Erinnerungen generierten expressiven Ton. Bei dem Septsprung zu dem Wort „leis“ (6.Vers) hin, den das Klavier mit „pppp“ artikulierten Sechzehntel-Figuren im tiefen Bass kommentiert, und bei der lang gedehnten Bogenbewegung auf dem Wort „augen“ (7.Vers). Und weil die am Ende dieses Verses bei den Worten „augen rannen“ triolisch fallende, sich noch einmal in kleinem Sekundschritt erhebende und danach erneut fallende melodische Linie gar zu viele tief bewegende Erinnerungen transportiert, muss das Klavier kommentierend noch einmal zu seinen aus einem lang gehaltenen dissonanten Akkord („A-F-H-E-Gis“) in die Tiefe stürzenden Sechzehnteln übergehen.


    Im mit dem Wort „So“ eingeleiteten letzten Vers kommen die Erinnerungen zur Ruhe. Die melodische Linie reflektiert dies mit der Rückkehr in die tiefe Lage und zwei gleich gearteten gedehnten Terzfall-Bewegungen bei den Worten „lang zu seiten“. Das Klavier hat dazu nur noch lang gehaltene und am Ende wieder in extrem hohe Diskantlage aufsteigende Oktaven über abgrundtiefen Einzeltönen im Bass beizutragen.

  • Das ist ein Lied, in dem die lyrische Andeutung, die Scheu vor dem direkten, unmittelbaren sprachlichen Benennen der Dinge, das Ausweichen in die Frage gar, auf beeindruckende Weise zu Musik geworden ist. Das lyrische Ich vergegenwärtigt sich die Begegnung mit der Frau „hinter dem beblümten Tore“ und reflektiert dieses Ereignis in der für diesen ganzen Zyklus so typischen monologischen Form. Es fragt sich, ob das Wenige, was da geschah, - das stumme Nebeneinander-Stehen, das Verspüren des eigenen „Hauchens“ dabei und die leise Berührung, mehr war es ja nicht – nur „erdachte Seligkeiten“ waren.


    Dass es darauf keine Antwort gibt, entspricht der Vagheit all dessen, was da lyrisch gesagt wird. Der Begegnung zwischen Du und Ich geht die emotionale Bindekraft einer auf sinnlicher Liebe basierenden Zweierbeziehung, wirklicher menschlicher Nähe also, ganz und gar ab. Es sind wohl zwei unendliche Einsame, aus den Fesseln ihrer Individuation nicht herausfinden Könnende, die sich hier begegnen. Die lyrischen Bilder von den „zwei Rohren“ und dem „Rinnen der Augen“ machen das auf eindrucksvolle Art sinnfällig. Es ist ja doch höchst bemerkenswert, dass nicht vom Spüren des „Hauchens“ des Anderen lyrisch die Rede ist, sondern dem des eigenen.


    Schönbergs Komposition greift all das, ihm darin wahrlich musikalisch voll gerecht werdend, mit dem Gestus des musikalischen Verstummens auf. Der Singstimme kommt die Melodik abhanden. Sie rafft sich zwar immer wieder einmal zu Aufschwüngen in höhere Lagen und zu melodischen Dehnungen auf, fällt aber dabei alsbald in die deklamatorische Haltung zurück, mit der sie im Lied einsetzte: Es eine genuin rezitativische, den lyrischen Text in syllabisch exakter Weise auf tiefer tonaler Lage deklamierende. Die melodischen Dehnungen, die sich dabei ereignen, sind, wie sich das beim ersten Vers bei den Worten „Tore“ und „endlich“ zeigt, in ihrem Wesen nur Akzentuierungen. Anders ist das bei den wenigen sprunghaften Fallbewegungen und Aufstiegen in höhere Lagen. Sie ereignen sich dort, wo sich in die Vergegenwärtigung des „Geschehens“ die damit verbundenen Emotionen einstellen: Bei den Worten „das eigne Hauchen spürten“, „erdachte Seligkeiten“, „schwache Rohre“ und „wir leis nur an uns rührten“.


    Die Bewegung der melodischen Linie in diesem letzten Fall ist aber ganz typisch für dieses Lied. Sie setzt mit einem in tiefer Lage beginnenden Septsprung zu dem Wort „leis“ hin ein und sinkt dann wieder in tiefe, den Ausgangspunkt sogar unterschreitende Tonlage ab. Dies alles im dreifachen Piano. Und typisch ist auch das Verhalten des Klaviers an dieser Stelle. Es lässt – wie im ganzen Lied – das lyrische Ich weitgehend allein in seinem einsamen, monologisch-stillen Versinken in die Vergegenwärtigung und Reflexion einer stummen Begegnung mit dem Du. Hier, zur Deklamation dieser Worte, hat es nichts anderes beizutragen als eine in hoher Diskantlage verklingende, weil längst vorher angeschlagene Oktave und einen „pppp“ artikulierten Quartsprung von zwei Tönen im tiefen Bass.

  • Stefan George: „Wenn sich bei heilger ruh in tiefen matten“


    Wenn sich bei heilger ruh in tiefen matten
    Um unsre schläfen unsre hände schmiegen,
    Verehrung lindert unsrer glieder brand:
    So denke nicht der ungestalten schatten,
    Die an der wand sich auf und unter wiegen,
    Der wächter nicht, die rasch uns scheiden dürfen,
    Und nicht, dass vor der stadt der weiße sand
    Bereit ist, unser warmes blut zu schlürfen.



    Arnold Schönberg: „Das Buch der hängenden Gärten op.15“, Lied 12

    Dieses Lied, das im März 1908 entstand, lebt musikalisch ganz aus der Gegenwart der sinnlichen Vereinigung, - der „glieder brand“, wie das der lyrische Text artikuliert, in dem zugleich das Wissen um die Vergänglichkeit dieser erfüllten Gegenwart seinen Ausdruck findet. Die melodische Linie der Singstimme reflektiert dies mit einem deklamatorischen Gestus, bei dem man aus der Ruhe, in der sich die melodische Bewegung vollzieht, untergründig eine tiefe Erregung herauszuhören meint. Und das Klavier greift diese auf und verleiht ihr mit einem klanglich hochkomplexen, bewegten und modulatorisch schroff dissonanten Gebaren Ausdruck.


    Schon das fünftaktige Vorspiel verweist in seiner ambivalenten Klanglichkeit auf die tiefgreifende innere Erregung, die im weiteren Verlauf des Liedes in der melodischen Linie als Medium des lyrischen Ichs artikuliert wird. Es setzt mit einem Akkord aus den Tönen „D-A-F-H-E“ ein, wobei das „E“ dann nach „Fis“ rückt. Danach folgen fünf weitere dissonante Akkorde in harmonischer Rückung, und über eine rhythmisierte Folge von Achteln im oberen Diskant wird zum Einsatz der Singstimme übergeleitet. Die melodische Linie, auf der der erste Vers silbengetreu deklamiert wird, fällt langsam wellenartig von einem hohe „E“ zu einem tiefen „D“ ab. Auf dieser tiefen tonalen Ebene verbleibt sie beim zweiten Vers, wobei die Worte „schläfen“ und „hände“ mittels Dehnungen hervorgehoben werden. Die melodische Dehnung auf „hände“ ist besonders ausdrucksstark, weil sie in Gestalt eines doppelten verminderten Sekundfalls erfolgt.


    Beim dritten Vers bewegt sich die melodische Linie ein wenig langsamer und greift in ihrer bogenförmigen Anlage bis zu einem „Ais“ in mittlerer Lage aus. Aber auch hier werden die lyrisch relevanten Worte „verehrung“ und „glieder brand“ mittels Dehnungen mit einem besonderen Akzent versehen, wobei der zweite wegen einer eingelagerten triolischen Fallbewegung mit nachfolgendem vermindertem Terzsprung wiederum besonders expressiv wirkt.


    Eine fast zweitaktige Pause für die Singstimme folgt nach. Das Klavier, das die melodische Linie bislang mit einer Kombination aus gehaltenem Akkord und daraus hervorgehenden Achtel-Figuren begleitete (man kennt sie aus dem Vorspiel), lässt nun unmittelbar vor dem nächsten Einsatz der Singstimme drei wie Fanfarenstöße wirkende Akkorde aus den Tönen „D-Ais-Cis“ in hoher Diskantlage erklingen. Danach agiert es im zweiten des Liedes (ab Vers 4) deutlich lebhafter und expressiver, - mit in hohe Lage ausgreifenden akkordischen Bewegungen in Kombination mit Sechzehntel- und Achtelfiguren in Bass und Diskant. Auch die Vokallinie durchschreitet nun größere tonale Räume, und dies in Gestalt von Aufstiegsbewegungen, die in silbengetreuer Deklamation innerhalb eines Wortes erfolgen und in Dehnungen münden oder in Stürze über ein größeres Intervall. Die gesteigerte Expressivität, die in die melodische Linie durch diese Formen ihrer Bewegung und Entfaltung kommt, ist unüberhörbar der musikalische Reflex der imperativischen Mahnungen, die Inhalt dieser Verse sind.


    Hochgradig expressiv wirkt die aus einer Dehnung hervorgehende Aufstiegsbewegung bei dem Wort „ungestalten“, die dann in einen extrem lang gedehnten Sekundfall in hoher Lage bei dem Wort „schatten“ übergeht. Bei den Worten „sich auf und unter wiegen“ bildet die melodische Linie mit dem verminderten Septfall zwischen zwei Sekundanstiegen das lyrische Bild gleichsam ab. Die Aussage des nächsten (sechsten) Verses schlägt sich ebenfalls in der Struktur der Vokallinie nieder. Bei den Worten „wächter nicht“ beschreibt sie eine aus einer Dehnung hervorgehende Fallbewegung, vollzieht zu dem Wort „rasch“ hin einen verminderten Septsprung und stürzt nach einer Dehnung auf diesem Wort bei „uns scheiden dürfen“ über einen kleinen Septfall, der sich in Sekunden fortsetzt, auf ausdrucksstarke Weise in tiefe Lage ab. Das Klavier kommentiert dies in einer eintaktigen Pause der Singstimme mit einem wellenartig verlaufenden Sturz von Sechzehnteln und Zweiunddreißigsteln aus dem Diskant in die Tiefe des Basses.


    Im dreifachen Piano ist die melodische Linie der beiden letzten Verse vorzutragen. Mit einem behutsam gedehnten verminderten Terzsprung aus tiefer Lage bei den Worten „Und nicht“ setzt sie ein. Danach beschreibt sie bei den Worten „dass vor der stadt der weiße sand“ eine triolisch gebundene Bewegung auf und ab, die das Klavier mit einem lang gehaltenen Akkord aus den Tönen „D-A-Cis“ und einer Achtelfigur im Bass begleitet. Danach bewegt sie sich beim letzten Vers ruhiger in Sekundschritten im engen Raum einer Quarte um den Ton „G“, bzw. „Gis“ herum bis zu dem Wort „schlürfen“. Bei diesem beschreibt sie einen triolisch gefüllten verminderten Terzfall und versinkt damit im Klaviersatz, der die Fallbewegung im Bass bis zu einem abgrundtiefen „C“ fortsetzt, - unter einem lang gehaltenen Akkord aus den Tönen „Ces-G-H“ im Diskant.

  • Die Vorstellung und Besprechung dieses Liedes leitete ich mit den Worten ein: „Dieses Lied (…) lebt musikalisch ganz aus der Gegenwart der sinnlichen Vereinigung, - der >glieder brand<, wie das der lyrische Text artikuliert…“. So ganz sicher bin ich mir aber nicht, ob ich da richtig gehört, gelesen und verstanden habe. Sind die Worte „der glieder brand“ wirklich als lyrische Evokation des Nachklangs einer körperlichen Vereinigung des lyrischen Ichs mit der geliebten Frau, als Liebeserfüllung also, zu interpretieren? Und was sagt die Liedmusik dazu? Wie hat Schönberg dieses Gedicht gelesen und in seiner Aussage verstanden?


    Vielleicht sollte der lyrische Kontext beachtet werden, in dem diese Worte stehen. Es heißt: „verehrung lindert unsrer glieder brand“. Das kann man auch so lesen, dass die Beiden „in tiefen Matten“ beieinander liegen und wechselweise ihre „Schläfen“ in die Hände betten, eine wirkliche körperliche Vereinigung davor aber nicht stattgefunden hat. Die „Gliede brennen“ zwar, aber die „Verehrung“, die das lyrische Ich der Frau entgegenbringt und von ihrem Wesen her Distanz schaffend wirkt, schließt den Vollzug der körperlichen Vereinigung aus. Ich denke, dass diese Interpretation vielleicht dem lyrischen Text in seiner Einbindung in den gesamten Zyklus und dem darin lyrisch gestalteten Verhältnis des lyrischen Ichs zur Frau eher gerecht wird. Und Schönbergs Liedmusik vernehme ich als Bestätigung dieser Auffassung.


    Das Lied ist ja in seinem klanglichen Charakter in bemerkenswerter Weise zweigeteilt. Zunächst, bei den ersten drei Versen, geht von der Liedmusik große Ruhe aus. Die melodische Linie der Singstimme bewegt sich in ruhigen deklamatorischen Schritten in tiefer Lage, und das Klavier begleitet sie darin mit lang gehaltenen Akkorden, aus denen sich erst beim Bild von den sich um die Stirn schmiegenden Händen erstmals Achtel-Bewegungen lösen. Eine erste Steigerung der Expressivität kommt in die melodische Linie bei dem Wort „Verehrung“. Dies in Gestalt eines mit einem Crescendo verbundenen und eine Dehnung in mittlerer tonaler Lage mündenden verminderten Quartsprungs. Danach geht die melodische Linie bei den Worten „unsrer Glieder Brand“ nach einen kurzen Auf und Ab in Sekunden in eine Fallbewegung über, die am Ende, nach einem Terzsprung, in eine Dehnung mündet, der eine fast zweitaktige Pause folgt. Das Klavier greift das Bild vom „Brand der Glieder“ mit einer klanglich aus dem bisherigen Klaviersatz herausragenden Folge von forte angeschlagenen, mit Terzen gefüllten Septim-Akkorden auf.
    Diese lyrische Aussage, nicht also das, was lyrisch zuvor angesprochen wird, trägt den ersten musikalischen Akzent in diesem Lied.


    Seinen eigentlichen Schwerpunkt hat es aber in den Versen, die von der Gefährdung dieser Liebesbeziehung sprechen, - von den „Schatten“ an der Wand, den „Wächtern“ und vom „weißen Sand“, der vor der Stadt „bereit ist“, das „warme Blut“ der Beiden zu „schlürfen“. Hier beschreibt die melodische Linie, die sich zuvor nur ruhig in tiefer Lage bewegte und sich bei dem Bild von der „Glieder Brand“ nur gerade mal in mittlere vorwagte, hintereinander gleich mehrere, geradezu heftige und in Dehnungen mündende Aufstiege in hohe Lage: Bei den Worten „ungestalten Schatten“, „an der Wand“, „der Wächter“ und „die rasch“. Und wie eine eminente Steigerung der darin sich artikulierenden melodischen Expressivität wirkt dann der über einen verminderten Septfall erfolgende Absturz in sehr tiefe Lage bei den Worten „uns scheiden dürfen“, den das Klavier in der nachfolgenden eintaktigen Pause für die Singstimme mit einer z.T. quintolischen Sturzbewegung von Sechzehnteln und Zweiunddreißigsteln aus dem Diskant in den tiefen Bass fortsetzt.


    Schönberg, dessen liedkompositorische Intention ja doch die expressive interpretatorische Auslotung der George-Lyrik in all ihren semantischen Dimensionen ist, legt den musikalischen Schwerpunkt bei diesem Gedicht also auf die spezifische Eigenart und die innere Gefährdung der Liebesbeziehung, und nicht auf ihre Erfüllung in einem Akt, der möglicherweise gar nicht stattgefunden hat, weil der lyrische Text ihn ja nicht direkt anspricht. Er erweist sich auch darin – wieder einmal – als sorgfältiger und sich tief einfühlen könnender Leser der Lyrik Georges.

  • Zwei Fragen sind es, die im Zentrum dieser Betrachtung von Schönbergs Lied-Werk stehen: Die nach seinem kompositorischen Umgang mit dem lyrischen Text und jene andere, noch gravierendere nach den Gründen für das Verlassen der traditionell tonalen Liedsprache. Dieses Lied liefert, wie mir scheint, wieder einmal gute Ansatzpunkte dafür, einer Antwort ein wenig näher zu kommen. Aus diesem Grund noch einmal ein Blick darauf. Er richtet sich die Liedmusik der letzten beiden Verse:
    „Und nicht, dass vor der stadt der weiße sand
    Bereit ist, unser warmes blut zu schlürfen.“
    Sie sind in der streng metrischen Regulierung eines fünffüßigen Jambus eingebunden in das die vorangehenden Verse syntaktisch einleitende „So denke nicht…“.


    Das erste, was hinsichtlich des Umgangs von Schönberg mit der lyrischen Sprache Georges ins Auge fällt, ist: Er sprengt sowohl die syntaktische Struktur der lyrischen Sprache, als auch deren metrisch strenge geregelte Rhythmik auf. Diese beiden Verse hebt er von den vorangehenden dadurch ab, dass er die melodische Linie nach den Worten „uns scheiden dürfen“ mit einer Pause von einem Takt unterbricht und im Klavier eine vom Diskant atonal in die Tiefe des Basses fallende Kette von Sechzehnteln und quintolischen Zweiunddreißigsteln erklingen lässt. Dadurch wird diesen Schlussversen ein besonderes Gewicht verliehen. Und das haben sie ja eigentlich auch, - von der Expressivität des lyrischen Bildes her: Dem farblichen Kontrast „weißer Sand“ und „(rotes) Blut“.


