Stefan George: „Das schöne beet betracht ich mir im harren“
Das schöne beet betracht ich mir im harren,
Es ist umzäunt mit purpurn-schwarzem dorne,
Drin ragen kelche mit geflecktem sporne
Und samtgefiederte geneigte farren
Und flockenbüschel wassergrün und rund
Und in der mitte glocken weiß und mild –
Von einem odem ist ihr feuchter mund
Wie süße frucht vom himmlischen gefild.
Arnold Schönberg: „Das Buch der hängenden Gärten op.15, Lied 10
Die Erstschrift dieses Liedes ist datiert auf März 1908. Es atmet einen ruhigen, betrachtend-meditativen Grundton, den man als Hörer dieses Zyklus nach all den expressiven Ausbrüchen, die man bislang erlebt hat, als regelrechte Erholung empfindet. Und das Ungewöhnliche, weil eigentlich nicht Erwartete ist: Er wird durchgehalten bis zum letzten Takt, - selbst beim letzten Bild vom „feuchten Mund“, bei dem man bei all den bisherigen Erfahrungen einen neuerlichen Ausbruch des hohen sinnlichen Potentials erwarten würde, das in diesem lyrischen Ich schlummert. Und noch etwas ist ungewöhnlich an diesem Lied. Die Atonalität, die „Emanzipation der Dissonanz“ also, wirkt hier stark gedämpft, ja zurückgenommen in immer wieder wie flüchtig aufklingende tonale Harmonik.
Schon das für diese Zyklus ungewöhnlich lange (10 Takte) Vorspiel lässt das vernehmen. Es besteht aus einer über Einzeltöne vermittelten Abfolge von Akkorden, die die Struktur der melodischen Linie des ersten Verses vorwegnehmen und deren dissonante Klanglichkeit mehrfach in tonale Dur-Harmonik übergeht, die sich allerdings nur kurz zu halten vermag. Und auch in der Harmonisierung der melodischen Linie der Singstimme blitzt immer wieder einmal tonale Klanglichkeit auf. So bei den Worten „beet“ (Takt 11), „harren“ (Takt 13), „dorne“ (Takt 15), „kelche“ (Takt 16), „rund“ (Takt 21) und im Nachspiel.
Man fragt sich natürlich, warum Schönberg hier in der Ausschöpfung des Potentials der Atonalität solch auffällige Zurückhaltung übt. Vielleicht, so möchte man vermuten, hat ihn die Tatsache dazu bewogen, dass dieses Gedicht ausschließlich aus deskriptiven lyrischen Bildern besteht, die sich auf die Begegnung des lyrischen Ichs mit dem „schönen Beet“ im Garten beziehen, und die auf das Du gerichteten Emotionen nur indirekt mitschwingen, also nicht lyrisch explizit werden. Sobald dieses in diesem Zyklus nämlich geschieht, kommt die Atonalität in ihrem evokativ-klanglichen Potential in vollem Umfang zum Einsatz.
Was an diesem Lied klanglich so besticht, das ist der überaus reizvolle Gegensatz zwischen der hochgradig expressiven Metaphorik (farben- und konturenreiche Naturbilder) und der großen Ruhe, mit der die melodische Linie sich bewegt und in der der Klaviersatz sie in gar keiner Weise stört. Im Gegenteil: Das Klavier folgt ihr darin mit einer alle klanglichen und rhythmischen Kontraste meidenden Abfolge von Akkorden oder Achtel-Figuren. Das heißt aber nicht, dass der Klaviersatz eigene Expressivität nicht entfalten würde. Das tut er sehr wohl. Aber nicht im Sinne eines klangmalerisch-deskriptiven Reagierens auf die einzelnen lyrischen Bilder, sondern vielmehr im Sinne einer Spiegelung der Emotionen des lyrischen Ichs auf der Ebene der Musik. Darin ist er ein typisches Strukturmerkmal des von Schönberg verfolgten liedkompositorischen Konzepts.