    Diese Expressivität des lyrischen Bildes ist für den im Grunde aus einer expressionistischen Grundhaltung an die lyrische Sprache Georges herangehenden Schönberg nicht nur Anlass, die melodische Linie durch die Einlagerung von vielerlei Dehnungen (besonders bemerkenswert die bei der der Konjunktion „daß“ und dem Hilfsverb „ist“) und triolisch geführten Fallbewegungen ( „vor der stadt der“, „unser“ („warmes blut“) und „schlürfen) in die sprachliche Metrik verstörende rhythmische Unruhe zu versetzen, sie ist auch der Grund dafür, die Tonalität der Liedsprache für unzureichend zu halten und das Prinzip der „Emanzipation der Dissonanz“ zum Einsatz zu bringen.


    Die melodische Linie bewegt sich hier in atonaler Harmonisierung. Das macht ihre Aufgipfelung bei den Worten „vor der Stadt“, das nachfolgende wellenartige Sich-Bewegen in tiefer Lage und ihr Ende bei der lyrisch so hochgradig expressiven Wortbildung „Blut schlürfen“ klanglich so eindringlich. Eindringlich deshalb, weil sie in ihrer Harmonisierung tief verstörend wirkt und zugleich darin als dem lyrischen Text in seiner Aussage und Metaphorik zutiefst angemessen.


    Könnte man dieses letzte Bild des George-Gedichts wirklich mit herkömmlich tonaler Liedmusik klanglich so einfangen, wie Schönberg das hier gelungen ist: Mit dem klanglich höchst verstörenden Herabgezogen-Werden der melodischen Linie, die gerade noch einen vom klanglichen Grummeln der Tonfolge „G-Es-F“ im Klavierbass begleiteten verminderten Quartfall in tiefer Lage zustande brachte, in die nun wirklich abgrundtiefe Atonalität des Basses aus den Tönen „C-Ces-G-H“, der ihr nachfolgt und das Lied beschließt?
    Ich denke nicht.

  • Stefan George: „Du lehnest wider eine silberweide“


    Du lehnest wider eine silberweide am ufer,
    Mit des fächers starren spitzen
    Umschirmest du das haupt dir wie mit blitzen
    Und rollst als ob du spieltest dein geschmeide.
    Ich bin im boot, das laubgewölbe wahren,
    In das ich dich vergeblich lud zu steigen…
    Die weiden seh ich, die sich tiefer neigen
    Und blumen die verstreut im wasser fahren.



    Arnold Schönberg: „Das Buch der hängenden Gärten op.15“, Lied 13

    Dieses Lied, das im Dreivierteltakt steht und „sehr langsam“ vorgetragen werden soll, entstand am 27. September 1908. Der lyrische Text lässt in seinen Bildern die Möglichkeit einer Trennung der Liebenden aufblitzen. Die Musik reflektiert dies mit einer melodischen Linie, die sich in ruhigen, kleinen und durchweg triolisch gebundenen Sprung- und Fallbewegungen entfaltet, in die dann aber vom Klavier her in klanglich leicht verstörender Weise Staccato-Achtel und Sechzehntel im hohen Diskant und bogenförmige Zweiunddreißigstel-Ketten im Bass und Diskant einfallen. Man kann dies durchaus als lautmalerisches Aufgreifen der Bilder des dritten und viertes Verses auffassen: Der das Haupt „umschirmenden“ Blitze des „Rollens“ des Geschmeides.


    Die Verse Georges sind lyrisch evokative Skizze einer Szene. Dazu liefert jeder Vers einen eigenen Beitrag, mit Ausnahme der Verse zwei und drei, die in dieser Funktion eine Einheit bilden. Diesen lyrischen Sachverhalt setzt Schönberg in der Weise musikalisch um, dass er jedem Vers und dem Verspaar zwei und drei je eine Melodiezeile zuordnet und überdies jede davon durch eine Pause von der vorangehenden absetzt und sie damit in ihrer Eigenständigkeit betont. Das kompositorisch Kunstvolle besteht dabei darin, dass die Seelenlage des lyrischen Ichs in einer Weise dimensional ausgeleuchtet werden kann, wie das der lyrische Text nicht vermag.


    Denn jede der Aussagen des lyrischen Ichs hat ja ihr je eigenes Gewicht, das in eben dieser Seelenlage, der Liebe zum Du und der Angst seines Verlusts, gründet. Und indem jede Melodiezeile mit einem eigenen klanglichen Akzent versehen und darin von der anderen abgehoben ist, wird die jeweilige lyrische Aussage in ihrer Bedeutsamkeit verstärkt, wobei dem Klavier eine multifunktionale Aufgabe zukommt, die von der Akzentuierung und Kommentierung bis zur tonmalerischen Illustration reicht.


    Allen Melodiezeilen ist ein gemeinsamer klanglicher Charakter eigen, der darin prägend für das Lied wird. Es ist der Gestus der verhalten-ruhigen deskriptiven Feststellung, der einem wie die Dämpfung einer starken untergründigen Erregung begegnet. Nicht nur das die gesamte Melodik beherrschende Legato weist diese Anmutung auf, es ist auch die Struktur der melodischen Linie selbst. Denn diese neigt dazu, piano von mittlerer tonaler Lage in tiefere abzufallen und dort längere Zeit zu verharren. Aber immer wieder ereignet sich in diesem an sich ruhigen und triolisch gebundenen Legato der Melodik so etwas wie ein deklamatorischer Aufbruch, der in expressive Dehnungen mündet. Er wirkt wie aus dem lyrischen Gestus der Ansprache an das Du generiert und darin von der Erregung getrieben, die der Beziehung zum geliebten Menschen innewohnt.


    In der ersten Melodiezeile beschreibt die Vokallinie zwei aus mittlerer in tiefe Lage chromatisch fallende Bewegungen, deren zweite sich bei dem Wort „ufer“ noch einmal in Gestalt eines Sekundanstiegs mit nachfolgendem vermindertem Sekundfall kurz aufbäumt. Wirkt hier die melodische Linie noch gleichsam einleitend deskriptiv – wobei allerdings bemerkenswert ist, dass sie dies in einer zwar ruhigen, aber fallenden Bewegung tut -, so nimmt sie bei den Versen zwei und drei eine deutlich größere Expressivität an. Und das gilt auch für den Klaviersatz, der bei der ersten Zeile nur aus einem über zwei Takte gehaltenen Akkord aus den Tönen „Ces-E-G-H-F“ besteht. Bei den Worten „Umschirmest du das haupt dir“ steigt die Vokallinie aus tiefer Lage in verminderten Sekund- und Terzschritten zu einem „C“ in mittlerer Lage empor und beschreibt zu dem Wort „dir“ hin eine gedehnte Sekundfall-Bewegung.


    Auch die Worte „wie mit blitzen“ werden auf einer triolisch gebundenen und in kleinen Sekunden in Verbindung mit einer verminderten Terz gedehnt fallenden Linie deklamiert. Ihr wohnt die Anmutung einer gedämpften Schmerzlichkeit inne. Bei dem Bild von des „Fächers Spitzen“ artikuliert das Klavier ein Auf und Ab von in hoher Lage staccato angeschlagenen Sechzehnteln, und das Bild vom mit Blitzen verhüllten Haupt wird mit in Diskant und Bass fallenden und wieder steigenden Zweiunddreißigstel-Ketten begleitet. Beim nächsten Vers („und rollst als ob..“) geht das Klavier aber wieder zu einem lang gehaltenen Akkord über, und auch die Singstimme nimmt mit dem Auf und Ab von Achteln und Sechzehnteln einen ruhigeren Ton an.


    Mit dem fünften Vers wandelt sich die lyrische Perspektive. Das lyrische Ich spricht von sich selbst, und das bringt auch einen Wandel in Melodik und Klaviersatz mit sich. Bis zu den beiden letzten Versen, in denen die Perspektive wieder auf das Du gerichtet ist, besteht der Klaviersatz nun aus der von starker Chromatik geprägten Bewegung von Akkorden, die durch Pausen unterbrochen ist und aus der Kombination von länger gehaltenen und überleitenden Sechzehntel-Figuren besteht. Die melodische Linie weist eine wellenartige Struktur auf. Sie bewegt sich in silbengetreuer Deklamation in tiefer Lage, aus der sie sich nur kurz erhebt, um über einen verminderten Quart- oder Terzsprung ein wichtiges lyrisches Wort mittels einer Dehnung zu akzentuieren. So bei den Worten „vergeblich“, „steigen“ und „weiden“. Besonders ausdrucksstark wird die Vokallinie dann aber wieder bei den Worten „tiefer neigen“. Sie werden auf einer bogenförmig sich neigenden melodischen Linie deklamiert, die mit einem verminderten und nachfolgend in eine Dehnung übergehenden Quartsprung einsetzt und schließlich auf einem tiefen „Cis“ endet.


    Die melodische Linie des letzten Verses mutet in der Art ihrer deklamatorischen Bewegung müde an. Der tonale Raum, in dem diese sich ereignet, ist eng: Eine Quinte in tiefer Lage. Die Vokallinie wirkt darin wie niedergedrückt. Auf einen einfachen Sekundfall folgt ein zweifacher, wobei das Wort „blumen“ einen Akzent durch einen gedehnten Sekundanstieg erhält. Auch das Wort „wasser“ wird melodisch hervorgehoben, - durch einen gedehnten kleinen Sekundfall. Die melodische Linie endet aber mit einem kleinen Sekundanstieg bei dem Wort „fahren“. Darin wiederholt sich noch einmal, was eine Eigenart der Melodik in diesem Lied darstellt. Bei aller Abwärtstendenz enden viele Melodiezeilen mit einem aufwärts gerichteten Schritt, der freilich eine Terz nicht überschreitet, Drückt sich darin so etwas wie Hoffnung des lyrischen Ichs auf Fortdauer der Beziehung zum geliebten Du aus?


    Wie auch immer: Das Klavier greift im Nachspiel das Bild von den im Wasser verstreuten Blumen mit einem repetierenden triolischen Auf und Ab von Achteln im Intervall einer Terz auf.

  • Dieses Lied enthält tonmalerische Elemente. Der Klaviersatz reflektiert in klanglich sehr markanter Weise die lyrischen Bilder der ersten vier Verse: Das von „des Fächers starren Spitzen“, die das Haupt der Frau „wie mit Blitzen umschirmen“ und das andere vom „Rollen des Geschmeides“. Im ersten Fall geschieht das mit staccato artikulierten, triolisch in den hohen Diskant ausgreifenden Sechzehntel-Figuren, im zweiten Fall mit klanglich wie ein „Rollen“ anmutenden gegenläufigen Zweiunddreißigstel-Ketten in Bass und Diskant.


    Das ist bemerkenswert, denn man begegnet in diesem Liederzyklus tonmalerischen Elementen zwar hie und da einmal in kleinen Formen, sie prägen die Liedsprache aber in keiner Weise so stark, wie das hier in gleichsam singulärer Weise der Fall ist. Schönberg scheint Tonmalerei regelrecht gemieden zu haben, denn dort, wo sie in der Tradition des Klavierliedes gerne eingesetzt wird, bei Versen, die naturhafte Landschaft in Gestalt lyrischer Bilder evozieren, wie das in dem Gedicht der Fall ist, das Lied zehn zugrundeliegt („Das schöne beet betracht ich mir im harren“), findet man sie nicht.


    Natürlich sucht man als einer, der sich als Hörer mit diesem Zyklus reflexiv auseinandersetzt, nach den Gründen dafür, dass Schönberg bei der Vertonung dieses Gedichts in so umfangreicher Weise tonmalerische Elemente iin den Klaviersatz eingebracht hat. Ich denke, dass sich das aus seiner eminent kompositorisch-expressionistischen Haltung im Umgang mit den lyrischen Texten Georges erklären lässt. Die setzt ja von ihrer ganzen Intentionalität nicht an deren metaphorischer Ebene an, sondern an den sich in dieser zum Ausdruck bringenden, also sich ihrer gleichsam bedienenden monologischen Reflexion des lyrischen Ichs. Das erklärt auch, warum sich im zehnten Lied Tonmalerei nicht findet: Es geht hier schließlich nicht um das „schöne Beet“, sondern um die Gedanken und Emotionen des lyrischen Ichs bei der Wahrnehmung desselben.


    Das Gedicht „Du lehnest wider eine Silberweide“ weist in seiner lyrisch-sprachlichen Gestalt eine auffällige Zweiteilung auf. Seine acht Verse gliedern sich in zwei Gruppen zu jeweils vieren: Die erste Gruppe wird mit dem Personalpronomen „Du“ eingeleitet, die zweite mit dem Pronomen „Ich“. Das lyrische Ich und sein „Du“ stehen einander in einer deutlich ausgeprägten – und vielleicht schon das Ende ihrer Beziehung andeutenden – Distanz gegenüber: Es lud die Frau vergeblich dazu ein „ins Boot zu steigen, in dem es selbst sich aufhält. Diese Distanz ist zwar vordergründig eine nur räumliche, in Wirklichkeit aber eine existenzielle, die Beziehung zwischen Ich und Du unmittelbar betreffende. Und das verleiht der sinnlichen Erscheinung, in der die Frau dem lyrischen Ich in eben dieser Distanz gegenübersteht, mit einem Mal großes Gewicht: Darin konkretisiert sich all das, was ihm von höchstem Wert ist und in diesem Augenblick erfahren wird als etwas, das ihm verloren gehen kann.


    Hier liegt, so scheint mir, letztendlich der Grund dafür, weshalb Schönberg bei diesem Lied Tonmalerei einsetzt. Dessen innerer Aufbau und sein klanglicher Charakter zeigen – wie bei seiner Vorstellung hoffentlich hinreichend detailliert aufgezeigt wurde - das ganz deutlich. Hier begegnet man der Zweiteilung des lyrischen Textes auf musikalischer Ebene in gleichsam klanglich-sinnlich potenzierter Weise noch einmal. Bei der musikalischen Vergegenwärtigung der Frau bewegt sich die melodische Linie der Singstimme in Begleitung von tonmalerischen Elementen durch das Klavier zwar sehr ruhig in zunächst tiefer Lage. Sie entfaltet aber, obgleich ihr Pianissimo beibehaltend, durchaus eine gewisse Expressivität durch das Emporsteigen in mittlere Lage, in der sie sich in Dehnungen ergeht. Das ist anders im zweiten Teil des Liedes. Hier versinkt sie auf höchst beeindruckende Weise im Piano-Pianissimo tonaler Tiefe, - in der Stille der vom Du geschiedenen monologischen Existenz des lyrischen Ichs.

  • Stefan George: „Sprich nicht immer“


    Sprich nicht immer
    Von dem laub,
    Windes raub;
    Vom zerschellen
    Reifer quitten,
    Von den tritten
    Der vernichter
    Spät im jahr.
    Von dem zittern
    Der libellen
    In gewittern,
    Und der lichter,
    Deren flimmer
    Wandelbar.



    Arnold Schönberg: „Das Buch der hängenden Gärten op.15“, Lied 14

    Aus elf Takten nur besteht diese Lied-Miniatur, die im September 1908 entstand und in der letzten Fassung auf März 1909 datiert ist. Knapp eine Minute beansprucht sie im sängerischen Vortrag, - und ist doch alles andere als ein leichtgewichtiges musikalisches Gebilde. Melodik und Klaviersatz verbleiben durchweg im Piano-Bereich, und das Klavier nimmt sich sogar vom vierten Takt an ins dreifache Piano zurück. Aber gerade deshalb, wegen diesem radikalen Sich-Zurücknehmen der Singstimme und des Klaviers, wirken die große tonale Räume durchmessenden deklamatorischen Bewegungen der melodischen Linie und die klanglich figuralen Gebilde im Klaviersatz in hochexpressiver Weise eindringlich. Darin greifen sie den appellativen Charakter des lyrischen Textes auf, der in seiner lyrisch-sprachlichen Zerstückelung Ausdruck einer tiefen Verunsicherung des lyrischen Ichs und zugleich einer eindringlichen Beschwörung der Liebe zum Du ist.


    Wie das Klavier im eintaktigen Vorspiel einsetzt, so begleitet, kommentiert und akzentuiert es die melodische Linie durchgängig. Aus dem tiefen Bass steigen in rhythmisierter Abfolge ein punktiertes Achtel-„C“, ein Sechzehntel-„H“ ein „C“, ein „Es“ und schließlich ein „B“ in den hohen Diskant, und diese Legato-Aufstiegsbewegung mündet in einen Sturz zu einem „C“ in oberer Basslage. Vor dem Einsatz der Singstimme ereignet sich im Klaviersatz eine noch extremere Fallbewegung von einem dreifach gestrichenen „C“ im Diskant zu einem „Ais“ im Bass, von dem aus ein Legato-Sprung zu einem „Fis“ im Diskant hin erfolgt, während die Singstimme die Worte des ersten Verses deklamiert. Und wie das Klavier, so durchmisst auch sie in ihrer weit gespannten Phrasierung große tonale Räume. Weit gespannt ist sie insofern, als sie alle Verse bis auf die letzten drei umgreift. Erst nach den Worten „in gewittern“ macht die Singstimme eine Achtelpause, um danach die Melodiezeile zu deklamieren, die auf den letzten drei Versen liegt. Diese ist allerdings nun von der vorangehenden großen insofern abgesetzt, als sie laut Anweisung mit Ritardando und Portato deklamiert werden soll.


    Der Aussage des letzten Bildes mit dem lyrischen Wort „wandelbar“ wird auf diese Weise besonderes Gewicht verliehen. Die melodische Linie beschreibt bei ihm einen ausdrucksstarken verminderten Sextfall aus einer langen Dehnung auf der ersten Silbe heraus, der danach in einen verminderten Terzsprung übergeht. Das Klavier schweigt fast dazu, denn es lässt „pppp“ nur einen einzigen Ton, ein „H“ im Klavierbass, erklingen. Im kurzen Nachspiel kommentiert es freilich diese so gewichtige lyrisch-melodische Aussage mit einer in den hohen Diskant dramatisch emporsteigenden Zweiunddreißigstel-Kette, die in einen Fall von Oktaven übergeht und darin endet.


    Bei den ersten drei Versen beschreibt die melodische Linie der Singstimme eine rasche Fallbewegung von einem hohen „Es“ zu einem tiefen „Des“, die bei dem Wort „Windes“ in eine wellenartige Bewegung in mittlerer Lage übergeht, - darin also die Semantik dieses Wortes reflektierend. Auch bei dem Bild vom „Zerschellen reifer Quitten“ meint man in der Melodik und im Klaviersatz dessen Gehalt zu vernehmen. Die melodische Linie stürzt in verminderten Quarten ungewöhnlich rasch ab, wobei das Wort „zerschellen“ auf der zweiten und der dritten Silbe dann eine Dehnung in Gestalt eines verminderten Sekundfalls trägt. Zu dem Wort „quitten“ hin beschreibt sie einen verminderten Sextsprung, und wieder kommt nun eine verminderte Sekundfall-Dehnung in sie. Das Klavier begleitet dies mit extremen Sprüngen von Einzeltönen aus dem tiefen Bass zu einer Terz im hohen Diskant.


    Dem Bild von den „tritten der vernichter“ wird ein starker melodischer Akzent verliehen, den das Klavier mit Stürzen von Zweiunddreißigsteln aus dem mittleren in den tiefen Bass begleitet. Auch die melodische Linie vollzieht Sprünge in silbengtreuer Deklamation auf verschiedenen tonalen Ebenen. Das Wort „tritten“ trägt dabei einen melodischen Akzent in Gestalt eines gedehnten verminderten Sekundfalls, und bei „vernichter“ beschreibt die melodische Linie einen verminderten Terzsprung, der in einen gedehnten kleinen Sekundfall übergeht. Auch dieses Wort wird damit also in besonderer Weise hervorgehoben.


    Eine doppelte quartolische Fallbewegung von Sechzehnteln über verminderten Terzen und Sekunden, die das Klavier mit in den hohen Diskant aufsteigenden triolischen Sechzehnteln begleitet, greift das Bild von dem „zittern der libellen“ in ihm melodisch vollkommen gerecht werdender Weise auf. Und bei dem Wort „gewittern“ empfindet man das auch so, denn hier macht die Vokallinie einen auf einem tiefen „Ais“ ansetzenden verminderten Quintsprung, der in einen gedehnten kleinen Sekundfall mündet. Das Klavier lässt hier eine durch eine Pause abgesetzte Figur erklingen, die aus einem in ein „D“ übergehenden Sechzehntel-Akkord aus den Tönen „As-Cis-Es“ besteht. Das ist ein dissonantes Grollen im dreifachen Piano, das diesem lyrischen Wort einen leicht beängstigenden Akzent verleiht. Die „libellen“ fühlen sich bedroht, - und bedroht ist auch die Liebe.


    Über die Melodik der letzten drei Verse wurde schon gesprochen. Wie im ganzen Lied beschreibt die Vokallinie auch hier ein von Dehnungen durchsetztes fließendes Auf und Ab über große tonale Räume. Hier ist es eine Septe. Das Wort „lichter“ trägt darin eine auftaktig eingeleitete lange Dehnung auf einem „C“ in oberer Mittellage, die am Ende durch die schon beschriebene melodische Figur auf dem Wort „wandelbar“ wie musikalisch konterkariert wirkt.

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  • Dieses Lied hat wegen seiner höchst originellen kompositorischen Faktur und der daraus hervorgehenden miniaturhaft-aphoristischen Klanglichkeit das Interesse der Musikwissenschaft auf sich gezogen, - was man auch als Laie gut nachvollziehen kann. Der eine Musikologe meint, es weise eine „textunabhängige“ Struktur auf und sei infolgedessen als eine Befreiung vom „Expressivo“ zu hören und zu verstehen, der andere widerspricht ihm darin (zu Recht, wie mir scheint), und Th. W. Adorno meint gar, es sei „Modell fürs gesamte oeuvre Weberns", - was ich freilich in meiner musikhistorischen und –philosophischen Beschränktheit leider nicht nachvollziehen kann.


    Aber das ist es ja auch nicht, was mich an diesem Lied als sein – musikwissenschaftlich „unbelasteter“ - Hörer so sehr fasziniert: Es ist die Art und Weise, wie Schönberg die so ganz eigenartige lyrisch-sprachliche Struktur dieses George-Gedichts in Musik gesetzt hat. Das Lied begegnet einem, wenn man es sich anhört, nachdem man zuvor das Gedicht laut gelesen hat, wie dessen Wiedergeburt auf der Ebene und im klanglichen Raum der Musik. Wobei diese „Wiedergeburt“ nicht nur eine in neuem Gewand ist, sondern eine in neuer, um viele Dimensionen der künstlerischen Aussage bereicherter Gestalt.


    Georges Gedicht ist eine von ihrer sprachlichen Gestalt her singuläre lyrische Schöpfung in diesem Zyklus. Die einzelnen Verse bestehen durchweg lediglich aus zwei bis maximal drei Worten, wobei ihr lyrisch-sprachlicher Kern immer nur ein Hauptwort ist, die eins bis zwei weiteren Worten sind Pronomina oder vereinzelt Adjektive. Das ist eine sozusagen pointillistische Reihung von lyrischen Bildern, die das Wort „wandelbar“, das, obgleich am Ende stehend, doch das eigentliche Zentrum der poetischen Aussage darstellt, gleichsam metaphorisch konkretisiert und darin in seinem semantischen Gehalt evoziert. Und Schönbergs Liedmusik macht das gleiche, - nur eben auf der Ebene der Musik und mit ihren Mitteln.


    Sie geht allerdings – wie das schon so oft bei den Liedern dieses Zyklus aufzuzeigen versucht wurde – mit ihrem gleichsam expressionistischen Impetus über die konkrete Gestalt der lyrischen Sprache Georges hinaus, - ohne freilich darin deren Semantik zu verfehlen oder gar zu verfälschen. Sie verleiht ihr nur, sie darin bereichernd, zusätzliche Akzente und Dimensionen. Das geschieht über die Strukturierung der melodischen Linie der Singstimme, aber auch – und hier in sehr ausgeprägter Weise – durch den Klaviersatz.


    Dieser macht in seiner Struktur den pointillistischen Auftritt der lyrischen Bilder und Aussagen auf höchst eindrucksvolle Weise klanglich sinnfällig: Mit seinen große tonale Räume durchmessenden Einzeltönen, die sich zwar zu z.T. triolischen Figuren zusammenfinden, dabei aber alle akkordische Verdichtung zu meiden scheinen. Gerade mal vier Akkorde gibt es in der Begleitung der Singstimme, und davon ist nur einer dreistimmig, die anderen beschränken sich auf Bitonalität. Das extrem kurze Nachspiel klingt dann in einem wieder dreistimmigen Akkord aus, - allerdings im vierfachen Piano.


    Darüber hinaus lässt sich das Klavier in seiner die Singstimme begleitenden Funktion auch auf tonmalerische Konkretion einzelner lyrischer Bilder ein: In den drei klanglich tritthaft daherkommenden Sechzehntel-Fallbewegungen C-H, A-As und Ges-F bei dem Wort „Tritten“ und den bei dem Bild vom „Zittern der Libellen“ aus tiefer Basslage zittrig in den extrem hohen Diskant emporschießenden Sechzehnteln. Schon von daher – einmal von der Struktur der melodischen Linie abgesehen – ist mir unerfindlich, wie man hier von strukturell „textunabhängiger“ Musik sprechen kann. Auch das „pppp“ und „molto rit.“ artikulierte Nachspiel mit seiner in extremer Diskantlage aufsteigenden und in einen bitonalen Akkordfall mündenden Zweiunddreißigsteln möchte man eigentlich als nachträgliche klangliche Konkretion der Worte „deren Flimmer wandelbar“ vernehmen und auffassen.

  • Stefan George: „Wir bevölkerten die abend-düstern“


    Wir bevölkerten die abend-düstern
    Lauben, lichten tempel, pfad und beet
    Freudig – sie mit lächeln ich mit flüstern –
    Nun ist wahr, daß sie für immer geht.
    Hohe blumen blassen oder brechen.
    Es erblasst und bricht der weiher glas,
    Und ich trete fehl im morschen gras.
    Palmen mit den spitzen fingern stechen.
    Mürber blätter zischendes gewühl
    Jagen ruckweis unsichtbare hände
    Draußen um des edens fahle wände.
    Die nacht ist überwölkt und schwül.



    Arnold Schönberg: „Das Buch der hängenden Gärten op.15“, Lied 15

    Dieses Lied, das am 28. Februar 1909 entstand, ist unüberhörbar das Finale des Zyklus. Nicht nur aus lyrisch-inhaltlichen Gründen, dem Ende der Liebesbeziehung des lyrischen Ichs zum Du, sondern auch aus gleichsam formalen: Es ist das mit Abstand längste Lied des Opus 15 (5 Minuten im Vortrag), es weist eine dreiteilige Gliederung auf (mit einem langen Vor- und Nachspiel), ein zentrales musikalisches Motiv prägt es, das in kammermusikalischer Art verarbeitet wird, wobei auch die melodische Linie der Singstimme einbezogen ist, und es stellt sich als ein Werk dar, in dem alle musikalischen Ausdrucksmittel des Zyklus in einer auf den Höhepunkt ihrer Expressivität gesteigerten Form zum Einsatz kommen. Von großer Bedeutung ist dabei, dass auch das spezifische Ausdruckspotential der Atonalität in gleichsam exemplarischer Weise präsentiert wird, und zwar dadurch, dass Elemente klassischer Dur-Moll-Tonalität mit in die Komposition einbezogen werden.


    Das zentrale musikalische Motiv des Liedes, das nicht nur seinen klanglichen Charakter prägt, sondern sich auch als wesentliches Element seiner musikalischen Aussage erweist, erklingt schon in den ersten beiden Takten. Über einem Akkord, der aus den Tönen „C-G-H“ gebildet ist und im zweiten Takt in einen aus den Tönen „H-F-A“ übergeht, wobei beide den ganzen Takt gehalten werden, erklingt im Diskant eine aus einem Terzsprung von einem hohen „D“ zu einem „F“ ansteigende und dann zu einem „B“ fallende Linie, die zum zweiten Takt hin einen Sprung zu einem gedehnten „Cis“ beschreibt. Diese Figur weist eine deutliche klangliche Anmutung eines Schmerz-Motivs auf, und eben deshalb wird es zum konstitutiven kompositorischen Element der musikalischen Aussage, wird es doch nicht nur im Vorspiel musikalisch verarbeitet, es beherrscht auch das Nachspiel in gleichsam verbreiterter Form, und die melodische Linie übernimmt es an der zentralen Stelle ihrer lyrischen Aussage: „Nun ist wahr, daß sie für immer geht.“ Und noch etwas ist bemerkenswert und verweist auf den Finale-Charakter des Liedes. Das Motiv ist einem in diesem Zyklus schon einmal begegnet: In Lied 11 erklingt es in den Takten 19 und 20 („und daß unsre augen rannen“).


    Das Vorspiel wirkt klanglich wie eine über vielfältige Modifikationen erfolgende Hinführung des zentralen Motivs zum Einsatz der Singstimme, so dass diese von vornherein in die Schmerzens-Motivik einbezogen ist. Das Motiv sinkt dabei langsam in tiefe Lage ab. Bevor es in Takt 9 noch einmal in seiner Anfangsgestalt auftaucht, erklingen zwei rein tonale Akkorde. In Takt 12 ereignet sich ein Fall zu einem tiefen „Es“ im Bass, und danach setzt die Singstimme ein. Sie deklamiert den ersten Vers unter Einbeziehung des Wortes „Lauben“ am Anfang des zweiten auf einer chromatisch in kleinen Sekunden rasch fallenden melodischen Linie, die aber auf den beiden Silben des Wortes „Lauben“ einen großen Sekundsprung macht. Das Klavier, das gerade noch ein einsames „Des“ im Bass erklingen ließ, schweigt nun völlig. Und das ist auch fast die ganze zweite Melodiezeile über der Fall, die bis zu dem Wort „freudig“ reicht. Hier nun setzt es aber mit aus dem hohen Diskant fallenden Oktaven ein, die über einem dissonanten Akkord im Bass in eine triolische Aufwärtsbewegung von Vierteln in kleinen Sekundschritten übergehen. Dem Wort „freudig“ wird auf diese Weise ein klanglich positiver Akzent verliehen. Das geschieht auch bei dem Wort „lächeln“, das auf einem gedehnten kleinen Terzsprung deklamiert wird, den das Klavier mit einer klanglich tonal wirkenden fallenden Sechzehntel-Quintole begleitet.


    Wenn das Ich von sich selbst spricht („ich mit flüstern“), ändert sich der Ton deutlich. Die melodische Linie beschreibt eine bogenförmige chromatische Fallbewegung in tiefer Lage, die das Klavier in ähnlicher Form nachvollzieht, nachdem es zuvor einen schmerzlich-atonal wirkenden Akkord aus den Tönen „Es-Gis-Cis-Fis“ erklingen ließ. Das Wirkt wie die Überleitung zu der melodischen Linie auf der die lyrisch zentralen Worten „Nun ist wahr, daß sie für immer geht“ deklamiert werden. Sie fällt in silbengetreuer Gestalt von einem hohen „E“ zu einem tiefen „Dis“ ab, wobei die Intervalle teilweise die des Schmerzens-Motivs sind. Auf den Worten „immer geht“ liegt ein leicht gedehnter Terzfall mit nachfolgendem Terzsprung. Eine ganztaktige Pause folgt für die Singstimme, in der diese ungeheuerliche Aussage im Klavier nachklingt. Dieses hat gerade einen lang gehaltenen dissonanten Akkord aus den Tönen „Cis-B-Dis-Fis“ erklingen lassen und artikuliert nun – eben in der Pause der Singstimme – staccato angeschlagene und klanglich spitz wirkende Sextolen aus in hohe Diskantlage aufsteigenden Sechzehnteln.


    Bei den Worten „Hohe blumen blassen oder brechen“ nimmt die melodische Linie in ihrer rasch fallenden, am Ende aber zu dem Wort „brechen“ in einen überraschenden kleinen Oktavsprung übergehenden Bewegung einen fast lakonisch wirkenden Ton an, zumal ihr das Klavier in dieser Fallbewegung mit Oktaven im hohen Diskant folgt. Wie eine sachliche Feststellung wirkt auch die melodische Linie auf den Worten „Es erblasst und bricht der weiher glas“. Sie fällt aus mittlerer Lage bogenförmig in tiefe ab und beschreibt am Ende ein triolisch gebundenes Auf und Ab im tonalen Raum einer kleinen Terz. Danach aber, weil das lyrische Ich wieder von sich selbst zu sprechen beginnt („Und ich trete fehl im morschen gras“), kommt große Expressivität in Melodik und Klaviersatz. Die melodische Linie beschreibt eine weit gespannte, weil aus vielen Dehnungen in kleinen Sekundschritten bestehende bogenförmige Bewegung, die das Klavier mit einer Kombination aus dissonanten Akkorden im Diskant und staccato angeschlagenen Sechzehntel-Figuren im Bass begleitet.


    Bei dem Bild von den „Palmen mit spitzen Fingern“ setzt sich dieses spannungsreich gegensätzliche Klangbild von legato gebundener Melodik und spitzig staccato artikulierten, langsam im Diskant ansteigenden Sechzehntel-Figuren im Klaviersatz fort. Es mündet, während die Singstimme die Worte „fingern stechen“ auf einer aus Dehnungen in einen verminderten Septfall mündenden melodischen Linie deklamiert, in einen wahren Wirbel von fortissimo aus hoher Diskantlage in die Tiefe stürzenden chromatischen Sechzehntel-Figuren.


    „Etwas langsamer“ lautet die Anweisung für die Deklamation der melodischen Linie auf den Worten „Mürber blätter zischendes gewühl“. Sie macht innerhalb des Wortes „zischendes“ einen höchst ausdrucksstarken verminderten Septsprung aus einer Dehnung heraus. Bei den Worten „Jagen ruckweis unsichtbare hände“ bildet sie in den großen Sprüngen auf und ab, die sie hier macht, das lyrische Bild auf musikalisch eindrucksvolle Weise ab, wobei sie das Klavier mit auf und jagenden Sechzehnteln und Zweiunddreißigsteln in Diskant und Bass darin unterstützt. Die bogenförmig chromatisch fallende und am Ende in einen lakonisch wirkenden verminderten Sextsprung mündende Bewegung der melodischen Linie bei den Worten „um des edens fahle wände“ wirkt, auch weil „molto rit.“ Vorgeschrieben ist und das Klavier nur noch eine im Bass fallende Achtel-Kette artikuliert, wie ein Ersterben der Melodik.


    Und tatsächlich folgt eine fast dreitaktige Pause für die Singstimme, die das Klavier mit lang gehaltenen Akkorden füllt, zwischen und unter denen wieder einmal das Schmerzens-Motiv aufklingt. Der letzte Vers wird „molto. rit“ auf einer überaus bedeutungsschwer wirkenden, weil triolisch gebundenen und langsam fallenden melodischen Linie deklamiert. Das Wort „nacht“ trägt dabei eine Dehnung. Und danach geht es nach einem kleinen Sekundsprung in Schritten von kleinen Sekunden abwärts zu dem tiefen und lang gehaltenen „F“, das auf dem Wort „schwül“ liegt.