Gleich an den die beiden ersten Verse beinhaltenden Melodiezeilen lässt sich das vernehmen. Die melodische Linie beschreibt nach einem ruhigen (Viertelnoten) Anstieg mit nachfolgendem Quartfall eine kleine Bogenbewegung und mündet bei dem Wort „harren“ in einen kleinen, leicht gedehnten Sekundfall. Das Klavier begleitet das mit einer statisch wirkenden Akkordfolge, in der es zweimal einen tonalen Akkord aufleuchten lässt, der die positiven Empfindungen des lyrischen Ichs reflektiert. Und dieser Klaviersatz bleibt auch noch bis zum Ende der zweiten Melodiezeile erhalten. Aber da die melodische Linie bei den Worten „purpurn-schwarzem dorne“ von ihrer ruhigen kleinschrittigen Bewegung abgeht und eine Kombination aus vermindertem Sextsprung und Quintfall beschreibt, geht auch das Klavier - in eben diesem Reagieren auf die melodische Linie – von seinem akkordischen Gestus ab und artikuliert im Diskant und im Bass triolische Achtel-Figuren. Bei dem Bild von den „Kelchen mit geflecktem Sporne“ hingegen geht der Klaviersatz in eine fallende Abfolge von Achtel-Akkorden mit angehängtem Einzelton über. Er reflektiert darin die ihrerseits chromatisch langsam fallende melodische Linie, die bei dem Wort „sporne“ in einen lang gedehnten Sekundfall mündet.
Große Ruhe geht von der Melodik bei dem Vers „Und samtgefiederte geneigte farren“ aus. Lange Dehnungen auf den Silben „samt-„ und „-neigte“ prägen sie klanglich, und das Klavier entspricht dem mit gehaltenen Akkorden im Diskant und steigenden und fallenden Achtel-Figuren im Bass. Bei den Worten „flockenbüschel wassergrün und rund“ beschreibt die Vokallinie eine beeindruckende Fallbewegung aus kleinen Sekundsprüngen, die am Ende (bei „rund“) in einen überraschenden, kurz in Dur harmonisierten und leicht gedehnten Quartsprung übergeht. Wie ein weit gespannter, weil gedehnter chromatischer Bogen wirkt sie bei dem Vers „Und in der mitte glocken weiß und mild“. Man empfindet das als dem lyrischen Bild musikalisch vollkommen gemäß, zumal das Wort „mild“ am Ende eine aus einem Sekundfall hervorgehende Dehnung trägt, bei der das Klavier das melodische Motiv des Liedanfangs aufklingen lässt.
Ihren expressiven Höhepunkt erreicht die Melodik – und das ist nicht verwunderlich – bei dem letzten lyrischen Bild. Bei den Worten „feuchter mund“ beschreibt sie einen aus einer langen Dehnung auf dem Wort „feuchter“ hervorgehenden, überaus ausdrucksstarken Septsprung mit Dehnung auf dem Wort „mund“, bei dem sich in der Akkordfolge des Klaviersatzes zwei harmonische Rückungen ereignen. Und danach fällt die melodische Linie in ganz langsamen, weil immer wieder mit keinen Aufwärtsbewegungen in Sekunden und kleinen Dehnungen verbundenen Schritten von einem hohen E“ zu einem tiefen „Cis“ ab. Das tut sie am Ende mit einem verminderten Septfall. Sie bleibt dort aber nicht, sondern beschreibt innerhalb des Wortes „gefild“ eine Sprungbewegung über fast das gleiche Intervall. Es ist wieder eine Septe, aber dieses Mal keine verminderte, sondern eine große. Und sie mündet in ein gedehntes „B“ in mittlerer Lage, zu dem das Klavier einen lang gehaltenen Akkord aus den Tönen „G-F-B-Es- F“ beiträgt, der im Nachspiel zu einem D-Dur-Akkord moduliert. Dieser löst sich zwar gleich wieder in atonale Klanglichkeit auf, aber er setzt am Ende noch einmal einen musikalischen Akzent, der für den Charakter dieses Liedes typisch ist.