    Melodisch ist dies das Ende. Es ist ein schmerzliches, weil die melodische Linie zu dem letzten Wort hin noch einmal einen verminderten Sekundanstieg beschreibt, den das Klavier mit einer dissonanten akkordischen Fallbewegung begleitet. Mit einem achtzehntaktigen Nachspiel kommentiert das Klavier dieses Ende. Das tut es, indem es zunächst die melodische Linie auf den letzten Worten, in der ja das Schmerzens-Motiv wieder aufgeklungen ist, wiederholt. In den nachfolgenden Modifikationen desselben entsteht ein höchst ausdrucksstarker Gegensatz zwischen der langsamen Ausdünnung des Klaviersatzes und der sich bis zum dreifachen Fortissimo steigenden Dynamik, mit der er schließlich in abgründiger Tiefe versinkt.

  • In vielerlei Hinsicht ist dies ein den zyklischen Charakter der Lieder des Opus 15 gleichsam bestätigendes und ihn darin konstituierendes Schlusslied: Nicht nur im Gehalt des zugrundliegenden lyrischen Gedichts, seiner zentralen Aussage „Nun ist wahr, daß sie für immer geht“ also, sondern auch in seiner kompositorischen Faktur. Tritt es dem Hörer doch in seiner klanglichen, so ungewöhnlich umfangreichen Gestalt gegenüber wie eine Verkörperung des kompositorischen Geistes dieses Zyklus in einer hochgradig verdichteten, alle seine verschiedenen Erscheinungsformen in den einzelnen Liedern reflektierenden und darin alles zusammenfassenden Form.


    Man begegnet in diesem Lied – und das macht es so faszinierend – der in ihrer Entwicklung vollendeten Liedsprache Schönbergs in einer gleichsam exemplarischen, weil alle wesentlichen klanglichen und strukturellen Elemente umfassenden Gestalt:
    - dem expressionistischen Gestus des kompositorischen Zugriffs auf die dem Geist des Jugendstils wesenhaft verpflichtete Lyrik Georges;
    - der für die Liedsprache so typischen, im vereinzelten Rückgriff auf die Tonalität sich manifestierenden und letztendlich der Auseinandersetzung mit dem lyrischen Text geschuldeten Zögerlichkeit in der Umsetzung des Prinzips „Emanzipation der Dissonanz“;
    - der gleichsam radikalen, weil damit die Prosodie der lyrischen Sprache ignorierenden, ja sie regelrecht sprengenden Ausrichtung der melodischen Linie auf das Erfassen von Semantik und Metaphorik;
    - dem komplexen Zusammenspiel einer intentional wortorientierten melodischen Linie und eines ganz und gar eigenständigen, im Zusammenspiel mit dieser hochgradig multifunktional ausgerichteten Klaviersatzes.


    Und dies alles in einer klanglichen Gestalt, die auf dem Hintergrund dessen, was in diesem Zyklus liedmäßig vorausgegangen ist, geradezu kammermusikalisch anmutet. Das gar nicht mal so sehr vom quantitativen Aspekt, dem Umfang des Liedes her, vielmehr angesichts der Tatsache, dass Schönberg die Struktur des Liedes auf einem musikalischen Motiv aufbaut, das er mit seinen Variationen in einer sowohl die Melodik, wie auch den Klaviersatz klanglich prägenden Form einsetzt und ihm damit eine gleichsam musikalisch identitätsstiftende Funktion zuweist.


    Th. W. Adorno spricht mit Blick auf dieses Lied gar von einem „quasi symphonischen Finale“ und meint, diesen gedanklichen Ansatz hinsichtlich seiner Einschätzung als liedkompositorisches Werk fortsetzend, dass von ihm „wohl zu sagen wäre, daß es den nicht minder symphonischen Schlußgesang aus Beethovens Ferner Geliebten so zurücknimmt wie Adrian Leverkühn die Neunte Symphonie.“


    Dieser Vergleich scheint mir freilich, so faszinierend geistvoll er (wie so oft bei Adorno) daherkommt, ein wenig weit hergeholt, - wenn nicht gar unangebracht.
    Von Adrian Leverkühn einmal abgesehen:
    Beethovens Zyklus ist kompositorisch-konzeptionell von einem ganz und gar anderen Geist geprägt. Die zyklische Gestalt geht bei ihm aus einem der musikalischen Gattung der Sonate verpflichteten, und darin seine innere Gliederung und seinen zyklischen Charakter generierenden kompositorischen Ansatz hervor. Und demgemäß darf man – wie Adorno das tut – vom letzten Lied desselben sehr wohl als von einem „symphonischen Schlußgesang“ sprechen.
    Der zyklische Charakter von Schönbergs „Buch der hängenden Gärten“ gründet aber in gar keiner Weise aus der die innere Einheit stiftenden Struktur der Musik. Er erwächst ausschließlich aus deren Aussage, wie sie sich im einzelnen Lied in der kompositorischen Auseinandersetzung mit dem lyrischen Text konstituiert. Und er ist, wie mir scheint, darin von einem zwar sehr spät daherkommenden, aber eigentlich immer noch romantischen liedkompositorischen Ansatz geprägt.

  • Dem vom Klangbild des romantischen Klavierliedes herkommenden Hörer dürfte der atonal harmonisierte und in der Deklamation stark rezitativisch ausgerichtete melodische Gestus dieser Lieder in der ersten Begegnung mit ihnen befremdlich erscheinen. Gut erinnere ich mich an meine eigenen diesbezüglichen Erfahrungen, als ich diesen Zyklus in der 1972 bei CBS erschienenen Interpretation durch Ellen Faull, Helen Vanni, Donald Gramm , Cornelis Opthof und Glenn Gould am Flügel zum ersten Mal hörte. Der kleine Schock, der sich da einstellte, führte dazu, dass ich die Kassette erst einmal liegen ließ. Als ich mich nach mehr als einem Jahr wieder an diese Lieder heranwagte und nun sorgfältig hinhörte, lernte sie alsbald verstehen, ja sogar schätzen und lieben.


    Schönberg war sich der Tatsache bewusst, dass er mit dieser neuen Liedsprache auf Unverständnis, ja Ablehnung stoßen würde, sah sie aber als Ausdruck eines neuen „Ausdrucks- und Formideals“, das ihm schon lange vorschwebte und das er nun endlich verwirklicht hatte. Er war sich bewusst, dass er damit „die Schranken einer vergangenen Ästhetik durchbrochen“ hatte, sah darin nicht aber einen wirklichen Bruch mit eben dieser Ästhetik, sondern eine Weiterentwicklung derselben.


    Früh wandte sich schon gegen den Begriff „Atonalität“, der in der Diskussion über ihr Wesen aufkam. Er meinte:
    „Der Ausdruck atonal dürfte übrigens auch nicht als ernstzunehmender Ausdruck zu gelten haben, weil er als solcher nicht entstanden ist, sondern von einem Journalisten zur übertrieben aggressiven Charakteristik dem Ausdruck >amusisch< nachgebildet wurde.“
    In seiner „Harmonielehre“ führt er dazu aus:
    (Tonale Beziehungen) „mögen dunkel und schwerverständlich sein, unverständlich sogar. Aber atonal wird man irgend ein Verhältnis von Tönen sowenig nennen können, als man ein Verhältnis von Farben als aspektral oder akomplementär bezeichnen dürfte.“


    Unter diesem Aspekt wären die Lieder aus dem „Buch der hängenden Gärten“ zu hören und zu verstehen als Weiterentwicklung der Liedsprache des romantischen Klavierliedes in der Absicht, ihr neue Ausdrucksmöglichkeiten zu erschließen. Das „Neue“ wäre dann – so würde ich es deuten – der Versuch, die klangliche Substanz von Musik, das also, was der einzelne Ton zu bewirken vermag, dadurch umso stärker zur Geltung zu bringen, dass er von der Einbindung in ein tonales System gelöst wird und sich auf diese Weise frei entfalten kann, - im Sinne einer allumfassenden musikalischen Auslotung der Aussage des lyrischen Textes.


    Auffällig und bemerkenswert erscheint mir, dass sich die metrische Strenge der lyrischen Texte Georges nicht in der melodischen Struktur der Lieder niederschlägt. Deren musikalische Sprache begegnet einem eher als eine klangliche Auslotung des lyrischen Wortes im Kontext der Bekenntnisse eines lyrischen Ichs, was dieser Gedicht-Zyklus in seinem Wesen ja darstellt. Das retrospektive Sich-Aussprechen eines Liebenden in seiner Begegnung mit dem Du unter Einbeziehung der Garten-Metaphorik will die Musik Schönbergs musikalisch erfassen. Diese kompositorische Aussageabsicht prägt die Struktur der melodischen Linie und ihre atonale Harmonisierung in maßgeblicher Weise und fügt so dem lyrischen Text eine weitere Aussagedimension hinzu.


    Wenn (wie ich der Schönberg.-Biographie von Eberhard Freitag entnehme) Karl Heinrich Ehrenforth in seiner 1963 erschienen Studie über diesen Zyklus von einem „märchenhaften, dem Irdischen entrückten“ Geheimnis spricht, „das dennoch dem Wort eine fast paradoxe Helligkeit und Klarheit läßt“, so scheint mir damit die spezifische Eigenart und die liedkompositorische Bedeutung dieses Werkes auf höchst treffende Weise zum Ausdruck gebracht zu sein.


    Die atonale Klanglichkeit dieses Liederzyklus fängt die in subtile Gartenbilder gebettete und darin von einer eigenartigen Spannung zwischen tiefer sinnlicher Erregung und dezenter Zurückhaltung geprägte, und deshalb seltsam unbestimmt bleibende lyrische Aussage in einer Weise ein, wie das – wie ich meine - kaum eine andere Harmonisierung der melodischen Linie zu leisten vermöchte. Wobei die von Schönberg intendierte und konsequent gehandhabte Ausrichtung auf das lyrische Wort diesem in der - bei aller zuweilen zutage tretenden Expressivität - doch letzten Endes geheimnisvoll-vage bleibenden Klanglichkeit von Melodik und Klaviersatz seine semantische Substanz bewahrt und zur Geltung kommen lässt.

  • Das Werk wurde am 14. Januar 1910 im Wiener „Verein für Kunst und Kultur“ (das ist der ehemalige „Ansorge-Verein“, der sich auf Dehmels Empfehlung hin so umbenannte) uraufgeführt. Der Kritiker Richard Batka meinte dazu interessanterweise:


    „Die George-Lieder stehen nicht auf einem so >fortgeschrittenen< Standpunk.“
    Damit bezog er sich auf die damals ebenfalls aufgeführten „Klavierstücke op.11“ Schönbergs. Und der fuhr fort:
    „Mir scheint, daß man sie sogar auf dem Boden der alten Ästhetik würdigen kann, jener Ästhetik, die so weitherzig ist, daß sie Palestrina und Wagner, Bach in Bizet umfassen konnte. Ich meine, wer zu George dem Dichter ja sagt, kann zu Schönberg dem Musiker nicht nein sagen. Wer George gewisse poetische Qualitäten nicht abspricht, hat kein Recht, seinen Komponisten zu verleugnen. (…) Schönbergs George-Lieder muten zunächst wie Improvisationen an, und scheinen doch beim näheren Hinsehen sehr sorgsam erwogen zu sein. Ist das primitives Raffinement oder eine raffinierte Primitive? Wie man´s nimmt. Aber das Artistische hat entschieden die Oberhand. Es fehlt das starke persönliche Erlebnis als Hintergrund, die gesunde Suggestivität.“


    Die letzte kritische Anmerkung Batkas zeigt, dass er Schönbergs liedkompositorisches Konzept, den Umgang mit dem lyrischen Text betreffend, wohl nicht so recht erfasst hat. Das „persönliche Erlebnis“ und die „gesunde Suggestivität“ sind Kategorien, die vom traditionellen romantischen Klavierlied hergeholt sind, Schönbergs liedkompositorischen Intentionen aber geradezu diametral entgegenstanden. Daher ja seine – im Grunde aber nicht angebrachte - Forderung, bei der Rezeption der George-Lieder vom Text gleichsam zu abstrahieren, die Musik also primär instrumental zu hören.
    Bezeichnend sind in diesem Zusammenhang seine kritischen Äußerungen über die gesanglich-interpretatorische Leistung der Sopranistin Marta Winternitz-Dorda. Er meinte nämlich: „Im Konzert sang sie (…) die älteren Lieder und insbesondere die George-Lieder viel zu dramatisch (etwas ordinär), aus dem Wort gestaltend, statt aus der Musik.“


    Bemerkenswert scheint mir, dass Batka die George-Lieder „auf dem Boden der alten Ästhetik“ stehend sieht. Ich verstehe ihn darin so, dass er in diesem Urteil die Tatsache berücksichtigt, dass Schönberg im „Buch der hängenden Gärten“ das Prinzip der „Emanzipation der Dissonanz“, die Atonalität der Liedsprache also, nicht in radikaler, gleichsam absoluter Weise kompositorisch zum Einsatz brachte, sondern in enger Anbindung an die Erfordernisse, die sich für ihn aus dem Erfassen der Struktur, der Semantik und der Metaphorik des lyrischen Textes ergaben. Daher immer wieder einmal die Rückgriffe auf die traditionelle Tonalität in der Harmonik dieses Zyklus.


    Und noch ein Weiteres finde ich an Batkas Kritik bemerkenswert: Seine Gedanken über das, was er das „Raffinement“ der Liedkomposition Schönbergs nennt. Er hat darin ganz offensichtlich ein Wesensmerkmal derselben erfasst und ist ihm mit der Feststellung „Das Artistische hat entschieden die Oberhand“ sehr nahe gekommen. In der Tat sind diese George-Vertonungen der Inbegriff hochgradig artifizieller Liedkomposition. Das ganz und gar Eigene an ihnen, etwas, das Batka ganz offensichtlich nicht erkannt hat, ist aber, dass das, was er das „Artistische“ nennt, einhergeht mit einem ebenso hochgradigen expressionistischen Gestus. Vielleicht erklärt sich daraus das auf den ersten Blick etwas seltsame Urteil Ferruccio Busonis, der bei den George-Liedern von einer „Wiedergeburt des Sentimentalismus“ sprach. Er scheint mir darin ebenso wie Batka nur eine Seite dieser Lieder erfasst zu haben, nur eben die andere.


    Das Wesen und die liedhistorische Bedeutung dieser Lieder des „Buchs der hängenden Gärten“ hat wohl Erwin Stein in einer Festschrift aus dem Jahre 1934 treffender erfasst. In Erinnerung an die Uraufführung schrieb er:
    „Den Hörer hat damals vor allem der neue Klang frappiert. Es war, als hätte sich eine neue Dimension im Raum aufgetan. Man nahm Konturen wahr, die kaum mehr dem Bereich der Musik anzugehören schienen. In seltsamem Licht wurden die zartesten Stufungen seelischer Erregung deutlich. Man hörte neue Harmonien von der Leuchtkraft der bunten Gartenblumen, die sie schilderten. Bald schwebten die Klänge jenseits jeder Takteinteilung, als wollte der Zeitablauf stillstehen, bald zeichneten sie scharf rhythmisierte Figuren im Verein mit harten Akkorden Klangbilder von geradezu schmerzhafter Dynamik.“

  • Eigentlich stünde nun die Betrachtung der letzten Klavierlied-Komposition Schönbergs an, die der drei Haringer-Lieder op.48. Aber das „Buch der hängenden Gärten“ will einen so recht nicht loslassen. Das ist wie bei allen großen Zyklen der Geschichte des Liedes: Sie sind hochkomplexe musikalische Gebilde, die sich einem in der hörend-rezeptiven Begegnung mit ihnen in immer neuen Seiten und musikalischen Aussagen zeigen und in der analytischen Betrachtung schlechterdings unerschöpflich sind.


    Da lese ich bei Dietrich Fischer-Dieskau (in seinem Buch „Töne sprechen, Worte klingen“, S.175):
    „Schönbergs Klanggebilde verzichten im Grunde auf die sprachliche Form, sie könnten ohne den hinzugefügten Text nicht ohne weiteres als sprachbezogen gelten. Die Neuerung seiner Kompositionsweise scheint nicht von sprachlichen Notwendigkeiten auszugehen, nicht mit Rücksicht auf die Sprache erfunden zu sein.“
    Und ich wundere mich, bin regelrecht verblüfft. Bei der intensiven Beschäftigung mit diesen Liedern des Opus 15 habe ich die genau gegenteilige Erfahrung gemacht, - wie auch in den obigen Besprechungen der einzelnen Lieder dokumentiert ist. Der unmittelbare Bezug der Liedsprache zum lyrischen Text lässt sich an jedem Lied detailliert nachweisen, und realisierte man es klanglich mit Klavier und einem Instrument, das die melodische Linie wiederzugeben vermag (einem Cello etwa), - es würde zwar nicht nichtssagend, aber doch um die entscheidende Dimension seiner musikalischen Aussage beraubt.


    Mir scheint: Fischer-Dieskau hat sich da auf – die hier schon mehrfach erwähnten - Kommentare Schönbergs zu seinen George-Vertonungen gestützt (dass vom Wortsinn zu abstrahieren und die Lieder eher „instrumental“ zu rezipieren seien), nicht bedenkend und beachtend, dass diese Äußerungen, wie auch sein Aufsatz „Das Verhältnis zum Text“, aus einer polemischen Abgrenzung gegen die „Programm-Musik“ hervorgegangen, also historisch-kritisch zu lesen sind.


    Und überdies: Schönbergs Liedsprache erfuhr in ihrer Entwicklung nach seinem eigenen Bekenntnis gleichsam zwei maßgebliche Impulse. Und die sind jeweils aus der Rezeption des lyrischen Werks zweier Dichter hervorgegangen: Richard Dehmel und Arnold Schönberg. Was die Lieder des Opus 15 anbelangt, so bekannte Schönberg: „Mit den Liedern nach George ist es mir zum ersten Mal gelungen, einem Ausdrucks- und Formideal nahezukommen, das mir seit Jahren vorschwebt.“ Die Hinwendung zur Atonalität in der Liedsprache ist, da bin ich mir ganz sicher, bei Schönberg aus eben dieser Rezeption der lyrischen Sprache Georges hervorgegangen, wie sie ihm im „Buch der hängenden Gärten“ begegnete.


    Das in dieser Begegnung sich ereignende Aufeinandertreffen einer genuin expressionistischen kompositorischen Grundhaltung mit einer dem „maas“ verpflichteten, sich am Geist des Jugendstils orientierenden und darin streng geregelten lyrischen Sprache führte, wie ich hoffentlich aufzuzeigen vermochte, immer wieder aufs Neue zu eben jener, das musikalische Ausdrucksmittel der Atonalität nutzenden und die lyrische Sprache in ihrer Prosodie regelrecht aufsprengenden, sie in gleichsam deklamatorische Prosa verwandelnden Liedsprache, wie sie so ganz charakteristisch und typisch für diesen großen Liederzyklus ist.


    Wenn Christian Gerhaher (Fischer-Dieskaus großer Nachfolger, wie ich finde) in seinen Gesprächen mit Vera Baur auf das Ineinandergreifen der narrativen und der reflexiven Ebene in Georges Lyrik abhebt (er nennt es nicht so, sondern spricht von dem „massiv Geschehenen“ und dem „Erlebten“) und meint, dass sich in den Liedern Schönbergs ein „nachsinnender und ein fast erzählender Ton“ „in magischer Weise“ verquicke, dann hat er ein Wesensmerkmal derselben angesprochen, das sich nur aus der kompositorischen Begegnung mit dem lyrischen Text in seiner Genese erklären lässt, - und damit Fischer-Dieskau – wohl sicher unwissentlich – indirekt widersprochen. Auch seine Einschätzung dieses Liederzyklus als eines „extrem sinnlichen Werkes“ weist ja doch auf diesen Sachverhalt hin.


    Aber da ist noch ein weiterer Aspekt, auf den sich einzulassen wohl geboten ist: Es ist der der liedhistorischen Bedeutung und Stellung dieses Zyklus. Darauf muss ich wohl in einem dritten „Nachdenk-Beitrag“ noch kurz eingehen.

  • Albrecht Dümling, der sich intensiv mit diesem Werk Schönbergs auseinandergesetzt hat, kommentiert es u.a. mit den Worten:
    „Schönbergs George-Lieder op.15 gehören zu den letzten Beispielen einer literarisch orientierten Kunst des Ausdrucks in der Musik. Sie knüpfen noch einmal an eine blühende Liedkultur an, die ab 1918 mit der Wendung gegen die musikgeschichtliche Epoche des 19. Jahrhunderts zerfiel.“


    Das ist ein wichtiger Aspekt der liedhistorischen Bedeutung dieses Zyklus, - nicht der einzige allerdings. Auch Theodor W. Adorno sieht ihn als in der Tradition des romantischen Klavierliedes stehend, geht sogar so weit, in ihm eine liedkompositorische Weiterführung und Fortsetzung des Schubert-Liedes zu sehen, wenn er meint:
    „Der große George-Zyklus, im Oeuvre des Meisters längst nicht nach Gebühr gewürdigt, ist allein an Schuberts >Winterreise< zu messen.“
    Christian Gerhaher äußert sich in dem erwähnten Gespräch mit Vera Baur zwar nicht unter liedhistorischem Gesichtspunkt über diese Lieder, bringt aber dazu doch indirekt einen interessanten Aspekt ein, - in der Bemerkung nämlich:
    „Und hier bei Schönberg ist jeder Akkord ein Individuum, insofern ist für mich dieses Werk so etwas wie die Vervollkommnung des Lied-Gedankens.“.

    Kann man, so frage ich mich, so weit gehen, in Schönbergs George-Liedern das letzte bedeutende Dokument einer kompositorischen Auseinandersetzung mit dem lyrischen Wort im Geiste des romantischen Klavierliedes sehen, das nicht schon zum Zeitpunkt seiner Genese anachronistisch sein musste, weil aus dem Geist des bürgerlichen Zeitalters herausgefallen und ihn gleichsam restaurativ zurückholen wollend? Und dies unbeschadet der Tatsache seiner liedsprachlichen Atonalität?


    Ich denke (als Nicht-Fachmann freilich), das kann und darf man. Ich komme zu dieser Auffassung auch angesichts der Tatsache, dass zur gleichen Zeit das traditionelle Lied einem permanent fortschreitenden Prozess der Musikalisierung in Gestalt des Orchester- und des Podiumsliedes unterlag, - in repräsentativer und exemplarischer Weise bei Gustav Mahler und Richard Strauss. Und die Lieder Othmar Schoecks, mit denen ich mich ja hier auch in Gestalt eines eigenen Threads auseinandergesetzt habe, erscheinen mir jetzt, aus der Perspektive der Lieder Schönbergs und der sich von ihnen her ergebenden Fragestellung, als zwar klanglich faszinierende und bedeutsame Kompositionen, aber letzten Endes doch als eigentlich liedhistorisch restaurative, also genuin anachronistische, - die man gleichwohl über alles lieben kann.


    Da ist noch ein Aspekt der vielleicht relevant sein könnte. Adorno hat ihn – wen wundert´s, angesichts dieses Komponisten – in die Diskussion gebracht. Seiner „Philosophie der neuen Musik“ liegt ja die These von der „Dialektik der Einsamkeit“ zugrunde. Und in dem Zusammenhang meint er, die George-Vertonungen Schönbergs seien die ersten Lieder der Moderne, in denen sich die Subjektivität des modernen Ichs gegen die Normen der Gesellschaft behaupte. Insofern seien sie als Modell moderner Kunst zu rezipieren und zu verstehen. In seinen Worten liest sich das so:
    Wenn (…) Schönbergs Liedkomposition als eigentliche Errettung der objektiven Liedcharaktere in Anspruch genommen wird, so ist der landläufigen Meinung widersprochen. Es ist heute üblich, ihn als Repräsentanten völlig einsamen Musizierens zu nehmen und aus der Schwerverständlichkeit seines Werks herzuleiten, daß es das Kollektiv nicht betreffe. Nichts falscher.“


    Man kann diese Lieder so hören, bewerten und liedhistorisch einstufen. Ich fühle mich nicht kompetent genug, Adorno darin zu widersprechen, meine allerdings, dass solche zeitgenössischen Äußerungen zu bedenken wären, wie die von Ferruccio Busoni, der mit Blick auf sie von einer „Wiedergeburt des Sentimentalismus“ sprach, ebenso die Feststellung von Richard Batka in der Kritik der Uraufführung, dass man das Werk „auf dem Boden der alten Ästhetik würdigen“ könne, und schließlich auch die Tatsache zu beachten sei, dass diese Lieder bei öffentlichen Aufführungen weit weniger Anstoß erregten, als dies bei anderen atonalen Werken Schönbergs der Fall war.
    Das alles spricht eigentlich nicht für die These, dass ihr Wesen als musikalisches Kunstwerk in der Selbstbehauptung des künstlerischen Ichs gegen die „Normen der Gesellschaft“ besteht.

  • Jakob Haringer: „Sommermüd“


    Wenn du schon glaubst, es ist ewige Nacht –
    Hat dir plötzlich ein Abend
    Wieder Küsse und Sterne gebracht.
    Wenn du dann denkst,
    Es ist Alles, Alles vorbei!
    Wird auf einmal wieder Christnacht
    Und lieblicher Mai.
    Drum dank Gott und sei still,
    Daß du noch lebst und (noch) küßt:
    Gar mancher hat ohne Stern
    Sterben gemüßt.



    Arnold Schönberg: „Sommermüd“, op.48, Nr.1

    Die drei Lieder des Opus 48 auf Gedichte von Jakob Haringer entstanden – nach einer Pause von 24 Jahren in Sachen Liedkomposition – im Jahr 1933 unter dem unmittelbaren Eindruck der damaligen politischen Ereignisse in Deutschland, die Schönberg schwer erschütterten. Es sind die letzten veröffentlichten Klavierlieder. Im Nachlass fanden sich zwei weitere: „Gedenken“ und „Am Strande“ (Text Rilke). „Sommermüd“ wurde kurz vor der sog. „Machtergreifung“ komponiert, „Tod“ zwei Wochen später, und das „Mädchenlied“ trägt im Manuskript die Notiz „am 23. Februar 1933“. Im Erstdruck erschienen die Lieder – nun mit einer Opuszahl versehen – erst viel später: Bei dem New Yorker Verlag „Boelke-Bomart Music Publications“ 1952.


    Komponiert sind sie auf der Grundlage des von Schönberg Anfang der zwanziger Jahre entwickelten Konzepts der Dodekaphonie. Auch wenn sich – wie in diesem Lied bei den Worten „Christnacht“ und „lieblicher Mai“ – die melodische Linie der Singstimme zu einer Art hoffnungsvoll-positiver Emphase aufzuschwingen versucht, der Grundton dieser Lieder ist der einer schweren seelischen Bedrückung. Und man möchte meinen: Die dodekaphonische Harmonik ist in ihrer in konstruktivistischer Rationalität wurzelnden klanglichen Kälte wie kaum eine andere geeignet dazu, ein von Trost- und Hoffnungslosigkeit geprägtes Lebensgefühl musikalisch zum Ausdruck zu bringen.


    Die melodische Linie dieses Liedes besteht aus den Tönen, die ihr bei den Versen acht und neun in eben dieser Reihenfolge zugrundeliegen und in den beiden letzten Versen in invertierter Form wiederkehren: „Cis-D-C-Fis-Es-F-E-B-H-G-A-Gis“. Der Klaviersatz ist strukturell relativ einfach angelegt und weist nur im Mittelteil des Liedes, bei den Versen vier bis sieben, eine größere Komplexität auf. Mit einfachen Sprung- und Fallbewegungen von Achteln im Bass und Diskant setzt er ein. Diskant: „HA; HG“; Bass: „G zweigestrichenes Gis; zweigestrichenes AGis“. Zusammen mit der bei den Worten „Wenn du schon glaubst“ von einem tiefen „Cis“ aus in einer kleinen Sekunde ansteigenden, zu einem „C“ zurückfallenden und danach über einen verminderten Quartsprung zu einem „Fis“ emporsteigenden melodischen Linie ergibt das ein befremdliches Klangbild. Bei den nachfolgenden Worten des ersten Verses verbleibt die melodische Linie in silbengetreuer Deklamation auf der tonalen Ebene eines tiefen „F“ mit einer Sekund-Abweichung nach unten, beschreibt aber dann bei dem Wort „Nacht“ einen überraschenden und ausdrucksstarken verminderten Sextsprung.


    Diese Art der Bewegung der melodischen Linie ist typisch für ihre Struktur im ganzen Lied. Sie neigt dazu, auf der tonalen Ebene zu verharren, die sie gerade eingenommen hat, und davon nur um kleine Intervalle (zumeist verminderte) nach oben oder unten abzuweichen, was ihr die Anmutung einer gewissen resignativen Müdigkeit verleiht. Aber immer wieder kommt es zu Ausbrüchen aus dieser Tendenz: Dort nämlich, wo die emotional positiv besetzten lyrischen Worte einen besonderen musikalischen Akzent erhalten sollen. Oft beteiligt sich daran auch das Klavier. Zum ersten Mal begegnet einem dieses bei den Worten „ein Abend / wieder Küsse und Sterne gebracht“. Aus einem Quintsprung bei dem Wort „wieder“ wird bei „Küsse“ ein verminderter Quintfall. Im Klavier aber steigen derweilen in zwei veritablen Oktavsprüngen zweistimmige Akkorde aus dem tiefen in den hohen Diskant auf. Bei den Worten „Sterne gebracht“ geht die melodische Linie dann wieder in ihr Verharren auf einem tiefen „F“, bzw. „Fis“ über, im Klaviersatz ereignet sich aber ein Sturz von einem Terzakkord und zwei Einzeltönen aus der Kombination von „C“ und „B“ bis hinunter zum viergestrichenen „C“.


    In ähnlicher Weise wird die Wiederholung der Wortes „alles“ (durch einen verminderten Septimensprung), „Christnacht“ (Septfall mit nachfolgender langer Dehnung) und „lieblicher Mai“ melodisch hervorgehoben. Die letzteren mittels einer sehr expressiven, über das Intervall einer Oktave und eine melismenartige, aus fünf gebundenen Schritten bestehende sehr lange Dehnung, die fast zwei Takte einnimmt. Hier – wie durchweg bei der Versgruppe vier bis sieben – agiert das Klavier mit der lebhaften Artikulation von Achtel- und Sechzehntelgruppen, die permanent in harmonisch dissonanter Weise modulieren.


    Wie sich die melodische Linie bei den letzten Versen bewegt, wurde schon beschrieben. Sie tut das in sehr ruhiger, fast pastoral wirkender Weise, wobei das Klavier sich jetzt wieder auf die Artikulation von Einzeltönen in Bass und Diskant beschränkt, - allerdings nur anfänglich. Bei den Worten „Daß du noch lebst und küßt“ beschreibt die melodische Linie eine mit einem verminderten Quintsprung eingeleitete Aufwärtsbewegung, die in einen lang gedehnten kleinen Sekundfall bei dem Wort „küßt“ mündet. Das Klavier begleitet dies nun wieder mit seinen Achtel- und Sechzehntelfiguren.


    „Dolce“ lautet die Anweisung für die auf einem hohen „Ges“ ansetzende Fallbewegung der melodischen Linie bei den beiden letzten Versen, die ja die genaue Umkehr der vorangehenden Melodiezeile darstellt. Hier begleitet das Klavier mit einer Folge von zweistimmigen Akkorden in Bass und Diskant, die im viertaktigen Nachspiel in langsam chromatisch fallende Sechzehntel-Figuren übergehen.

  • Jakob Haringer, der Verfasser der Gedichte, die diesem letzten Klavierliedwerk Schönbergs zugrundeliegen, gehört zu den vielen der Vergessenheit anheimgefallenen deutschsprachigen Poeten. Und seltsam: Auch Schönbergs Lieder auf seine Verse erfreuen sich nicht gerade eines hohen Bekanntheitsgrades. Natürlich besteht da kein direkter Zusammenhang, und das geringe Interesse an diesen Liedern ist, insbesondere mit Blick auf das dritte dieses Opus, nicht so recht zu verstehen. Gleichwohl ist die Parallelität ins Auge springend, und sie macht nachdenklich. Was mag Schönberg zu diesem poetischen Vaganten, denn das war Jakob Haringer, hingezogen haben? Adorno charakterisiert dessen Gedichte mit den deftigen Worten: „Diese Mixtur aus Verlaine und Infantilismus“. Und das scheint mir ins Schwarze zu treffen.


    Haringer hat, bedingt auch durch die Zeit und ihre politischen Gegebenheiten, ein höchst unstetes, geradezu vagantenhaft anmutendes und von großer Bedürftigkeit und Armut geprägtes Leben geführt. Dabei war er, der 1898 in Dresden geboren wurde, ein veritabler „Dr. phil“ und betätigte sich vorübergehend auch als Herausgeber in Augen bei Salzburg. Im Jahr 1917 erschien sein erster Gedichtband mit dem Titel „Das Marienbuch des Jakob Haringer“. Weitere Publikationen folgten, in erster Linie Lyrik („Abschied“, „Heimweh“), aber auch einige Prosa. Seine Lyrik ist wesenhaft expressionistisch, aber darin stilistisch höchst uneinheitlich, geradezu sprunghaft von Volksliedhaftigkeit in Sentimentalität umschlagend und zuweilen gar in lyrisch-sprachlichen Bombast verfallend. In einem Pamphlet nannte er, ganz typisch für seine Diktion, Goethe einen „literarischen Freibeuter“, der „nie in der Einsamkeit rang“.


    Gleichwohl kann man ihn wohl als einen Beachtung verdienenden deutschen Lyriker betrachten und einstufen. Wegen seiner Verbindungen zur Münchener Räterepublik kam er vorübergehend in Haft, und danach begann ein höchst unstetes, von großer Armut begleitetes Wanderleben. Im Jahr 1933 musste er emigrieren, lebte, auf Unterstützung durch Freunde angewiesen, seit 1938 in der Schweiz und starb 1948 in Zürich.


    Schönberg muss von Haringer wohl auch um Unterstützung angegangen worden sein und hat vielleicht auch deshalb im Jahr 1933 zwei Gedichtbände von ihm gekauft. Jedenfalls meinte Adorno, sich an eine solche Bitte um finanzielle Unterstützung erinnern zu können. . Und er liefert zugleich eine mögliche Antwort auf die Frage, warum Schönberg nicht nur Lyrik von Jakob Haringer käuflich erwarb, sondern sie auch vertonte.
    Ganz schlüssig scheint mir diese Erklärung aber nicht zu sein, - insbesondere was die beiden ersten Lieder betrifft. Hinsichtlich des (noch vorzustellenden) dritten, mit dem Titel „Mädchenlied“, könnte Adorno aber sehr wohl recht haben, wenn er meint, Schönberg habe sich bei diesem Gedicht an die Stücke erinnert, die er in seinen jungen Jahren für das „Überbrettl“ Ernst von Wolzogens schrieb, und anfügt:
    „Etwas an Haringer muß dem wahlverwandt gewesen sein, der in das zentrale Werk seines Durchbruchs, das Zweite Streichquartett, die Melodie von >O, du lieber Augustin< hineinarbeitete.“

  • Oben meinte ich, man könne das geringe Interesse an Schönbergs Liedern des Opus 48 nicht so recht verstehen. Sie sind ja wohl, soweit ich das eruieren konnte, kaum je öffentlich aufgeführt worden. Vielleicht, so denke ich jetzt, nachdem ich mir dieses Lied unter diesem Aspekt noch einmal vorgenommen und es gründlich angehört habe, könnte der Grund in der ihm – wie auch den beiden anderen Liedern - zugrundeliegenden Dodekaphonie liegen.


    Beinhaltet diese nicht, das ist meine Frage, der ich hier wohl noch weiter nachgehen werden muss, als regulativ-kompositorisches Prinzip per se ein Korsett für die melodische Linie, - eines, das sie möglicherweise darin behindert, sich in ihrer Struktur, in der Art wie sie sich bewegt und entfaltet, der Struktur und der Semantik des lyrischen Textes so flexibel anzuverwandeln, dass sie ihnen darin gerecht wird und die dichterische Aussage voll erfasst?


    An einem Beispiel aus diesem Lied möchte ich zeigen, wie ich das meine. Bei den Worten „Drum dank Gott und sei still, daß du noch lebst küßt“ kehrt die Grundgestalt der melodischen Linie wieder, wie sie am Anfang des Liedes erklingt. Nach dem dodekaphonischen Reglement legt Schönberg dann auf die beiden letzten Verse die transponierte Umkehrung dieser Grundgestalt. Aber wird die melodische Linie darin der lyrischen Aussage wirklich gerecht?


    Die beiden Verse lauten: „Gar mancher hat ohne Stern / Sterben gemüßt“. Das ist eine lyrische Aussage, die in ihrem sachlich-konstatierenden sprachlichen Gestus die elementar-schicksalhafte Bestimmung des menschlichen Lebens zum Ausdruck bringt, - vor allem durch die bewusste Verwendung des sprachlich ungelenk wirkenden Wortes „gemüßt“. Der einfache, fast schon lakonisch anmutende sprachliche Ton fatalistischer Klage, der diesen beiden Versen innewohnt, sollte eigentlich, so möchte man meinen, auf musikalischer Ebene von der Liedsprache in adäquater Weise aufgegriffen werden.


    Das geschieht aber nicht, wie ich meine, - wohl wissend, dass mein Urteil hier sehr subjektiv ist. Und es geschieht nicht, weil der Komponist dem Zwang des dodekaphonischen Reglements unterliegt, nämlich ausschließlich mit einer starren Tonreihe zu hantieren. Die Umkehrung derselben bringt hier zwangsläufig einen Ansatz auf einem „Ges“ in hoher Lage mit sich, eine lange Dehnung auf der nachfolgend fallenden kleinen Sekunde mit einem verminderten Septfall auf dem Wort „mancher“, einen melodisch gedehnten verminderten Sextfall auf den Worten „Stern sterben“ und einen am Ende gedehnten doppelten kleinen Sekundfall in mittlerer tonaler Lage auf dem Wort „gemüßt“.


    Diese – ja doch vorprogrammierte - Struktur der melodischen Linie fängt, so wie ich das höre und empfinde, in der Dominanz einer von kleinen Sekunden geprägten Fallbewegung zwar den Ton der Klage ein, der in diesen Versen aufklingt, ist aber zu expressiv, um der fatalistischen Lakonie gerecht zu werden, in der sich diese Klage lyrisch-sprachlich artikuliert.

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  • Jakob Haringer: „Tot“


    Ist alles eins,
    Was liegt daran!
    Der hat sein Glück,
    Der seinen Wahn.
    Was liegt daran?
    Ist alles eins,
    Der fand sein Glück!
    Und ich fand keins.



    Arnold Schönberg: „Tot“, op.48, Nr.2

    Dieses kurze, im Vortrag gerade mal eineinhalb Minuten in Anspruch nehmende Lied ist ebenfalls auf einer Reihe von Tönen aufgebaut, die gleichsam das musikalische Material bilden, aus dem die melodische Linie gestaltet wird, - und zwar aus der Grundgestalt, dem Krebsgang derselben, der Wiederkehr eines Teils der Grundgestalt und einem neuerlichen Krebsgang dieses Teils. Die zugehörigen Versgruppen sind: Eins bis drei, vier bis sechs, sieben und acht. Die Reihe besteht aus den Tönen: „D-Es-A-Cis-B-E-Gis-G-C-H-F-Fis“. Die letzten vier Töne liegen in dieser Folge und im Krebsgang auf den beiden letzten Versen.


    Aber diese Töne stellen auch das Material dar, das dem dreitaktigen Vorspiel zugrundeliegt. Es besteht aus zwei Gruppen von zweistimmigen Akkorden in Bass und Diskant, die im Diskant leicht rhythmisiert sind, weil die Akkordfolge jeweils mit einem punktierten Viertel einsetzt, dem dann Achtel folgen. Die Akkorde im Bass weisen jedoch allesamt Werte von halben Noten auf. Bei der ersten Gruppe ist die Akkordfolge im Diskant aus genau der gleichen Folge der Tonreihe zusammengesetzt, wie sie einem bei der nachfolgenden melodischen Linie in gleichsam aufgelöster linearer Form wiederbegegnen: „Es-D“, „A-Cis“, „E-B“, „Gis“, „G“.


    Das ist also ein Lied, das in seiner kompositorischen Faktur einen ausgeprägt konstruktivistischen Geist atmet. Aber wie klingt der? Das Lied begegnet seinem Hörer als eine Folge von vereinzelten, weil durch Pausen isolierten melodisch-dissonanten Ausrufen eines lyrischen Ichs, die in einen zunächst dunkel, schwer und ebenfalls hochgradig dissonant einsetzenden, dann sich aber in hochexpressiv lebhafter Weise entfaltenden Klaviersatz eingebettet sind, der den melodischen Aussagen einen klanglich schmerzlichen Nachdruck verleiht, Eine wesentliche Rolle spielt dabei der permanente Wechsel des Taktes von drei Vierteln zu vier. Die rhythmische Unruhe, die dadurch bewirkt wird, empfindet man als Ausdruck der inneren Unruhe und Verunsicherung des lyrischen Ichs.


    Dies schlägt sich auch in der Struktur der melodischen Linie nieder und lässt dabei deren konstruktivistische Natur völlig in den Hintergrund treten. Im Dreivierteltakt und Sprüngen von verminderter Sekunde, Terz du Quart setzt die melodische Linie bei den Worten „Ist alles eins“ ein, wobei auf „eins“ eine Dehnung liegt, der eine kurze Pause folgt. Die Worte „Was liegt daran“ werden hingegen auf einer aus einer verminderten Quinte und einer kleinen Sekunde bestehenden Fallbewegung deklamiert, die wieder in eine Dehnung mit nachfolgender Pause mündet. Klanglich hat das die Anmutung von Fatalismus. Dazu passt, dass beide nachfolgenden Verse („Der hat sein Glück, / Der seinen Wahn“) ebenfalls auf einer chromatisch fallenden und in einer Dehnung endenden melodischen Linie deklamiert werden.


    Das Klavier entfaltet dabei immer mehr schmerzlich dissonant wirkende Expressivität, und zwar dadurch, dass die rhythmisierten Folgen von Achtel- und Sechzehntelfiguren in Bass und Diskant immer weiter auseinanderlaufen und sich, forte beginnend, am Ende piano und dolce in hohe Diskantlage hinauf steigern, - und dies ausgerechnet, bevor die Singstimme das Wort „Wahn“ auf einem tiefen „C“ deklamiert.


    Beim zweiten „Was liegt daran“ entfaltet die melodische Linie deutlich mehr Eindringlichkeit, denn sie beschreibt eine Kombination aus vermindertem Sextsprung und Quartfall. Und ganz auf dieser Linie gesteigerter Expressivität werden auch die Worte „Ist alles eins“ deklamiert, nämlich einer Folge von kleinem Quartfall, Quintsprung und Sekundfall mit nachfolgender Dehnung.


    Bedeutungsschwer wirkt die Deklamation der beiden letzten Verse. Der Takt ist nun von drei Vierteln zu fünf Viertel übergegangen. Auf jedem Wort liegt ein Ton. Die Reihe „E-H-F-Fis“ wird beim letzten Vers im Krebsgang wiederholt. Die Worte „fand“ und „Glück“ tragen eine Dehnung in Gestalt einer halben Note. Diese Akzentuierung des lyrischen Wortes durch melodische Dehnung wird im folgenden noch gesteigert. Das Wort „ich“ trägt eine Dehnung auf einem tiefen „F“, die die Taktgrenze überschreitet. Und danach, beim letzten deklamatorischen Schritt des Liedes erreicht die Expressivität der Melodik ihren Höhepunkt. Nun beschreibt die melodische Linie – auf der Grundlage eines Dreivierteltaktes – einen Quintfall zu dem Wort „fand“ hin. Das tiefe „H“, das damit erreicht wird, trägt eine Dehnung. Und von dort aus macht die Singstimme dann einen Undezimensprung zu einem hohen „C“, das sie pianissimo(!) einen ganzen Takt lang hält.


    Dass das lyrische Ich im Unterschied zum Anderen kein Glück fand, wird so auf musikalisch höchst beeindruckende Weise zum Ausdruck gebracht. Auch das Klavier entfaltet bei diesen beiden Versen ein hohes Maß an Expressivität. Es artikuliert in Diskant und Bass eine Folge von rhythmisierten zwei- und dreistimmig- dissonanten Sechzehntel-Figuren, die pianissimo teilweise bis in den sehr hohen Diskant aufsteigen.

  • War ich beim ersten Lied der Meinung (und ich betone die Subjektivität dieses Urteils), dass die Orientierung des Komponisten am Prinzip der Dodekaphonie möglicherweise dafür verantwortlich zu machen ist, dass die Liedmusik, insbesondere im Bereich der Melodik, dem lyrischen Text in seiner sprachlichen Struktur und seiner Aussage nicht voll gerecht zu werden vermag, so ist mein Eindruck bei diesem Lied ein ganz anderer. Hier herrscht, wie ich finde, vollkommene Konkordanz zwischen lyrischer Sprache, dichterischer Aussage und Liedmusik. Sie begegnet dem Hörer wie die gleichsam potenzierte, um eine der lyrischen Sprache nicht zur Verfügung stehende Dimension bereicherte Wiederkehr der dichterischen Aussage auf der Ebene der Musik.


    Das ist ja ein eigentlich erschreckender lyrischer Text. Acht kurze, im äußersten Fall vier Worte beinhaltende Verse, die in dieser von Bitternis geprägten sprachlichen Lakonie abgrundtiefe existenzielle Hoffnungslosigkeit zum Ausdruck bringen. Denn das gleichsam leitmotivische lakonische „Ist alles eins“ weist ja den Beiklang des Inbegriffs von Resignation auf, - der umgangssprachlichen Wendung „Ist alles egal“. Die Frage „Was liegt daran?“ drängt einem diese sprachliche Assoziation geradezu auf. „Glück“ und „Wahn“ werden gleichgesetzt und in einem Atemzug genannt. Am Ende aber steht ie all diese lyrischen, so eminent resignativ-fatalistischen Aussagen letztendlich generierende – und wiederum lakonische - Feststellung, das „Glück“ betreffend: „Und ich fand keins“. Das ist ein lyrisches Selbstbekenntnis des Autors. Und berührend ist, dass er seinem Gedicht den Titel „Tot“ gibt: Nicht das Substantiv „Tod“, sondern das davon abgeleitete Adjektiv, das per se ein „Ich bin´s“ impliziert.


    Das ist im Grunde die Quelle der resignativen Bitternis, die diesen Vers Haringers auf so bedrückende Weise innewohnt. Und genau diese vermag die Liedmusik Schönbergs in ihrer dodekaphonischen Gestalt in perfekter Weise einzufangen und zum Ausdruck zu bringen, - gerade wegen und mittels ihrer wesenhaft atonalen Substanz. Diese kann einen Grad an klanglicher Bitternis zu entfalten, wie es der traditionellen Tonalität verpflichtete Liedmusik nicht vermag, - jedenfalls nicht in dieser eindringlichen, regelrecht das klangliche Empfinden verstörenden Intensität.


    Schon das Vorspiel, in das die Singstimme mit diesem auf dem Wort „eins“ in Gestalt einer Dehnung kulminierenden dreischrittig-atonalen Anstieg der melodischen Linie einsteigt, suggeriert mit seinen fallenden hochgradig dissonanten Akkorden, in denen das melodische Motiv auf den Worten „Was liegt daran“ kurz aufklingt, tief-resignative Hoffnungslosigkeit. Und was die atonale Liedsprache in der klanglichen Auslotung des lyrischen Textes vermag, das ist in diesem so kurzen Lied gleich mehrfach in höchst beeindruckender Weise zu erleben. Etwa dort, wo das Klavier die Singstimme, die die Schlussworte „Der fand sein Glück! Und ich fand keins“, dem lakonisch konstatierenden Gestus der lyrischen Sprache entsprechend, ruhig mit mehreren Dehnungen auf mittlerer tonaler Lage deklamiert, mit einem wahren Wirbel von atonal-dissonanten akkordischen Sechzehntel-Figuren aus hoher Lage regelrecht überschüttet.


    Und um auf meine Leitfrage zurückzukommen:
    Schönberg hat hier eine Tonreihe gewählt, die ihn in der Befolgung des dodekaphonischen Reglements nicht daran hindert, dem lyrischen Text in seiner sprachlichen Gestalt und seiner dichterischen Aussage voll und ganz gerecht zu werden. Sie ermöglicht es ihm, dem lyrischen Text in seinen emotionalen Dimensionen klanglich auszuleuchten und ihm dabei eine gesteigerte Expressivität zu verleihen.


    Die Art und Weise, wie er kompositorisch mit den sich wiederholenden, also eine lyrisch zentrale Rolle spielenden Worten „alles eins“ und „was liegt daran“ verfährt, lässt das sehr schön erkennen. Die melodische Linie weist nämlich bei der Wiederkehr dieser Worte eine deutlich andere Struktur auf: Sie ist – im Unterschied zum ersten Fall – nun nicht mehr melodisch wesensverschieden, sondern auf starke Ähnlichkeit abgestellt. Und es ist eine Struktur, die mit der über ein großes Intervall (verminderte Sexte und Quinte) in hohe Lage ausgreifenden und anschließend in einen Fall mündenden Sprungbewegung tiefen Seelenschmerz zum Ausdruck zu bringen vermag.

  • Jakob Haringer: „Mädchenlied“


    Es leuchtet so schön die Sonne,
    Und ich muß müd ins Büro;
    Und ich bin immer so traurig,
    Ich war schon lang nimmer froh.
    Ich weiß nicht, ich kanns nicht sagen,
    Warum mir immer so schwer;
    Die anderen Mädchen alle
    Gehn lächelnd und glücklich einher.
    Vielleicht spring ich doch noch ins Wasser!
    Ach, mir ist alles egal!
    Käm doch ein Mädchenhändler,
    Und es war doch Sommer einmal.
    Ich möcht´ ins Kloster und beten,
    Für andre, daß´s ihnen besser geht
    Als meinem armen Herzen,
    Dem hilft kein Stern, kein Gebet!



    Arnold Schönberg: „Mädchenlied“, op.48, Nr.3

    Die melodische Linie dieses Liedes liegt die Reihe zugrunde, die in den ersten beiden Versen aufklingt: „Cis-G-A-H-Dis-F-B-Ges-E-C-As-D“. Sie erklingen in silbengetreuer Deklamation in dieser Reihenfolge. Lediglich das Wort „müd“ trägt eine kleine melodische Dehnung durch einen Terzfall. Alle nachfolgenden Melodiezeilen stellen unterschiedliche Kombinationen aus diesen Tönen dar. Ein konstruktives Prinzip, wie es bei den beiden vorangehenden Liedern dieses Opus vorliegt, lässt sich dabei nicht feststellen. Das wäre vom lyrischen Text her auch gar nicht angebracht, besteht dieser doch aus einer wie ungeordnet wirkenden Abfolge von Einzelaussagen, die sich als Geständnisse eines lyrischen Ichs darstellen, das seine existenzielle und lebensweltliche Situation gedanklich nicht wirklich zu bewältigen vermag und dieses Unvermögen in den Aufschrei münden lässt: „Ach, mir ist alles egal!“.
    Und man meint als Hörer dieses Liedes: Hier, bei diesem gedanklich und sprachlich chaotischen Geständnis eines Mädchens aus der Welt des Büros ist die atonale Musik wie keine zweite geeignet, die lyrische Aussage in ihrem Wesen und ihrem Kern zu erfassen und zum Ausdruck zu bringen.


    Die Seelenqual dieses lyrischen Ichs schlägt sich in einer großen Unruhe der Musik nieder: In einem permanenten Wechsel des Takts zwischen sieben Achteln und fünf, einem häufigen Wechsel des Tempos also; in einer wie zerstückelt wirkenden Melodik, die eigentlich ein rezitativisches Parlando darstellt; in sich mehrfach ereignenden dynamischen Ausbrüchen aus dem zugrundliegenden Piano-Bereich in den des Forte; und in einem höchst lebhaften, durchgehend aus der Kombination von sich auf und ab bewegenden Achtel- und Sechzehntelfiguren bestehenden Klaviersatz.


    Wie tänzerisch, aber hochgradig dissonant verfremdet fallen im zweitaktigen Vorspiel diese Figuren aus hoher Diskantlage in tiefe ab. Das ist eine Einstimmung auf eine melodische Linie, die in immer wieder neuen Anläufen auf der gerade eingenommenen tonalen Ebene zu verbleiben sich bemüht, aber dann doch in eine durchweg chromatisch fallende Bewegung übergeht. In ihrer Atonalität bringt sie auf höchst beeindruckende Weise fatalistische Resignation zum Ausdruck. Ganz bezeichnend ist, dass die Aussage „Es leuchtet so schön die Sonne“ melodisch einen verminderten Sextfall beschreibt. Und nachfolgend werden die Worte „ins Büro“ auf einer Kombination aus verminderten Sextsprung und Quintfall deklamiert. Klanglich tief beeindruckend wirkt die melodische Linie auf den Worten „Und ich bin immer so traurig“. In einer Folge von syllabisch exakt deklamierten, nach unten gerichteten Schritten fällt sie langsam ab, bäumt sich aber bei dem Wort „traurig“ noch einmal mit einem Quintsprung auf, aber nur, um in einem veritablen Nonenfall zu enden. Das Klavier vollzieht diese Fallbewegung forte mit einer in hoher Lage ansetzenden Folge von dissonanten Sexten nach.


    Nicht nur chromatische Fallbewegungen gibt es in diesem Lied. Dort, wo die positivere Umwelt oder schöne Erinnerungen angesprochen werden, ereignen sich sogar melodische Sprünge nach oben: Bei den Worten „Gehn lächelnd und glücklich einher“ oder „Es war doch Sommer einmal“. Aber da sind jene anderen, höchst expressiven Passagen, die den klanglichen Charakter des Liedes ausmachen und prägen. Das rhythmisiert-sprunghafte dissonante Auf und Ab der melodischen Linie bei den Worten „Vielleicht spring ich doch noch ins Wasser!“, die das Klavier mit einem klanglich wüsten und forte artikulierten Zweiunddreißigstel-Sturz in die Tiefe begleitet. Dann die Aufgipfelung der melodischen Linie bei den Worten „War doch Sommer einmal“. Das Wort „einmal“ trägt dabei eine lange Dehnung in Gestalt eines Sekundfalls in hoher Lage, und ihre Expressivität wird gesteigert durch eine Art Anlauf der melodischen Linie über drei z.T. gedehnte Sprungbewegungen.


    Bevor dann am Ende, bei den Worten „kein Stern, kein Gebet“, die melodische Linie noch einmal ihre letzte Aufwärtsbewegung beschreibt, die allerdings klanglich trostlos wirkt, weil dieser Aufstieg zu einem hohen „G“ nicht kontinuierlich erfolgt, sondern sich über verminderte Fallbewegungen ereignet, hat man als Hörer noch einmal Anteil an der bedrückenden Verlorenheit dieses lyrischen Ichs, wie sie musikalisch in der Versgruppe zum Ausdruck kommt, die mit den Worten „Ich möcht´ ins Kloster und beten“ eingeleitet wird. Hier beschreibt die melodische Linie eine wie endlos wirkende chromatische Fallbewegung, die deshalb so schmerzhaft eindringlich wirkt, weil die abwärtsgerichteten kleinen Sekundschritte immer wieder in Dehnungen münden, die man als Ausdruck unendlicher Müdigkeit des lyrischen Ichs empfindet.
    Das Klavier intensiviert dies und steigert die Expressivität der Melodik dadurch, dass es im Diskant ihrer Aufwärtsbewegung folgt, im Bass aber dissonante Sechzehntel-Figuren nach oben laufen lässt.

  • Bevor dann am Ende, bei den Worten „kein Stern, kein Gebet“, die melodische Linie noch einmal ihre letzte Aufwärtsbewegung beschreibt, die allerdings klanglich trostlos wirkt, weil dieser Aufstieg zu einem hohen „G“ nicht kontinuierlich erfolgt, sondern sich über verminderte Fallbewegungen ereignet, hat man als Hörer noch einmal Anteil an der bedrückenden Verlorenheit dieses lyrischen Ichs,


    Lieber Helmut,


    Deinen Empfindungen und Beobachtungen kann ich nur beipflichten. Gerade dieses Gefühl der Verlorenheit, man denke nur an Gertrude Steins Begriff der "lost generation", war wohl eine ganz zentrale Stimmung in dieser Zeit. Dies wird, wie ich finde, auch sehr schön deutlich in nachfolgendem Bild, das Deine plastischen, detaillierten Schilderungen vielleicht illustrieren mag - es handelt sich um ein 1925 geschaffenes Gemälde von Wilhelm Lachnit:



    Jedenfalls entfaltet diese Musik eine ganz eigene, fast hypnotische Wirkung auf mich - wenn man sich erst einmal darauf eingelassen hat, diese Tonsprache auf sich wirken zu lassen, so ist der Eindruck ein sehr tiefgehender; dabei ist die Musik eben nicht nur dissonant, beliebig, kalt oder rational - sie ist sehr bewusst gearbeitet, eng auf den Text bezogen und von großer emotionaler Wirkung.


    Die Haringer - Lieder lassen sich in einer m. E. sehr gelungenen Interpretation auch auf youtube finden:



    Was ich ganz besonders erstaunlich und staunenswert finde: diese Musik der Trostlosigkeit vermittelt mir -paradoxerweise- sehr viel Trost! Sie drückt nicht auf das Gemüt und stimmt einen depressiv, wie so manch andere Komposition - hier überwiegen bei mir ganz andere Empfindungen. Ich kann noch nicht ganz festmachen, woran das liegt - aber in diesen höchst eigenwilligen, immens ausdrucksstarken Kompositionen schimmert, schillert immer noch etwas anderes hindurch, das über die Unruhe, Rastlosigkeit, Düsternis und Bedrücktheit hinausgeht und seltsamerweise überaus positive Stimmungen evoziert -ich weiß nicht was es ist- vielleicht komme ich noch dahinter...

  • Insgeheim hatte ich gehofft, dass vielleicht auf dieses Lied - es ist ja das letzte Klavierlied Schönbergs - eine Reaktion aus dem Forum käme. Denn es ist ja sowohl vom zugrundeliegenden Text, wie auch von der Liedmusik her ein ungewöhnliches Lied, eines, das einen unmittelbar anzusprechen vermag.
    Nun ist das bei Dir tatsächlich geschehen, lieber Don Gaiferos, und das freut mich natürlich sehr.
    Interessant und zum Nachdenken über diese Komposition Schönbergs anregend ist Deine Bemerkung:
    „…diese Musik der Trostlosigkeit vermittelt mir -paradoxerweise- sehr viel Trost! Sie drückt nicht auf das Gemüt und stimmt einen depressiv, wie so manch andere Komposition - hier überwiegen bei mir ganz andere Empfindungen. Ich kann noch nicht ganz festmachen, woran das liegt - aber in diesen höchst eigenwilligen, immens ausdrucksstarken Kompositionen schimmert, schillert immer noch etwas anderes hindurch,…“


    So empfand ich das auch, als ich dieses Lied zum ersten Mal hörte. Ich denke, die Ursache dafür ist in der Art und Weise zu finden, wie die Liedmusik die spezifische Eigenart des lyrischen Textes, seine sprachliche Struktur und seine Semantik reflektiert. Das ist ein lyrisches Gedicht, das ein verlorenes Wesen sich in seiner Hilflosigkeit ganz unmittelbar, unreflektiert und frei von jeder Wehleidigkeit aussprechen lässt. Und Schönbergs setzt das in eine Liedmusik um, die eben diesem lyrisch-sprachlichen Gestus vollkommen entspricht. Wobei ihre Atonalität eine große, ich würde sogar sagen: die entscheidende Rolle spielt.


    In einem weiteren Beitrag zu diesem Lied, an dem ich gerade sitze und den ich alsbald hier einbringen werde, verwende ich in Bezug auf Schönbergs Liedmusik den Begriff „Sachlichkeit“. Sie ist tatsächlich frei von jeglicher Sentimentalität,- und das macht sie dem Gedicht Haringers so voll gerecht werdend und zu einer wirklich großen Liedkomposition.


    Vielen Dank für das Einstellen des Links und des Bildes von Wilhelm Lachnit. Es trifft die lyrische Aussage des Haringer-Gedichts sehr genau!

  • Was mag Schönberg bewogen haben, liedkompositorisch zu diesem Gedicht Jakob Haringers zu greifen? Vielleicht, so vermute ich, war es sein mehrfach, brieflich zum Beispiel Richard Dehmel gegenüber bekundetes Bestreben, künstlerisch auf der Höhe der Zeit zu sein und all das aufzugreifen und zu berücksichtigen, was die gegenwärtige Lebenswelt maßgeblich ausmacht und prägt, - die sozialen Verhältnisse zum Beispiel und das Lebensgefühl von Menschen in der Arbeitswelt des Büros.


    Genau dieses bringen die Verse Haringers ja – in durchaus treffender Weise - zum Ausdruck. Und das tun sie mittels einer lyrischen Sprache, die in ihrer Syntax, ihrer Morphologie und ihrer Metaphorik sehr bewusst auf „Sprachlosigkeit“ angelegt ist, - die zentrale lyrische Aussage aufgreifend und umsetzend: „Ich weiß nicht, ich kanns nicht sagen.“ Dieses „Mädchen“ ist nicht in der Lage seine soziale und seine existenzielle Situation und all die seelischen Probleme, die damit einhergehen, reflexiv zu bewältigen und adäquat in Sprache zu fassen. In seiner Hilflosigkeit flüchtet es sich in solche Phantasien wie „Käm doch ein Mädchenhändler“ und „Ich möchte ins Kloster gehen.“


    Beim Hören dieses Liedes denke ich: Mit der traditionellen Liedsprache wären diese Verse nicht in angemessener Weise zu vertonen gewesen. Schönbergs Zeitgenosse Richard Strauss, der liedkompositorisch ja noch ganz aus ihrem Fundus schöpft und immerhin mit seinen Dehmel-Vertonungen „Der Arbeitsmann“ und „Lied an meinen Sohn“ Interesse an der Arbeitswelt und der sie reflektierenden Lyrik bekundete, hätte vermutlich gleich gar nicht den Versuch dazu gemacht. Im Grunde ist das damals nur mit der atonalen und genuin wortbezogenen Liedsprache eines Arnold Schönberg, eines Alban Berg und eines Anton Webern, der musikalischen Sprache der zweiten Wiener Schule also, möglich, - eben weil sie, darin die des traditionellem romantischen Klavierliedes transzendierend, zu einer kompromisslos direkten, die gebundene Melodik verlassenden, rezitativisch geprägten Deklamation in Einheit mit schroffer, weil die Atonalität nicht scheuender Klanglichkeit in der Lage war.


    Das Konzept der Dodekaphonie scheint mir in diesem Zusammenhang letztendlich irrelevant zu sein. Hier, im Fall dieses Liedes, hat es jedenfalls keine für mich irgendwie fassbaren positiven oder negativen Auswirkungen auf die musikalische Aussage, - vielleicht deshalb, weil Schönberg wieder – wie beim vorangehenden Haringer-Lied „Tot“ – die oben bei der Vorstellung spezifizierte Tonreihe glücklich gewählt hat. Die so bewusst auf den unmittelbaren, direkten und darin zugleich hilflos-ungelenk wirkenden Ausdruck der Gedanken und Empfindungen dieses Büro-Mädchens abgestellte lyrische Sprache geben Melodik und Klaviersatz dieses Liedes jedenfalls in klanglich regelrecht betroffen machender Weise wieder.


    Das ist vorangehend bei der Vorstellung desselben in konkreter Weise zu beschreiben versucht worden. Deshalb hier nur noch ein paar ergänzende Hinweise. Das Vorspiel vernimmt man mit seinen aus hoher Lage atonal fallenden Akkorden als Ausdruck der inneren seelischen Zerrissenheit des Mädchens. Die Aussage „Und ich muß müd ins Büro“ vermag die melodische Linie mit ihren z.T. gedehnten Fallbewegungen in ihrer müden Schicksalsergebenheit gerade deshalb in solch beeindruckender Weise zu erfassen, weil diese atonal erfolgen. Dasselbe gilt für das Bekenntnis „Ich bin immer so traurig“. Die Melodik wirkt hier in der syllabisch exakt deklamierten, aber keineswegs kontinuierlich, sondern in einem atonalen Auf und Ab erfolgenden Abwärtsbewegung, die am Ende in einen Nonenfall mündet, auf geradezu verstörende Weise sachlich konstatierend, - frei von jeglicher Weinerlichkeit.


    Und wenn das Mädchen in all der Hilflosigkeit, in der sie ihrer existenziellen und lebensweltlichen Situation gegenübersteht, ausstößt: „Vielleicht spring ich doch ins Wasser! Ach, mir ist alles egal!“, dann vermag die Liedmusik mit den in ihrer Atonalität klanglich extrem verwirrend wirkenden Stürzen von Zweiunddreißigstel-Figuren aus dem Klavierdiskant in der tiefen Bass – und dies in der rhythmischen Verstörtheit des Wechsels von fünf zu sieben Achteln – eben dieses in einer Weise zum Ausdruck zu bringen, wie es wohl mit den Mitteln der traditionellen Klavierlied-Sprache nicht möglich gewesen wäre.

  • Das Opus 48 stellt das Ende von Schönbergs Klavierlied-Komposition dar. Mit der Vorstellung und analytischen Betrachtung desselben ist dieser Thread also seinerseits an sein Ende gelangt, - natürlich nur im Hinblick auf die Betrachtung des liedkompositorischen Werks in seiner Chronologie, nicht aber in der rezeptiven und reflexiven Auseinandersetzung mit ihm. Die sollte, was sehr zu wünschen wäre, hier keineswegs zu Ende sein und eine Fortsetzung erfahren. Das Liedschaffen Schönbergs verdient es, und es wurden ja doch in diesem ersten Durchgang keineswegs alle Kompositionen berücksichtigt.


    Die Auswahl der Lieder erfolgte unter dem Gesichtspunkt der Repräsentativität für die Phasen der Entwicklung von Schönbergs Liedkomposition. Zwei Absichten wurden bei der Vorstellung und der analytischen Betrachtung der einzelnen Lieder verfolgt: Es sollte
    -- der Entwicklung der Liedsprache nachgegangen und ihre spezifische Eigenart aufgezeigt werden:
    -- versucht werden, eine Antwort auf die Frage zu finden, warum diese Liedsprache in die Atonalität mündete, und ob in Schönbergs liedkompositorischer Grundhaltung und in den Intentionen, die aus ihr hervorgingen, möglicherweise Faktoren auszumachen sind, die dem Weg in die Atonalität eine gewisse innere Logik verleihen.


    Wie gut diese beiden Zielsetzungen des Threads erreicht wurden, das zu beurteilen ist Sache der Leser Beiträge zu ihm. Es ist zu hoffen, dass, was den ersten Punkt anbelangt, folgendes deutlich wurde:
    -- Schönbergs Liedkomposition entwickelte schon ihrem frühen Stadium eine eigene musikalische Sprache, die, obgleich von großen Vorbildern anfänglich beeinflusst, weder eine Nähe zu Johannes Brahms, noch eine zu Hugo Wolf wahrte, sondern sich alsbald von deren liedkompositorischer Grundhaltung emanzipierte.
    -- Die Wahl der zugrundliegenden lyrischen Texte mutet, was ihre stilistische und ihre inhaltliche Kongruenz anbelangt, auf den ersten Blick zwar beliebig an, so dass man Schönberg den Vorwurf des „baren Eklektizismus“ meinte machen zu dürfen, in Wirklichkeit steht hinter dieser Wahl aber ein Motiv, das diesen Aspekt irrelevant werden lässt, die Tatsache nämlich, dass bei ihm – wie auch bei seinem Zeitgenossen Mahler – der lyrische Text als „Vehikel ihrer Komposition“ (Adorno) fungiert.
    -- Das den Griff zum lyrischen Text bestimmende Motiv ist in nahezu allen Fällen – vielleicht mit Ausnahme der beiden Balladen op.12, bei denen es sich um Auftragskompositionen handelt und die deshalb hier nicht berücksichtigt wurden – die personale Identifikation mit dem Thema und dem Inhalt des jeweiligen Gedichts. Schönberg musste sich in ihm gleichsam wiederfinden, damit es zu Liedmusik werden konnte.
    -- Unter diesem Gesichtspunkt stellt seine Liedkomposition in ihrer Entwicklung so etwas wie ein Abbild seiner Biographie dar. Nach der jugendlichen, noch in der Tradition des spätromantischen Klavierliedes stehenden Beschäftigung mit den verschiedenen Aspekten des Themas „Liebe“ erlischt dieses Thema nach der Heirat im Oktober 1901 erst einmal. Und dann, seit 1903 etwa, wird das Thema „Liebe“ mit einem auffällig anderen Akzent wieder aufgegriffen: Jetzt geht es häufig um die Frage des Gelingens eines Lebens in Liebe, und immer stärker rückt dann das Thema „Einsamkeit“ ins Zentrum der Liedkomposition.


    Die Arbeit am Gegenstand dieses Threads mündete für seinen Initiator in die Erkenntnis:
    Das Klavierlied Schönbergs speist sich in der ihm eigenen musikalischen Substanz und Gestalt aus einer künstlerischen Intention, die man vielleicht mit dem Begriff „musikalische Selbstaussprache“ in etwa erfassen kann.
    Schönberg hat durchweg - und er verfuhr darin sehr konsequent - nur dann zu einem lyrischen Text gegriffen, wenn in dessen dichterischer Aussage eine Affinität zu dem bestand, was er selbst dachte, fühlte und empfand, - und meinte musikalisch zum Ausdruck bringen zu müssen. In diesem Motiv gründet auch letztendlich die große Bedeutung, die die Lyriker Richard Dehmel und Stefan George für seine Liedkomposition hatte. Seine eigenen, in seinen Briefen und in seinen Schriften getätigten Äußerungen dazu belegen das ganz eindeutig.


    Wenn er zum lyrischen Werk dieser beiden Dichter griff, weil er sie im Verlauf seiner künstlerischen Entwicklung jeweils als Repräsentanten der geistigen, politischen und gesellschaftlichen Situation der Zeit sah, dann dokumentiert sich darin sein Wille, ein „moderner Komponist“ zu sein, - einer, der auf der Höhe der Zeit ist. Sein Bekenntnis: „Ich glaube, (…) daß fast an jedem Wendepunkt meiner musikalischen Entwicklung ein Dehmelsches Gedicht steht“, ist diesbezüglich höchst aufschlussreich. Überdies verweist es ganz allgemein auf die hochgradige Wortorientiertheit von Schönbergs kompositorischem Schaffen.


    Und vielleicht, so möchte man vermuten, ist in dieser seiner künstlerischen Grundhaltung und –intention auch letztlich das Motiv dafür zu finden, warum er die traditionelle Klavierliedsprache meinte um eine musikalische Dimension erweitern zu müssen, - die der „Emanzipation der Dissonanz“. Es war für ihn tatsächlich nur eine Erweiterung des Fundus an Ausdrucksmöglichkeiten dieser Liedsprache, auf keinen Fall ein Bruch mit ihr. Und die Notwendigkeit dazu ergab sich für ihn aus dem Bedürfnis, lyrische Texte, die den Geist der Zeit reflektierten, in einer alle Dimensionen der dichterischen Aussage berücksichtigenden und erfassenden Weise in Musik zu setzen.

  • Meine These, gewonnen aus der analytisch-reflexiven Auseinandersetzung mit dem Liedschaffen Arnold Schönbergs, war:
    Es ist in seiner musikalischen Substanz und seiner kompositorischen Gestalt wesenhaft gespeist und geprägt von seinem Willen zur künstlerischen Selbstaussprache, und hierin wurzelt auch letztendlich seine Hinwendung zur Atonalität. Denn diese „Selbstaussprache“ ist die eines Künstlers, der „modern“ sein will in dem Sinne, dass er in seiner Komposition den Geist und die geistigen, kulturellen, politischen und sozialen Gegebenheiten seiner Lebenswelt, wie sie sich in der zeitgenössischen Lyrik niederschlagen, aufgreift und musikalisch zum Ausdruck bringt.


    In einem Brief aus dem Jahre 1895 erläuterte er seinem Freund David Josef Bach, warum er es für unabdingbar hielt, sich vom musikalischen Geist und der Thematik des romantischen Klavierliedes abzuwenden und neue liedkompositorische Wege zu suchen:
    „Es mag das Sache der Romantiker gewesen sein, in der Natur Beziehungen zu ihrem Seelen- und Gefühlsleben zu finden. Wir aber, die wir im Zeichen der Erkenntnis der socialen Verhältnisse leben, haben uns von diesen Empfindungen etwas entfernt. (…) Man muß eben unterscheiden zwischen der aus der Natur empfangenen Empfindung und aus der aus dem eigenen Leben genommenen. Erstere kann zum Selbstschaffen nicht mehr ausreichen. … Wohl aber die letztere. Sie allein nur kann die Grundlage für ein eigenartiges und zeitgemäßes Schaffen bieten.“


    Der Begriff des „zeitgemäßen Schaffens“ scheint mir ein Schlüsselwort für das Verständnis der Liedsprache Schönbergs in ihrer Entwicklung hin zur Atonalität zu sein. Und das gilt wohl nicht nur für seine Liedkomposition, sondern für sein gesamtes kompositorisches Werk. In seiner brieflichen Korrespondenz mit Richard Dehmel finden sich auffällig häufig die Formulierungen „der Mensch von heute“, „der moderne Mensch“ und „der Musiker von heute“. Und vielsagend ist ja doch, dass er bei seiner Liedkomposition bevorzugt zu Texten der Berliner Moderne griff, und nicht zu jenen der Wiener Moderne. Letztere war entschieden anti-naturalistisch ausgerichtet, die Berliner hingegen orientierte sich – wie das als ihr Organ, die Zeitschrift „Freie Bühne für modernes Leben“, in programmatischer Form auswies – an sozialistischem Ideengut und künstlerisch am Naturalismus.


    Schönbergs liedtextlicher Wechsel von Richard Dehmel hin zu Stefan George, die damit einhergehende Weiterentwicklung seiner Liedsprache und ihre Bereicherung durch das Element der Atonalität stehen nur scheinbar im Widerspruch zu seiner künstlerischen Grundhaltung des „zeitgemäßen Schaffens“. Bedingt durch seine Weiterentwicklung als Mensch und Musiker wurde für ihn seit seiner ersten Begegnung mit Georges Lyrik im Ansorge-Verein 1904 dieser Dichter mehr und mehr zur Verkörperung des „einsamen Künstlers“, als der er sich inzwischen selbst fühlte.


    Diese ideologische Figur des einsamen Künstlers wurde für ihn nun zum Zentrum und Quellgrund seines liedkompositorischen Schaffens und zum Ausweis von dessen Modernität. Dass er aber zu Georges Gedichtzyklus „Das Buch der hängenden Gärten“ griff, hat weniger mit der Identifikation seiner selbst mit der Person des Autors zu tun - die gab es nicht - , als vielmehr mit dem thematischen Gegenstand dieser Gedichte - und mit der lyrischen Sprache, in der sie sich präsentieren. Die Auswahl, die Schönberg daraus traf, verrät sein Motiv. Allen Gedichten, die er zu Liedkomposition auswählte, ist die Sehnsucht des einsamen lyrischen Ichs nach liebeerfüllter Gemeinschaft mit einem Du eigen, das letztendlich unerreichbar ist, weil es aus der distanzierten Ferne, in der es in der Gartenlandschaft zugegen ist, nicht wirklich heraustritt.


    Und bezeichnend ist nun, wie Schönberg – was in der Besprechung der einzelnen Leider aufzuzeigen versucht wurde - mit der lyrischen Sprache Georges, die in ihrer prosodisch streng geregelten, der ästhetischen Stilisierung und dem „Maß“ verpflichteten Gestalt im Grunde ja diese stilisiert-distanzierte menschliche Gartenwelt-Beziehung reflektiert, liedkompositorisch umgeht. Er sprengt sie regelrecht in ihrer prosodischen Gestalt und verwandelt sie in so etwas wie musikalische Prosa. Und dazu kommt es, weil er sie in der Grundhaltung der aus der Identifikation mit dem lyrischen Ich hervorgehenden Selbstaussprache, einer eminent expressionistischen Haltung also, in Liedmusik umsetzt. Das für ihn unabdingbare klangliche Mittel dazu ist die „Emanzipation der Dissonanz“, die von ihm so bezeichnete atonale Liedsprache.
    Denn nur mit ihr vermag er all die seelischen Qualen, die emotionalen „Dissonanzen“ musikalisch auszudrücken, die für ihn aus der Erkenntnis hervorgehen, dass es offenbar unmöglich ist, zu einer Erlösung aus der existenziell-künstlerischen Einsamkeit in einer von Liebe erfüllten und getragenen Bindung an einen anderen Menschen gelangen zu können.

  • Nachfolgend nur ein paar sporadische und gewiss laienhafte Gedanken, - ein kleines Sammelsurium von gleichsam kognitivem Material, das sich in der Beschäftigung mit Schönbergs Liedkomposition unter dem hier thematisierten Aspekt gleichsam nebenbei einstellte.
    Für Theodor W. Adorno liegt die historische Bedeutung Schönbergs als Liedkomponist darin, dass ihm die „eigentliche Errettung der objektiven Liedcharaktere“ zu verdanken ist. Er versteigt sich aus dieser Einschätzung zu der Behauptung:
    „Die größten Lieder der Epoche stammen von Schönberg; nicht historische Etappen sind es, sondern unvermittelte Darstellungen von Wahrheit; wohl aus ihrer Zeit in aller Aktualität entsprungen, eben darin aber konkret genug, um zu dauern.“


    Die „Größe“ der Lieder Schönbergs gründet für ihn also – wenn ich ihn richtig verstanden habe - darin, dass sie den Geist der Zeit und ihre Lebenswirklichkeit in einer Weise reflektieren, die so „konkret“, also künstlerisch wahr ist, dass sie liedhistorische Dauer beanspruchen können und das auch tun.
    Von daher wird sein Kommentar „Nichts falscher“ verständlich, den er an die Feststellung anschließt:
    „Es ist heute üblich, ihn (also Schönberg) als Repräsentanten völlig einsamen Musizierens zu nehmen und aus der Schwerverständlichkeit seines Werkes herzuleiten, dass es das Kollektiv nicht betreffe.“
    Für Adorno „betrifft“ das liedkompositorische Werk Schönbergs „das Kollektiv“ sehr wohl. Es weist also, so interpretiere ich ihn, eine hohe, zwar in seiner Genese zeitbedingte, aber diese Bedingtheit transzendierende allgemeine gesellschaftliche Relevanz auf. Und eben darin gründet für ihn seine liedhistorische Bedeutung.


    Natürlich liegt diesem Urteil über Schönbergs Liedschaffen bei Adorno eine allgemeine musikästhetische These zugrunde. Man kann sie zusammenfassend und deshalb ein wenig vergröbert so umschreiben:
    Das urtümliche Lied, in dem die Menschheit von Anfang an sich selbst ausdrückte und das der Gesang des Kindes noch bewahrt hat, wurde von der Romantik „gleich einem Möbel in Besitz genommen“ und in diesem seinem urtümlichen Wesen ruiniert. „Nur Schuberts unbegreiflich richtige Musik“ so meint Adorno, „ registriert den echten auswendigen Bezug des Gesangs“, - „noch“, möchte man hinzufügen. Was nachkommt, Schumann, Wolf zum Beispiel, brachte den Niedergang des Liedes mit sich. Hugo Wolf, den Adorno - im Einklang mit Gustav Mahler, wie er betont - regelrecht zu hassen scheint, habe, so wirft er ihm vor, Gedichte musikalisch noch einmal schaffen wollen, „ohne von der Ursprungsdialektik zwischen Wort und Lied auch nur zu ahnen“.
    Mit dem „psychologischen Lied“ sei es nun zu Ende gegangen, so meint er. Alle Wege zu seiner Weiterentwicklung seien damals dem Lied „gleichermaßen versperrt“ gewesen. Und er fährt in seinem Aufsatz „Situation des Liedes aus dem Jahre 1928 fort:
    „Wer da retten will, muß in die Hölle hinabsteigen; daran hat sich seit Orpheus nichts geändert. Schönberg hat sie betreten.“


    Schönbergs historische Bedeutung als Liedkomponist gründet für Adorno also im „Betreten der Hölle.“ Das mutet sprachlich ein wenig pathetisch an und kommt wohl aus einem hohen Grad von Subjektivität im Urteil. Muss man dem folgen und kann darin tatsächlich eine Antwort auf die hier thematisierte Frage sehen?
    Auch wenn man das musikästhetische Fundament, das diesen Ausführungen Adornos über das Kunstlied allgemein und das Lied Schönbergs im Besonderen nicht übernehmen möchte (was ich nicht zu tun bereit bin), so könnte an seiner Einschätzung Schönbergs in seiner Bedeutung als Liedkomponist doch etwas dran sein.
    Wenn man seine Lieder in ihrem Wesen als „Seelenmonologe“ (Paul Bekker) versteht - und ich hob ja oben in den mit „Rückblick“ betitelten Beiträgen auf diesen Aspekt ab, indem ich den Begriff „musikalische Selbstaussprache“ benutzte - , dann könnte man – so denke ich - ihre liedhistorische Bedeutung darin sehen, dass in ihnen das traditionelle romantische Klavierlied zu einer Zeit, in der es in einem Prozess der wachsenden Musikalisierung als Orchester- und „Podiumslied“ sein Wesen zu verlieren zu begann, um die Jahrhundertwende und im ersten Jahrzehnt danach also, noch einmal zu eben diesem seinem Wesen zurückfand, - bereichert und in seiner Existenz gleichsam gerechtfertigt durch eine um die Dimension der „Emanzipation des Dissonanz“ in Gestalt einer die Grenzen der Tonalität auslotenden und sie schließlich überschreitenden Liedsprache.


    Das würde aus meiner Sicht zwar auch für die Lieder Alban Bergs und Anton Weberns in ihrer letztgültigen kompositorischen Faktur gelten, Schönberg wäre aber – als „Vater“ der „Wiener Schule“ - gleichsam der künstlerische Initiator und Ideengeber. Musikhistorisch betrachtet war das Lied um die Jahrhundertwende und danach die musikalische Gattung, die von ihrer noch intakten, der Intimität und der fakturiellen Einfachheit verpflichteten Tradition her dem Komponisten die Möglichkeit bot, musikalisch das „Primat der Subjektivität“ (Hermann Danuser) auszuleben und dabei neue Ausdrucksformen zu erproben.


    Ich möchte Adorno eigentlich nicht darin folgen, wenn er im Hinblick auf Schönbergs Liedern als „von den ersten Liedern der Moderne“ spricht, in denen „die radikale, der Selbstbehauptung dienende Setzung von Subjektivität gegen die Normen der Gesellschaft stattfindet.“
    Gleichwohl denke ich, dass in dieser musikalischen Selbstaussprache, worin ich ihr eigentliches Wesen sehe, ihre liedhistorische Bedeutung gründet, - eben weil dieses Sich-selbst-Aussprechen in einer neuen, den Geist der Moderne reflektierenden und ihm gerecht werdenden Liedsprache erfolgt.

  • Es mag ja nicht üblich sein, in einem Internet-Forum für klassische Musik, dass einer einen kritischen Blick auf das wirft, was er in einem Thread zu einem bestimmten Thema alles so geschrieben hat und inwieweit er darin dem jeweiligen musikalischen Gegenstand gerecht geworden ist. Gleichwohl sehe ich mich dazu genötigt, Gepflogenheiten hin oder her. Genötigt, weil dieser Thread – leider, wohl aber mitversursacht durch meine sprachliche Präsentation der Lieder – mit nur einer Ausnahme (der Beiträge von Don Gaiferos nämlich, dem ich dafür überaus dankbar bin) in monologischer Weise vonstatten ging, also der kritischen Begleitung entbehren musste.


    Beim kritischen Durchgang durch meine Beiträge stelle ich fest:
    Ich bin dem liedkompositorischen Werk Schönbergs nicht in der Weise gerecht geworden, wie es das verdient. Dabei habe ich weniger den Aspekt der Quantität, als vielmehr den der Qualität im Blick, - insbesondere die gerade für Schönberg so eminent wichtige Frage des kompositorischen Umgangs mit dem lyrischen Text und der Entwicklungsstufen, die sich darin erkennen lassen. Dazu wäre, wie ich das jetzt sehe, ein breiter gestreutes Sich-Einlassen auf das kompositorische Werk Schönbergs erforderlich gewesen, als ich das in der Beschränkung auf das Klavierlied hier praktiziert habe. Aber auch innerhalb dieser Beschränkung auf die Werke für Singstimme und Klavier bin ich den Anforderungen nicht voll gerecht geworden.


    Um den letzten Aspekt als ersten kritisch aufzugreifen. Es ist mir nicht hinreichend gelungen, die Vorstellungen der einzelnen Lieder und ihre analytische Betrachtung in einen sie übergreifenden Zusammenhang einzuordnen und auf diese Weise ihren Stellenwert als musikalische Werke zu bestimmen. Das deskriptive und analytische Sich-Einlassen auf die Lieder, das ich wohl mit hinreichender Gründlichkeit betrieben habe, reicht nicht hin für ein Erfassen des Wesens und der spezifischen Eigenart von Schönbergs Lied-Komposition. Es braucht auch den gleichsam großen, sich von Detail lösenden Blick, der das einzelne Werk unter strukturellen Aspekten in den kompositorischen Entwicklungsprozess einzuordnen vermag.


    So ist zum Beispiel – wie ich jetzt sehe - nicht hinreichend deutlich geworden, dass Schönbergs Liedkomposition eben deshalb, weil er nach neuen Wegen in der Harmonisierung der melodischen Linie suchte, was eine Preisgabe der herkömmlichen Funktion der harmonischen Modulation zur Folge hatte, in die Gefahr einer gewissen Monotonie geriet. Er schien das bemerkt zu haben, denn er versuchte einerseits in den Liedern des Opus 6 („Der Wanderer“, „Am Wegrand“, „Mädchenlied“ und „Verlassen“) das harmonisch-tonale Zentrum fast schon über Gebühr zu betonen, auf der anderen Seite ist in den Liedern „Alles“ und „Lockung“ (ebenfalls in Opus 6) und in „Sehnsucht“(op.8) eben dieses Zentrum nahezu preisgegeben. Der Ausweg aus diesem Problem war für ihn dann die völlige Befreiung der Harmonik in ihrer Bindung an ein Zentrum und die damit einhergehende „Emanzipation der Dissonanz“.


    Was auch nicht hinreichend Berücksichtigung fand, das ist die Art und Weise, wie Schönberg kompositorisch mit dem lyrischen Text in den Werken umging, in denen die melodische Linie der Singstimme instrumental anders begleitet wurde: Von anderen Instrumenten als dem Klavier, von einem kammermusikalischen Ensemble oder einem Orchester. Ich denke hierbei insbesondere an das Streichquartett op.10 (mit den George-Texten „Litanei“ und „Entrückung“), die „Gurrelieder (Text: J.P. Jacobsen); die „Sechs Orchesterlieder op.8“ und „Herzgewächse op.20“ (Text: Maeterlinck).


    Nach wie vor bin ich zwar der Meinung, dass man das Wesen eines liedkompositorischen Konzepts und der daraus hervorgehenden Liedsprache sozusagen „in nuce“ am Klavierlied erfassen kann, schließlich ereignen sich ja hier die entscheidenden Innnovationen in Schönbergs kompositorischer Entwicklung. Gleichwohl können andere Formen und Gattungen des Liedes demjenigen, der auf der Suche nach eben dieses spezifischen Umgangs eines Komponisten mit dem lyrischen Text zusätzliche Einblicke und Erkenntnisse bringen.
    Vielleicht hole ich diesbezüglich später ja noch einiges nach.

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